Schlagwort: Management

Wirksame Führungsgrundsätze gestalten: Klarheit und Orientierung vor Schauseite und Werten

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Wenn ich Vorstände und Geschäftsführungen in der Sozialwirtschaft frage, was sie sich von ihren Führungsgrundsätzen oder ihrem Führungsleitbild erhoffen, kommt fast immer dasselbe: Orientierung, Klarheit, Sicherheit. Das Führungsleitbild bzw. die Führungsgrundsätze sollen ein gemeinsamer Rahmen für die Führungskräfte sein, damit gelingende Führung im Alltag nicht „Glücksache“ ist oder allein vom Talent Einzelner – der tollen Führungskraft – abhängt. Führung soll verlässlich funktionieren – auch in Zeiten des Führungskräftemangels. Aber dann kommt der zweite Satz – meist etwas leiser: „Ehrlich gesagt… intern hilft uns das, was wir entwickelt haben, kaum.“ Und wegen dieser Diskrepanz beschreibe ich in diesem Beitrag, wie du wirksame Führungsgrundsätze gestalten kannst, die beide Welten bedienen, ohne unehrlich zu werden: als Schauseite (Kommunikation, PR und Kulturanspruch) und als Orientierung im operativen Führungsalltag. Für mich ergibt sich eine im Alltag handlungsleitende Führungslandkarte mit (relativ) einfacher Logik, die Führungskräfte arbeitsfähig macht und ihnen Orientierung gibt.

TL;DR, oder: Executive Summary

  • Führungsgrundsätze erfüllen zwei Funktionen gleichzeitig: Nach innen Orientierung geben, nach außen Wirkung erzeugen. Dass sie auf Homepages „zwischen Über uns und Karriere“ stehen, ist kein Zufall – die Schauseiten-/PR-Funktion ist real und legitim.
  • Intern scheitern klassische Leitbilder oft, weil sie Führung verkürzen (fast nur Mitarbeiterführung), weil Werteformulierungen widersprüchlich sind (Orientierungsillusion) und weil sie Führung zu sehr an „Haltung“ und „Persönlichkeit“ koppeln – obwohl die „richtige Haltung“ organisational nicht entscheidbar ist.
  • Gleichzeitig steigt der Druck: In Zeiten von Arbeits-, Fach- und Führungskräftemangel müssen neue Führungskräfte schneller arbeitsfähig werden – „Du machst das schon“ wird zum Risiko.
  • Der pragmatische Ausweg ist eine bewusste Zweiteilung: Schauseite (Werte, Anspruch, Kultur-Story) plus Innenseite (handlungsleitende Führungslandkarte: Purpose → Führungsspektrum → Führungsaufgaben → Führungsmatrix + Führungsschleife).
  • Das Ergebnis ist nicht „die perfekte Führungskraft“, sondern eine organisational entschiedene, wiederholbare Praxis: Überprüfen–Entscheiden–Umsetzen, die Führung in Widersprüchen arbeitsfähig macht.

Kurzdiagnose: Sind eure Führungsgrundsätze eher Schauseite – oder helfen sie wirklich?
Hier kannst Du eine Kurzdiagnose inkl. Leitfragen für die nächste Leitungsrunde dazu herunterladen – viel Spaß damit!

Warum Führungsgrundsätze oft wirkungslos bleiben

Viele Führungsgrundsätze und Führungsleitbilder sind als Wertekataloge gestaltet: Vorbildfunktion, multiperspektivische Entscheidungen, wertschätzende Kommunikation. Das ist normal – und nach außen oft hoch funktional (Arbeitgebermarke, Erwartungsmanagement). Sie stehen auf der Website und machen nach außen ein gutes Bild.

Aber wenn eine Team- oder Bereichsleitung ihre neue Rolle als Führungskraft antritt, wenn Konflikte eskalieren, wenn Entscheidungen unpopulär, aber zu treffen sind oder wenn Veränderung umgesetzt werden soll, greift auf einem niemand mehr zu den aufwendig erarbeiteten Führungsgrundsätzen. Stattdessen wird diskutiert, ob eine Entscheidung jetzt „wertschätzend“ war, ob man „so nicht führen darf“ oder ob die Person „einfach nicht geeignet“ ist. Führung wird zu Psychologie – statt Steuerungsfähigkeit.

Das ist kein individuelles Versagen. Es ist ein Konstruktionsproblem klassischer Führungsgrundsätze.

Denn die meisten Führungsgrundsätze und Führungsleitbilder sind als Werte- und Haltungsbeschreibung gebaut. Das hat die wichtige Schauseitenfunktion – aber nach innen erzeugt es oft eine frustrierende Orientierungsillusion: Das Dokument verspricht implizit: „Damit habt ihr Orientierung im Alltag.“ Die damit einhergehende Erwartung erzeugt im Alltag Enttäuschung – bei Führungskräften und Mitarbeitenden. Denn Führung, gerade in Organisationen der Sozialwirtschaft, ist voller Widersprüche, wie bspw. Augenhöhe vs. Rolle, Beteiligung vs. Entscheidung, Vertrauen vs. Kontrolle, Stabilität vs. Veränderung, externe Anforderungen der Kostenträger vs. Bedarfe der Klientel.

Wenn diese in Organisationen völlig normalen Spannungen nur mit wohlklingenden Sätzen zugedeckt werden, ergibt sich im Alltag nicht mehr Harmonie – sondern mehr Enttäuschung, Konflikt und Lähmung.

Drei Aspekte sind dabei besonders tückisch:

1. Verkürzung: Führung = Mitarbeiterführung

Der fast ausschließliche Fokus auf Mitarbeiterführung blendet aus, dass Führungskräfte aus systemtheoretischer Perspektive vier „Führungsebenen“ bedienen müssen (vgl. bspw. Gesmann, 2025:26): sich selbst (Selbstführung), die Mitarbeitenden (Mitarbeiterführung), das Team (Teamführung) und die Organisation(seinheit – Organisationsführung) – jeweils mit dem Zweck, das „Überleben“ der jeweiligen Ebene zu sichern (vgl. Richter/Groth 2023:27).

Das ist ein strategisch relevanter Punkt: Wenn Team- und Organisationsführung unterbelichtet sind, entstehen genau dort Leerstellen, wo Orientierung gebraucht wird (Rollenklärung, Kommunikationswege, Prioritäten, Regeln, Prozesse, Standards etc.).

2. Orientierungsillusion: Werte widersprechen sich

Dazu nur ein Beispiel:

Im wertebasierten Führungsleitbild wird auf die „besondere Rolle“ der Führungskräfte verwiesen, die gleichzeitig „partnerschaftlich auf Augenhöhe“ agieren sollen. Rein formal ist „Augenhöhe“ jedoch nicht existent, weil Führungskräfte „formal vorgesetzt“ sind und notfalls (für die Mitarbeitenden) unpopulär, jedoch im Sinne des Überlebens der Organisation(seinheit) entscheiden müssen.

Hier zeigt sich die nüchterne Einsicht, dass Wertformulierungen allein Widersprüche nicht bearbeiten können, sondern sie oftmals verdecken.

3. Mythos Führungspersönlichkeit: Haltung einfordern, obwohl unentscheidbar

Wenn die Führungsgrundsätze vor allem eine von den Führungskräften gewünschte Haltung beschreiben, landen gerade neue, noch nicht so erfahrene Führungskräfte schnell bei der Frage: „Bin ich eine gute Führungskraft?“ Damit wird ein strukturelles Thema individualisiert. Denn „die richtige Haltung“ bleibt organisational unentscheidbar und Versuche, diese Haltung einzufordern, sind übergriffig.

Und trotzdem (oder gerade deshalb) gilt:

Orientierung ist notwendig. Der Führungskräftemangel macht lange Lernkurven zur Ausnahme – neu berufene Führungskräfte müssen „schnell funktionieren“, ohne dass man sie damit allein lassen darf.

Die Führungslandkarte, oder: funktionale Führungsgrundsätze gestalten

„Funktionale Führungsgrundsätze“ klingt trocken, oder? Mit funktional meine ich aber, dass Führungsgrundsätze nicht moralisch möglichst schön formuliert, sondern so gestaltet sein sollten, dass Führung als Funktion betrachtet werden kann und Führungskräfte mit den Führungsgrundsätzen echte Orientierung für ihr Handeln im Alltag bekommen.

Schritt 1: Führungspurpose klären, oder: Wozu dient Führung bei uns?

Zunächst gilt es, in einem Workshop der obersten Führungsebene (Vorstand/GF + Bereichsleitungen) zu klären, was Führung in der jeweiligen Organisation ist und wozu sie da ist.

Das ist mehr als Semantik, denn die Beschreibung dessen als „Führungspurpose“ (oder „Führung bei uns!“ o.ä.) reduziert Reibungsverluste, weil die Beschreibung in Konflikten eine gemeinsame Referenz bietet (Was zählt hier gerade? Was ist gerade wirklich kritisch? Welche Führungsebene – siehe unten – steht im Vordergrund?).

Hier ist aus meiner Sicht die systemtheoretische Perspektive auf Führung sehr hilfreich (vgl. dazu spezifisch für Organisationen der Sozialwirtschaft der hilfreiche Beitrag von Gesmann, S. (2025): Systemisches Führen – Perspektiverweiterung im Sozialmanagement. In: SOZIALWIRTSCHAFT 5/2025. S. 25–28).

Mir fällt immer wieder auf, dass die Klärung dessen, was Führung ist, im Feld der Sozialen Arbeit ohnehin alles andere als leicht ist. Wie gesagt, hier reicht meist ein halbtägiger Workshop mit der obersten Führungsebene als der oft schnellste Weg zur Klarheit.

Schritt 2: Führungsspektrum statt Tunnelblick

Aufbauend auf dem „Führungspurpose“ geht es darum, Führung ganzheitlich zu betrachten. Denn Führung ist mehr als Mitarbeiterführung. Führung sollte vielmehr auf die Ebenen Selbst-, Mitarbeitenden-, Team- und Organisationsführung bezogen werden. Daraus ergibt sich ein Führungsspektrum, das zwar nicht immer 100% trennscharf ist, aber klar sichtbar macht, was gerade im Vordergrund steht und worüber ihr bspw. in der Leitungsrunde sprecht.

Allein diese Verschiebung entlastet.

Denn darüber wird klar: Nicht jede „Unzufriedenheit“ ist ein Problem der Mitarbeiterführung – manchmal ist es ein Thema der Teamarchitektur oder der Organisationsentscheidungen und damit der Strukturen. Ach ja, und manchmal geht`s einfach darum, sich als Führungskraft um sich selbst zu kümmern.

Schritt 3: Schwerpunkte der Führungsarbeit explizieren

Damit Führung nicht abstrakt bleibt, braucht es eine zweite Dimension: die Schwerpunkte der Führungsarbeit. Hier können die von Richter und Groth (2023:38ff) beschriebenen Aufgabenbereiche von Führung genutzt werden:

  • Direct (Richtung vorgeben),
  • Manage (Dinge geregelt bekommen),
  • Lead (Menschen gewinnen) .

Ohne hier in die Tiefe gehen zu können, geht es bei „Direct“ darum, „für eine inhaltliche Richtung zu sorgen“ (Groth,/Richter 2023:41) und damit bewusste Entscheidungen treffen, „der eine Richtung entstehen lässt“ (ebd.). Hier geht es um die Gestaltung von Prozesses zur Erarbeitung (und zur Kommunikation) von Leitbildern, Visionen, dem Purpose bzw. der Mission des Teams und/oder der Organisation (eher viel Spielraum) oder von konkreten Strategien, die mit Zielen einhergehen (eher weniger Spielraum).

Beim „Managen“ geht es konkret um die Operationalisierung dessen, was bei „Direct“ erarbeitet wurde (vgl. ebd. 42). Hier muss dafür gesorgt werden, dass Mitarbeitende, Teams, Abteilungen etc. „ihren Job machen können“ (Hindernisse aus dem Weg Räumen, Ressourcen organisieren, Handlungsfähigkeit erzeugen und -halten usw.).

Und „Lead“ (vgl. ebd., 42f) richtet den Fokus dann auf Personalführung und damit auf das, was bei Führung meist zuerst in den Sinn kommt. Hier geht es dann um die „Kopplung von Personen an die Organisation bzw. das Team“: Wer wird Mitglied der Organisation? Was brauchen die Personen in ihren Rollen, um gut ihren Beitrag „zum Überleben“ (des Teams und/oder der Organisation) beitragen zu können? Passen die Fähigkeiten der Personen zu ihren Rollen? Usw.

Die bewusst getrennte Betrachtung der Aufgabenbereiche von Führung ist dahingehend hilfreich, weil es Anschlussfähigkeit an den Alltag der Führungskräfte herstellt: Richtung vorgeben, operative Arbeit und Personalführung gehören für funktionale Führung zusammen. Es macht keinen Sinn, diese getrennt voneinander zu betrachten – auch wenn so manche Führungsliteratur behauptet, dass es nicht mehr um „Management“ ginge und wir nur noch „Leadership“ bräuchten.

Schritt 4: Führungsmatrix bauen – und mit der Führungsschleife wirksam machen

Kombiniert man Führungsspektrum (X-Achse) und die Schwerpunkte der Führungsarbeit (Y-Achse), entsteht eine Führungsmatrix. Sie macht – wenn entsprechend ausformuliert – transparent, was Führung konkret umfasst.

Aber das „Was“ allein ist noch zu wenig hilfreich für die Praxis. Genau hier kommt die Führungsschleife (vgl. ebd. 20ff) ins Spiel. Sie definiert „wie Führung geht“ und besteht aus den drei „einfachen“ Schritten Beobachten, Entscheiden und Umsetzen:

  • Beobachten: Hier geht’s darum, Ist-Zustände bewusst zu beobachten und Soll–Ist-Differenzen früh zu erkennen – bezogen auf die Selbst-, Mitarbeitenden-, Team- und die Organisationsführung.
  • Entscheiden: Hier geht’s darum, basierend auf der Beschreibung der Ist-Soll-Differenzen Hypothesen aufzustellen, diese zu bewerten und dann bewusst zu entscheiden (nicht intervenieren / nachsteuern / Veränderung anstoßen).
  • Umsetzen: Führung wird erst wirksam, wenn Entscheidungen in Handlungen münden und Veränderungen sichtbar werden. Anders gesagt: Entscheidungen müssen Folgen haben.

Und dann beginnt es wieder von vorne – Beobachten, Entscheiden und Umsetzen.

Das Ganze kann dann beispielsweise so aussehen:

Führungsmatrix Muster

Hier kannst Du das Muster als PDF herunterladen.

Ein Beispiel:

Im Feld Mitarbeitendenführung (x)/Lead (y) geht es unter anderem um Motivation, Beteiligung, Entwicklung, Konfliktklärung, psychologische Sicherheit etc. Die Führungsschleife heißt dann bspw.: beobachten, ob „schlechte Nachrichten“ im Team ausbleiben. Dann gilt es, Zielklarheit herzustellen und bspw. zu entscheiden, was mit offener Fehlerkultur gemeint ist. Die Umsetzung kann dann über Vereinbarungen, Unterscheidungen (Komplexitätsfehler vs. Regelverstöße) und Kommunikationsregeln (über die Gestaltung des Systems und nicht über den Versuch, Verhalten zu verändern) erfolgen.

Die Kombination aus Führungsspektrum und den Schwerpunkten der Führungsarbeit ergibt ein System, das Führung als Funktion versteht. Damit wird die Abhängigkeit von einzelnen „starken Führungspersönlichkeiten“ reduziert – und das ist in Zeiten von Führungskräftemangel und hoher Fluktuation ein echter Vorteil. Darüber hinaus wird Orientierung, Klarheit und Sicherheit bei neuen und erfahrenen Führungskräften erhöht.

Eine Begleitung bei der Erarbeitung, aber auch bei der Einführung der Führungslandkarte (z.B. in einer „Pilot-Abteilung“) kann hilfreich sein – mit dem Ziel, dass Erfahrungen gemacht werden können, Lernen möglich ist und eine robuste Führungspraxis entsteht – und danach die Erfahrungen organisationsweit ausgetauscht und bereichsübergreifend voneinander gelernt werden kann.

Schritt 5: Schauseite bewusst gestalten – ohne „unehrlich“ zu werden

Wie oben schon angesprochen bleibt die Funktion der Führungsgrundsätze für die Schauseite wichtig (bspw. zur Gewinnung von Führungskräften). Hier zeigt die Erfahrung, dass trotz der Führungsmatrix die Erarbeitung von (auch wertebasierten) Führungsgrundsätzen hilfreich ist (und bleibt).

Die Führungsgrundsätze können als Wertekatalog dann auch gut nach außen gezeigt werden – sie werden aber entlastet, weil sie nicht mehr das alleinige Instrument sind, um im komplexen Führungsalltag allein Orientierung geben zu müssen.

Fazit: Führungsgrundsätze gestalten für Klarheit und Orientierung

Klassische Führungsleitbilder sind nicht „schlecht“. Sie erfüllen nach außen wichtige Funktionen.

Wenn Du aber willst, dass Führung nach innen professionalisiert wird, dass neue Führungskräfte schneller in ihrer Rolle ankommen und dass ihr bei Widersprüchen nicht jedes Mal bei moralischen Vorwürfen oder dem Beschuldigen von Person landen wollt, dann braucht es andere Instrumente, die Komplexität reduzieren, Widersprüche ehrlich bearbeiten und Führungsarbeit konkret machen. Genau darauf zielt die Kombination aus Führungslandkarte (Purpose/Spektrum/Matrix) und Führungsschleife – in Kombination mit wertebasierten Führungsgrundsätzen.

Am Ende geht es um „Werkzeuge für den Alltag“ – nicht, weil Werte unwichtig wären, sondern weil Werte ohne Strukturen zu informalen Erwartungen werden, die einem im Alltag schnell um die Ohren – oder gar nicht – fliegen.


Wenn Du also Führungsgrundsätze willst, die intern wirksam sind, dann lautet die zentrale Frage nicht „Welche Werte sind uns wichtig?“, sondern: „Welche Orientierung brauchen unsere Führungskräfte in genau den Situationen, in denen es kritisch wird?“

Werte können dabei eine gute Grundlage sein. Aber ohne den Blick auf Struktur, Klarheit und Führung als Funktion, die mehr ist als Mitarbeiterführung, bleiben sie zu oft Schauseite – und Führung wird weiter von Person zu Person neu erfunden.

Wenn du willst, schick mir eure Führungsgrundsätze (PDF oder Link genügt). Ich gebe Dir gerne ein Kurzfeedback: Was daran ist Schauseite (und darf es auch bleiben)? Was fehlt – und welcher nächste Schritt hat bei Dir vermutlich die größte Wirkung?

Und bei der Erarbeitung von Führungsgrundsätzen unterstütze ich natürlich sowieso gerne 😉 Einfach hier ein kostenloses Erstgespräch buchen und wir klären gemeinsam, was ihr braucht.

Quellen

  • Gesmann, S. (2025): Systemisches Führen – Perspektiverweiterung im Sozialmanagement. In: SOZIALWIRTSCHAFT 5/2025. S. 25 – 28.
  • Gesmann, S.; Merchel, J. (2021): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Handbuch für Studium und Praxis. Heidelberg.
  • Richter, T., Groth, T. (2023): Wirksam führen mit Systemtheorie: Kernideen für die Praxis. Heidelberg.

10 Faustregeln für den erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit!

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Ich habe vor einigen Jahren mal den Job gewechselt. Nach neun Jahren. Ich habe damals nicht nur eine neue Aufgabe übernommen, nein, ich habe die „Firma“ gewechselt.

Jetzt könnte man sagen: „Toll, Junge“.

Jobwechsel gibt es ständig, immer wieder. Jede:r hat mal irgendwo angefangen, hat die Stelle gewechselt, ist dafür umgezogen, hat neu angefangen, was auch immer. Nichts Spektakuläres.


Das hier ist die überarbeitete und gekürzte Version eines Beitrags, den ich schon 2017 veröffentlicht hatte. Ich denke aber, die aktuelle Zeit braucht ein paar Ideen, wie es gelingen kann, mit Unsicherheit umzugehen – und vielleicht findest Du ja auch den ein oder anderen hilfreichen Hinweis?


Von Unsicherheitshelden und Arbeit

In meiner neuen Position fühlte ich mich damals – völlig verständlich und normal – ziemlich unsicher. Das war ich jedoch in dieser Form gar nicht mehr gewohnt. Neben Jobwechseln gibt es heute und in Zukunft enorm viele Unsicherheitsfaktoren, denen wir uns zwangsläufig aussetzen müssen. Wenn ich diese Unsicherheitsfaktoren so betrachte, muss ich für meinen Teil sagen, dass ich kein Held der Unsicherheit bin.

Ich erinnere mich hier nur kurz (und dunkel) an den Bruch, den es für mich bedeutete, aus dem Angestelltenverhältnis in die komplette Freiberuflichkeit zu wechseln – kein Netz mehr, kein doppelter Boden, sondern eher „Verführungen am äußeren Rand der Panikzone“.

Kurz: Unsicherheit ist grundsätzlich eine spannende, wenn auch nicht unbedingt schöne Erfahrung. Das kennt wahrscheinlich jede:r…

Gleichzeitig ist aber davon auszugehen, dass diese Unsicherheitsphasen in Zukunft deutlich zunehmen werden. Das bezieht sich nicht nur, aber auch auf den „Job“, bei dem davon auszugehen ist, dass die Zyklen, in denen wir in einem „Job“ bleiben, immer kürzer werden. Hinzu kommt, dass es in einigen, eigentlich in fast allen Branchen – und damit auch im Sozialbereich – vor allem durch Digitalisierung und Fachkräftemangel zu tiefgreifenden Umwälzungen kommen wird.

So reicht bspw. die Frage: Welche Teile Deiner bisherigen Arbeit können von immer intelligenter werdenden Maschinen, können von KI übernommen werden?

Das sind viele. Und es werden vermutlich immer mehr. KI kann schon jetzt – sehr unproblematisch – Anträge ausfüllen und Online-Beratungen durchführen. Wie viele Jobs in der Sozialen Arbeit fallen dadurch weg oder verändern sich zumindest – teilweise radikal?

Ein Blick in das Management der Organisationen zeigt ebenfalls, dass – vor allem vor dem Hintergrund zunehmender Bürokratisierung oder einem um sich greifenden Managerialismus – viele Aufgaben in den Führungsetagen von Computern übernommen werden können. Und selbst wenn es Computer und KI nicht besser können, so können sie es zumindest billiger.

Die VUCA-Welt lässt grüßen – ein Alptraum?

Nein, mindestens zwei Albträume.

Einmal der Alptraum des Managerialismus. Wir müssen wieder dahin kommen, dass „soziale“ Arbeit auch in der Sozialen Arbeit möglich wird. Aber das ist ein – hier zumindest – anderes Thema.

Und dann der Alptraum, dass wir uns häufig nicht mit den Veränderungen und der damit einhergehenden Unsicherheit beschäftigen und wir als Menschheit, als Gesellschaft, in unseren Organisationen und auch als Menschen häufig erst gegen die Wand laufen müssen, bevor wir die Richtung wechseln – „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 zeigen das erschreckend deutlich.

Umgang mit Unsicherheit

Die Unsicherheit über den Verlauf der zukünftigen Entwicklung rund um KI, Fachkräftemangel, Klima, Politik und Co. ist hoch – weil sie von politischen Rahmensetzungen und der Kooperation der Akteure abhängt.

Klar, wir können nicht genau wissen, was kommt.

Aber wir können es gestalten – in unserer Umgebung, in unserem „Circle of Influence“, in unserem Einflussbereich.

Aber wie?

Wie lassen sich unsichere Entwicklungen und damit verbundene komplexe Situationen – ganz allgemein – positiv gestalten?

Ich habe mir – im Zuge meiner eigenen Unsicherheit einmal angeschaut, was die Psychologie zum individuellen Umgang mit Unsicherheiten sagt.​ Dazu habe ich Veröffentlichungen von dem Kasseler Psychologen Ernst Lantermann herangezogen, die ich hier zusammenfassend widergebe:

Typen im Umgang mit Unsicherheit

Zunächst einmal lassen sich verschiedene Typen festmachen, die ich mir nicht selbst ausgedacht habe.

Der:die gläubige Analytiker:in

Das mentale Modell beruht auf Gesetzen und Regeln mit dem Grundsatz:

Wer erfolgreich sein will, muss nur diese Regeln kennen, um dann nüchtern und überlegt die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Intuition, Gefühl oder Handeln „aus dem Bauch heraus“ sind dem:der gläubigen Analytiker:in ein Gräuel.

Daraus folgt, dass gläubige Analytiker:innen alles, was nicht analytisch erfassbar ist, einfach nicht zum Gegenstand ihres Weltbildes machen. Easy: Der Glaube an die Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit der Welt macht sie und ihn jedoch extrem anfällig für „Störungen“. Unvorhergesehenen Überraschungen und „Regelabweichungen“ steht er:sie hilflos gegenüber. Es entsteht eine Handlungsstarre.

Statt auf eine Lösung zu drängen, zieht er:sie sich auf das zurück, was er:sie besonders gut kann: Daten sammeln und analysieren, auch wenn der Zug inzwischen längst abgefahren ist.

Menschen mit diesen Weltbildern und Fähigkeiten sind nahezu unschlagbar, wenn es darum geht, relativ einfache, komplizierte, wenig komplexe und überschaubare Anforderungen erfolgreich zu bearbeiten. Werden die Anforderungen jedoch komplex und unüberschaubarer, sind von ihnen kaum lösungsorientierte Vorschläge und Ansätze zu erwarten.

Dann gibt es Überzeugungstäter:innen

Das mentale Modell des:der Überzeugungstäters:in hilft, die Komplexität der Welt durch klare Zielhierarchien, klare Unterscheidungen zwischen „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“ erheblich zu reduzieren.

Damit einher geht die Ausblendung möglicher „Kollateralschäden“ des Handelns.

Der:die Überzeugungstäter:in handelt zielstrebig nach bestem Wissen und Gewissen und ganz im Einklang mit den inneren Überzeugungen. Das verleiht ihm ein gefühlt hohes Maß an moralischer Überlegenheit, nicht selten gepaart mit einer scharfen Ablehnung von „Opportunisten“, Menschen ohne unbeugsam klare innere Haltung.

Welches Leitprinzip dabei handlungsleitend ist, ist zunächst unerheblich. Es kann also das Leitprinzip der Rettung der Menschheit sein oder auch das Leitprinzip der Gewinnmaximierung. Kompromisse sind nicht möglich. Damit läuft er:sie mit in die typischen Fallen, die eine komplexe Situation bereithält und wird so zu einem hohen „Sicherheitsrisiko“ gerade für innovative und dynamische Unternehmen, die auf neue Ideen, Wege und Denkweisen angewiesen sind.

Der:die lustbetonte Draufgänger:in

Der:die lustbetonte Draufgänger:in hat grundsätzlich wenig Lust, sich gründlich zu informieren. So interessieren Details weniger, es genügt ein grober Überblick über das Problem. Es geht ihm:ihr darum, etwas auszuprobieren und zu sehen, was dabei herauskommt.

Gerade in komplexen Situationen drängt er:die auf die Umsetzung und auf entschlossenes Handeln.  Er drängt auf Veränderung und will das Problem möglichst rasch gelöst haben. Dadurch werden natürlich neue Probleme geschaffen – jede Problemlösung erzeugt Lösungsprobleme.

Die möglichen Fern- und Nebenwirkungen sind nicht im Fokus des entschlossenen Handelns. Dabei wird das „Weltmodell“ in nicht immer zielführender Weise vereinfacht. Zwar werden schnell Entscheidungen getroffen, aber viele Fallstricke, viele Informationen, viele Einwände werden nicht bedacht.

Der:die Klarheits-Suchende

Klarheitssuchende Menschen suchen klare Verhältnisse und Übersicht. Unsichere Situationen sind Störungen der gewohnten Handlungsroutinen. Am liebsten entwirft er:sie exakte und detaillierte Pläne, um die notwendige Klarheit und Eindeutigkeit der Situation wiederherzustellen.

Die klare Struktur ist für sie:ihn eine zwingende Voraussetzung für erfolgreiches Handeln. In Situationen, die schnelle Entscheidungen auch bei unvollständiger Informationslage erfordern, neigt er:sie dazu, auf bewährte Routinen und Gewohnheiten zurückzugreifen. Die Hoffnung besteht darin, durch erhöhten Einsatz Sicherheit zurückzugewinnen.

Das sind natürlich nicht alle „Typen“ und – wenn ich mich selbst so betrachte – gibt es natürlich auch Mischformen der Typen. Zugleich zeigt die Typologie, welche groben mentalen Modelle unter Unsicherheitsbedingungen existieren können.

Fehler im Umgang mit Unsicherheit

Spannend ist es jetzt, die typischen Fehler im Umgang mit Unsicherheit anzuschauen. Neben der Zentralreduktion als kognitive Strategie,  bei der Probleme und Schwierigkeiten auf eine zentrale Ursache zurückgeführt werden, gibt es hier noch die Verabsolutierung von Zielen oder auch das Handeln nach dem Reparaturdienstprinzip (man löst immer nur die gerade anstehenden Probleme).

Die geschilderten Fehlervarianten lassen sich als Beispiele für Wege und Strategien, die Menschen im Umgang mit komplexen und unsicheren Handlungsanforderungen wählen ansehen, wenn Motive zur Reduzierung von Unsicherheit, zum Schutz des eigenen Kompetenzgefühls und einfache mentale Modelle das Handeln bestimmen.

Gemeinsam ist diesen verschiedenen Handlungsmustern, dass sie zentrale Merkmale komplexer Handlungsräume ignorieren und daher zu wenig erfolgreichen Ergebnissen führen.

Mir geht es aber viel eher um die Frage, wie man denn jetzt mit den Unsicherheiten umgehen lernen kann. Das ist natürlich ganz im Sinne des lustbetonten Draufgängers, der auf die rasche Lösung seines Problems drängt. Das ist mir bewusst.

Gibt es also so etwas wie einfache Regeln, nach denen man in unsicheren Situationen handeln kann? Ja, die gibt es, und auch hier liefert uns der tolle Text von Prof. Lantermann hilfreiche Informationen.

10 Faustregeln für den erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit

Leider gibt es keine allgemein anwendbaren, erfolgssicheren Strategien im Umgang mit komplexen Anforderungen und hoher subjektiver Unsicherheit. Dies ist angesichts der Komplexität auch nicht verwunderlich.

Vielmehr muss jede:r für sich die für ihn passenden Wege im Umgang mit unsicheren Situationen finden. Dabei ist neben der spezifischen Aufgabenstellung auch die eigene Persönlichkeitsstruktur – siehe Typen oben – zu berücksichtigen. Der notwendige individuelle Umgang mit Unsicherheit gilt übrigens genauso für Teams oder Organisationen insgesamt, was die „klassische“ Beraterbranche ziemlich unter Druck setzt.

Gleichzeitig gibt es aber eine Reihe von Faustregeln und Verfahren, die es ermöglichen, jeweils genau auf die Situation zugeschnittene gute Herangehensweisen und Strategien für erfolgreiches Handeln unter den Bedingungen von Komplexität und Unvorhersehbarkeit zu entwickeln und anzuwenden.

I. Fehler erkennen

Wer seine Fehler erkennt, kann sie in Zukunft vermeiden. Das heißt aber auch: Wer sie ignoriert, wird immer wieder die gleichen Fehler machen.

II. Phasen der Handlungsbezogenen Selbstreflexion

Immer wieder sollten Phasen der handlungsbezogenen Selbstreflexion eingeschoben werden.

Selbstreflexion bezieht sich wiederum auf den Einzelnen, aber auch auf das Team oder die Organisation als Ganzes. Folgende Fragen können dabei gestellt werden:

  • Wie haben wir uns dabei gefühlt?
  • Was könnten wir beim nächsten Mal anders machen?
  • Inwieweit ist das eingetreten, was wir erwartet haben?
  • Welche Erwartungen haben wir an unsere Handlungen und Entscheidungen geknüpft?
  • Warum haben wir (oder ich) das getan, was wir getan haben?

III. Nicht alles kontrollieren

Der Versuch, alles zu kontrollieren und zu verstehen, wird nach hinten losgehen. Besser ist es, sich auf die wichtigsten Aspekte der Situation zu konzentrieren und die Unsicherheit und Unzulänglichkeit des Wissens zu akzeptieren.

IV. Keine Detailplanung

Detailplanung kann nur schief gehen.

V. Planung auf mittlere Sicht

Mehr ist unter komplexen Bedingungen sowieso nicht möglich.

VI. Plan B 

Was könnte getan werden, wenn das Erwartete nicht eintrifft?

VII. Durchwursteln

Erfolgreicher als langfristige Planungen ist es, Entscheidungen und Handlungen flexibel an die jeweiligen Möglichkeiten anzupassen (Durchwursteln), ohne das „große Ziel“ aus den Augen zu verlieren.

VIII. Keine festgefahrenen Prinzipien

Prinzipien können gerne als Überzeugungen existieren, sollten aber in komplexen Situationen nicht handlungsleitend sein. So macht handlungsbezogene Prinzipientreue kompromissunfähig und führt gerade in der Konfrontation mit komplexen Anforderungen nicht zu guten Handlungsstrategien!

IX. Blick von außen

Es macht Sinn, die Situation aus der Sicht von Menschen zu betrachten, die von außen draufschauen und die ganz anders denken. Dies erhöht zwar zunächst die Komplexität und damit die als größer empfundene Unsicherheit der Situation. In der Folge kommt es aber häufig zu einer zielführenden Reduktion der Unsicherheit.

X. Vertraue! 

Wer anderen vertrauen kann, dem wird auch vertraut. Und Vertrauen ist eine zentrale Ressource für erfolgreiches Handeln unter unsicheren Bedingungen.

Denkstrategien für den Umgang mit Unsicherheit

Abschließend möchte ich noch einige Denkstrategien nennen, die sich im Umgang mit Unsicherheit und komplexen Situationen als hilfreich erwiesen haben (vgl. Lantermann et al., 2009):

  • Immer in Zusammenhängen denken und nie den Gesamtkontext aus den Augen verlieren, in den einzelne Handlungen eingebettet sind.
  • Prognosen und Erwartungshorizonte bilden, bevor konkrete Handlungspläne entworfen werden.
  • Ziele und Pläne flexibel gestalten, mit Leerstellen, die erst in der konkreten Situation gefüllt werden.
  • Zwischen Planen und Handeln problemadäquat wechseln.
  • Temporäre Prioritäten setzen und rechtzeitig Korrekturen einleiten. Nicht an einmal gefassten Vorsätzen festhalten!
  • Flexibel zwischen Detailbetrachtung und Vogelperspektive wechseln.

Umgang mit Unsicherheit und die Soziale Arbeit

Abschließend – nach so vielen Worten – noch ein kurzer Blick auf Unsicherheit und Soziale Arbeit. Unsicherheit ist dort ständiger Begleiter. Hintergrund ist natürlich, dass wir mit Menschen arbeiten.

Kommen die Menschen zum vereinbarten Beratungstermin? Wie geht es den Jugendlichen nach den Weihnachtsferien? Was hat der neue Jugendliche erlebt und wie reagiert er auf mich?

Das und viel mehr sind sehr unsichere Situationen. In der Sozialen Arbeit geht es oft um Beziehungsgestaltung, um die Gestaltung von komplexen Settings und um die Gestaltung von Netzwerken. Unsicherheitsbewältigungskompetenz (tolles Wort) sollte daher – neben Ambiguitätstoleranz – Teil der Ausbildung und des Studiums der Sozialen Arbeit sein.

Darüber hinaus könnte damit auch ein stärkeres unternehmerisches Denken und Handeln in sozialen Organisationen gefördert werden…

Der Blick auf Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt auch, dass diese häufig unter prekären Bedingungen agieren. Als Beispiel sei nur das Thema Fachkräftemangel genannt.

Unsicherheitsbewältigungskompetenz ist damit eine Kernkompetenz für das Führungskräfte sozialer Organisationen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob es auch eine organisationale Unsicherheitsbewältigungskompetenz geben kann?

Hier kommen wir dann zu Themen wie der organisationalen Resilienz oder zum agilen Management von Organisationen der Sozialwirtschaft – Themen, zu denen Du auf dem Blog und auch sonst überall ja einiges finden kannst.

Ich hoffe, ich konnte ein paar Denkanstöße liefern. Hast Du etwas mitnehmen können? Gerne hier einen Kommentar oder mir eine Nachricht hinterlassen…

Zum Weiterlesen:

*Das sind affiliate links. Ich verdiene ein paar cent, wenn ihr die Bücher über die Links bei Amazon kauft.

Du hast die Wahl, oder: wert-volle (soziale) Organisationen in einer Kultur der Digitalität

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Ich soll nächste Woche auf einer Klausurtagung einer sozialen Organisation irgendwas zur Digitalisierung sozialer Organisationen erzählen. Ehrlich gesagt langweilt mich das. Bitte nicht falsch verstehen: Ich erzähle gerne, höre mich selbst extrem gerne reden und komme auch gerne, wenn auch leider nur digital. Aber der Inhalt stellt mich vor Herausforderungen: Ich kann erzählen zu der Notwendigkeit von Plattformen, zu der Nutzung von Daten, zur zunehmenden Bedeutung künstlicher Intelligenz, zur Notwendigkeit, auch die Kompetenzen der Mitarbeiter* innen in den Blick zu nehmen und so weiter… Komplexität, Dynamik… Post-Corona sowieso… VUCA? Boah, echt jetzt?

Trotz all dieser schon drölfzig mal gemachten Erläuterungen, Vorträge und Workshops und trotz einer Pandemie, die die Digitalisierung selbst des deutschen Schulwesens (natürlich ungewollt) beschleunigt hat, stelle ich fest, dass wir irgendwie nicht so richtig weiterkommen. Ja, auch sozial braucht digital, aber das hat doch nun wirklich jede*r verstanden, oder? Und jetzt?

Kultur der Digitalität, oder: Worüber ist es wert, neu nachzudenken?

Was ist der nächste Schritt? Worüber ist es wert, nachzudenken? Was ist es wert, erzählt zu werden? Was soll ich berichten oder referieren?

Nach der Digitalisierung und der digitalen Transformation folgt für mich, wie für viele andere und auch diesmal wahrscheinlich nicht abschließend eine (oder die?) Kultur der Digitalität.

Digitalität bezeichnet – so Wikipedia – „die auf digital codierten Medien und Technologien basierenden Verbindungen zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten und zwischen Objekten.“ Und jetzt wird’s spannend:

„Im Gegensatz zu den Begriffen der Digitalisierung oder der digitalen Transformation, die vor allem eine technologische Entwicklung bezeichnen, bezieht sich Digitalität viel stärker auf soziale und kulturelle Praktiken.“

Eine Kultur der Digitalität fragt also nach der (Entwicklung einer) Kultur sozialer Praktiken, die die auf digital codierten Medien und Technologien basierenden Verbindungen zeigt.

Welche Kultur zeigt sich aber? Welche Merkmale weist diese Kultur der Digitalität auf? Dazu hat Felix Stalder schon 2016 ein Buch verfasst, in dem er auf die drei Ebenen Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität abhebt, die er als „die charakteristischen Formen der Kultur der Digitalität [definiert], in der sich immer mehr Menschen, auf immer mehr Feldern und mithilfe immer komplexerer Technologien an der Verhandlung von sozialer Bedeutung beteiligen (müssen).“ Auf der Website zum Buch liest man, dass die Menschen damit auf die Herausforderungen einer chaotischen, überbordenden Informationssphäre reagieren (Komplexität) und zu deren weiterer Ausbreitung beitragen.

„Dies bringt alte kulturelle Ordnungen zum Einsturz und Neue sind bereits deutlich auszumachen. Felix Stalder beleuchtet die historischen Wurzeln wie auch die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung. Die Zukunft, so sein Fazit, ist offen. Unser Handeln bestimmt, ob wir in einer postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipation leben werden.“

In einer Kultur der Digitalität bestimmt unser Handeln, wie wir leben werden.

Unser Handeln bestimmt, wie wir leben werden und wollen. War das nicht schon immer so? Ja und nein. Ja, weil Handlung immer Zukunft bestimmt. Und nein, weil erst in der Digitalität zunehmend mehr Menschen mitgestalten können und wollen. Jede*r kann einen Blog schreiben und der eigene Podcast ersetzt beinahe die eigene Adresse. „Wir“ ist damit jede*r einzelne von uns, in unserer Gesellschaft. Das ist neu.

Wir messen Dingen, Handlungen, sozialen Praktiken usw. in der Gemeinschaftlichkeit Wert bei. Wir bestimmen, was für uns Relevanz hat und was irrelevant ist. Kultur entsteht aus der Abwägung dessen, was für uns Relevanz hat und damit Wert-voll ist. Vielleicht ein etwas krasser Sprung, aber:

Wie bemisst man demnach den Wert einer sozialen Organisation? Oder anders: Was ist eine wert-volle soziale Organisation in einer Kultur der Digitalität?

Was ist eine wert-volle soziale Organisation in einer Kultur der Digitalität?

Auf die Frage komme ich am Frühstückstisch, an dem mir mein Vater von dem Verkauf eines Picassos für mehr als 100 Millionen Dollar aus der Zeitung berichtet. Ich erzähle ihm daraufhin vom Verkauf der digitalen jpeg.-Datei für 69 Millionen Dollar.

Dahinter steht dann die Frage, was wert-voll ist und wie kulturelle Werte geschaffen werden. Denn keins der beiden Bilder – das „echte“ ebenso wie das „digitale“ – verfügen über einen materiellen Gegenwert, der auch nur ansatzweise dem den beiden Kunstwerken beigemessenen Wert entspricht. Kurzer historischer Rückblick:

Bevor es Geld gab war ein Pferd drei Kühe wert, weil ich mit dem Pferd mehr anfangen konnte. Danach war ein Auto irgendwelche Geldmittel wert, die der Autoverkäufer dann wieder irgendwo gegen etwas anderes oder die Arbeitszeit von jemand anderem eintauschen konnte. Es wäre heute immer noch denkbar, dass ich mir meinen Geldbetrag bei der Bank gegen Gold auszahlen lasse, um einen materiellen Gegenwert (in Form von Gold) zu bekommen. Dabei geht es viel um Vertrauen, da auch der Papierschein und selbst das Gold nur einen ihm durch die Gesellschaft beigemessenen Wert besitzt. Wenn niemand Gold wollte wäre es egal, selbst wenn es ein seltenes Metall ist.

Soweit dieser Erzählstrang zum Thema Wert mal bis hierher.

Vor Kurzem hat Jeff Bezos, der Amazon-Chef, einen Teil seiner Aktien verkauft und dafür 6,7 Milliarden Dollar bekommen. Auch wenn uns seit Corona und irgendwelchen wie auch immer finanzierten Schulden des Staates das Wort „Milliarden“ kaum noch vom Hocker haut, ist eine Milliarde verdammt viel Kohle (die unsere Kinder irgendwie – neben den Kosten der Klimakatastrophe finanzieren müssen, anderes Thema). Insgesamt verfügt Bezos als reichster Mensch der Welt über 188 Milliarden Dollar. Der Wert von Amazon insgesamt beläuft sich auf etwa 800 Milliarden Euro (Apple war übrigens mal mehr als eine Billion Dollar wert, auch eine lustige Zahl).

Aber wie viel „wert“ ist eigentlich eine soziale Organisation, ein Träger, ein Verband? Und wie gelingt es, den Wert zu steigern und zu einer wert-vollen Organisation zu werden? Einen Caritas-Verband zu verkaufen ist irgendwie nicht richtig super und rechtlich aufgrund der Vereinsstruktur nicht möglich, auch wenn man vielleicht sogar Käufer*innen finden würde (Bezos vielleicht? Wobei, der gründet das lieber selber, guckst Du hier).

Mit Blick auf die Kultur der Digitalität und die Feststellung, dass unser heutiges Handeln bestimmt, wie wir leben und arbeiten werden, bestimmt unser heutiges Handeln auch, wie wir soziale Organisationen gestalten werden und wollen. Unser Handeln oder genauer: Das Handeln der Beteiligten und damit Dein Handeln bestimmt, wie wert-voll die Organisation, der Verband, die Einrichtung ist, in der Du arbeitest.

Damit besteht die Option, so zu bleiben, wie man ist (Werbeslogans für Diätwurst ploppen im Kopf auf). Es besteht aber genauso die Option, die Organisation durch gemeinsames, eigenes Handeln neu zu gestalten.

Everything is a remix und irgendwie bleibt alles anders

Grüße gehen raus an Herbert, vor allem aber an Benjamin. Herbert schreibt Lieder und Ben schreibt auf die Frage, was unter der Kultur der Digitalität verstanden werden kann:

„Everything is a remix!“

Das gefällt mir sehr gut, denn wir haben in unseren Organisationen, genau wie es uns in der Kultur der Digitalität in vielerlei Arten vorgelebt wird, die Wahl, zu mixen! Wir haben die Wahl, die Dinge, Strukturen, Regeln und Rituale, die Kommunikationswege und Prozesse neu zu mixen. Wir müssen nicht die dritte Hierarchieebene einziehen. Wir können die Abteilung zu- oder aufmachen. Wir müssen den Mitarbeiter*innen nicht vorschreiben, wann sie wie lange von wo arbeiten. Wir können das aber, wodurch sich der Wert ändert. Wir haben die Wahl.

Das, was uns davon abhält, neu zu mixen, sind unsere Glaubenssätze. Wir werden abgehalten von dem, wie wir glauben, dass eine Organisation und (soziale) Arbeit zu sein hat. Jaja, es gibt noch ein paar rechtliche Rahmenbedingungen, die das Leben sozialer Organisationen ebenfalls nicht zu einem Wunschkonzert machen. Aber mal ehrlich: Das sind oftmals nur ein paar wenige Punkte. Diese berechtigen nicht zur Pauschalkritik „Bei uns geht das aber nicht!“

In einer Kultur der Digitalität kommt Lebendigkeit nicht von außen und von oben schon dreimal nicht.

Oder als Fazit:

Den Wert sozialer Organisationen in einer Kultur der Digitalität bestimmen wir. Das, wonach wir in den Organisationen suchen, Innovation, Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, Agilität… müssen wir selbst machen. Niemand wird dies vorgeben. Lebendigkeit kommt nicht von außen und von oben schon dreimal nicht.

Daraus folgt aber auch, dass es nicht die eine Kultur geben kann. In jeder Organisation kann und darf es viele, parallele Kulturen geben. Damit sind wir wieder am Anfang und ja, auch bei der VUCA-Welt: Viele Kulturen in einer Organisation erfordern Komplexitätssensibilität, Ambiguitätstoleranz und den Umgang mit Unsicherheit. Not so easy, aber mehr als wert-voll.

Viele Kulturen, der Umgang mit Komplexität und Dynamik, die Freiheit der Wahl, die sich daraus ergebende Verantwortung ebenso wie die sich daraus ergebende Verbundenheit zu dem, was man wirklich, wirklich tun will, sind Merkmale dieser New Work, die wir jetzt so dringend brauchen. Und das natürlich nicht nur in sozialen Organisationen. Soziale Organisationen aber könnten als Vorreiter vorangehen und zeigen wie eine wert-volle Kultur der Digitalität geht. Denn Gesellschaft gestalten und die Begleitung von Menschen hin zu Selbstbestimmung und Autonomie sind ureigenen Aufgaben sozialer Arbeit.


Und wie mache ich da jetzt nen Vortrag raus?

Drei Gründe, warum Objectives and Key Results sinnvoll für soziale Organisationen sind

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Führung mit Zielen oder MbO – Management by Objectives – kennen viele Führungskräfte aus ihrer Führungskräfteausbildung (falls sie eine hatten). Dort haben sie wahrscheinlich davon gehört, dass Anweisung und Kontrolle jetzt nicht so super sind, es aber Sinn macht, den Mitarbeiter* innen Ziele zu geben, die sie dann „eigenverantwortlich“ umsetzen sollen. Eigenverantwortlich heißt in diesem Kontext, dass es sogar egal ist, wie, wann und wo die Ziele umgesetzt werden. Echte Freiheit wird postuliert, endlich können die Mitarbeiter* innen im Sinne des Unternehmens das tun, was sinnvoll ist. Wenn überhaupt einmal im Jahr, in den Mitarbeiter- und Zielvereinbarungsgesprächen, werden die Ziele überprüft, im Extremfall werden Boni ausgeschüttet für „erfolgreiche Zielerreichung“ und dann geht es weiter ins nächste Jahr. Und jede Führungskraft weiß im Inneren genau, dass dieses Theater Quatsch ist:

Ziele werden entweder so verhandelt, dass sie auf jeden Fall erreicht werden oder dass sie schon bei Vereinbarung erreicht wurden. Wenn die Ziele im Laufe des Jahres nicht erreicht werden, wird der*die Mitarbeiter*in für etwas verantwortlich gemacht, das in einem sozialen System immer (!) systemische Gründe hat. In Verbindung mit individuellen Boni wird es übrigens katastrophal, da Mitarbeiter*innen dann ausschließlich für den Boni und nicht mehr für das Team oder die Organisation arbeiten. Und Unvorhergesehenes, wie bspw. eine kleine Pandemie zwischendurch, kann mit den jährlich festgelegten Zielen nicht erfasst werden.

Oder wie hast Du Dir 2020 vorgestellt?

Objectives and Key Results

Zwischen Hoffnung und Schuld: Widersprüche in der Führung sozialer Organisationen

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In den letzten Wochen und Monaten habe ich in verschiedenen Veranstaltungen die Frage behandelt: Wie gelingt Führung sozialer Organisationen? Hinzu kamen aktuell Ergänzungen wie „in der Krise“ oder „digitale Führung“ oder ähnliches. Alle Veranstaltungen waren (aus meiner Sicht zumindest) sehr zufriedenstellend: Wir konnten gemeinsam Führung reflektieren, Herausforderungen für die jeweiligen Organisationen ansprechen und konkrete Stolpersteine und Möglichkeiten eruieren. Und ja: Das geht auch digital (auch wenn der Fokus der Videokonferenzen echt zehrt).

Was ist direkte und indirekte Führung?

Mitarbeitergespräche in der Krise – muss das?

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Zum Thema Mitarbeitergespräche bin ich persönlich zwiegespalten.

Auf der einen Seite ist es irgendwie sehr befremdlich, einmal im Jahr mit seinen Vorgesetzten zu sprechen und basierend auf diesem Gespräch zu überlegen, wie es das nächste Jahr weitergehen soll.

Wir brauchen viel mehr New Work in sozialen Organisationen – dann klappt’s auch mit den Fachkräften

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Ja, ich weiß, der Titel ist etwas provokant, aber soviel Spaß muss sein 😉

Interessanterweise lösen Impulse in soziale Systeme Reaktionen aus, die nicht kontrollierbar sind. Das sind Erfahrungen, die Menschen in Organisationen hinsichtlich deren Nichtsteuerbarkeit – der Menschen und der Organisationen – machen. Es ist aber auch das Spannende an den sog. Sozialen Netzwerken:

Mein Impuls zur Frage nach den Auswirkungen und Möglichkeiten von New Work auf den Fachkräftemangel sozialer Organisationen zeigt dies recht deutlich: Ich sende einen Tweet, aufgrund dessen Reaktionen von Hannes und Christian ausgelöst werden, die ich nicht hätte voraussagen können geschweige denn wollen, die mich aber gerade deshalb sehr freuen. Hier mein Tweet:

Management-Innovation in Organisationen der Sozialwirtschaft

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Die Herausforderungen für Organisationen der Sozialwirtschaft waren und sind gravierend. So haben sich Organisationen der Sozialwirtschaft schon immer mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen befassen müssen, allein aufgrund ihres Auftrags – der Lösung sozialer Probleme. Aktuell jedoch kommen Herausforderungen hinzu, die die Organisationen, Verbände und natürlich die darin arbeitenden Menschen nicht nur inhaltlich, sondern auch bezogen auf ihre interne und externe Kommunikation, ihre Strukturen, Prozesse und Rituale und ebenso ihre Führung und Leitung infrage stellen.

Welche Kompetenzen brauchen Innovationsmanager in sozialen Organisationen?

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Und Innovationsmanagerinnen, natürlich! Oder brauchen soziale Organisationen (Wohlfahrtsverbände, freie Träger etc.) überhaupt Innovationsmanager*innen? Falls ja: Welche Kompetenzen brauchen Innovationsmanager in sozialen Organisationen?

Hintergrund der Frage ist die Feststellung, dass die Fähigkeit, zielgerichtet neue soziale Dienstleistungen, wirtschaftliche, organisationsstrukturellen und/oder -prozessuale sowie soziale Problemlösungen umzusetzen, wesentlich zur (Über-) Lebensfähigkeit von Organisationen beiträgt.

Innovation und Lernen: Working Out Loud in der Sozialen Arbeit

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#WOL? Schon einmal etwas davon gehört? Nein? Das wundert mich ein wenig. So habe ich das Gefühl, mit meinem Artikel beinahe zu spät dran zu sein, denn die Methode „Working Out Loud“ (kurz: #WOL) wird und wurde bereits in unzähligen Blogbeiträgen aufbereitet und erläutert. Ist es aber nur die neue Sau, die durch das digitale Dorf getrieben wird? Oder ist an der Methode Working Out Loud tatsächlich mehr dran? Und wenn mehr dran ist: Worin kann der Nutzen der Methode für die Professionellen in der Sozialen Arbeit und ggf. auch für soziale Organisationen liegen?

Im Folgenden gehe ich entsprechend den Fragen nach: