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How (not) to kill your Company, oder: Die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit und wie Du ihnen begegnen kannst.

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Hier mein Skript zu einer „Keynote“ 😉 meines Impulses, den ich vor wenigen Tagen im neu eröffneten Futurum halten durfte. Das Forum stand unter dem Oberthema „Diakonisches Umfeld im Wandel“ und die Teilnehmer:innen waren aufgefordert, ihren „Haupt-Killerfaktor“ zur Veranstaltung mitzubringen, um im Anschluss an meinen Impuls über diese Faktoren tiefer in den Austausch zu gehen. Ausgehend von dieser Themensetzung habe ich einleitend über die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit gesprochen.

Einschränkend ist zu erwähnen, dass es sich hierbei um die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht handelt – und ich werde meine Meinung dazu in Zukunft sicherlich ändern, weiterentwickeln und anpassen. Das sind also die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt.

Jetzt aber – fast – los. Fast, weil ich einführend meinen Bezugsrahmen skizzieren will:

Mein Bezugsrahmen oder: Wozu existieren Organisationen der Sozialen Arbeit?

Unter dem Bezugsrahmen verstehe ich einleitend die Frage:

Wozu existieren Organisationen der Sozialen Arbeit heute und in Zukunft?

Für mich ist das so etwas wie der „Basic Purpose“, eine (fast) allgemeingültige Orientierung, die hilfreich sein kann.

Und mein Bezugsrahmen, den ich im Folgenden als Hintergrundfolie mitlaufen lasse, ist die „Definition Sozialer Arbeit“, die Du hier finden kannst.

Sie lautet:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.

Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.

Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen.

Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (Hervorhebungen durch d. Verf.).

Für mich ist diese Definition deshalb relevant, um eine – zwar sehr allgemeine, aber – grundlegende Orientierung darüber zu haben, wozu Organisationen der Sozialen Arbeit in all ihren Ausprägungen existieren. Sie liefert damit aus meiner Sicht eine gute Orientierung, warum es sinnvoll und wichtig ist, über das Überleben und die Zukunft von Organisationen der Sozialen Arbeit nachzudenken.

Es ist hervorzuheben, dass „die Sozialwirtschaft“ bzw. vor allem die beim Vortrag anwesenden Vertreter:innen der Komplexträger sich nicht nur in der Sozialwirtschaft, sondern in der „Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ bewegen. So lassen sich z.B. Krankenhäuser, aber auch Pflegeeinrichtungen nicht unmittelbar unter dieser Definition zusammenfassen. Für mich wird damit deutlich, dass die ohnehin schon enorme Komplexität, in der sich die verantwortlichen Vorstände und Geschäftsführer dieser Organisationen bewegen, noch einmal deutlich erhöht wird.

Dennoch glaube ich, dass die Definition der Sozialen Arbeit eine Orientierung für die folgenden fünf Hauptgefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit geben kann.

Die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit

Jetzt geht’s aber wirklich los… Und ich bin gespannt auf Dein Feedback – gerne hier in den Kommentaren oder per Mail!

Gefahr I: Management-Moden!

Management-Moden lassen sich definieren als „Managementkonzepte, die relativ schnell viel Aufmerksamkeit von Manager:innen auf sich ziehen, ohne dass ihre Relevanz wissenschaftlich oder durch längere praktische Erfahrung belegt ist.“

Sie bieten „ihren Adressaten suggestive, aber vergleichsweise einfache Lösungen und Tools an, ohne situative oder organisationale Komplexität in Rechnung zu stellen“ (Bartel, 2020:4).

Bei näherer Befassung mit Management-Moden lassen sich bekannte Begriffe finden, wie:

  • „agiles Management“
  • „post-bürokratische Organisationen“
  • „Fehlerkultur“
  • „OKR“
  • „Lernende Organisation“
  • „Transformationale Führung“
  • „New Work“

Die Liste ist nicht abschließend und ließe sich verlängern.

Die aus meiner Sicht große Gefahr in der Existenz besteht darin, dass aufgrund der Existenz von Management-Moden organisationale Veränderungen nicht aufgrund echter Herausforderungen angegangen werden, sondern aufgrund normativer Beweggründe:

„Damit wir modern sind, müssen wir jetzt New Work machen!“

In meinem Newsletter vom 28. Juni 2024, den Du hier nachlesen und hier abonnieren kannst, bin ich vertiefend auf Management-Moden eingegangen.

Unter Berücksichtigung der Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit wird die Gefahr noch deutlicher:

So lassen sich Organisationen der Sozialen Arbeit, den Ausführungen von Klaus Grunwald (vgl. Grunwald, 2018:165ff) folgend, als „hybride Organisationen“ definieren.

Damit ist gemeint, dass sie mit verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren (informeller Sektor, Dritter Sektor, Staat und Markt) verbunden sind und von diesen geprägt werden. Diese Sektoren sind jedoch durch jeweils eigene Systemlogiken gekennzeichnet.

Organisationen der Sozialen Arbeit sind dementsprechend gefordert, unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Handlungslogiken zu integrieren, unterschiedliche Zielsetzungen zu einem eigenen Zielbündel zusammenzufügen, unterschiedliche und wiederum zum Teil widersprüchliche Einfluss- und Entscheidungsstrukturen zu berücksichtigen und zu kombinieren sowie aus unterschiedlichen Identitätsangeboten eine eigene Identität zu formen.

Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, auch intern Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass sie den „hybriden Anforderungen“ gerecht werden und eine Vielzahl von Zweck- und Sinnbestimmungen zulassen und gleichzeitig identitätsstiftend sind.

Konkret müssen Organisationen der Sozialen Arbeit einerseits den Systemlogiken der Kostenträger folgen und gesetzeskonform handeln, um ihre Leistungen refinanziert zu bekommen. Gleichzeitig sind sie gefordert, auf einem Markt zu agieren, der dem binären Code Bezahlen/Nicht-Bezahlen folgt. Hinzu kommt, dass die Leistungen von Organisationen der Sozialen Arbeit in einem normativ aufgeladenen Umfeld agieren: Die Schließung von Angeboten aufgrund rein ökonomischer Notwendigkeiten stößt auf massiven gesellschaftlichen Widerstand.

Zusammenfassend besteht die Notwendigkeit, „hybride Anforderungen“ in eine Organisation zu integrieren, d.h. die Funktionslogiken unterschiedlicher Organisationseinheiten den hybriden Anforderungen anzupassen. Kurz:

One Management-Mode does not fit all Anforderungen.

Anstatt also der nächsten Management-Mode hinterherzurennen, sollte bei jeder Anpassung, Entwicklung und Veränderung die Frage in den Vordergrund rücken:

Was ist funktional für unseren Zweck?

Gefahr II: Die Mitarbeiter:innen im Mittelpunkt!

Diesen Aspekt habe ich bereits mehrfach angesprochen: Durch den Fachkräftemangel wird auf der Seite der Mitarbeiter:innen die Illusion genährt, dass sich die Organisation um ihre eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickeln müsse.

Wenn aber die Organisation in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeiter:innen gestellt wird und damit die Personenorientierung die Oberhand gewinnt, hat dies „katastrophale Folgen für die Organisation“ (Wimmer, 2019).

Mit Blick auf die Geschichte vieler Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt sich die Personenorientierung (im Gegensatz zur Aufgabenorientierung) auch ohne Fachkräftemangel an vielen Stellen sehr deutlich – von der Gründung sozialer Organisationen auf der Basis individueller Schicksale der Gründer:innen über die auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesenen Rechtsformen sozialer Organisationen bis hin zur auf intrinsische Motivation setzenden professionellen Identität der in sozialen Berufen Tätigen. Dies führt dazu, dass das für Organisationen konstitutive Element der Trennung von Person und Rolle in Organisationen der Sozialen Arbeit wenig ausgeprägt ist (vgl. näher hier).

Das primäre Ziel jeder Organisation ist jedoch ihr Überleben, das sekundäre Ziel ist die Erfüllung des Organisationszwecks.

Es ist unstrittig, dass dazu insbesondere in sozialen Organisationen Menschen notwendig sind, die aber bestimmte Rollen einnehmen. Aufgrund des Fachkräftemangels in der Sozialwirtschaft können wir aber nicht mehr davon ausgehen, dass die Rollen aufgrund der „Haltung“ der Personen (vor allem bei Nicht-Fachkräften) „adäquat“ ausgefüllt werden.

Statt also die (sehr unterschiedlichen) Bedürfnisse der Personen in den Vordergrund zu stellen, gilt es, die formalen Rollenerwartungen (viel) expliziter zu machen und Prozesse, Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar(er) zu definieren.

Hier habe ich die Methode „Marktplatz der Erwartungen“ beschrieben, die hilft, ein klares Verständnis über und klare Erwartungen an die Rollen, Mandate bzw. Verantwortungsbereiche in der Organisation und damit (möglichst) klare Zuständigkeiten zu definieren.

Gefahr III: Alles gleichzeitig!

Vor dem Impuls habe ich mein digitales Netzwerk nach den aus ihrer Perspektive größten Gefahren befragt. Insbesondere bei LinkedIn gab es viele, sehr tiefgehende Rückmeldungen dazu, du Du hier nachlesen kannst.

Ein Aspekt, der mir in diesem Zusammenhang besonders auffiel, war der immer wieder vorgebrachte Hinweis auf den fehlenden Fokus bzw. die fehlende Strategie in und von Organisationen der Sozialen Arbeit, die tatsächlich angegangen wird.

Dies ist einerseits verständlich, wenn man die oben skizzierten hybriden Herausforderungen von Organisationen der Sozialen Arbeit in den Blick nimmt:

Wenn sich Organisationen der Sozialen Arbeit an unterschiedlichen Systemlogiken orientieren müssen, fällt es schwer, „den einen Weg“ zu gehen bzw. die eine Strategie umzusetzen. Hinzu kommt zum anderen, dass globale, gesellschaftliche, politische wie auch technologische Entwicklungen immer auch unmittelbare Auswirkungen auf Organisationen der Sozialen Arbeit haben. Nur zwei Beispiele:

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine führt nicht nur (wie bei allen Unternehmen) zu enorm steigenden Energiekosten, sondern gleichzeitig zu der Notwendigkeit, Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, zu unterstützen. Ebenso reicht es nicht aus, sich mit digitalen Möglichkeiten zur Optimierung der eigenen Organisation zu beschäftigen, denn die Nutzbarkeit digitaler Tools und Technologien muss unter dem Begriff der Ermöglichung von Teilhabe immer auch aus der Perspektive der Klient:innen sozialer Organisationen betrachtet werden.

Kurz: Die Allzuständigkeit der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen zeigt sich auch in einer Allüberforderung der Organisationen der Sozialen Arbeit, die sich allen Themen gleichzeitig widmen sollten/könnten/müssten.

Gleichzeitig wird natürlich auch der Fachkräftemangel von den anwesenden Teilnehmer:innen als ein, wenn nicht aktuell als das größte Problem von Organisationen der Sozialen Arbeit gesehen. Anders gesagt:

Organisationen der Sozialen Arbeit werden – mit Blick nach außen – nicht umhin kommen, deutlich stärker zu fokussieren, abzuwägen und zu priorisieren, was in und von Organisationen der Sozialen Arbeit zukünftig noch angeboten werden kann bzw. neu angeboten werden sollte.

Gleichzeitig muss mit Blick nach innen hinterfragt werden, welche internen Prozesse, Abläufe, Hierarchien, Abteilungen usw. (formale Organisationsstruktur) funktional sind (siehe Gefahr I) und welche weggelassen werden können.

Peter Drucker bringt es auf den Punkt, wenn er sagt:

„Wenn man etwas Neues will, muss man aufhören, etwas Altes zu tun“.

Es gilt also, adaptive Strategien zu entwickeln und umzusetzen, denn:

„Es gibt vielleicht nur ein einziges unausweichliches Ordnungsgesetz [in Organisationen]: daß nicht alles auf einmal geändert werden kann“ (Luhmann 1976:140 und Danke Stefan, für das schöne Zitat 😉

Ganz kurz zusammengefasst sind damit Strategien gemeint, die den Strategieprozess aus zwei Perspektiven denken:

  • a) für strategische Ziele müssen geeignete Wege gesucht werden (klassische Strategiearbeit) und
  • b) müssen Organisationen gleichzeitig offen bleiben für die Suche nach geeigneten Zielen, Problemen und Einsatzmöglichkeiten für die in den Organisationen vorhandenen Mittel, Problemlösungen und vorhandenen Ressourcen.

Details zur Gestaltung adaptiver Strategien findest Du hier.

Gefahr IV: Immer aus dem Bauch heraus!

Organisationen können definiert werden als „ein Netzwerk fortlaufender Entscheidungen“ (Richter, Groth, 2023, 125) – Entscheidungen, die sich in den formellen und informellen Strukturen der Organisation manifestieren (teils schriftlich, teils mündlich). So ist bereits die Gründung einer Organisation eine Entscheidung. Weitere Entscheidungen folgen (z.B. die Entscheidung, Personal einzustellen; die Entscheidung über den Zweck der Organisation; die Entscheidung über die Regeln, die in der Organisation gelten). Mit den ersten Entscheidungen wird ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt. „Jede Entscheidung impliziert weiteren Klärungs- und Handlungsbedarf, die entstehende Geschichte bereits getroffener Entscheidungen fordert und begrenzt weitere Entscheidungen“ (ebd., 126).

Soweit so einfach.

Fraglich ist jedoch, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden – vor allem, wenn es sich um einschneidende Entscheidungen handelt (z.B. die Einstellung von Angeboten, siehe Gefahr III).

Entscheidungen können einmal „aus dem Bauch heraus“ und damit intuitiv getroffen werden. Dagegen ist auch wenig einzuwenden, sofern die Intuition auf langjährigen Erfahrungen beruht. Aber gerade bei Entscheidungen, die finanzielle und ggf. existenzielle Auswirkungen haben, ist das Bauchgefühl nicht immer der beste Ratgeber.

Sicherlich ist es schwierig, Entscheidungen über Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit immer und an allen Stellen datenbasiert zu treffen. So stellen sich z.B. Fragen wie:

  • Wie lässt sich empirisch nachweisen, dass explizit das Angebot für die Veränderungen bei den Klient:innen verantwortlich ist (und nicht bspw. das familiäre Umfeld)
  • Wie können einheitliche Indikatoren erstellt werden, die die Spezifika der Institution abbilden und gleichzeitig allgemeingültig sind?

Gleichzeitig verfügen soziale Organisationen jedoch über enorm viele Daten (Daten über die Nutzer:innen der Dienstleistungen, über die Mitarbeiter:innen, über die Verweildauer von Klient:innen in Maßnahmen, Finanzdaten und und und…). Durch die Analyse der in der Organisation vorhandenen Daten können Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, wie gut bestimmte Dienstleistungen funktionieren und wo möglicherweise Optimierungspotenzial besteht.

Die Gefahr, die ich in diesem Zusammenhang sehe, ist, dass in dem Moment, in dem andere Akteure die Wirkung von Angeboten datenbasiert nachweisen, diese bei allen Entgeltverhandlungen gewinnen. Und die Nutzung und Auswertung von Daten wird – auch durch die rasante Entwicklung von KI-Lösungen – immer einfacher.

Entsprechend ist es aus organisatorischer Sicht hoch relevant, systematisch bereitgestellte und ausgewertete Daten für die interne Entscheidungsfindung in einer Organisation zu nutzen. Wie bereits erwähnt, basiert diese derzeit noch zu oft auf Intuition und dem berühmten Bauchgefühl, das zwar sehr wichtig ist, aber in Zukunft nicht mehr ausreichen wird.

Es ist aber notwendig, die Datenkompetenz in der Sozialen Arbeit jetzt und in Zukunft deutlich auszubauen, um (nicht nur digitale) Daten für Entscheidungen nutzen zu können.

Gefahr V: Systemüberlastung!

Gelingende Veränderung braucht Ressourcen – Zeit, Geld, Personal, Menschen, die Lust haben, Netzwerke… Hinzu kommt, dass bei Veränderung die „Leistungsfähigkeit“ (von Teams und/oder Organisationen) zunächst sogar abnimmt, da – zumindest bei echten Veränderungen – das „neue“ Arbeiten erst gelernt werden muss.

Der Blick in Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt jedoch an vielen Stellen, dass die Organisationen zu 100% und mehr ausgelastet sind. Logo, auch hier kann der Fachkräftemangel angeführt werden. Hinzu kommen aber aus meiner Sicht an vielen Stellen auch hochgradig ineffiziente Prozesse und insgesamt wenig funktionale formale Strukturen der Organisationen.

Ständiges Arbeiten an und über der Belastungsgrenze führt jedoch zu organisationalem Burnout. Darunter ist zu verstehen, dass sich eine Organisation „in einem Zustand der Erschöpfung und Lähmung befindet und diesen als unerwünscht erkannten Zustand aus eigener Kraft nicht mehr positiv verändern kann“ (mehr hier).

Ursachen für organisationalen Burnout sind (vgl. ebd.)

  • externer Systemstress (Strukturwandel, Wettbewerbsdruck, Finanzmarktrisiken, veränderter Rechtsrahmen…);
  • interner Ressourcenstress (Erfolgsarroganz, Kompentenzdefizite, nachhaltiger Ressourcenmangel, übertriebener Ergebnisdruck);
  • endogener Identitätsstress (ständige Strategiewechsel, wiederholte Reorganisationsprogramme, Verlustängste des Managements, übertolerante Fehlerkultur).

Der Blick auf die Ursachen aus Sicht der Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt einige neuralgische Punkte (z.B. veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen wie das BTHG oder das KJSG, dauerhafte Ressourcenknappheit, Kompetenzdefizite auf der Leitungsebene).

Zusätzliche Belastungen und Krisen in Organisationen, die sich bereits im organisationalen Burnout befinden, führen zum Zusammenbruch des Systems.

Wie aber kann es gelingen, organisationalem Burnout und damit Systemüberlastung – insbesondere unter den herausfordernden Bedingungen von Organisationen der Sozialen Arbeit – zu begegnen?

Für mich ist hier die Auseinandersetzung mit organisationaler Resilienz von zentraler Bedeutung. Ja, man könnte Organisationale Resilienz auch als Managementmodus definieren. Aber die Ausführungen und Ideen hinter dem Konzept liefern viele hilfreiche Ansätze, die – wie in Deutschland üblich – in einer ISO-Norm (ISO 22316) beschrieben sind. Demnach verfügen „Resiliente Organisationen“ über folgende 9 Elemente:

  1. Gemeinsame Vision und Klarheit über den Zweck: Eine resiliente Organisation zeichnet sich durch die gemeinsame Vision, klare Ziele und gemeinsame Werte aus. Dies wird auf allen Hierarchieebenen geteilt.
  2. Verständnis des internen und externen Umfelds und Einflussnahme: Eine resiliente Organisation verfügt über ein tiefes Verständnis der internen und externen Systeme, in denen sie agiert. Dies ermöglicht der Organisation, aktiv Einfluss zu nehmen und Möglichkeiten zur Anpassung zu schaffen.
  3. Führung, die Unsicherheit und Scheitern akzeptiert und ermutigt: In einer resilienten Organisation herrscht eine Führungskultur, die es den Mitarbeitenden erlaubt, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
  4. Festlegung von relevanten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen: Eine resiliente Organisation verankert gemeinsame Überzeugungen und Werte, positive Einstellungen und Verhaltensweisen fest in der Kultur, die für jeden Einzelnen von Bedeutung sind.
  5. Teilen von Informationen und Wissen: Die Mitglieder einer resilienten Organisation teilen aktiv Informationen und Wissen. Das Lernen aus Erfahrungen, einschließlich Fehlern, wird unterstützt und gefördert.
  6. Verfügbarkeit von Ressourcen: Eine resiliente Organisation verfügt über Ressourcen wie qualifizierte Mitarbeitende, finanzielle Mittel, Gebäude, Informationen und Technologie, um die anfälligen Bereiche der Organisation abzusichern und eine schnelle Anpassung an sich ändernde Umstände zu ermöglichen.
  7. Entwicklung und Koordination der Unternehmensbereiche: In einer resilienten Organisation werden die verschiedenen Unternehmensbereiche (bspw. Personalwesen, Qualitätsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Krisenmanagement und Informationstechnologie), definiert, entwickelt und koordiniert. Dies geschieht im Einklang mit den strategischen Zielen der Organisation.
  8. Evaluierung und Unterstützung kontinuierlicher Verbesserung: Eine resiliente Organisation bewertet ihre Ergebnisse und lernt aus Erfahrungen, um Chancen für kontinuierliche Verbesserung zu identifizieren.
  9. Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren und zu managen: Eine resiliente Organisation erkennt frühzeitig zukünftige Veränderungen, kann angemessen darauf reagieren und diese erfolgreich bewältigen.

Auch hier lassen sich wiederum für Organisationen der Sozialen Arbeit spezifische Aspekte finden, die berücksichtigt werden müssen. Ich habe diese hier beschrieben.

Wichtig ist jedoch, dass Organisationen nicht in der Krise resilient werden, sondern im Training vor der Krise. Nur vor der Krise können Organisationen resilient gemacht werden.

In der Krise gilt der Krisenmodus. Das ist wie beim Fußball – auch da kann man vorher trainieren, aber nicht im Spiel.

Angesichts der gesellschaftlichen Spaltungen, der massiven Auswirkungen des Klimawandels, der unglaublich schnellen technologischen Entwicklungen und, und, und, ist eines aber sicher:

Krisen werden zunehmend zur Normalität – auch in und für soziale Organisationen.

Und dann gilt – optimistisch gesehen:

„If you‘re old, you‘re not dead!“ 😉

Gemeint ist damit, dass wir es in der Sozialen Arbeit nicht mit hippen Start-Ups zu tun haben, sondern mit Organisationen, die es geschafft haben, über Jahre, Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte zu existieren. Mit anderen Worten:

Wir können Krisen und wir haben Ressourcen, um mit Krisen umzugehen. Und vielleicht sind gerade Organisationen der Sozialen Arbeit aufgrund ihrer Besonderheiten besonders resilient.


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Fazit, oder: Heuristiken* zum Umgang mit den größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit

Zur Wiederholung noch einmal der Blick auf den eingangs eröffneten Bezugsrahmen:

Ziel muss es sein, Organisationen der Sozialen Arbeit zu entwickeln und zu gestalten, die heute und in Zukunft in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt zu fördern sowie die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen zu stärken!

Das treibt mich in meiner Arbeit an und das sollte – zumindest aus meiner Sicht – auch Motivation genug sein, trotz aller Herausforderungen und „Gefahren“ weiterzumachen und zu versuchen, an, mit und in Organisationen der Sozialen Arbeit zu arbeiten.

Einschränkend und abschließend möchte ich jedoch betonen, dass es an vielen Stellen nicht um ein „statt“ geht. Man könnte z.B. meinen, ich plädiere – um nur ein Beispiel herauszugreifen – dafür, „statt intuitiv zu entscheiden“ nur noch datenbasiert zu entscheiden. Das ist zu kurz gegriffen.

Vielmehr können Heuristiken helfen. Darunter versteht man Methoden, um mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen.

Heuristiken kennen wir z.B. aus dem agilen Manifest, in dem es heißt „Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen“, „Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor umfassender Dokumentation“, „Zusammenarbeit mit den Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen“ und „Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung“ (hier mehr).

Wichtig ist die Betonung von „haben Vorrang vor“. Dies bedeutet nicht, dass Pläne nicht mehr verfolgt werden sollen, sondern dass die Reaktion auf Veränderungen Vorrang vor der strikten Verfolgung von Plänen hat. Die Planverfolgung bleibt also relevant.

Überträgt man nun diese Denklogik auf die obigen Ausführungen zu den größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit, so lassen sich folgende Heuristiken formulieren:

  • Funktionale Veränderungen vornehmen hat Vorrang vor dem Verfolgen von Management-Moden!
  • Formale Erwartungen an Rollen definieren hat Vorrang vor der Personenorientierung!
  • Adaptive Strategien entwickeln und umsetzen hat Vorrang vor der kurzfristigen Reaktionen!
  • Datenkompetenz entwickeln und Wirkung messen hat Vorrang vor Bauchentscheidungen!
  • Organisationale Resilienz trainieren hat Vorrang vor dem Arbeiten über der Überlastungsgrenze!

Damit wird – hoffentlich – deutlich, dass auch die andere Seite kurzfristig relevant sein kann. Bauchentscheidungen z.B. sind ebenso relevant wie die kurzfristige Notwendigkeit, an und (wirklich nur kurz) über der Belastungsgrenze zu arbeiten. Und selbst Managementmoden haben ihre Berechtigung.

Fachkräftemangel als Chance – 10 Möglichkeiten für die Soziale Arbeit

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Vorab, weil es wichtig ist: Ich will hiermit den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit alles andere als schön reden. Die Auswirkungen heute und in Zukunft sind gravierend und die Analyse, dass dadurch der Sektor „vor dem Kollaps“ steht, wie es Hohendanner, Rocha und Steinke in ihrem gleichnamigen Buch eindrücklich beschreiben, ist bittere Realität. Ich bin jedoch auch davon überzeugt, dass es angesichts des Fachkräftemangels nicht ausreicht, zu jammern, sondern gleichzeitig die Möglichkeiten, die durch die herausfordernde Situation entstehen, in den Blick genommen werden müssen – für Mitarbeitende und Führungskräfte, für Organisationen der Sozialen Arbeit und für die Profession Soziale Arbeit als Ganzes. Entsprechend versucht der Beitrag, den Fachkräftemangel als Chance zu betrachten und 10 Möglichkeiten aufzuzeigen, die mit dem Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit einhergehen.

Ich will damit Mut machen, den Kopf aus dem Sand zu nehmen und sich neu Denken (und Handeln) zu erlauben. Ich will damit ermöglichen, trotz aller Schwierigkeiten immer wieder „proaktiv“ an die heute und in Zukunft mehr als wichtige Soziale Arbeit heranzugehen und eigene Einflussbereiche zu entdecken und zu nutzen.

Außerdem – und dann gehts auch schon los mit den Chancen – bin ich davon überzeugt, dass wir in der Sozialen Arbeit mehr „unternehmerisches Denken“ im besten Sinne brauchen. Und erfolgreiche Unternehmer:innen denken – wie die Forschungen rund um „Effectuation“ zeigen – in Möglichkeiten und fragen immer wieder „Was haben, was können, wen kennen wir, um diese Herausforderung zu lösen?”. Sie denken viel weniger ans Ziel (bspw. „Bewältigung des Fachkräftemangels“), sondern überlegen, was mit den vorhandenen Mitteln, Kompetenzen, Beziehungen… ein nächster Schritt auf dem Weg sein kann.

Und wenn Dir noch mehr Möglichkeiten rund um den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit einfallen, immer her damit.

Ich unterteile im Folgenden die Chancen in drei Ebenen – Chancen für die Menschen, Chancen für die Organisationen und – im Fazit – Chancen des Fachkräftemangels für die Sozialen Arbeit.

Fachkräftemangel als Chance für die Menschen

Mit den individuellen Chancen meine ich die Chancen, die mit dem Fachkräftemangel für die Mitarbeitende in sozialen Organisationen einhergehen. Und Führungskräfte sind auch Menschen 😉

Chance 1: Bessere Arbeitsbedingungen

Logisch, das liegt auf der Hand: Auch wenn es aus Perspektive der Organisation problematisch ist, ermöglicht der Fachkräftemangel für die Mitarbeitenden ganz neue Verhandlungspositionen. Überspitzt formuliert hat sich durch den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit eine Machtverschiebung von der Organisation hin zu den Mitarbeitenden vollzogen. Nicht mehr die Organisation gibt vor, was zu tun ist „und basta“, sondern die Mitarbeitenden können ein gewichtiges Wörtchen mitreden, wie sie sich ihren Arbeitsplatz und damit die Arbeitsbedingungen wünschen.

Jaja, mir ist sehr bewusst, dass mit der Machtverschiebung die Gefahr einhergeht, zu übertreiben:

Da wird schneller gekündigt, als Lucky Luke seinen Colt ziehen kann, da werden die Bedürfnisse des Hamsters über die der Klientel gestellt und vom Arbeitgeber erwartet, für das persönliche Glück Verantwortung zu tragen. Das meine ich mit der Chance auf bessere Arbeitsbedingungen natürlich nicht.

Ich will hier auch explizit darauf hinweisen, dass wir uns in der Sozialen Arbeit befinden. Homeoffice und Streetwork passen genauso wenig zusammen wie „nine to five“ und die stationäre Jugend- oder Eingliederungshilfe. Kinder in Kitas sind heute und werden auch in Zukunft in Kitas zu betreuen sein und in der stationären Altenhilfe riecht nicht jeder Ausfluss nach Lavendel. Soziale Arbeit ist vornehmlich Arbeit – wie eine Haustür kein Haus, sondern erstmal Tür ist.

Aber diese Arbeit kann hinterfragt werden: Warum machen wir das hier so? Gibt es keine Alternativen dazu? Das beginnt bei geteilten Diensten in stationären Kontexten, geht über die Verschlankung von dysfunktionalen Prozessen bis hin zur Ausstattung der Arbeitsplätze.

Anstatt aber die Verantwortung für die Verbesserungen allein „nach oben“ abzugeben, ist es sinnvoll, wenn Mitarbeiter:innen ihren „circle of influence“ – ihren Einflussbereich – betrachten und mit konkreten Vorschlägen an ihre Führungskräfte herantreten. Neben den gesteigerten Partizipationsmöglichkeiten ergeben sich dadurch deutlich passendere Lösungen, als wenn wieder jemand über die Arbeitsbedingungen entscheidet, der:die eigentlich gar nicht wirklich tief drinsteckt.

Chance 2: Arbeitsplatzsicherheit

Könnte auch unter Chance 1, da bin ich mir nicht sicher:

Menschen arbeiten dann gut (und gerne) wenn die im SCARF-Modell (und andere Modelle bestätigen das in ähnlicher Weise) beschriebenen Aspekte am Arbeitsplatz gegeben sind:

  • Anerkennung,
  • Sicherheit,
  • Autonomie,
  • Verbundenheit und
  • Fairness.

Mehr zum SCARF-Modell findest Du hier.

Und es ist wiederum logisch, dass der Fachkräftemangel die Arbeitsplatzsicherheit erhöht. Überspitzt formuliert könnte man fragen, warum Menschen in der Sozialen Arbeit überhaupt noch einen befristeten Job annehmen – es sei denn, sie wollen dies explizit?

Aus Perspektive der Organisationen lässt sich auf diesen Aspekt natürlich wieder mit einer anderen Brille schauen:

Manchmal wäre die Möglichkeit, die Mitgliedschaft eines:einer Mitarbeitenden einfacher zu beenden, wünschenswert. Hier – dazu später vielleicht mehr – plädiere ich aber dazu, dass die Organisationen weniger „ängstlich“ agieren sollten, als sie das meiner Wahrnehmung nach tun. Erfolgreiches „Employer Branding“ bedeutet aus meiner Perspektive nicht, dass zu tun, was die Mitarbeitenden wollen, sondern Strukturen und Bedingungen zu schaffen, um den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen. Dazu ist dann an der ein oder anderen Stelle vielleicht auch die Trennung von Mitarbeitenden notwendig.

Aber auch das gibt wiederum Klarheit, Sicherheit und Orientierung für alle Beteiligten. Meiner Erfahrung nach spricht diese Klarheit eher für als gegen einen Arbeitgeber, was mittelfristig zu mehr Bewerber:innen, vor allem aber zu einer gewünschten Organisationskultur führen kann.

Chance 3: Individuelles Lernen

Fritz B. Simon (vgl. 2019, 42f) beschreibt Lernen als Möglichkeit, interne Strukturen autopoietischer Systeme zu verändern, wenn diese „mit ihren etablierten Verhaltensweisen nicht erfolgreich sind“ (ebd., 42).

Der Blick auf die Arbeitsweisen der Professionellen in der Sozialen Arbeit zeigt, dass das „erfolgreiche“ Agieren zunehmend an Grenzen kommt. Als Beispiel steigen seit Jahren (und in den letzten Jahren verstärkt) die Burnout-Raten in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Ja, ich komme später noch zur Notwendigkeit des organisationalen Lernens, da ich der Überzeugung bin, dass es nicht ausreicht, die systemischen Probleme auf die Individuen zu verlagern, aber trotzdem:

Es besteht die Chance, die eigenen, ganz individuellen Arbeitsweisen zu hinterfragen und neu zu lernen. Angefangen von Zeit- und Selbstmanagement über den Umgang mit Stress und die Entwicklung „individueller Resilienz“ bis hin zur Auseinandersetzung mit fachlich-inhaltlichen und methodischen Fragen gelingender Sozialer Arbeit besteht durch den Fachkräftemangel die (leider nicht ganz freiwillige) Möglichkeit, neu zu lernen, wie „soziale Arbeit“ in der Sozialen Arbeit gelingt.

Der Blick in die Fachliteratur, in die Veröffentlichungen rund um Methoden Sozialer Arbeit, der Blick auf Studien und die gesamte Disziplin Sozialer Arbeit zeigt, dass wir enorm viel haben, was hilfreich sein kann – allein es fehlt das Wissen (und die Anwendung des Wissens) bei den Fachkräften. Anders gesagt:

Wenn es gelänge, in Studium ebenso wie in Aus-, Fort- und Weiterbildung verstärkt auf Kompetenzen für „gute“ Arbeit in der Sozialen Arbeit zu setzen und die Bewältigung der Herausforderungen des Fachkräftemangels immer (mindestens im Hintergrund) mitschwingen zu lassen, wäre das Lernen anderer Herangehensweisen möglich. Konkret:

Führungskompetenzen – als ein Beispiel – gewinnen auch für Fachkräfte Sozialer Arbeit an Bedeutung. Hintergrund ist die Notwendigkeit, in vielen Arbeitsfeldern nicht nur mit Fach-, sondern auch mit nicht ausgebildeten Hilfskräften zu arbeiten. Und diese müssen fachlich-inhaltlich (auch) durch die Fachkräfte geführt werden. Und Führung bezieht sich neben der Team- und der Organisationsführung eben auch auf die Selbstführung (vgl. bspw. Richter, Groth, 2023).

Chance 4: Lebensphasenorientierte Personalentwicklung

Der folgende Gedanke steht zwischen dem Individuum und der Organisation:

Angesichts der Notwendigkeit, aufgrund des demographischen Wandels neu über die Sicherstellung der Angebote bzw. das Funktionieren der Organisationen der Sozialen Arbeit insgesamt nachzudenken, wird es zunehmend relevant, die Beschäftigungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Lebensphasen der Beschäftigten und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit zunächst überhaupt in den Blick zu nehmen: Wer arbeitet wie lange (noch) in der eigenen Organisation? Wer befindet sich in welcher Lebensphase? Diese Betrachtung ermöglicht es dann, die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern, um so Lebens- und Berufsphasen besser miteinander zu vereinbaren.

Neben dem, dass daraus individuelle Chancen erwachsen, ergeben sich auch für die Organisation enorme Vorteile. So kann über die Betrachtung der Lebensphasen auch eine deutliche „Ausweitung der Arbeitsmarktpartizipation“ erreicht werden, denn: Warum sollen Menschen, die Lust haben (oder finanziell darauf angewiesen) und in der Lage dazu sind, auch nach dem Erreichen des Rentenalters noch weiter zu arbeiten, daran gehindert werden?

Dazu jedoch bedarf es flexibler Möglichkeiten der Integration der Mitarbeitenden in die Organisation. Zu denken ist unter anderem an Projekte, in denen Menschen mit langjähriger Erfahrung mit ihrer Expertise eingebunden werden oder die Teilzeitbeschäftigung zum „Abpuffern“ von Ausfallzeiten.

Über diese Möglichkeiten ergeben sich ggf. auch für Mitarbeitende im „Regelbetrieb“ neue Möglichkeiten und Chancen, ihren Arbeitsalltag besser und angepasst an ihre jeweiligen Lebensphasen zu gestalten.

Fachkräftemangel als Chance für Organisationen der Sozialen Arbeit

Meine Perspektive in meiner Arbeit sind ja weniger die Menschen in den Organisationen als die Strukturen der Organisationen der Sozialen Arbeit als soziale Systeme. Deswegen sind die „individuellen Chancen“, die mit dem Fachkräftemangel einhergehen, alles andere als abschließend beschrieben. Falls Du zum vorhergehenden Punkt also Ergänzungen hast, immer her damit. Jetzt aber zu den Chancen, die mit dem Fachkräftemangel für Organisationen der Sozialen Arbeit einhergehen.

Chance 5: Lernen von Ambidextrie

Ich bleibe beim Lernen und übertrage die Gedanken der Chance 3 auf das soziale System „Organisation der Sozialen Arbeit“. Denn genau wie Menschen als psychische Systeme sind Organisationen autopoietische Systeme, die dann in der Lage sind zu lernen, wenn sie mit ihren etablierten Verhaltensweisen nicht erfolgreich sind.

Und wiederum sehr naheliegend und an vielen Stellen mehr als sichtbar ist, dass der Fachkräftemangel die etablierten Verhaltensweisen der Organisationen infrage stellt. Prominente Beispiele sind aufgrund des Fachkräftemangels in finanzielle Schieflage geratene Wohlfahrtsverbände.

Problematisch am o.g. Zitat von Simon ist, dass es aus meiner Sicht reaktiv ist: Dann, wenn es nicht mehr geht, wird gelernt. Fraglich ist, wie „proaktives Lernen“ gelingen kann? Wie können aufziehende, aber noch nicht akute Probleme – verstanden als „Situationen und Begebenheiten, die von Beobachtern und Beobachterinnen als Differenz zwischen Soll und Ist erlebt und negativ bewertet werden (Seliger, 2022, 63) – antizipiert und dann daraus bereits gelernt werden?

Das ist für Organisationen nicht leicht, da das Aufrechterhalten des Alltagsgeschäfts und das gleichzeitige Beobachten und Antizipieren zukünftiger Entwicklungen „Beidhändigkeit“ braucht. Im organisationalen Kontext ist hier das Modell der Ambidextrie entscheidend.

Unter Ambidextrie ist „das Nebeneinander von Exploit-Modus (Bewährtes erhalten und optimieren) und Explore-Modus (Innovationen verfolgen) [zu verstehen]. Die beiden Modi sind wie zwei ‚Betriebssysteme‘ für Unternehmen, die sich gleichzeitig widersprechen und ergänzen und die beide absolut kritisch für langfristigen Erfolg sind“ (Thinktank Ambidextrie).

Ambidextrie zu lernen erfordert für Organisationen jedoch, Möglichkeiten zu schaffen, neben dem rein operativen Geschäft und der schrittweisen Optimierung von bestehenden Strukturen, Prozessen, Angeboten und Geschäftsmodellen gedanklich herauszutreten, neue Wege zu gehen und innovative Entwicklungen und Angebote schnell und agil voranzutreiben (vgl. hier).

Das ist einfacher gesagt als getan, denn explizit für Organisationen der Sozialen Arbeit ergeben sich neben der Herausforderung, das Alltagsgeschäft zu unterbrechen, echte Herausforderungen, die ich hier beschrieben habe. Sehr kurz zusammengefasst:

Aufgrund der externen Finanzierung sozialer Arbeit durch Leistungsträger sind die Möglichkeiten der innovativen Gestaltung neuer Angebote und Dienstleistungen, aber auch der Organisationsentwicklung begrenzt.

Hinzu kommt, dass die „zwei sich widersprechenden und gleichzeitig ergänzenden Betriebssysteme“ unterschiedliche Herangehensweisen brauchen, die – verkürzt – als „Management“ auf der einen (Aufrechterhaltung des Bestehenden) und „Unternehmertum“ auf der anderen Seite (Neuentwicklung und Umsetzung) gedacht werden können.

Für Führungskräfte in Organisationen der Sozialen Arbeit gilt es entsprechend, beide Perspektiven „in sich“ zu vereinen oder aber – eine echte Chance, aus meiner Sicht – Modelle des „Shared Leadership“ (geteilter Führung) zu testen. Oder warum sollte es sinnvoll sein, wenn angesichts der Herausforderungen nur eine Person den Hut für die Organisation, den Bereich, die Abteilung oder das Team aufhat?

Chance 6: Exnovation

Ambidextrie und organisationales Lernen sind ja eher die übergreifenden Gedanken. Wie können die Chancen aber im Konkreten aussehen?

Da ist natürlich die Chance der Exnovation hervorzuheben. Dazu findest Du hier ausführlichere Gedanken.

Zusammenfassend ist Exnovation die Abschaffung oder das Zurücknehmen von Angeboten, Prozessen, Praktiken oder Technologien, die erfolgreich waren, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen. Damit wird schon deutlich, dass Exnovation intern wie extern betrachtet werden kann:

Intern geht es um die Frage, wie wirksam interne Zwecke, Organisationsstrukturen im Sinne von Hierarchien oder Prozesse angesichts der Herausforderung Fachkräftemangel (noch) sind. So neigen (Menschen wie) Organisationen dazu, immer in einem „mehr“ zu denken – mehr Regeln, mehr Angebote, mehr Wachstum, mehr von allem. Daraus resultieren interne Regelwerke, QM- oder Prozesshandbücher, die nicht mehr zu überblicken geschweige denn lebendig zu halten sind. Hier besteht die Chance, wegzukommen von der Beschäftigung mit sich selbst und aufzuräumen, um wieder Luft zum Atmen bzw. für echte Arbeit zu bekommen. Konkret hilft es, regelmäßig die Regeln und Vorgaben der Organisation zu beleuchten und – im Sinne der Methode „Kill a stupid rule“ – nicht (mehr) wirksame Regeln zu streichen bzw. durch wirksame Regeln zu ersetzen. Der zweite Punkt – das Ersetzen – ist wichtig:

Ich bin kein Freund von „Selbstorganisation“ im falschen Verständnis eines „anything goes“. Im Gegenteil: Ich bin aufgrund der „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ davon überzeugt, dass es gerade in unseren Organisationen mehr Regeln und Vorgaben braucht – aber eben „funktionale Regeln“, die dazu dienen, das „Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit zu gestalten. Im letzten Beitrag zum „Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft“ habe ich dazu geschrieben, dass es darum gehen muss, funktionale formale Vorgaben zu gestalten, die Sicherheit und Orientierung für Mitarbeiter:innen – unabhängig von ihren fachlichen Qualifikationen – ebenso wie Sicherheit für die Adressat*innen Sozialer Arbeit bzgl. der zu erwartenden Leistungen im komplexen Alltag bieten (siehe auch das SCARF-Modell oben).

Exnovation heißt übrigens nicht die Abkehr von Innovation. Exnovation geht mit Innovation einher und so lässt sich auch aus interner Perspektive darauf schauen, wie interne Prozesse zukünftig anders gestaltet werden können. Spätestens hier rückt – wie Jan Meine hier auf meine kleine Frage bei LinkedIn schreibt – „auch der Einsatz von neuen Ressourcen, wie KI“ in den Blick, die wiederum zur Reduzierung von zeitbindenden, aber wenig wirksamen Aufgaben führen können. So sind – das ist auch hier zu berücksichtigen – Organisationen der Sozialen Arbeit nicht im luftleeren Raum unterwegs, sondern haben (teilweise absurde), durch die Leistungsträger vorgegebene Anforderungen zu erfüllen, die nicht mal eben „exnoviert“ werden können.

„Externe Exnovation“ bezieht sich dann natürlich auf die Angebote und Leistungen von Organisationen der Sozialen Arbeit. Wir werden zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr alle Angebote und Dienstleistungen aufrecht erhalten können. Wir werden Angebote einstellen müssen. Das wird auch dazu führen, dass Mitarbeiter:innen das, was sie bislang getan haben, nicht mehr tun können. Und es wird auch dazu führen, dass Adressat:innen bislang vorgehaltene Angebote nicht mehr wahrnehmen können.

Es gilt, Abschied zu nehmen – auch wenn dies schmerzt.

Die Chance im Abschiednehmen sehe ich im Blick auf die Qualität und damit die Wirksamkeit der Angebote der Sozialen Arbeit. So sind, wie von Hohendanner, Rocha und Steinke (2024, 16ff) dargelegt, über die letzten Jahre „ausnahmslos alle Bereiche des sozialen Sektors in absoluten Beschäftigtenzahlen gewachsen“. Sie schreiben weiter, dass „angesichts der steigenden Bedarfe (…) anzunehmen [ist], dass das Beschäftigungswachstum in allen Bereichen des sozialen Sektors bei ausreichend verfügbarem Personal noch deutlich höher ausgefallen wäre“ (ebd.).

Quantität allein ist aber kein Kriterium für Qualität. So besteht jetzt die Chance, das Angebotsportfolio der eigenen Organisation kritisch in den Blick zu nehmen und genau abzuwägen, ob die Leistungen in der bereitgestellten Art und Weise wirksam sind und weiterhin angeboten werden sollten bzw. müssen.

Die Entscheidung darüber kann und darf in Organisationen der Sozialen Arbeit aber nicht allein an monetären Kennzahlen festgemacht werden. Soziale Organisationen sind – sofern sie ihren Auftrag ernst nehmen – weit mehr als ausschließlich auf Profit ausgerichtete Unternehmen.

Wenn es gelingt, Angebote von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu reflektieren, erwächst daraus auch die Chance der Steigerung der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden.

So ist es eine Binsenweisheit, dass die Arbeitszufriedenheit nicht durch Obstkorb und Kickertische, sondern deutlich stärker durch das Selbstwirksamkeit wächst. Anders gesagt besteht die Chance, weniger die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeitenden in den Mittelpunkt zu stellen, als wirksame Soziale Arbeit zu leisten, die dann zu langfristiger Zufriedenheit aller Beteiligten – Mitarbeitenden wie Adressat:innen – führt.

Chance 7: Kooperation

Florian Acker (Grüße und Danke an der Stelle) bringt über LinkedIn einen spannenden Gedanken ein:

„Durch den Fachkräftemangel wird die soziale Infrastruktur ja nicht mehr in dem Maße bedient werden können, wie wir es bisher erlebt haben. Das bietet insofern die Chance, dass wir uns mit neuen Angebotsformen und neuen Arbeitsweisen auseinandersetzen müssen. Das meint nicht nur, dass wir in Zukunft vermutlich viel stärker auf Kooperationen (mit anderen Leistungserbringern) setzen müssen, sondern wir eben auch zu veränderten Arbeitsweisen mit den Adressaten Sozialer Arbeit kommen müssen. An der einen oder anderen Stelle wird dabei sicherlich auch die positive Erkenntnis entstehen, dass die (erzwungene] Abkehr von paternalistischen Strukturen durchaus sinnvoll sein kann ;-)“

Na gut, das ist mehr als ein Gedanke 😉 Neben der wichtigen Abkehr von paternalistischen Strukturen sozialer Arbeit und den veränderten Arbeitsweisen mit den Adressat:innen will ich hier den Kooperationsgedanken hervorheben:

Die Vorstellung, komplexe Probleme – individuell, organisational, gesellschaftlich und global – mit „der einen“ Lösung in den Griff kriegen zu können, ist absurd (und vielfach widerlegt). Wir brauchen Kooperation, Inter- oder Multidisziplinarität, Zusammenarbeit und KoKreation auf allen Ebenen und damit auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. In die Auswirkungen des Fachkräftemangels sind komplex.

Neben den von Florian dargestellten Kooperationsnotwendigkeiten mit anderen Leistungserbringern (dazu hilfreich das Konzept der „Koopkurrenz in der Sozialwirtschaft“ – vgl. Schönig, 2015) sehe ich zusätzlich eine Chance in der Kooperation mit wirklich externen Stakeholdern. Darunter verstehe ich Unternehmen, Anbieter, Netzwerke, Initiativen usw., die nicht genuin der Sozialwirtschaft zuzuordnen sind. Kooperationen mit Wirtschaftsunternehmen vor Ort sind nur ein Beispiel, von dem beide Partner profitieren können. Aber auch die verstärkte Kooperation von Schulen und Hochschulen mit Organisationen der Sozialen Arbeit sind – wie vieles andere – denkbar.

Wiederum gilt es, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und im Sinne einer „open organization“ zunehmend die Systemgrenzen der eigenen Organisation zu öffnen. Das bedarf wiederum der schon angesprochenen Ambidextrie im Denken und Handeln.

Chance 8: Innovation

Klar, wenn einerseits geprüft werden muss, welche internen wie externen Angebote, Prozesse, Arbeitsweisen usw. noch sinnvoll sind, ergibt sich andererseits die Chance durch den Fachkräftemangel, neue Ideen ins Leben zu bringen und damit echte Innovation zu ermöglichen.

Unter Innovation verstehe ich die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen, die darauf ausgerichtet sind, den:die Zweck:e der Organisation auf eine neuartige Weise zu erreichen.

Aktuell viel diskutierte Innovationen beziehen sich auf die Nutzung digitaler Möglichkeiten in der und für die Soziale Arbeit. Da ist mit Sicherheit enormes Potential, auch wenn berücksichtigt werden muss, dass die Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit besondere Herausforderungen mit sich bringt.

Ebenso interessant sind aber „soziale Innovationen“, die ein neues Miteinander ermöglichen. Ich denke hier an die Stärkung von „caring communities“ oder – im Bereich der stationären Altenhilfe an Konzepte wie die „stambulante Pflege“ und damit die Kombination aus stationärer Versorgung mit betreutem Wohnen, bei dem die ambulante Pflege durch die Personen durchgeführt wird, die auch die stationäre Versorgung anbieten.

Auch hier wieder ein Plädoyer für die Unternehmer:innen in der Sozialen Arbeit. Das sind nicht nur die Menschen, die etwas gründen und sich „selbständig machen“, sondern auch die „Intrapreneur:innen„, die in den Organisationen für neue Gedanken, neue Herangehensweisen und damit auch neue Angebote sorgen.

Chance 9: Echte Diversität leben

Laut einer Studie der Boston Consulting Group (vgl. näher hier) gibt es eine eindeutige Korrelation zwischen Diversität und Innovationsleistung von Unternehmen. Diversität in Unternehmen lässt sich bspw. anhand des Modells der „4 Layers of Diversity“ nach Gardenswartz und Rowe (1998) darstellen, das auch von der Charta der Vielfalt e. V. genutzt wird.

Wenn man jetzt neben der Korrelation von Vielfalt und Innovation berücksichtigt, dass – um dem Fachkräftemangel zu begegnen – Deutschland eine Nettoeinwanderung von 400.000 Personen pro Jahr benötigt und wir einmal von der Utopie ausgehen, dass wir zumindest annähernd in diese Richtung steuern würden, wird deutlich, dass Vielfalt und damit das Thema „Diversity & Inclusion“ auch in Organisationen der Sozialen Arbeit an Relevanz gewinnen wird.

Ja, auch das Thema „Diversity & Inclusion“ führt zur Notwendigkeit ganzheitlicher Veränderungsprozessen, die in Organisationen der Sozialen Arbeit anstehen. Denn eine genaue Vielfaltsanalyse führt nicht in allen sozialen Organisationen zu einem super Ergebnis, „weil wir doch so sozial sind“. Allein der Blick auf die Herausforderungen der konfessionellen Träger bzgl. der verschiedenen Vielfaltsdimensionen reicht aus, um die Notwendigkeiten in diesem Themenfeld zu unterstreichen.

Aber – und darauf will ich hinaus – in dem Thema Diversity liegen eben auch enorme Chancen, die aufgrund des Fachkräftemangels herausgearbeitet werden können.

Chance 10: Techniknutzung in der Sozialen Arbeit

Oben habe ich bereits einmal verlinkt, warum das mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit ein Problem darstellt. Kurz: Digitalisierung führt immer zur Formalisierung der Organisation. Aufgrund u.a. der beruflichen Identität der Professionellen in unserem Sektor („Helfen wollen!“) und der damit nachvollziehbaren Abneigung gegen durch die von der Organisation vorgegebenen Regeln und Vorgaben haben es digitale Anwendungen nicht leicht. Hier geht’s noch einmal zu dem Beitrag.

Jedoch besteht die Möglichkeit (und damit auch die Chance), dass zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels die reine Notwendigkeit besteht, digitale bzw. überhaupt technische Tools stärker nutzen zu müssen, um die Arbeit bewältigen zu können.

Neben den Möglichkeiten der Verschlankung von zeitfressenden Prozessen durch (funktionale) digitale Anwendungen ist vor allem der Blick interessant, wie die Technik den Adressat:innen Sozialer Arbeit zugute kommt. Florian spricht in seinem Kommentar auf LinkedIn ja auch die Möglichkeit an, „dass Themen wie ‚Ambient Assisted Living‘ an Bedeutung gewinnen werden.“

Darunter sind technische Assistenzsysteme zu verstehen, die das Umfeld der Adressat:innen Sozialer Arbeit mit Technologien verknüpfen, um den Menschen mit Unterstützungsbedarf mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen. Und wenn das Ziel Sozialer Arbeit die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen ist (vgl. Definition Sozialer Arbeit) kann ja nichts dagegen sprechen.

Vielmehr könnte man die These aufstellen, dass bei deutlicher Verbesserung der digitalen und technischen Möglichkeiten die Notwendigkeit sinkt, professionelle Soziale Arbeit wahrnehmen zu müssen, was eine echte Chance im Blick auf den Fachkräftemangel wäre. Ja, logo, das kommt massiv an seine Grenzen wenn man in Betreuungssettings (Kita, stationäre Arbeit usw.) denkt. Aber in Beratungssettings sind die Entwicklungen interessant:

Die neueste Version von ChatGPT – 4o – wirft (zumindest aus meiner in dem Kontext nicht professionellen Brille) die Möglichkeit auf, nicht mehr zum:zur Berater:in zu müssen, sondern Familien-, Paar- und Einzelberatung digital abbilden zu können. Ehrlich gesagt ist das nicht sooooo futuristisch, wie es vielleicht auf den ersten Blick klingt. Mara Stieler zeigt Möglichkeiten hier für die Caritas auf und Emily Engelhardt befasst sich damit sowieso schon lange – deswegen die klare Empfehlung für ihren Blog 😉

Fazit, oder: Fachkräftemangel als Chance für die Soziale Arbeit

Längeres Nachdenken über den Fachkräftemangel als Chance führt auch hier vielleicht zu noch mehr Ideen. Wenn Dir also noch mehr einfallen, lass es mich gerne wissen, dann ergänze und aktualisiere ich den Beitrag.

Deutlich wird aber schon so, dass der Fachkräftemangel bei Änderung der Perspektive und durch das Denken in Möglichkeiten nicht nur die allseits bekannten Herausforderungen, sondern auch Chancen birgt.

Für die Professionellen, für die Menschen in Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt sich der Fachkräftemangel als Chance vor allem in der Möglichkeit der Beeinflussung und aktiven Gestaltung von Arbeitsbedingungen.

Die Betrachtung des Fachkräftemangels als Chance aus organisationaler Perspektive zeigt Möglichkeiten, Organisationen der Sozialen Arbeit zu professionalisieren, also Organisationsstrukturen ebenso wie Angebote zu überdenken und neu zu gestalten.

Und für die Soziale Arbeit, den Sektor und die Profession insgesamt kann die Betrachtung des Fachkräftemangels als Chance darin bestehen, der ihr schon in der Corona-Pandemie attestierten „Systemrelevanz“ echte Bedeutung zu verleihen.

Über diese Bedeutung kann dann – hoffentlich – die Möglichkeit bestehen, politische Lobbyarbeit im besten Sinne – für die Menschen – zu betreiben und Forderungen zu stellen. Hohendanner, Rocha und Steinke bringen dies auf den Punkt, wenn sie in ihren „elf Punkten gegen den Kollaps des Sozialen“ (vgl. 2024, 65ff) unter Punkt 11 (ebd., 74) fragen:

„Was ist der soziale Sektor der Gesellschaft wert?“

Besonderheiten der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit I – Kundenorientierung vs. Finanzierung

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Im letzten Beitrag habe ich dazu geschrieben, „was eine Organisation ist“. Die Ausführungen lassen sich auf jede Organisation beziehen, egal ob das lokale Fast-Food-Restaurant, das Möbelhaus, die Verwaltung, die stationäre Pflegeeinrichtung, die Drogenberatungsstelle oder das Krankenhaus. Und trotzdem ist Dir wahrscheinlich sehr bewusst, dass all diese Organisationen unterschiedlich „funktionieren“. Das Ignorieren dessen also, „auf welche Zwecke eine Organisation (…) ausgerichtet ist, welche Produkte oder Leistungen sie erzeugt, in welchem institutionellen Umfeld sie sich bewegt, welche Interessenträger (…) eine spezifische Bedeutung für die Organisation erlangen, dadurch Anforderungen an die Organisation formulieren und die Organisation beeinflussen können“ (Gesmann, Merchel, 2019, 31), macht keinen Sinn. Es wird insbesondere dann mindestens fahrlässig, wenn es um Fragen der Entwicklung von Teams innerhalb und der Transformation der jeweiligen Organisation als Ganzes geht.Es braucht entsprechend einer Betrachtung des Organisationstyps „Organisationen der Sozialen Arbeit“ (bzw. etwas kürzer „soziale Organisationen“) und dessen spezifischer Systemeigenschaften und -logiken. Erst darüber wird ermöglicht, funktionale Ansätze der Team- und Organisationsentwicklung in den Blick zu nehmen. Die Berücksichtigung der spezifischen Systemeigenschaften ermöglicht es gleichzeitig, der Gefahr der unreflektierten Anwendung von wenig wirkungsvollen oder gar dysfunktionalen Management-Moden zu entgehen.

Im Folgenden werden die mit dem Organisationstyp „Organisationen der Sozialen Arbeit“ einhergehenden spezifischen Systemeigenschaften skizziert und diese bezogen auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen für gelingende Team- und Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit zu reflektiert. Dabei versuche ich, immer wieder Rückgriff auf die im letzten Beitrag ausgeführten Basics dessen, was Organisationen sind, zu nehmen. Damit werden Diskrepanzen zwischen den propagierten Notwendigkeiten der Organisationsentwicklung und den Besonderheiten sozialer Organisationen deutlich.

Ich beginne hier – damit es noch ein Blogbeitrag bleibt – mit der ersten Diskrepanz von Kundenorientierung und Finanzierung Sozialer Arbeit und werde weitere Diskrepanzen in zukünftigen Beiträgen fassen.

Diskrepanz I bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit: Kundenorientierung vs. Finanzierung Sozialer Arbeit

Hier ist – etwas grob und verkürzt – auf das sozialwirtschaftliche Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigten hinzuweisen. Das ist Dir aller Wahrscheinlichkeit nach bekannt, aber trotzdem einmal kurz die Zusammenfassung:

  • Kostenträger sind die Institutionen oder Organisationen, die die finanziellen Ressourcen für die Erbringung von sozialen Dienstleistungen bereitstellen. Neben Sozialämtern, Kranken- und Plegekassen oder der Bundesagentur für Arbeit können auch Stiftungen oder andere Finanzierungsquellen als Kostenträger definiert werden. Die Kostenträger legen die Rahmenbedingungen fest, unter denen die sozialen Dienstleistungen erbracht werden, einschließlich der Art und des Umfangs der Leistungen, der Zielgruppen und der finanziellen Mittel.
  • Leistungserbringer sind dann Personen, vor allem aber Organisationen der Sozialen Arbeit, die die tatsächlichen sozialen Dienstleistungen erbringen. Dies sind staatliche Behörden (bspw. Jugendämter), hauptsächlich aber die freien Träger der Sozialwirtschaft (private, freigemeinnützige Träger, privatfreiberufliche Anbieter und privatgewerbliche Anbieter). Die Leistungserbringer arbeiten gemäß den gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien des Leistungsträgers, um die auf sozialpolitischen Entscheidungen basierenden Dienstleistungen zu erbringen. Die Existenz von Organisationen der Sozialen Arbeit ist damit von diesen Entscheidungen abhängig – „und dies sowohl hinsichtlich der elementaren Existenzmöglichkeiten (Finanzierung) als auch hinsichtlich der politisch gesetzten Bedingungen für die Leistungserbringung“ (ebd., 33).
  • Und last, not least sind die Leistungsberechtigten, die Klient:innen, Nutzer:innen oder Empfänger:innen sozialer Dienstleistungen zu nennen – die Personen oder Gruppen also, die die sozialen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Die Leistungsberechtigten haben das Recht auf Zugang zu den durch die Leistungsträger finanzierten und von den Leistungserbringern bereitgestellten sozialen Dienstleistungen. Sie können (und werden zunehmend – bspw. beim BTHG) in den Entscheidungsprozess über die Art und den Umfang der Unterstützung einbezogen.

Das Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem verdeutlicht zum einen die komplexen Beziehungen und Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren in der Sozialen Arbeit. Damit wird auch deutlich, dass Bedürfnisse der Klient:innen erst dann „für die Organisationen Sozialer Arbeit (…) relevant [werden], wenn sie mit einem gesellschaftlich definierten Bedarf einhergehen bzw. in entsprechende politische Bedarfsentscheidungen eingegangen sind oder wenn sie sich durch politische Aktivitäten der Organisationen in eine solche Bedarfsentscheidung transferieren lassen“ (ebd., 31).

Zum anderen zeigt sich darin auch die komplexe Gemengenlage für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die als „doppeltes Mandat der Sozialen Arbeit“ bekannt ist: Einerseits sind Sozialarbeiter:innen helfend für ihre Klient:innen da. Andererseits geht es auch um gesellschaftliche Kontrolle der Klient:innen auf ihrem Weg zu einem „gesellschaftlich gewünschten“ und damit „normalen“ Leben – denn nur dafür werden basierend auf den Sozialgesetzgebungen öffentliche Mittel bereitgestellt.

Mit Blick auf die Team- und Organisationsentwicklung sozialer Organisationen ergeben sich schon hier Diskrepanzen, die für Veränderungsprozesse besondere Relevanz haben. Diese Diskrepanzen beziehen sich auf begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten a) „nach außen“ (Angebote der Leistungserbringer) ebenso wie auf begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten b) „nach innen“ (Organisationsstrukturen).

Diskrepanzen bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten nach außen

Hinsichtlich der a) Gestaltungsmöglichkeiten nach außen und damit der Gestaltung der Angebote ist zum einen darauf zu verweisen, dass die bspw. in Methoden wie dem Design Thinking mantraartig wiederholte „Notwendigkeit der Kundenorientierung“ Grenzen bei der Gestaltung sozialer, personenbezogener Dienstleistungen hat.

Da sich Organisationen der Sozialen Arbeit in der Regel durch öffentliche Mittel finanzieren, ließe sich sehr zugespitzt fragen, ob die Angebote der Leistungserbringer (an vielen Stellen) überhaupt den Bedarfen der Leistungsberechtigten entsprechen (können)?

Die Frage ist nicht als Vorwurf an die Organisationen der Sozialen Arbeit zu werten. Sie soll vielmehr darauf verweisen, dass nicht die Expert:innen Sozialer Arbeit gemeinsam mit den „Kund:innen“ und damit den hilfs- und unterstützungsbedürftigen Menschen und Gruppen entscheiden können, was gebraucht wird. Dies muss immer über gesellschaftliche Aushandlungsprozesse geschehen. Kurz: „Wer zahlt bestimmt die Musik!“

Die Frage soll auch darauf verweisen, dass die für gelingende Organisationsentwicklung hoch relevante iterative und am Besten gemeinsam mit den Kund:innen zu gestaltende „Experimentierlogik“ bei der Angebotsgestaltung begrenzt ist: Innovativ neue Angebote entwerfen und diese auf einem „Markt“ zu testen geht kaum, solange diese Experimente nicht gegenfinanziert sind.

Und selbst die in der Sozialen Arbeit etablierte Projektfinanzierung (bspw. über die Aktion Mensch oder den Europäischen Sozialfonds) hat Grenzen, da auch hier immer vorgegeben wird, welche Themenschwerpunkte mit den vermeintlich innovativen Angeboten – zumindest in der Theorie – abgedeckt werden sollen. Darüber hinaus führt die Projektfinanzierung („Projektitis“) zu weiteren Problemen, wie bspw. der Frage der Weiterfinanzierung wirksamer Projekte nach Projektende.

Die einzige Möglichkeit, um wirklich innovative Angebote, neue Geschäftsmodelle o.ä. nachhaltig zu gestalten, ergibt sich durch nicht zweckgebundene Stiftungsgelder oder Eigenmittel der Träger. Darüber wird zumindest ein gewisser Spielraum für die innovative und damit „kundenorientierte“ Gestaltung von sozialen Dienstleistungen ermöglicht.

Um es konkret zu machen stellen sich Fragen, wie es bspw. gelingen kann, innovative, digitale Angebote in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit nachhaltig zu gestalten und zu etablieren, wenn deren Finanzierung nicht sichergestellt ist.

Diskrepanzen bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten nach innen

Kundenorientierung lässt sich aber nicht nur nach außen betrachten. Denn hinsichtlich der Arbeitsabläufe, der Zwecke, Kommunikationswege und der Prozesse (siehe letzter Beitrag) lässt sich Kundenorientierung auch intern denken. Mit diesem Blick nach innen zeigen sich konkrete Herausforderungen, die durch die Finanzierung sozialer Organisationen basierend auf vornehmlich öffentlichen Mitteln b) nach innen deutlich werden. Wiederum konkret bleibe ich beim Beispiel der Digitalisierung:

Digitalisierung ermöglicht einerseits Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen bzgl. der Gestaltung von Unterstützungsprozessen innerhalb sozialer Organisationen: Neben der Dokumentation von bspw. Pflegeprozessen lassen sich Bewerbung- und Einstellungsprozesse in den Personalabteilungen kaum noch analog denken – und sei es nur die Möglichkeit, die PDF-Bewerbung per E-Mail zu versenden. Gleiches gilt für QM- oder Controlling-Prozesse, deren analoge Abbildung in der heutigen Zeit absurd erscheint. Als weitere Beispiele sind natürlich interne digitale Kommunikationsmöglichkeiten über Messengerdienste, Videokonferenzen oder auch ganze IT-Infrastrukturen zur internen Zusammenarbeit wie bspw. MS-Teams zu nennen. Aktuell und zukünftig werden vermehrt Anwendungsszenarien „künstlicher Intelligenz“ ebenfalls mitzudenken und zu etablieren sein, wenn die KI, wie bspw. Bill McDermott, ehem. CEO von SAP, es hier formuliert „alles verändern“ wird (was auch durch die neuesten Veröffentlichungen von OpenAI zunehmend wahrscheinlicher wird).

Mit der skizzierten Notwendigkeit der Nutzung digitaler Tools und den enormen Geschwindigkeiten, mit denen sich diese entwickeln, gehen andererseits und wenig verwunderlich enorme Kosten einher. Allein die Ausstattung der Einrichtungen und Organisationen der Sozialen Arbeit mit funktionierenden Internetverbindungen erzeugt horrende Kosten genau wie die Notwendigkeit, allen Mitarbeitenden funktionierende E-Mail-Adressen einzurichten. Dabei ist ein aktuelles und zukünftig relevantes Thema noch gar nicht berücksichtigt: Die IT-Sicherheit hat Anforderungen, die weit über die Sicherstellung des Datenschutzes hinausgehen und wiederum enorme Kosten mit sich bringt. Und wiederum nicht abschließend ist die Notwendigkeit der Personalentwicklung hinsichtlich digitaler Kompetenzen der Belegschaft zu nennen. Interne wie externe wahrgenommene Weiterbildungsnotwendigkeiten, die es überhaupt erst ermöglichen, die digitalen Tools sinnvoll zu nutzen, sind nicht umsonst zu haben.

Wichtig ist noch der Hinweis, dass die Digitalisierung nicht das alleinig bestimmende Thema von Organisationen der Sozialen Arbeit ist. Aktuell mehr als relevante Themen sind ebenfalls zu berücksichtigen, was allein schon beim Blick auf die Notwendigkeiten der Befassung der Sozialen Arbeit mit dem Klimawandel deutlich wird. Bei all dem darf natürlich die Herausforderung Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft nicht außer acht gelassen werden. Ach ja, das Ganze findet dann noch in einer enorm angespannten Haushaltssituation der öffentlichen Kassen statt.

Kurz in den Worten von Jupp Schmitz:

Wer soll das bezahlen? Wer hat das bestellt? Wer hat so viel Pinkepinke? Wer hat so viel Geld?

Ich selbst bin immer wieder überrascht über die Größe der Organisationen, in denen ich beratend unterwegs bin. Einrichtungen mit mehreren Tausend Mitarbeiter:innen sind eher die Regel als die Ausnahme. Unternehmen des Mittelstands in diesen Dimensionen ohne bzw. mit deutlich unterbesetzten Abteilungen für Personal- und/oder Organisationsentwicklung wären nicht denkbar. Denn neben der Digitalisierung ergeben sich selbstverständlich auch Entwicklungsnotwendigkeiten in anderen Bereichen: Neue Teamzusammensetzungen, Umstrukturierungen von Abteilungen, Wachstum und neue Arbeitsfelder ebenso wie Rückbau und „Exnovation„, Leitbild- und Strategieentwicklungen erfordern auch in Organisationen der Sozialen Arbeit OE-Prozesse, die irgendwie nebenbei, auf dem Rücken der sowieso überlasteten Führungskräfte und Mitarbeitenden, realisiert werden (müssen).

Beim Vergleich mittelständischer Unternehmen mit Organisationen der Sozialen Arbeit überraschen mich außerdem die in der Regel fehlenden Abteilungen für „Forschung und Entwicklung“, was aber wiederum an den vorab geschilderten Umständen liegt: Was soll entwickelt werden, wenn Neuentwicklungen vornehmlich auf die Sicherstellung externer Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen sind?

Wichtig ist aber, dass hier nicht fehlender Wille oder fehlende Einsicht der Verantwortlichen in Organisationen der Sozialen Arbeit Grund für diese Situation ist, sondern die deutlich zu geringe Finanzierung eines sinnvollen Overheads, der die Kosten für Personal- und Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit angemessen berücksichtigen würde.

Fazit zur Diskrepanz von Kundenorientierung vs. der Finanzierung Sozialer Arbeit

Zusammenfassend wird die Diskrepanz I (Kundenorientierung vs. Finanzierung Sozialer Arbeit durch öffentliche Mittel) bezogen auf die Möglichkeiten der Organisationsentwicklung deutlich:

Organisationen als soziale Systeme verfolgen neben dem primären Zweck des Überlebens immer ihren Zweck bzw. ihre Daseinsberechtigung (Mission oder neudeutsch „purpose“). Bei Organisationen der Sozialen Arbeit wäre dies – je nach Arbeitsfeld – bspw. die „bestmögliche Unterstützung von Jugendlichen“, die Hilfe bei Suchterkrankungen, die Resozialisierung von straffälligen Menschen.

Ein Grundsatz der Organisationsentwicklung lautet jedoch, dass Organisationen so gestaltet sein sollten, dass es ihnen bestmöglich gelingt, ihren Zweck bzw. ihre Zwecke zu erfüllen. Davon ausgehend lässt sich dann – etwas vereinfacht – überlegen, an welchen „Rädchen“ (Zwecke, Kommunikationswege, Prozesse, Personal) wie „gedreht“ werden kann, um die jeweilige Organisation „in die gewünschte Richtung zu verführen“ (Seliger, R.).

Wenn jedoch Zwecke (Wozu sind wir da? Was wollen wir anbieten?) und die Wege, wie diese Zwecke erreicht werden (Prozesse), an vielen Stellen vorgegeben bzw. aufgrund der Finanzierungslogiken Sozialer Arbeit schwer veränderbar sind, wird es spannend (immer, wenn Sozialarbeiter:innen „spannend“ sagen, meinen sie eigentlich „schwierig“):

Es reicht bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit nicht aus, allein die interne Perspektive der Veränderung von Zwecken, Kommunikationswegen, Prozessen und Personal in den Blick zu nehmen. Bei allen Ambitionen und Notwendigkeiten der Organisationsentwicklung muss immer die (in der Regel begrenzende) Außenperspektive mit berücksichtigt werden:

Was von den tollen Ideen und theoretischen Möglichkeiten lässt sich eigentlich auf Dauer und über welche Wege finanzieren?

Ohne die Berücksichtigung dieser ersten Besonderheit von Organisationen der Sozialen Arbeit, die auf der „politischen Konstituierung sozialer Dienstleistungen“ (ebd., 33) basiert und der sich daraus ergebenden Diskrepanz zwischen Kundenorientierung und Finanzierung wird es aller Voraussicht nach immer wieder zu Wildwuchs, Frustration bei den Mitarbeitenden und zu einer Vielzahl abgebrochener OE-Prozesse, deren Ergebnisse oftmals weit hinter den prognostizierten Erwartungen zurückbleiben, kommen.


Im nächsten Beitrag wird’s dann um die Diskrepanz II gehen. Dabei wird der Blick nach innen, auf die besonderen Charakteristika sozialer Dienstleistungen gerichtet und die Frage gestellt, welche Auswirkungen diese auf die Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit haben.

Quellen:

  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.

Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisation: Maßnahmen der Organisationsentwicklung

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Mit Blick auf meine Beratungsaufträge der letzten Monate ist es spannend zu sehen, dass zunehmend soziale Organisationen der Sozialwirtschaft und Vereine, die soziale, personenbezogene Dienstleistungen erbringen, Unterstützung bezogen auf die Frage suchen, wie ein guter Generationenwechsel gelingen bzw. wie die Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Interessant ist, dass zwar in jedem Verein und jeder Organisation der Zeitpunkt kommt, an dem die bisherigen Vorstandsmitglieder oder die Geschäftsführung ausscheiden. Eine Besonderheit von Organisationen und Vereinen der Sozialwirtschaft besteht aus meiner Sicht aber (unter anderem) in der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit insgesamt.

Im Folgenden werde ich einleitend auf diese historischen Entwicklungen eingehen, um darauf basierend die Ziele der Nachfolgeplanung zu beschreiben. Dann werden konkrete Maßnahmen der Organisationsentwicklung skizziert, die aus meiner Sicht grundlegend sind, um die Nachfolgeplanung gelingen zu lassen.

Historischer Blick auf die Entwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit

Nein, ich werde hier nicht die Gesamtentwicklung der Sozialen Arbeit darlegen. Hier zum Beispiel kann man dies viel besser nachlesen.

Mich interessiert hier die historische Entwicklung der Sozialen Arbeit in den 1970er/1980er Jahren.

Wichtig in dem Zusammenhang ist, dass die deutschen Fachhochschulen, die heute teilweise als Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bezeichnet werden, in den 1970er-Jahren aus verschiedenen Bildungseinrichtungen wie Ingenieurschulen, Akademien und Höheren Fachschulen für Gestaltung, Sozialarbeit oder Wirtschaft entstanden.

Die Gründung dieses eigenständigen Hochschultyps wurde durch eine Grundsatzerklärung der Ministerpräsidenten am 5. Juli 1968 festgelegt. Am 31. Oktober 1968 wurde das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Fachhochschulwesens“ verabschiedet, wodurch der Grundstein für die Etablierung der Fachhochschulen gelegt wurde. Anschließend erfolgten die entsprechenden Abkommen in den einzelnen Bundesländern (vgl. näher hier).

Für die Soziale Arbeit erfolgte damit „ein wichtiger Schritt zur Akademisierung und Verwissenschaftlichung, der getragen war von einem zunehmenden Professionalisierungsbedürfnis innerhalb der Sozialen Arbeit und begünstigt vom fortschrittsorientierten bildungspolitischen Klima der Zeit“ (Kruse, 2008, 42).

Aus diesen Entwicklungen in Verbindung mit Sparmaßnahmen (basierend bspw. durch die Ölkrise) und der demographischen Entwicklung („Boomer“), die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit hatten, resultierte, dass ab Mitte/Ende der 70er Jahre Absolvierende begannen, Taxi zu fahren erfolgreich soziale Organisationen in Eigeninitiative aufzubauen.

Ausgehend von einem etwa 40 Jahre dauernden Berufsleben wird deutlich, dass die Menschen, die damals die heute teilweise großen Organisationen und Vereine auf den Weg brachten, kurz vor oder bereits in ihrem Ruhestand stehen.

Entsprechend deutlich zeigt sich seit einigen Jahren die Notwendigkeit, Nachfolgeplanungen aktiv anzugehen. Oder, wie Hamm et al. (2021, V) in ihrem Vorwort betonen:

„Eine Gründergeneration, die den sozialen und Bildungsbereich in seinen feinsten Unterscheidungen aufgebaut und geprägt hat, geht in den Ruhestand. Wir wissen es schon lange und die Zeit zum Handeln ist gekommen.“

Klar ist aber auch, dass die Nachfolgeplanung in eine Zeit fällt, die diese Nachfolge alles andere als einfach macht. Denn nicht nur die „Gründer:innen“ von damals gehen in den Ruhestand und suchen Nachfolger:innen. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft gerade am Anfang steht und enorme Auswirkungen haben wird.

Daraus wiederum folgt, dass ein einfaches „Weiter so!“ oder auch ein „business as usual“ aufgrund fehlender Fachkräfte und deren geänderten Anforderungen an die Übernahme von Verantwortung insbesondere in kleinen und mittleren sozialen Organisationen und Vereinen nicht funktionieren kann. Es ist schon jetzt und wird auch in Zukunft nicht möglich sein, „einfach“ die Nachfolger:innen zu bestimmen und erwarten zu können, dass der Verein oder die Organisation weiterhin „funktioniert“.

Vielmehr gilt es, die Ziele der Nachfolgeplanung für die eigene Organisation zu bestimmen und darauf basierend Maßnahmen der Organisationsentwicklung abzuleiten, damit diese Ziele erreicht werden können und das Überleben der Organisation nachhaltig sichergestellt werden kann.

Aber was sind Ziele der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen?

Ziele der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen

Die Ziele der Nachfolgeplanung lassen sich übergreifend wie folgt zusammenfassen:

Kontinuität sichern: Wesentlich ist natürlich die Gewährleistung einer nahtlosen Fortführung der Aktivitäten des Vereins bzw. der Organisation bei Änderungen im Vorstand und Geschäftsführung. Das gilt zwar immer, wird aber insbesondere dann, wenn der Verein bzw. die Organisation bislang im Wesentlichen durch die Gründungspersönlichkeit geprägt wurde, zu einem Kernaspekt der Nachfolgeplanung.

Talententwicklung fördern: Um die Kontinuität sicherstellen zu können, ist es unabdingbar, frühzeitig in die Identifizierung, Entwicklung und Förderung von talentierten Mitarbeiter:innen zu investieren, um sicherzustellen, dass qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen bereitstehen.

Wissenstransfer sicherstellen: Der Wissenstransfer umfasst die Übertragung von spezifischem Fachwissen, Erfahrungen und dem Wissen über Netzwerke von erfahrenen Führungskräften auf die nächste Generation.

Risikominderung: Die Reduzierung der Risiken, die mit erwarteten und unerwarteten Abgängen von Schlüsselpersonen verbunden sind, sichert wiederum die Kontinuität. Dies kann zum einen durch den Aufbau einer „Pipeline von qualifizierten Nachfolger:innen“ geschehen. Zum anderen ist aber der Aufbau eines funktionalen Prozessmanagements hilfreich, über das sichergestellt wird, dass die Arbeit schnell und reibungslos fortgeführt wird.

Unternehmenskultur bewahren: Hier bin ich zweigespalten. So kann die Sicherstellung, dass Werte und Kultur auch während des Übergangs aufrechterhalten werden, wichtig sein, um die Verunsicherung durch den Wechsel nicht zu groß werden zu lassen, hoch relevant sein. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, gerade den Neubeginn und die sich damit verändernde Kultur zu befördern.

Mitarbeiterbindung steigern: In Phasen des Übergangs gilt es, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für Mitarbeiter:innen zu schaffen, um ihre Bindung an die Organisation zu fördern. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels ist dies effizienter und effektiver, als auf neue Mitarbeiter:innen zu hoffen, die komplett neu eingearbeitet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Weggang von Mitarbeiter:innen immer mit einem Weggang von Erfahrungswissen und Kompetenzen verbunden ist.

Strategische Ausrichtung unterstützen: Auch in Übergangsphasen gilt es, sicherzustellen, dass die Nachfolgeplanung mit den strategischen Zielen des Vereins bzw. der Organisation in Einklang steht und die langfristige Entwicklung unterstützt wird.

Transparenz und Fairness gewährleisten: Bei dem oben erwähnten Aufbau von Nachfolger:innen ist relevant, transparente und faire Prozesse für die Auswahl der Personen zu entwickeln, um das Vertrauen aller Mitarbeiter:innen zu stärken und mögliche Konflikte zu minimieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das SCARF-Modell, in dem Fairness explizit als Grundlage für die Aufrechterhaltung der Motivation der Mitarbeiter:innen betont wird.

Compliance sicherstellen: Selbstverständlich gilt, auch bei der Nachfolge sicherzustellen, dass rechtliche Anforderungen und Governance-Standards in Bezug auf die Planung und Dokumentation von Nachfolgeprozessen sichergestellt werden.

Diese Ziele können je nach Arbeitsfeld, Größe und Ausrichtung der Organisation bzw. des Vereins und aufgrund individueller Umstände variieren. Unabhängig davon aber ist eine effektive Nachfolgeplanung unabdingbar, um die Stabilität, Kontinuität und Entwicklungsfähigkeit der eigenen Organisation bzw. des Vereins sicherzustellen.

Auch wenn oben bereits ein paar Aspekte angesprochen wurden, will ich im Folgenden explizit Maßnahmen der Organisationsentwicklung beschreiben, die für die Nachfolgeplanung im Verein bzw. der Organisation angegangen werden können.

Maßnahmen der Organisationsentwicklung

Vorauszuschicken ist, dass jede Organisation und jeder Verein unterschiedlich ist. Dies ist zwar eine Binsenweisheit, führt aber dazu, dass pauschale Antworten auf die Frage, wie eine gelingende Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen aussehen kann, nicht verallgemeinert werden kann.

Entsprechend verläuft auch die Organisationsentwicklung zur Gestaltung der Nachfolge nach dem „allgemeinen Vorgehen“ der Organisationsentwicklung. Dabei steht zu Beginn eine mehr oder weniger intensive Organisationsanalyse an, um die Probleme („Was ist das Anliegen/Problem?“) verstehen zu können. Damit geht auch die Zielklärung („Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?“) einher.

Basierend auf der Analyse der Ausgangssituation erfolgt dann die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung („Wie werden Sie dieses Ziel erreichen? Für welche Maßnahme(n) entscheiden Sie sich?“). Dies ist wiederum mit der zeitlichen, personellen und finanziellen Planung der Umsetzung („Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?“) verknüpft.

Dann erfolgt die Umsetzung der Maßnahmen sowie die Kontrolle der Durchführung („Ist die festgestellte Abweichung zwischen dem ursprünglichen Plan und dem augenblicklichen Stand ein Anlass für Korrekturen?“).

Den Prozess abschließend darf die Evaluation, Reflexion und der Transfer von Ergebnissen („Im Hinblick auf welche Kriterien ist der Prozess ein Erfolg? Haben wir das Ziel erreicht? Was wurde in dem Prozess der Bearbeitung individuell und kollektiv gelernt? Auf welche weiteren Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen anwendbar/übertragbar?“) nicht vernachlässigt werden. Aus der Evaluation werden dann die wiederum nächsten Schritte abgeleitet.

Hier habe ich diese „allgemeinen Schritte“ gelingender Organisationsentwicklung in einem fünfstufigen Modell beschrieben.

Spezifisch bezogen auf die Möglichkeiten der Nachfolgeplanung zeigen sich übergreifend folgende Maßnahmen als wirksam:

Definition von Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen

Auch wenn dies als Basis funktionierender Organisationen angesehen werden kann, ist es zunächst wichtig, die Ziele, Verantwortlichkeiten und die Prozesse der Organisation bzw. des Vereins in den Blick zu nehmen und so zu gestalten, dass allen Beteiligten klar ist, was der Zweck des Vereins ist, wer für was zuständig ist und welche Regeln, Prozesse und Routinen eingehalten werden müssen.

Hier findest Du einen Beitrag zum GRPI-Modell, das die Bedeutung von Zielen, Zuständigkeiten, Prozessen und der Kommunikation in Teams und Organisationen hervorhebt und eine einfache, aber gute Orientierung für die Gestaltung gelingender Teams und Organisationen bietet.

Ein besonderer Fokus ist in diesem Schritt auf die Aufgaben und Zuständigkeiten von Vorstand und Geschäftsführung zu richten. Erst darüber wird transparent, welche Anforderungen an die Nachfolger:innen gestellt werden. Gerade in über Jahrzehnte gewachsenen und von Gründungspersönlichkeiten getragenen Organisationsstrukturen werden viele Aspekte implizit gelebt und nicht mehr explizit ausformuliert, was für Nachfolger:innen zu echten Herausforderungen führt.

Übergreifend geht es in diesem Aspekt um die Gestaltung von zeitgemäßen und für die Organisation bedarfsgerechten Organisationsstrukturen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fördern, um den Zweck der Organisation bzw. des Vereins auch zukünftig angemessen verfolgen zu können.

Entwicklung von Kompetenzprofilen

Gerade dann, wenn es um die Nachfolge von komplexen Führungspositionen geht, kann es sehr sinnvoll sein, basierend auf den definierten Zielen, Prozessen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten Kompetenzprofile für die potentiellen Nachfolger:innen zu entwickeln. Auch wenn es niemals möglich sein wird, die eierlegende Wollmilchsau aka neue Führungskraft zu finden, kann das Kompetenzprofil die fachlichen, sozialen und persönlichen „Mindest-Kompetenzen“ der Nachfolger:innen beschreiben.

Aufbau eines Talentpools

Auch wenn dieser Aspekt eigentlich eine Binsenweisheit ist, ist darauf hinzuweisen, dass es, um eine gute Auswahl potentieller Kandidaten für die Nachfolge zu haben, wichtig ist, sich frühzeitig Gedanken um die Nachfolge zu machen und einen Talentpool aufzubauen. In diesem Talentpool können Mitarbeiter:innen der Organisation bzw. des Vereins, die für eine Nachfolge in Frage kommen, erfasst und entsprechend auf die kommende Führungsposition(en) vorbereitet werden.

Förderung der Nachwuchsarbeit

Zum vorherigen Aspekt gehört zwangsläufig die Förderung der Nachwuchsarbeit im Verein bzw. der Organisation. Dies kann durch Angebote wie Mentoring-Programme oder (sinnvolle) Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen. Bezüglich der Weiterbildungsmaßnahmen macht es Sinn, sich mit dem „New Learning“ zu beschäftigen: Darunter ist zu verstehen, die Herausforderungen der Veränderungen der Organisation und die Prinzipien zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsgestaltung mit der Frage zu kombinieren, wie wir als Individuen und als Organisationen jetzt und in Zukunft sinnvoll lernen.

Insbesondere geht es dabei um einen Wechsel von tayloristisch geprägten, top-down organisierten und vorgegebenen Lernsettings hin zu bedürfnisorientierten, dynamik- und komplexitätsrobusten, kollaborativen Lernökosystemen. Lernen und Weiterbildung wird damit ein möglichst selbstbestimmter und sozialer Prozess, der bedürfnis- oder problemorientiert an echte Herausforderungen gebunden ist (vgl. Foelsing, Schmitz, 2021, 107).

Zu denken ist bei der Nachwuchsarbeit auch an Mentoring-Programme, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen von den erfahrenen Führungskräften lernen. Hierbei ergeben sich durch technologische Möglichkeiten (bspw. virtuelle Plattformen, Kollaborationstools und künstliche Intelligenz) neue Chancen, um den Wissenstransfer zu fördern. Genauso können aber auch Reverse-Mentoring-Programme implementiert werden, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen erfahrene Führungskräfte in Bezug auf aktuelle Technologien, Trends und Perspektiven schulen.

Erstellung eines Nachfolgeplans

Auf Grundlage der oben genannten Maßnahmen kann ein Nachfolgeplan erstellt werden. Dieser Nachfolgeplan sollte einen Zeitplan für die Nachfolgeregelung sowie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Nachfolger:innen enthalten.

Fazit zur Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen

Hamm et al. (2021, 354) bringen es auf den Punkt:

„Die Führungsebene in sozialen Organisationen besteht in ihrer Konstellation teilweise seit Jahrzehnten und ist aufeinander abgestimmt. Die Nachfolgeplanung in solchen Settings ist nur schwer denkbar ohne:

  • Anpassungen in den organisationalen und
  • personellen Strukturen.“

Bei der Anpassung der organisationalen (und der in diesem Beitrag weniger beleuchteten personellen) Strukturen ist aber wieder zu betonen, dass es notwendig ist, die Individualität der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Vereins in den Blick zu nehmen. Basierend auf den je individuellen personellen und finanziellen Möglichkeiten und vorgegebenen Strukturen sowie basierend auf dem jeweiligen Arbeitsfeld mit seinen rechtlichen Rahmenbedingungen ist zu analysieren, wo die Organisation steht (Organisationsdiagnose zur Ist-Analyse). Darauf folgend können dann hypothesenbasiert funktionale Anpassungen und Entwicklungen getestet und implementiert werden.

Die skizzierten und sicherlich nicht abschließenden Maßnahmen zur Organisationsentwicklung im Rahmen der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen sind entsprechend als Anregungen zu verstehen, welche wesentlichen Optionen ergriffen werden sollten, um die eigene Organisation bzw. den eigenen Verein auch nach Weggang der Gründungspersönlichkeiten zukunftsfähig und resilient zu gestalten.

Quellen:

  • Foelsing, J., Schmitz, A. (2021): „New Work braucht New Learning – Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten“. Wiesbaden: Springer.
  • Hamm, M., Heider-Winter, C., Leu, N.-A. (Hrsg., 2021): Strategische Nachfolgeplanung in Non-Profit-Organisationen. Fit für den Generationswechsel im Gemeinnützigkeitsbereich. Berlin: Springer Gabler.
  • Kruse, E. (2008): Das Studium der Sozialen Arbeit. Sozial Extra 32, 39–43.

Sieben Gründe, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

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Barcamps sind nichts Neues. Den Ausführungen von Simon Dückert folgend lassen sich erste Ideen dazu bis ins Jahr 1998 zurückverfolgen. Wir waren etwas später dran, aber Sabine und ich haben immerhin im Jahr 2016 das erste #Sozialcamp (unter dem Link mein Review aus 2016) ins Leben gerufen. Und ich bin immer wieder geflasht von der Kraft des Formats Barcamp. Deswegen will ich Dir hier – angelehnt an die Ausführungen in meinem letzten Newsletter – darlegen, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind.

Aktuell denke ich übrigens wieder darüber nach, ein offenes Barcamp-Format für die Soziale Arbeit ins Leben zu rufen (da das Sozialcamp leider durch Corona ziemlich gelitten hat ;-( Außerdem war ich gerade unterwegs in einer „Barcamp-Woche“. Konkret durfte ich in den letzten Tagen zwei Barcamps moderieren.

Das erste Barcamp der letzten Woche war ein „Semi-Barcamp“ rund um das Thema „Fachkräftemangel“ des Paritätischen Baden-Württemberg, bei dem im ersten Teil am Vormittag ein „klassisches Konzept“ gefahren wurde: Grußworte, Vorstellung eines Best Practice Modells und ein Impuls (den ich zum Thema Fachkräftemangel halten durfte). Der Nachmittag war dann als Barcamp-Format rund um das Thema „Fachkräfte“ konzipiert.

Das zweite Barcamp war ein „reines Barcamp“ ohne explizit vorgegebenes Thema. Es ging um Projektverzahnung, Vernetzung, die Generierung neuer Ideen und Ansätze usw., initiiert vom Verband der Privaten Krankenversicherungen.  

Warum Barcamps nicht „auch“ in der Sozialwirtschaft ankommen sollten…

Barcamps sind in den letzten Jahren auch in unseren „eher klassischen Branchen“ angekommen sind. Hier bspw. beim DRK, hier bei der Caritas in Freiburg oder hier als digitales Barcamp bei der Diakonie. Das sind nur einige Beispiele, es gibt viel mehr.

Aber aus meiner Sicht macht dieses „auch“ eigentlich keinen Sinn, denn: 

Barcamps und ähnliche Formate wie bspw. „Open Space“ sollten nicht „auch in der Sozialwirtschaft“ ankommen. 

Wir sollten uns vielmehr darüber wundern, dass es in unseren Kontexten überhaupt noch „klassische Konferenzformate“ gibt! 

Ja, diese klassischen Formate haben auch (noch) ihre Berechtigung, aber wenn man sich ein paar der Vorteile von offenen Konferenz- oder Barcamp-Formaten anschaut, wird es sehr deutlich.

Dazu macht es Sinn, sich die Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft vor Augen zu führen.

Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft  

1. Partizipation und Mitgestaltung: 

Barcamps zeichnen sich durch ihre offene Struktur aus, bei der die Teilnehmer:innen zu Teilgeber:innen werden und damit aktiv an der Gestaltung des Programms teilnehmen. Statt vordefinierter Vorträge und Workshops können die Teilgeber:innen selbst Themen, Fragen, Ideen… einbringen. Und wo, wenn nicht in sozialen Organisationen, wird Partizipation besonders groß geschrieben? Das gilt übrigens nicht nur für die Partizipation(swünsche) der Mitarbeiter:innen. Vielmehr wird auch von den Klient:innen aktive Beteiligung und Eigenverantwortung erwartet, da Soziale Arbeit ja genau darauf abzielt: Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung. Autonomie und Selbstbestimmung aber findet in klassischen Settings kaum statt.

2. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: 

Herkömmliche Veranstaltungen haben oft ein sehr starr vorgegebenes Programm. Barcamps hingegen haben zwar auch einen Zeitplan (45 minütige Sessions). Sie sind aber inhaltlich flexibel und können sich damit an aktuelle Themen, Bedürfnisse und Interessen der Teilgeber:innen anpassen. Und gerade in der Arbeit mit Menschen ist Flexibilität und die Notwendigkeit, schnell auf Veränderungen zu (re-)agieren, im Alltag Standard. Warum nicht auch in Veranstaltungsformaten? 

3. Vielfalt an Themen und Perspektiven: 

Da bei Barcamps die Teilgeber:innen die Themen bestimmen, sind die Veranstaltungen inhaltlich enorm divers. Dies fördert den interdisziplinären Austausch und ermöglicht den Teilgeber:innen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und wo, wenn nicht in der Sozialwirtschaft, ist Diversität – themenbezogen, aber noch vielmehr bezogen auf die Menschen – hoch relevant? 

4. Netzwerken und Beziehungen: 

Barcamps bieten viel Gelegenheit zum Netzwerken. Die informelle Atmosphäre, das „Barcamp-Du“ und die Möglichkeit, sich aktiv in Diskussionen einzubringen, erleichtern es, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende Beziehungen zu vertiefen. Netzwerk-, vor allem aber Beziehungsgestaltung...muss ich nicht vertiefen, oder? 

5. Geringe Kosten:

Barcamps sind oft kostengünstiger als herkömmliche Konferenzen. Man muss keine Referent:innen bezahlen (auch wenn eine Moderation von außen hilfreich ist, you can call me ;-), Man muss die Räume nicht wahnsinnig technisch ausstatten usw. Vielmehr leben Barcamps zum einen von der Partizipation der Teilgeber:innen (s.o.) und zum anderen vom „Werkstattcharakter“, dem „Unfertigen“, dem Gestaltbaren. Und weniger Kosten…muss ich nicht vertiefen, oder?

6. Informelle Atmosphäre: 

Herkömmliche Veranstaltungen sind oft sehr „förmlich“, während Barcamps eine entspannte, „informellere“ Atmosphäre bieten. Und falls Du an der Stelle Lust hast, kannst Du meinen Beitrag zur „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ lesen. Hier, in Barcamps, ist die Informalität hochgradig funktional (was bei dominierender Informalität in der Gestaltung der Zusammenarbeit nicht immer der Fall ist). 

7. Wissensaustausch und Lernen: 

Die offene Natur von Barcamps fördert den Wissensaustausch und das gemeinsame, selbstbestimmte Lernen. Die Teilgeber:innen profitieren von den Ideen und Erfahrungen der anderen und in kurzer Zeit entsteht Verbindung, Verbundenheit und persönliche ebenso wie inhaltliche Netzwerke. Und das (neues) Lernen für Menschen in und soziale Organisationen insgesamt wichtig ist, kannst Du bspw. hier nachlesen. 

Warum Barcamps die Möglichkeit zum Umgang mit der VUCA-Welt sind

Was mich aber über all diese Punkte hinaus am Meisten fasziniert, ist die Möglichkeit, wie es in Barcamps gelingt, mit der uns alle beschäftigenden Komplexität umzugehen

Durch all die oben genannten Aspekte und Vorteile wird es möglich, komplexe Fragen so anzugehen, dass nicht unterkomplexe Antworten gegeben, sondern die Welle der Komplexität gemeinsam gesurft wird. Denn: 

Für fast alle Fragen, die Soziale Organisationen, Bildungseinrichtungen, Verwaltungen… aktuell bewegen (Fachkräftemangel, KI, Klima, Krieg, Einsparungen und Co.) gibt es nicht die eine richtige Antwort.  

Vielmehr sind diese Fragen nur gemeinsam, interdisziplinär und sektoren- bzw. innerhalb von Organisationen bereichsübergreifend anzugehen.

Komplexität zu bewältigen braucht Tests und Experimente.

Es ist auszuprobieren, es ist gemeinsam zu experimentierenwie eine bessere Zukunft gestaltet werden kann. 

Und aus den Ergebnissen, die in den Sessions der Barcamps entstehen, lassen sich genau diese „Experimente“ gestalten:

  • Es können sich neue Netzwerke ergeben – bspw. zum Thema „Nutzung von KI in der eigenen Organisation“.
  • Es können konkrete Lösungen erarbeitet werden – bspw. für spezifische Fragen.
  • Es kann aber auch ganz einfach Austausch stattfinden, der – vielleicht – im Sinne der Serendipität – zu neuen, bislang nicht gedachten Ideen und Lösungen führt.

Organisationsinterne Barcamps

Barcamps werden in den meisten Fällen entweder ganz offen angeboten (bspw. das Sozialcamp von damals…) oder häufig durch Verbände initiiert, die ihre Mitgliedseinrichtungen zu bestimmten Themen zusammenbringen wollen (siehe die Beispiele oben).

Es ist aber nicht nur möglich, sondern auch hochgradig sinnvoll, ein Barcamp innerhalb der eigenen Organisation – bspw. als Alternative zu einer klassischen Klausur – zu organisieren. Hilfreich dazu ist es, ein paar Schritte zu beachten:

  • Interesse wecken: Mitarbeiter:innen über die Idee und Grundanliegen eines Barcamps informieren um ihr Interesse zu wecken.
  • Organisationsteam bilden: Ein Team zusammenstellen, das die Veranstaltung planen und koordinieren kann.
  • Rahmenbedingungen schaffen: Einen geeigneten Ort und Zeitpunkt festlegen sowie die notwendige technische Ausstattung sicherstellen.
  • Teilnehmer einbinden: Die Mitarbeiter:innen dazu ermutigen, Themen für das Barcamp vorzuschlagen und abzustimmen, um eine relevante Agenda zu erstellen.
  • Kommunikation fördern: Die Teilgeber:innen aktiv dazu ermutigen, ihre Ideen und Meinungen während der Veranstaltung zu teilen.
  • Dokumentation: Alle Ergebnisse dokumentieren (und im Nachgang aufbereiten).
  • Feedback sammeln: Nach dem Barcamp Rückmeldungen sammeln, um Verbesserungen für zukünftige Veranstaltungen zu identifizieren.

Eine richtig gute Anleitung zur Organisation von einem Barcamp findet sich übrigens im lernOS Barcamp Leitfaden. Das lohnt sich wirklich.

Zukunft ermöglichen, oder: Warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

Auch wenn die Ausführungen für viele wahrscheinlich nicht besonders neu waren oder manche von Euch vielleicht schon Barcamps besucht haben, finde ich es relevant, immer mal wieder darauf zu verweisen, dass es Wege gibt, anders an übergreifende oder auch organisationsinterne Herausforderungen heranzugehen.

Und die Herausforderungen, die es heute und in Zukunft zu bewältigen gilt, sind enorm. Entsprechend plädiere ich hier, als eine Option, für die Barcamp-Methode.

Barcamps aber sollten keine exotischen „Experimente“ sein, sondern vielmehr zum Standardformat für Veranstaltungen werden, die zur Ermöglichung der Zukunft anregen

Ach ja, im Kleinen, im Team oder auch in organisationsinternen Netzwerken, lohnt sich auch ein Blick auf die Methode des „Lean Coffee“, um gemeinsam an neuen Ideen und der Entwicklung der Organisation zu arbeiten.

Adaptive Strategiearbeit in Sozialen Organisationen – Ansätze, Herausforderungen und Lösungen

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Der Beitrag „Adaptive Strategiearbeit in Sozialen Organisationen – Ansätze, Herausforderungen und Lösungen“ ist mein Skript bzw. eine Verschriftlichung meiner Gedanken, die ich zur BEB Fachtagung Dienstleistungsmanagement mitgebracht habe. Mein Impuls befasste sich mit „adaptiver Strategiearbeit“, agiler Strategieentwicklung und Strategieumsetzung (und irgendwas mit New Work ;-). Hier (und entsprechend in meinem Impuls bei der Tagung) habe ich dazu vier Fragen beantwortet, die ich hier gerne teilen will:

  1. Wozu brauchen wir ein neues Verständnis von Strategiearbeit – und was ist das eigentlich?
  2. Wie entwickelt man adaptive Strategien in Zeiten des Wandels?
  3. Warum ist Strategieumsetzung in sozialen Organisationen so schwierig?
  4. Was Sie trotzdem tun können!

Wozu brauchen wir ein neues Verständnis von Strategiearbeit – und was ist das eigentlich?

Der erste Teil der ersten Frage ist eigentlich schnell beantwortet:

Wir befinden uns in einer Krisenzeit, in der der Krisenbegriff an die Grenze kommt:

Eine Krise, so findet man in Wikipedia, „ist im Allgemeinen ein Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und der eher kürzer als länger andauert.“

Wenn die Krise zum Normalzustand wird, ist es keine Krise mehr, sondern das „neue Normal“, unsere geteilte Wirklichkeit, in der wir uns befinden.

Diese neue Normal besteht aus einer Aneinanderreihung, mehr noch, aus einer Überlagerung von Krisen und damit von gefährlichen Konfliktentwicklung in verschiedenen natürlichen oder sozialen Systemen.

Hier muss man nicht mehr in die Tiefe gehen, allein die Aufzählung der Begriffe Demokratiekrise, Fachkräftemangel, Haushaltskürzungen, Klimakatastrophe, Krieg, und Künstlicher Intelligenz (in alphabetischer Reihenfolge) reicht aus, um das Problem zu skizzieren.

Aber es bleibt nicht bei der Überlagerung von Krisen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass durch die Synchronisation der Krisenphänomene von deren gegenseitiger Beschleunigung und Verstärkung ausgegangen werden kann (vgl. Homer-Dixon et. al, 2022).

Vor diesem Hintergrund kommt der klassische Strategieegriff massiv an seine Grenzen. Wobei: Was ist eigentlich Strategie?

Was ist eigentlich Strategie?

Interessanterweise wird in der Literatur über Strategie sehr viel vermischt:

Da wird kaum zwischen den Begriffen Plan, Taktik, Strategie unterschieden (vgl. auch Kühl, 2016, 8). Es geht aber um die Verwirklichung von (längerfristigen) Unternehmenszielen bzw. – etwas theoretischer formuliert – um die „Suche nach geeigneten Mitteln zur Realisierung eines vorher definierten Zwecks“ (ebd., 9), soviel scheint klar zu sein.

Aus dieser Perspektive wäre „Strategieformulierung (oder Strategieentwicklung) (…) der Prozess der Suche nach dem geeigneten Mittel (…). Strategieumsetzung (oder Strategieimplementation) wäre der Prozess des Einsatzes der als geeignet identifizierten Mittel, um den vorher definierten Zweck zu erreichen“ (ebd.).

Es ergibt sich ein zweckrationales Strategieverständnis, das von einem Oberzweck der Organisation ausgeht und dann nach geeigneten Mitteln gesucht wird, diesen Zweck zu erreichen. Dieses zweckrationale Verständnis ist wunderbar nach unten zu skalieren, indem auch die Bereiche, Abteilungen und einzelnen Teams Ziele und Zwecke definieren, für deren Erreichung dann geeignete Mittel gesucht werden.

Spätestens angesichts der skizzierten Polykrisen jedoch kommt dieses alleinig zweckrationale Vorgehen massiv an seine Grenzen. Die langfristige Planung von Unternehmenszielen und die darauffolgende Suche nach Mitteln, um die definierten Zwecke zu erreichen, funktioniert nicht mehr, da sich das neue Normal so schnell ändert, dass eine alleinige Fokussierung der Organisation auf die Erreichung strategischer Ziele nicht mehr gelingen kann.

Es kommt heute und zukünftig darauf an, Strategieprozesse aus beiden Perspektiven zu denken und so anzulegen, dass für strategische Ziele geeignete Mittel gesucht werden können und Organisationen gleichzeitig offen dafür bleiben, für existierende Mittel, Problemlösungen, vorhandene Ressourcen geeignete Ziele, Probleme, Einsatzmöglichkeiten zu suchen.

Beim zweiten Ansatz wird gefragt, „welche Mittel in der Organisation vorhanden sind, auf deren Basis man verschiedene, unterschiedliche Ziele anstreben kann“ (ebd., 64).

Die Kombination beider Perspektiven wird dann zur „adaptiven Strategiearbeit“ (oder auch zur agilen, iterativen oder anpassungsfähigen Strategiearbeit).

Dieser Ansatz klingt in der Beschreibung einfach, kehrt jedoch die klassische Denkweise der Strategiearbeit um. Es gilt, mit
kleineren Maßnahmen (Inkremente, Experimente) zu beginnen, noch bevor die Bewertung von zig Alternativen stattgefunden hat.

Dazu bedarf es die kontinuierliche, ganzheitliche Einbeziehung der Organisation in die Strategiearbeit und – wie gesagt – eine Abkehr des Denkens der Strategie „von nach unten“.

Die ganze Organisation kontinuierlich in den Blick nehmen

Was ist aber „die ganze Organisation“?

Hierzu lohnt ein Blick auf verschiedenen Management-Modelle – hervorzuheben ist aus meiner Sicht das St. Galler Management Modell. Und trotzdem habe ich, wie es sich für einen guten Berater gehört ;-), die „IdeeQuadrat New Wort Canvas“ erarbeitet – eine Kombination verschiedener Ansätze, die mir hilfreich erschienen. Hier findest Du mehr zur „IdeeQuadrat New Wort Canvas“ (inkl. Download und Co.).

Dieses Modell betrachtet eine Organisation aus den Kategorien:

  • Zweck: Wofür treten wir an?
  • Ressourcen: Was und wen haben wir zur Verfügung?
  • Optimierung und Innovation: Wie lernen wir?
  • Strukturen, Prozesse und Mandate: Wie organisieren wir uns?
  • Umweltsphären: Wo spielen wir?
  • Kultur: Wir sind wir (und wie wollen wir sein)?
  • Stakeholder: Wer hat Interesse an und Einfluss auf uns?

Wichtig ist vor allem, dass in jeder Kategorie strategische Entscheidungen im klassischen Sinne (Wo wollen wir hin? Wie kommen wir dahin?) getroffen werden können. Und gleichzeitig können in jeder Kategorie Entscheidungen in der anderen Richtung getroffen werden (Was haben wir? Was können wir damit erreichen?).

Und zur Orientierung lassen sich auf all diesen Ebenen „Markierungen“, „Optionen“ und „Arbeit“ finden.

„Markierungen“, „Optionen“ und „Arbeit“

Die Unterscheidung von „Markierungen“, „Optionen“ und „Arbeit“ findet sich bei Darkhorse (vgl. 2023).

  • Markierungen lassen sich als Erzählungen über die Identität einer Organisation in einer zu gestaltenden Zukunft beschreiben. Sie sind vergleichbar mit (aber nicht gleich) „der einen Vision“ oder „dem einen Nordstern“ einer Organisation. Sie sind deutlich breiter gedacht und liefern damit einen Rahmen für Entscheidungen über die Optionen.
  • Optionen sind die Möglichkeiten, die einer Organisation in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen. Optionen sind nicht alternativlos, sondern bieten Möglichkeiten, Korrekturen auch im laufenden Geschäft vorzunehmen. Und diese Korrekturen sind es, die zeitgemäße und damit anpassungsfähige Organisation brauchen.
  • Und die Thesen, die die Optionen versprechen, werden durch Arbeit überprüft. Hier zeigt sich die Parallele zu den „Inkrementen“ von oben ebenso wie zu Überlegungen rund um agiles Arbeiten oder der Denkhaltung „Effectuation“.

Strategie wird damit über drei Perspektiven gedacht, an denen adaptive Startegiearbeit in den einzelnen Kategorien ansetzen kann.

Dabei aber ist wiederum zu bedenken, dass adaptive Strategiearbeit nicht nur top-down (von Markierungen zur Arbeit), sondern eben auch von der Arbeit zur Entwicklung der Markierungen gedacht und gelebt wird.

Aber wie sieht das etwas konkreter aus, oder:

Wie entwickelt man adaptive Strategien in Zeiten des Wandels?

Die Entwicklung adaptiver Strategien erfolgt aus zwei Perspektiven, die im Folgenden skizziert werden:

Vorgehen aus beiden Perspektiven

Zunächst wird (klassisch) überlegt, welche Ziele und Zwecke die Organisation in den nächsten Jahren erreichen soll. Hier dienen die Markierungen als Ausgangspunkt für Fragen wie „Wer sind wir heute und in Zukunft?“

Aus diesen Markierungen, die die Zwecke der Organisation beschreiben, lassen sich dann Optionen gestalten, die für die Erreichung der Zwecke notwendig sind.

Ein Beispiel:

Die Mitarbeitenden einer Einrichtung aus der Eingliederungshilfe erzählen stolz über die innovativen Lösungen, die sie immer wieder für ihre Bewohner:innen finden. Eine Markierung im Bereich der „internen Stakeholder“ wäre damit bspw. „Wir sind innovativ im Sinne unserer Bewohner:innen“.

Angesichts des Fachkräftemangels stellt sich entsprechend die Frage, wie es gelingen kann, diesen innovativen Anspruch trotz Personalengpässen zu halten. Daraus ergeben sich verschiedene Optionen: Verstärkte Suche nach Fachkräften, Bindung der bestehenden Fachkräfte, Reduzierung des Angebotsspektrums, um die Kernleistungen bestmöglich zu erfüllen, Überdenken der Formalstruktur der Organisation, um darüber klare Orientierung für die Mitarbeiter:innen zu schaffen usw… Jede dieser Optionen kann dann im Sinne iterativen Vorgehens vor dem Hintergrund des Zwecks (aufrechterhalten der innovativen Qualität) getestet werden. Die erfolgsversprechendsten Experimente (Arbeit) lassen sich dann in das regelhafte Angebot der Organisation übernehmen. Kurz: Für den angestrebten Zweck werden geeignete Mittel gesucht.

Die umgekehrte Perspektive ist, über die Arbeit, das Tun, über die vorhandenen Mittel und Ressourcen zu gehen und zu überlegen, welche Optionen sich daraus ergeben, die zu einer Neuorientierung der Organisation führen können.

In unserem Beispiel ist denkbar, dass Mitarbeiter:innen in einem Team der Organisation aus der Not des Fachkräftemangels eine Tugend gemacht haben und neue Wege gehen, die für dieses Team sehr erfolgsvorsprechend sind. Das Denken und Handeln aus den vorhandenen Möglichkeiten des Teams, sichtbar in der geleisteten Arbeit, führt zu neuen Optionen wie bspw. der Rekrutierung von Quereinsteiger:innen, der Verbindung der Einrichtung mit der Kita im Ort, der Entwicklung neuer, ressourcenschonender Dienstplanlösungen, der Reduzierung der Beschäftigung mit internen Prozessen zugunsten echter Arbeit an und mit den Menschen usw. Aus den Optionen ergeben sich dann – mittelfristig – neue Markierungen, die die Gesamtorganisation prägen (bspw. Stärkerer Einbezug des Sozialraums der Organisation).

Und wer hat den Hut auf?

Aus der beschriebenen Logik folgt, dass Strategiearbeit nicht mehr reine „Chefsache“ ist. Top-Down allein reicht nicht mehr (und reichte ehrlich gesagt noch nie wirklich).

Darkhorse (vgl. 2023) unterteilt hier sinnvollerweise in „Strategietreibende“ und „Strategiestakeholder„.

  • Strategietreibende sind Teams oder Mandate (Rollen, Verantwortungsbereiche), die explizit bezogen auf die jeweiligen Optionen gebildet werden und sich um die Optionen kümmern und deren Umsetzung vorantreiben! In unserem Beispiel wäre es ein Team (oder Arbeitsgruppe „Fachkräftemangel“).
  • Strategiestakeholder sind Mandatsträger:innen, die bei Feedbackschleifen involviert werden. Sie bieten Leitplanken für die Strategietreibenden. Idealerweise sind die Gruppen der Strategiestakeholder besetzt mit Mandaten, die nicht nur aus der „Ebene der Markierungen“ (Vorstand, GF, Leitung) bestehen, sondern auch die „Ebene der Arbeit“ miteinbeziehen (Mitarbeiter:innen). Spannend im Sinne einer Open Stategy (und der Teilhabe der Klient:innen Sozialer Organisationen) ist natürlich auch die Einbeziehung von Nutzer:innen in die Gruppen der Strategiestakeholder.

Das konkrete Vorgehen der adaptiven Strategiearbeit orientiert sich damit an einer Verbindung aus Top-Down und Bottom-Up Ansätzen. Wer sich mit Effectuation oder auch mit OKR – Objectives an Key Results – beschäftigt, erkennt die Nähe dieser Modelle zum adaptiven Strategieansatz.

Probleme der Strategieumsetzung in sozialen Organisationen

Die vorherigen Ausführungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach nachvollziehbar, oder? Sie machen auch Sinn, oder? Naja, zumindest für mich 😉 Aber die Realität in sozialen Organisationen zeigt, dass es mit der Umsetzung von Strategien nicht so einfach ist.

Das hat viele verschiedene Ursachen (unter anderem Abhängigkeit von Gesetzen und Kostenträgern, enorme Komplexität der Arbeit mit Menschen usw.). Eingehen will ich hier aber insbesondere auf eine These, die ich in einem anderen Beitrag ausdifferenziert habe. Die These lautet (angepasst auf Strategiearbeit in sozialen Organisationen):

„Weil in sozialen Organisationen die Informalität dominiert, ist Strategiearbeit ungleich schwieriger als in privatwirtschaftlichen Organisationen.“

Um den Beitrag noch halbwegs lesbar zu halten, gehe ich hier nicht in der Tiefe darauf ein, was Informalität ist und warum diese in allen Organisationen vorkommt. Nur soviel:

Die Informalität der Organisation meint die Aspekte in einer Organisation, über die keine formale Entscheidung getroffen wurde – sog. unentschiedene Entscheidungsprämissen.

„Von Informalität als Teil der Organisationsstruktur kann man sprechen, wenn eine nicht in der Formalstruktur erwartete Handlung mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftritt. Erst wenn ein Deutungsmuster sich nicht nur bei einem einzigen Mitglied findet, sondern sich in Teilen der Organisation als erwartbar eingeschlichen hat, hat es den Status einer informalen Erwartung. Erst wenn die kurzfristige Abstimmung mit der Kollegin in der Nachbarabteilung nicht ausnahmsweise vorgenommen wird, sondern wiederkehrend als ‚kurzer Dienstweg‘ zur Abstimmung genutzt wird, hat man es mit einer informalen Struktur zu tun“ (Kühl, 2016).

Diese personenorientierten Routinen und Gewohnheiten werden oft und etwas verkürzt als Organisationskultur definiert: „So machen wir das hier eben, damit es funktioniert.“

Die Herausforderung besteht jetzt darin, dass bewusste, zielgerichtete Gestaltung einer Organisation nur über das Treffen formaler Entscheidungen gelingt.

Wenn jedoch die formalen Entscheidungen vergleichsweise wenig Gewicht haben und die eingeschliffenen Muster unabhängig von den formalen Entscheidungen weiterleben (bspw. durch die Einarbeitung von neuen Mitarbeiter:innen, denen die eingeschliffene Kultur mit auf den Weg gegeben wird), ist Arbeit an den sich aus der Strategiearbeit ergebenden Aufgaben, die ja formale Entscheidungen sind, schwieriger.

Dazu schreibt Rudolf Wimmer, dass es nicht funktional ist, in der Gestaltung von Organisationsdesigns auf die Personenorientierung (gemeint ist die Orientierung an den Mitarbeiter:innen) zu setzen, da das Organisationsprinzip „Personenorientierung“ „nur bis zu einem gewissen Komplexitätsgrad erfolgreich ist“ (Wimmer, 2019).

Dem folgend „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (ebd.).

Wimmer schließt die Ausführungen mit dem Bezug zu Non-Profit-Organisationen, die aus seiner Perspektive „per se veränderungsresistent [sind], weil sie keinen Aufgabenfokus jenseits der persönlichen Bedürfnisse mobilisieren können“ (ebd.).

In sozialen Organisationen zeigt sich jedoch die Personenorientierung (zu verstehen aus Perspektive der Mitarbeiter:innen und im Gegensatz zur Aufgabenorientierung) an vielen Stellen – von der Gründungsgeschichte sozialer Organisationen basierend auf individuellen Erlebnissen der Gründer:innen über die auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesenen Rechtsformen sozialer Organisationen bis hin zur auf die intrinsische Motivation setzende professionelle Identität der in den Sozialen Berufen Beschäftigten.

Im Vorfeld des Vortrags hatte ich ein kurzes Gespräch, in dem ein Mitarbeiter einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung die Hauptproblematik bzgl. gelingender Organisationsentwicklung darin gesehen hat, dass „vor allem die langjährigen Mitarbeiter:innen nicht von ihrem „Expertenstatus“ („Ich weiß, was für die Menschen richtig ist!“) abweichen können!“ Auch dies ist ein wunderbares Beispiel für die vor der Aufgabenorientierung (in diesem Fall Teilhabe ermöglichen) stehende Personenorientierung („Ich weiß, was für dich richtig ist!“).

Noch einmal etwas überspitzt zusammenfasst:

Die Arbeit an den mit der Strategiearbeit verbundenen Aufgaben, das Verfolgen von Zielen, das Suchen nach innovativen Lösungswegen, die klassische ebenso wie die „adaptive Strategiearbeit“ kommen an ihre Grenzen, wenn jede:r macht, was er:sie will.

Wie adaptive Strategiearbeit in sozialen Organisationen gelingt

Abschließend lege ich Handlungsoptionen dar, wie adaptive Strategiearbeit trotz (oder gerade wegen) der skizzierten Herausforderungen gelingen kann.

Den Menschen aus dem Mittelpunkt nehmen

Adaptive Strategiearbeit

Das klingt komisch (und ist bewusst provozierend formuliert). Es ist aber recht einfach erklärt:

Wenn auch soziale Organisationen damit beginnen, die Menschen aus und deren Verantwortungsbereiche (Rollen oder Mandate) in den Mittelpunkt zu stellen, wird deutlich, dass es in Organisationen um die Erfüllung von Zielen und Zwecken geht. Das ist auch nicht „unmenschlich“, im Gegenteil:

Wenn der:die Mitarbeiter:in als „ganzer Mensch“ in die Organisation inkludiert wird, besteht keine Grenze mehr. Burnout ist vorprogrammiert und völlig logisch. Wenn aber zwischen Mandat und ganzem Mensch unterschieden wird, kann zum einen über die Aufgaben im Mandat und zum anderen – an anderer Stelle, zu anderen Zeiten – über das individuelle Befinden und die „menschliche Seite“ gesprochen werden.

Organisationsbewusstsein entwickeln

Selbstverständlich gehört auch der erste Aspekt – die Trennung zwischen Person und Verantwortungsbereich – zur Entwicklung eines Organisationsbewusstseins. Hier will ich aber weitere Punkte aufführen, die zur Entwicklung eines Organisationsbewusstsein beitragen:

Dazu ist es a) zunächst wichtig, Ziel und Zweck der Organisation bzw. des Bereichs oder der Abteilung bzw. des Teams zu klären und transparent zu machen! Wozu ist die Organisation da? Was ist Kernaufgabe der Organisation? Erst daran orientiert kann „klassische Strategiearbeit“ gelingen. Wenn Ziel und Zweck nicht klar sind, kann nicht daran gearbeitet werden, diesen über die Suche nach geeigneten Mitteln zu erreichen.

Außerdem sollten b) die Entscheidungswege der Organisation geklärt sein und für alle Mitarbeiter:innen verständlich dargelegt werden (dabei muss es sich übrigens nicht nur um „Vorgesetzte“ handeln. Auch selbstbestimmt agierende Teams haben über die Festlegung von Mandaten klare Entscheidungswege). Wer darf was entscheiden? Solange dies unklar ist, kommt es zu einer Verantwortungsdiffusion, die aller Wahrscheinlichkeit nach darin endet, dass keine Entscheidungen getroffen werden.

Ebenso sind c) die Prozesse der Organisation transparent zu definieren, die kausal bearbeitet werden können. Was passiert, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls auftritt? Zu diesen Prozessen gehören bspw. viele Verwaltungsprozsse, aber auch Prozesse wie die Neuaufnahme von Klient:innen, die Festlegung des Ablaufs von Teamsitzungen oder die Dauer von Iterationen bezogen auf bestimmte Projekte. Wichtig ist, dass erst dann, wenn klar ist, wie Prozesse ablaufen, kann an deren Weiterentwicklung gearbeitet werden.

Sicherlich nicht unbedingt beliebt ist d) die Definition von Konsequenzen, die regeln, was passiert, wenn im jeweiligen Verantwortungsbereich der definierten Verpflichtung nicht nachgekommen wird. Und auch hierbei geht es nicht um willkürliche Sanktionierung, sondern um Transparenz und Klarheit.

Über die Aspekte a – d wird deutlich, was die Organisation von den Mitarbeiter:innen will und was – aus der anderen Perspektive – der:die Mitarbeiter:in von der Organisation erwarten kann. Dieser Klarheit, was Organisationen sind und welche Regeln wie durch wen zu befolgen sind, sind sich viele Menschen in sozialen Organisationen nicht (immer) bewusst.

Verbundenheit herstellen um Komplexität zu gestalten

Das Cynefin-Framework (vgl. näher bspw. hier) unterscheidet vier (bzw. fünf) Arten von Aufgaben:

  1. Einfache Aufgaben: Für Aufgaben dieser Domäne sind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gut bekannt und klar. Zur Aufgabebearbeitung sind bestehende Best Practices und Standardverfahren, klare Prozesse und Checklisten geeignet.
  2. Komplizierte Aufgaben: Aufgaben dieser Domäne verfügen zwar über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, aber diese sind nicht offensichtlich. Die Bearbeitung dieser Aufgaben benötigt die Expertise von Fachleuten und das Anwenden von analytischem Denken, um eine Lösung zu finden.
  3. Komplexe Aufgaben (worunter auch die agile Strategiearbeit fällt): Komplexe Aufgaben umfassen viele unbekannte Faktoren. Es gibt keine vordefinierten Lösungen. Die Aufgabenbearbeitung erfolgt benötigt iterative Experimente, Lernen und Anpassung. Tragfähige Lösungen für komplexe Aufgaben zeigen sich erst im Laufe der Zeit. Wichtig ist hier, möglichst viele Perspektiven und damit viele Mitarbeiter:innen miteinzubeziehen.
  4. Chaotische Situationen: Chaotische Situationen sind durch völlige Unordnung und fehlende Kontrolle gekennzeichnet. In solchen Momenten ist es notwendig, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu stabilisieren, bevor man in eine der anderen Domänen wechseln kann.

Zwischen diesen vier (Aufgaben-)Bereichen findet sich im Cynefin-Framework der aporetische Bereich (die „fünfte Aufgabenart). In diesem Bereich befinden sich Probleme, die noch so unklar sind, dass nicht entschieden werden kann, in welchen Bereich sie fallen. Entsprechend geht es hier darum, Fragen zu stellen und zu reflektieren, anstatt nach endgültigen Antworten zu suchen.

Deutlich wird, dass vor allem komplexe Aufgaben die Beteiligung von vielen Menschen voraussetzen, um zu neuen Perspektiven, Ideen, Hypothesen usw. zu gelangen, die dann in iterativen Experimenten getestet werden können. Da Strategiearbeit immer komplex ist (sonst wäre sie unnötig), macht es Sinn, die Mitarbeitendenschaft der Organisation möglichst breit zu beteiligen.

Wichtiger als die breite Beteiligung ist aber der Aspekt, dass Krisen, neue Herausforderungen, Wandel und damit komplexe Situationen und Aufgaben immer Unsicherheit erzeugen. Der Blick in „unsere Gesellschaft“, das Wählerverhalten, die Suche nach eindeutigen (und damit in Komplexität immer falschen) Antworten zeigt dies eindrücklich.

Gleiches gilt in Organisationen: Auch hier erzeugt hohe Komplexität Unsicherheit, die sich oftmals im Erstarren und im Widerstand der Mitarbeiter:innen äußert.

Der erfolgreiche Umgang mit Komplexität hingegen erfordert – den Ausführungen des Cynefin-Frameworks folgend – genau das Gegenteil des Erstarrens: Ausprobieren, Innovation, Experimentierlaune, Mut, Neulernen.

Entsprechend ist es relevant, einen sicheren Rahmen in der Organisation zu schaffen, innerhalb dessen die Mitarbeiter:innen gemeinsam, verbunden über Experimente, an neuen Ideen arbeiten und neue Lösungen hervorbringen können.

Fazit – adaptive Strategiearbeit in sozialen Organisationen

Sehr kurz zusammengefasst braucht erfolgreiche adaptive Strategiearbeit Arbeit an der Arbeit ;-), den Optionen und den Markierungen – in beiden Richtungen. Man merkt sofort: Ganz ohne Arbeit wird es nix mit der Strategie.

In sozialen Organisationen gelingt dies, wenn die Aufgabenorientierung in den Vordergrund gerückt wird.

Dazu braucht es Organisationsbewusstsein, eine Stärkung der formalen Seite der Organisation, Klarheit über die Aufgabenarten sowie Sicherheit und Verbundenheit bei der Beteiligung an der Strategiearbeit!

Quellen

  • Dark Horse Innovation (2023): Future Organization Playbook – Die unverzichtbare Anleitung für innovative Unternehmen in der Transformation. Murmann Publishers.
  • Homer-Dixon, T., Renn, O., Rockstrom, J., Donges, J., Janzwood, S. (2021): A Call for An International Research Program on the Risk of a Global Polycrisis. ID 4058592. Social Science Research Network, Rochester, NY, 2021, doi:10.2139/ssrn.4058592 (ssrn.com [abgerufen am 3. Mai 2022]).
  • Kühl, Stefan (2016): Strategien entwickeln. Wiesbaden: Springer VS.
  • Wimmer, R., von Ameln, F. Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Wie sind Deine Erfahrungen mit der Strategiearbeit (Entwicklung und Umsetzung) in Deiner Organisation? Lass doch gerne einen Kommentar da oder schreib mir auf den Sozialen Medien (oder hier per Mail).

Warum wir verpflichtende Weiterbildung in der Sozialen Arbeit brauchen

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Kontinuierliche Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist und war schon immer relevant, um neue und sich ständig verändernde Anforderungen zu bewältigen.

Gefordert sind übergreifend Kompetenzen zur Zukunftssicherung der Organisationen und der Gesellschaft. Und spezifisch sind der Weiterentwicklung fachlicher Kompetenzen Kompetenzen für die Gestaltung der digitalen ebenso wie der ökologischen Transformation gefordert.

Diese “Future Skills” (s.u.), wie Innovationskompetenz, Transformationskompetenz oder auch Unsicherheitsbewältigungskompetenz, sind schon jetzt und werden zukünftig unabdingbar. Aus der Herausforderung kontinuierlicher Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels eine Notwendigkeit geworden. 

Mit Blick auf das Angebot und der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit zeigen sich jedoch einige Paradoxien und Herausforderungen. Diese wollen wir hier skizzieren und Ideen zeigen, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann. Am Ende bleiben aber, wie so oft, mehr Fragen als Antworten.


von Prof. Dr. Berthold Dietz und Hendrik Epe


Paradoxien bzgl. der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Noch einmal: Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist notwendig. Es zeigen sich jedoch mindestens drei paradoxe Szenarien, die wir im folgenden näher beschreiben:   

1. Schere zwischen der Relevanz und der Wahrnehmung von Weiterbildung

Branchenübergreifend zeigt sich, dass – obwohl die Zustimmung der Arbeitnehmer:innen wie der Arbeitgeber zur Notwendigkeit “lebensbegleitenden Lernens” enorm hoch ist – die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten hinter den Weiterbildungsbedarfen zurückbleibt (vgl. bspw. cedefop, 2022). 

Es ist davon auszugehen, dass diese Diskrepanz auch in den Sozialen Berufen existiert. Dies ist gerade mit Blick auf die Qualifikation von Leitungskräften interessant: 

Der Weiterbildungsbedarf nimmt auf höheren Qualifikationsebenen eher zu. So sieht – in der Theorie – der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) bzw. der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) für Leitungskräfte bspw. das Level 7 (Master-Niveau) vor. Ähnlich werden Leitungskompetenzen auch im “Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit” (vgl. Fachbereichstag Soziale Arbeit, 2016) nicht auf Bachelor-, sondern auf Master-Level verortet.

Unsere (nicht verifizierte) These lautet, dass eine Umsetzung und Anerkennung dieser höheren Qualifikationsstufen in der beruflichen Realität nicht (umfassend) berücksichtigt wird. 

So zeigt die Erfahrung in den Sozialen Organisationen, dass die Besetzung von Führungspositionen (bspw. auf Team- oder Abteilungsebene) nicht zwingend an eine Höherqualifizierung gekoppelt ist. Insbesondere in kleineren und mittelgroßen Einrichtungen fehlen darüber hinaus (aus unterschiedlichen Gründen) interne Qualifizierungsprogramme für Führungskräfte. Eine Verpflichtung zur Wahrnehmung von externen Weiterbildungsangeboten (bspw. des Sozialmanagements) findet sich ebenso wenig. 

2. Der Hype-Effekt und das Dilemma der Themenjagd

Weitergehend zeigt sich mit Blick auf die Weiterbildungsangebote rund um die Soziale Arbeit und das Sozialmanagement, dass deren Vielfalt scheinbar grenzenlos ist. 

Dabei fokussieren viele Angebote jedoch über das Bedienen von “Managementmoden”,   verstanden als “breit geteilte Vorstellungen darüber, wie (…) Verbände besser organisiert werden können” (Kühl, 2022), auf die Jagd nach Teilnehmer:innen, statt grundlegende, wissenschaftlich fundierte Angebote zur Entwicklung moderner, aber basaler Kompetenzen bereitzustellen. 

Ein auffälliger Aspekt der aktuellen Weiterbildungslandschaft lässt sich als „Hype-Effekt“ definieren: 

Themen, die für Aufsehen sorgen und als reißerisch gelten, dominieren oft die Diskussion. Weiterbildungsangebote zu “Managementmoden” werden erfolgreich kommuniziert und es scheint, als wären Weiterbildungsanbieter nur auf der Jagd nach den neuesten Trends zu sein, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Während diese Strategie kurzfristig (wirtschaftlich) erfolgreich sein kann, bleiben die oftmals komplexen Grundlagen der Sozialen Arbeit und des Sozialmanagements auf der Strecke. Fundamentale, grundlegende Weiterbildungsthemen geraten in den Hintergrund und werden vernachlässigt.

3. Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist Privatsache

Trotz des Wandels der Arbeitswelt und der Notwendigkeit kontinuierlicher Weiterbildung hält sich mit Blick auf die Sozialwirtschaft – etwas überspitzt formuliert – die traditionelle Ansicht hartnäckig, dass Weiterbildung Privatsache ist. 

Es gibt, und hier bestätigen die Ausnahmen die Regel, kaum systematische Förderung durch Verbände und Organisationen – und dies, obwohl in vielen Arbeitsfeldern Weiterbildungen wie bspw. systemische Beratungskompetenzen explizit vorausgesetzt werden. 

Ein Grund dafür ist, dass “Weiterbildungsaktivitäten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit oftmals nur unzureichend in das Managementhandeln von Leitungskräften eingebunden” (Gesmann, 2022, 1f) sind. Daraus resultiert ein Dilemma: 

Obwohl die Arbeitsanforderungen immer komplexer werden, fehlt es oft an Anreizen und formalen Strukturen, um Weiterbildung in den aufgrund des Fachkräftemangels sowieso schon vollen Arbeitsalltag der Fach- und Führungskräfte zu integrieren. 

Gesmann sieht hier die Notwendigkeit der Implementierung eines “systemischen Weiterbildungsmanagements in Organisationen der Sozialen Arbeit” (vgl. 2022). Dieses muss sich explizit “nicht nur an der sich weiterbildenden Fachkraft, sondern zugleich am strukturell gekoppelten sozialen System (i. d. R. dem jeweiligen Team des*der Einzelnen)” (ebd., 164) orientieren mit dem Ziel, “nicht nur (…) einen Transfer I. Ordnung (im Sinne der klassischen Anpassungslogik) zu evozieren, er strebt zudem einen Transfer II. Ordnung an, soll also einen Nährboden schaffen, um individuell erfahrene Irritationen auch zur kontrollierten Destabilisierung vorhandener Kommunikations- und Entscheidungsmuster nutzen zu können (Transfer II. Ordnung)” (ebd.). 

Ein entsprechendes Weiterbildungsmanagement hängt jedoch wiederum an den beiden zentralen Ressourcen Zeit und Geld – im Bilden von Anreizstrukturen (Fachkräftebindung) genauso wie in der Mitarbeitenden- und Organisationsentwicklung. 

Beides ist unserer Meinung nach extrem unterschätzt. Vielmehr besteht der Verdacht (der mangels belastbarer Umfragedaten ein Verdacht bleiben muss, wenn auch “erhärtet”), dass Personalverantwortliche trotz des Fachkräftemangels keine Weiterqualifizierung finanzieren wollen, die danach durch Weggang der Fachkraft anderen Organisationen zugute kommen könnte. 

Und vielleicht wiegt sogar der Aspekt noch höher, dass der Transfer II. Ordnung – die Destabilisierung des bekannten Systems – Ängste hervorruft, die durch die Versagung von Weiterbildung vermieden werden.  

Entweder ist der Personaldruck noch nicht hoch genug und wird noch durch Arbeitsverdichtung kompensiert und an die Mitarbeitenden weitergegeben (was wiederum der Wahrnehmung von Weiterbildung entgegen wirkt), oder aber der Wert von individueller und gleichzeitig organisational gesteuerter Weiterbildung wird unterschätzt. Die Fantasie zur Mitarbeitendenentwicklung reicht noch nicht aus, um sich eine Investition in das eigene Personal mit allen Kosten, aber eben auch Mehrwerten und Gewinnen für die Organisation vorstellen zu können – auch wenn die Mehrwerte und Gewinne nicht kurz-, sondern eher mittel- und langfristig sichtbar werden. 

Den Aspekt der “Weiterbildung als Privatsache” abschließend ist der Blick auf die Möglichkeit, gesetzliche Ansprüche auf Weiterbildung geltend zu machen (bspw. Bildungsurlaub), interessant: 

Eine nicht verifizierte Annahme dazu könnte lauten, dass die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Rechte insbesondere in der Sozialen Arbeit weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Branchenübergreifend ist – trotz schlecht vergleichbarer Datenlage – etwa bei Eurostat bekannt, dass Deutschland im Vergleich eher unterdurchschnittlich in Bildung investiert (Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Öffentliche Ausgaben für Bildung in % des BIP (03/2019), Öffentliche Ausgaben für Bildung in jeweiligen Preisen (09/2018); zitiert nach https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/135809/oeffentliche-bildungsausgaben/). 

Man könnte, etwas überspitzt, formulieren, dass das Land der Dichter und Denker in Wahrheit eher das “Land der schlichten Gelenkten” ist, die sich nicht aktiv, selbstbestimmt und autonom um ihre Entwicklung bemühen. Mit den Worten von Konstantin Sakkas formuliert:

“Denn wir waren nie ein Volk von Dichtern und Denkern, sondern höchstens ein Volk mit überdurchschnittlich vielen Dichtern und Denkern – die sich in Deutschland allerdings (…) nur selten richtig wohl fühlten.” 

(Sakkas 2010)

Und Sakkas ist sicherlich nicht der Erste und nicht der Einzige, der Deutschland Bildungsfeindlichkeit attestiert, womit nicht nur das Fehlen von Kita-Plätzen und der Zustand von allgemeinbildenden Schulen gemeint ist, sondern auch das Bild von Bildung und Lernen und damit auch das Bild von Weiterbildung im Erwachsenenalter. Hierbei spielt wahrscheinlich auch die Unsicherheit über die Durchsetzbarkeit und die fehlende Information und Sensibilisierung von Arbeitnehmenden ebenso wie der Beschäftigenden eine Rolle.

Weiterbildungsverhalten und passgenaue Angebote?

Die Forschung unterscheidet zwischen allgemeiner Erwachsenenbildung (z. B. der klassische VHS-Kurs) und berufsbedingter, betrieblicher Fort- und Weiterbildung (entwickelt und angeboten durch Arbeitgeber oder Verband). Beide Weiterbildungsbedarfe sind nicht steuerbar und sind hier nicht von Interesse, weil sie entweder stark auf persönliche oder betriebliche Belange zugeschnitten sind. 

Was uns insgesamt in der Sozialwirtschaft jedoch interessieren sollte, in Zeiten chronischer Personalprobleme (nicht nur) in Kitas und Pflegeheimen sowie des sich vollziehenden Generationenwechsels durch den demografischen Austritt der geburtenstarken Boomer aus der Arbeitswelt – Antworten auf die schlichte Frage, wie und welche sozialen Angebote aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln sind. 

Seitens der Angebote betrifft es nicht die Orchideenfotografie, die von Bildungsskeptischen gerne als ”Argument” gegen eine flächendeckende, allgemeine Förderung von Fort- und Weiterbildungen angeführt wird. 

Die Leute sollen ihre Arbeit machen, in Zeiten der Bildung fehlen sie in den Teams und kommen nur auf komische Gedanken, die betrieblich für Unruhe sorgen (siehe Transfer II. Ordnung). Machen wir uns nichts vor: Hand hoch, wer nicht auch damit rechnet, dass solche Steinzeit-Einstellungsmuster noch existieren.

Wer die Hand unten behält, macht entweder positivere Erfahrungen mit Personalverantwortlichen und/oder ist mit qualifizierteren Bedenken konfrontiert: “Wie vereinbare ich Arbeitszeit, Familienzeit und Bildungszeit?” Mache ich diese spezielle Fortbildung zu Konfliktmanagement oder zu systemischer Beratung, dann bin ich u. U. in einer erheblich leichteren Verhandlungsposition gegenüber meinen Vorgesetzten. 

Schwierig wird es in der Kategorie “individuelle, berufsbezogene Weiterbildung”, also dem Weiterbildungssegment, welches nicht unmittelbar der aktuellen Tätigkeit, sondern der persönlichen Entwicklung im gewählten Beruf in einem breiteren Sinne entspricht. 

Die Weiterbildungsbeteiligung in diesem Segment ist zugunsten der direkten betrieblichen Fortbildung zwischen 2012 und 2020 deutlich zurückgegangen, anteilig von 13% zu nur noch 8% an allen Weiterbildungsaktivitäten (BMBF 2023:22). Sicherlich kann in der Folge ein Pandemie-Effekt nicht geleugnet werden, der angesichts allgemeiner Verunsicherung alles Zukunftsweisende einer strengen Effizienzbewertung unterzog, aber der Zug in Richtung Vereinbarkeit, Passgenauigkeit und unmittelbarer Verwertbarkeit fuhr schon viel früher ab.

Analysiert man das Weiterbildungsverhalten und fragt nach den Gründen der Nichtteilnahme bei Weiterbildungswilligen, so stehen zwei Hinderungsgründe im Vordergrund: Finanzierung und familiäre Gründe.

Geht man hier weiter in die Tiefe, so zeigt sich ein gravierender Geschlechterunterschied. Während nur 22% der sich nicht weiterbildenden Männer als Hinderungsgrund familiäre Gründe geltend machen, geben diese als Haupthinderungsgrund über 45 % der Frauen an (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271573; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00; Daten für 2016). 

Bei den Kosten als Haupthinderungsgrund ist das Geschlechterverhältnis 27% (m) zu 37% (w) (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271935; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00).

Kurz und vereinfachend gesagt spielen also auch hier Betreuungssituation wie auch Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten bzw. der Gender Pay Gap eine nicht unwesentliche Rolle. Was beides für das Weiterbildungsverhalten mit Blick auf mehrmonatige Programme mit institutionellem Abschluss bedeutet, liegt auf der Hand, wenn man weiß, wie hoch der Anteil von Frauen in sozialen, erzieherischen und pflegerischen Berufen ist.

Handlungsoptionen zur Steigerung der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Das Darlegen von (teils offensichtlichen) Herausforderungen allein ist selten ausreichend für gelingende Veränderung. Vielmehr braucht es das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie den Herausforderungen begegnet werden kann. Einige dieser Möglichkeiten bezogen auf die Weiterbildung in der Sozialen Arbeit werden im Folgenden dargelegt.

Die Vielfalt der Angebote und ihre Grenzen

Trotz der Vielfalt an Weiterbildungsangeboten stellt sich die Frage, ob diese Vielfalt ausreicht, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden?

Braucht es in einer Zeit, in der sich die Anforderungen rasch ändern, nicht vielmehr ganz neue Herangehensweisen an Weiterbildung, wenn klassische Weiterbildungsmodelle an ihre Grenzen stoßen?

Zum einen ist gegen die Angebotsvielfalt grundsätzlich wenig einzuwenden. Diese “belebt das Geschäft” und fördert das Zustandekommen von innovativen Ansätzen und Inhalten. Hinzu kommt, dass sich die Weiterbildungsnotwendigkeiten aufgrund der eingangs geschilderten gesellschaftlichen und organisationalen Wandlungsprozesse ebenfalls kontinuierlich wandeln und entwickeln. 

Zum anderen ist das oftmals klassisch strukturierte “zur Verfügung stellen” der Angebote zu hinterfragen. Anstatt lang andauernder, mit hohen Kosten und Aufwand verbundener „Komplettpakete“ könnten von Seiten der Anbieter der Weiterbildungen innovative Ansätze wie „Weiterbildungs-Primes“ in Betracht gezogen werden:

Ähnlich wie ein Abonnement oder ein exklusives Angebot könnten Weiterbildungs-Primes auf die Bedürfnisse von Fachkräften zugeschnitten und sofort verfügbar sein.

So liegt, jenseits der gehypten Angebote, die es in einem Weiterbildungsmarkt immer geben wird, das Hauptaugenmerk auf den Kriterien Transparenz, Dauer und Kosten. Weiterbildungswillige wie Beschäftigende wollen wissen, was sie vom Bildungsinvestment haben. Dies gilt umso mehr für Weiterbildungsangebote, die mehr der längerfristigen, individuellen Entwicklung als einer kurzfristigen, unmittelbaren Tätigkeitsverwertung entsprechen. Programme, die von mehrmonatiger Dauer sind und auf Jahre konzipiert und akkreditiert werden, sind nur bedingt in der Lage, darauf zu reagieren.

Wir müssen in kleineren Häppchen – den Weiterbildungs-Primes – denken, auch um damit den Bildungsteilnehmenden die Möglichkeit zu geben, auf ihre Weiterbildung gestalterisch Einfluss zu nehmen und sich ihr individuelles Bildungspaket zusammenzustellen.

Bildung muss wie andere meritorische Güter (wie Information, Gesundheitsversorgung oder Kultur) verfügbar sein, wie und wann ich sie brauche, bzw. wie sie in mein Leben passt. Das klingt nach einem konsumistischen Credo, ist aber in erster Linie ein Anspruch, mehr und positivere Bildungserfahrungen zu ermöglichen. Diese braucht es zwingend, um „lebenslang“ weiterzulernen und weiterzukommen.

New Social Work braucht New Social Learning braucht Organisationsentwicklung

„New Learning“ (vgl. näher dazu Foelsing und Schmitz, 2021) lässt sich als Konzept definieren, das auch in der Sozialen Arbeit aus zwei Perspektiven eine wichtige Rolle spielen sollte. 

New Learning lässt sich a) individuell in der Frage zusammenfassen, wie es gelingen kann, selbstgesteuerte und autonome Ansätze des Lernens und zur Gestaltung der eigenen Lernumgebung und -inhalte zu schaffen. Mehr zum Thema New Learning kannst Du auch hier nachlesen.

Gleichzeitig stellt New Learning die Frage, wie es b) den Organisationen der Sozialen Arbeit gelingen kann, “Lernökosysteme” zu schaffen, die weit über klassische Lernsettings wie bspw. das “Wissensmanagement” hinausgehen. 

New Learning greift die Ideen des oben skizzierten “systemischen Weiterbildungsmanagements” auf und erfordert aus beiden Perspektiven – individuell wie organisational – ein Umdenken: 

Zum einen sind die Beschäftigten der Sozialen Arbeit gefordert, sich mit Lernen, Bildung und damit auch der Weiterbildung zu befassen. Es reicht heute und in Zukunft nicht mehr aus, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren und darauf zu hoffen, dass damit dann auch “Schluss mit Lernen” ist. Vielmehr gilt es, ein (neues) Bewusstsein lebensbegleitenden Lernens zu schaffen. Dieses muss über die alle paar Jahre stattfindende Wahrnehmung klassischer, von der Organisation verordneter Weiterbildungsangebote hinausgehen. Es geht darum, eine Haltung zu selbstbestimmtem Lernen und Weiterbildung zu schaffen, die es ermöglicht, selbstbestimmt und autonom eigene Lernoptionen zu finden, zu nutzen und auch zu gestalten. Diese Perspektive könnte die Vermutung nahelegen, dass Weiterbildung damit wieder “ins Private” abgeschoben wird. Das ist aber nicht zielführend.

Entsprechend sind zum anderen die Organisationen der Sozialen Arbeit gefordert, Lernen, Bildung und damit auch Weiterbildung zu einem der heute und in Zukunft wichtig(st)en strategischen Thema zu machen. Organisationen der Sozialen Arbeit sind gefordert, ihren Mitarbeitenden ein Lernökosystem bereitzustellen, das selbstgesteuertes, autonomes Lernen nicht nur ermöglicht, sondern explizit fördert. 

Diese Lernökosysteme gehen jedoch über klassische Maßnahmen – wie bspw. dem Angebot eines Weiterbildungskatalogs – hinaus. Lernökosysteme umfassen bewusst gestaltete, zum Lernen einladende Räumlichkeiten, Möglichkeiten der Wahrnehmung von internen wie externen und digitalen wie analogen Angeboten, das Nachhalten der Wirksamkeit der Lernaktivitäten der Mitarbeitenden ebenso wie eine veränderte Einstellung zur Weiterbildung der Führungskräfte (und vieles mehr, vgl. ebd., 309ff). 

Lernökosysteme betreffen damit das Organisationsdesign sozialer Organisationen, von den Kommunikationswegen über die Gestaltung der Regeln und Prozesse bis hin zur Frage der Einstellung von Personen.

Über die Ausrichtung der Formalstruktur der Organisationen auf die Ermöglichung von Lernen besteht die Hoffnung, perspektivisch eine oftmals gewünschte „Lernkultur“ nicht nur auszurufen, sondern tatsächlich zu ermöglichen.

Die Herausforderung des Ungewissen – oder: Wie lange können wir uns die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit noch leisten?

Schließlich stellt sich die Frage nach Ausrichtung und Qualität existierender Weiterbildungsangebote. 

Oft basieren viele Angebote auf gesicherten Wissens- und Kompetenzbeschreibungen. Alle Spezialisierungen und unmittelbaren Tätigkeitsverwertungen sind Schritte in eine fachliche Zementierung, in der alle ihren Arbeitsplatz in gut funktionierenden Prozessen haben. 

Die Realität jedoch ist längst eine andere: 

Es herrscht Mangel, Arbeiten am Limit, permanente Improvisation zum Bewältigen von Unterbesetzungen und zunehmender Ausfälle. Wir befinden uns zudem in Transformationsprozessen größerer und größter Art. 

Es sind nicht nur die Bedarfe, mit denen die Strukturen einer “industriellen” Sozialwirtschaft nicht mehr Schritt hält. Es sind die Strukturen der Organisationen wie die Strukturen des Funktionssystems Sozialwirtschaft selber, die sich nicht als zukunftstauglich erweisen. 

In einer sich schnell entwickelnden Welt ist das Lernen am Ungewissen, das Auseinandersetzen mit “Noch-nicht-zu-Ende-Gedachtem”, von entscheidender Bedeutung. Die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen und kreativ zu denken, wird zunehmend wichtiger. 

An dieser Stelle ist wiederum auf die Implementierung der “Future Skills” zu verweisen und zu fragen, wie es gelingen kann, einerseits wissenschaftlich fundierte Angebote bereitzustellen, die zukunftsfähiges Lernen ermöglichen und andererseits notwendige Entwicklungen der Weiterbildungsangebote aufgrund von einem “Festhalten am Alten” nicht zu verschlafen? 

Insbesondere im hochschulischen Kontext – beim Angebot bspw. von Master-Studiengängen – regen wir an, die trotz der Regulierungen durch bspw. die Akkreditierung vorhandenen Freiheiten und Möglichkeiten zu nutzen und das “noch nicht zu Ende gedachte” in die Entwicklung und Umsetzung der Weiterbildungsangebote aufzunehmen. 

Über dieses Vorgehen kann ganz praktisch und hautnah “agiles Arbeiten” erlebt werden: Über Annahmen und Hypothesen lassen sich auch in bestehenden Weiterbildungsangeboten Experimente machen und neue Wege gehen. Diese Experimente sind – das ist relevant – regelmäßig zu reflektieren, um aus den Erfahrungen zu lernen und fundierte Weiterentwicklung zu ermöglichen. 

Fazit: Den Spagat meistern

“Nachtigall, ick hör Dir trapsen!” 

Da schreiben zwei Menschen, die selbst in die Entwicklung und Durchführung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit aktiv eingebunden sind, über das Scheitern des Systems. Sie plädieren für die Notwendigkeit von Weiterbildung und für die Implementierung von “systemischem Weiterbildungsmanagement”. Sie kritisieren die Vielfalt an Hype-Angeboten und bieten gleichzeitig selbst “Schauseiten-Weiterbildungen” zu abgefahrenen Themen wie “New Social Work”, “OKR in der Sozialwirtschaft” oder “Agilem Arbeiten in Sozialen Organisationen” an (ich, Hendrik ;-)) bzw. sind als Leiter eines berufsbegleitenden Masterstudienganges ein klassischer Vertreter klassischer tertiärer institutioneller Angebote, die man sich zeitlich und finanziell erst einmal leisten können muss (ich, Berthold ;-)). 

Da ist doch ein Haken, oder? Das kann doch nicht ganz uneigennützig sein? 

Ja, stimmt. Der wesentliche Haken, den wir sehen, ist, dass es deutlich mehr Fragen als eindeutige Antworten gibt, was sich auch im vorliegenden Beitrag niederschlägt. 

Ein Aspekt liegt uns aber am Herzen, der sich in der folgenden Frage manifestiert: 

“Wie kann es gelingen, die für die Zukunft einer lebenswerten Gesellschaft hoch relevante Soziale Arbeit in all ihren Facetten so zu unterstützen, dass sie ihrem eigenen Anspruch heute und in Zukunft gerecht werden kann?”

Dieser Anspruch zeigt sich in der internationalen Definition Sozialer Arbeit: 

“Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung  von Menschen.” 

(IFSW 2014)

Der Anspruch ist hochgradig komplex und die skizzierten Paradoxien in der Weiterbildungslandschaft spiegeln die Komplexität der Sozialen Arbeit und übergreifend der modernen Arbeitswelt wider. 

Es gilt, die Balance zwischen aktuellen Trends und fundierter Bildung, zwischen individueller Verantwortung und systematischer Unterstützung zu finden. Nur so können Fachkräfte in der Lage sein, den Herausforderungen der Zukunft souverän zu begegnen und ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Um diesen komplexen Herausforderungen auch zukünftig begegnen zu können, geben wir abschließend noch eine Frage mit: 

Muss, vor dem geschilderten Hintergrund, Weiterbildung in der Sozialen Arbeit verpflichtend sein? 

Wir denken, dass einiges dafür spricht. 


Wie sind Deine Eindrücke bzgl. der Weiterbildung in der Sozialen Arbeit? Schreib uns diese gerne hier in die Kommentare oder per Mail!


Literatur: 

Drei Thesen für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit

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Spätestens seit der Pandemie sollte klar sein, dass diese „Digitalisierung“ hilfreich, vor allem aber nicht mehr wegzudenken ist. Videokonferenzen, digitale Kommunikation, Vernetzung, effiziente Prozesse mit daraus resultierender Arbeitserleichterung und vieles mehr sprechen für digitale Entwicklungen auch in der Sozialwirtschaft bzw. spezifischer: in Organisationen der Sozialen Arbeit. Und trotzdem geht es mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialwirtschaft nicht (wirklich) voran. Warum ist das so? Was braucht es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit? Darauf will ich hier eingehen.

Aber muss dieser Beitrag in Zeiten von AI, in Zeiten von augumented intelligence, wirklich sein? Haben nicht wirklich langsam alle verstanden, dass es keinen Weg zurück, an digitalen Entwicklungen vorbei, gibt? Doch, schon, aber trotzdem.

So basiert dieser Beitrag darauf, dass ich in vielen Veröffentlichungen, bspw. in den sozialen Medien, immer wieder lese, dass „Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit helfen kann“, aktuelle und zukünftige Herausforderungen Sozialer Arbeit zu lösen.

Das ist mir deutlich zu undifferenziert, da ich in den Organisationen, Einrichtungen und Teams, in denen ich unterwegs sein darf, an vielen Stellen eine zunehmende „Digitalisierungsskepsis“ wahrnehme.

Echte, tiefgreifende Verbesserungen der eigenen Arbeit durch Digitalsierung haben sich – so die Wahrnehmung vieler Fachkräfte – häufig nicht ergeben. Das Versprechen, mehr Zeit für die Klient:innen zu haben, für die eigentliche Soziale Arbeit, für die Arbeit mit den Menschen, hat sich häufig nicht eingelöst.

Und leider viel zu hautnah musste ich in den letzten Wochen ambulante Pflegekräfte eines modernen Verbands erleben, die sehr bewusst Stift und Papier zur Dokumentation verwenden. Auf die Frage „Warum denn nicht digital?“ kam die sehr nachvollziehbare Rückmeldung:

„Stift und Papier funktioniert immer, schnell und sicher, auch bei sauerländischen Funklöchern“.

Aber:

Was ist Digitalisierung eigentlich?

Boah, echt jetzt? Schon wieder diese Grundsatzdebatte? Ganz ehrlich Hendrik, kauf dir’n Buch.

Zum Beispiel:

  • Beranek, Angelika; Hill, Burkhard & Sagebiel, Juliane Beate (2019): Digitalisierung und Soziale Arbeit – ein Diskursüberblick. In: Soziale Passagen 11(2), 225-242.
  • Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz. Veröffentlichung zum zehnjährigen Bestehen der FH der Diakonie. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2018, Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen – Strategien – Praxis. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2020): Sozialinformatik. Digitaler Wandel und IT-Einsatz in sozialen Organisationen, 3., überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos.
  • Kutscher, N. et. Al. (2020, Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Pölzl, A., Wächter, B. (2019): Digitale (R)Evolution in Sozialen Unternehmen. Praxis-Kompass für Sozialmanagement und Soziale Arbeit. Regensburg: Walhalla.
  • Wunder, M. (2021, Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Das ist nur eine Auswahl der vielfältigen Veröffentlichungen rund um das Thema „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ der letzten Jahre.

Und ja, in den Veröffentlichungen stehen wichtige, spannende, richtige Aspekte rund um das Thema. Es lohnt sich, sich auf Basis von Literatur mit dem Thema zu befassen.
Oder anders, deutlich schöner, ausgedrückt:

„Nichts verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem Papier.“ (Cornelia Funke)

Unklar ist aber immer noch, was denn Digitalisierung jetzt genau ist, oder hast Du Dich erstmal hingesetzt und die Bücher gewälzt? Nein? Ach…

Und damit kommen wir schon zur These 1, was es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit braucht:

These 1: Gelingende Digitalisierung braucht klare Erwartungen

Was ist New Work? Was ist Innovation? Jede:r hat zu diesen Begriffen Bilder im Kopf, jede:r kann etwas zu dem Thema sagen und kann – meinungsstark – seine eigene Position vertreten. Und bei Digitalisierung ist es genauso:

Jede:r hat eine Vorstellung dessen im Kopf, was „Digitalisierung“ bedeutet.

Das ist super, wenn man den Party-Smalltalk am Laufen halten will:

„Und, wie steht es um die Digitalisierung in Eurer Einrichtung?“

Da flutscht das Gespräch!

Und aller Wahrscheinlichkeit nach versteht man sich auch gut, da die Diskussion von A wie Algorithmen bis Z wie Zukunft mäandern kann, ohne an der ein oder anderen Stelle über die Ufer treten zu müssen.

In Workshops zur Entwicklung von Digitalstrategien nutze ich zu Beginn gerne die Übung, dass jede:r einmal „sein“ Digitalisierungsalphabet aufschreibt: A wie Alphabet, B wie Bits und Bytes, C wie Computer, D wie Datenverlust… Dabei wird deutlich, dass jede:r sehr eigene und häufig sehr andere Erwartungen an das hat, was Digitalisierung im Allgemeinen und im Spezifischen bezogen auf die eigene Organisation ist bzw. bringen soll.

Wenn jedoch die einen die Hoffnung von Digitalisierungsbemühungen auf die Vereinfachung bestehender Prozesse (bspw. zur Pflegedokumentation) legen, sich die anderen endlich mal für die Employer Branding Kampagne in Social Media vertreten sehen wollen und die Dritten neue, digitalisierte Geschäftsmodelle oder die sinnvolle Nutzung sog. „künstlicher Intelligenz“ erhoffen, wird es schwierig, ein gemeinsames Verständnis, geschweige denn eine gemeinsame, sinnvolle, umsetzbare Strategie zu entwickeln.

Hinzu kommt, dass die verschiedenen Erwartungen an „die Digitalisierung“ nur zu enttäuschen sind, sofern diese nicht vorab geklärt werden.

Was kann getan werden?

Entsprechend ist dies der erste Schritt: Es sind die Erwartungen an die Digitalisierungsbemühungen zu klären. Darüber kann partizipativ ein gemeinsames Verständnis dessen geschaffen werden, was durch „die Digitalisierung“ ganz spezifisch in der eigenen Organisationen erreicht werden soll und kann.

Dieses „kann“ ist relevant, denn: Möglich ist vieles, realistisch umsetzbar deutlich weniger und funktional für die Organisation sind vielleicht nur wenige, kleine Schritte, die aber echte Veränderung im Kleinen bewirken.

Die kleinen, häufig nicht für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen sichtbaren Fortschritte sind immer wieder zu kommunizieren, damit nicht der Eindruck entsteht, „viel Lärm um nichts“ zu machen.

These 2: Gelingende Digitalisierung braucht ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung durch Digitalisierung

Digitalisierung formalisiert – immer! Klingt komisch, ist aber recht einfach erklärt:

Die Einführung eines Messengers zur Kommunikation mit den Klient:innen kann nicht der Entscheidung einzelner Organisationsmitglieder und ebensowenig der Entscheidung einzelner Teams oder Organisationseinheiten überlassen werden. Genauso kann nicht jedes Team, bspw. in der ambulanten Pflege, individuell entscheiden, ob sie Programm X oder Y zur digitalen Dokumentation nutzen oder ob sie doch lieber weiterhin analog, mit Stift und Papier, dokumentieren.

Digitalisierung erfordert formale Entscheidungen, die Gültigkeit für die Gesamtorganisation besitzen.

Richtig spannend wird es beim Dokumentenmanagement: Sofern die Organisation einheitliche, formal vorgegebene Prozesse der Pflege, Bearbeitung, Ablage usw. von Dokumenten anstrebt, sind alle (!) Mitarbeiter:innen gefordert, die Vorgaben einzuhalten.

Das ist mehr als nervig, wenn es vorab eine „Kultur der dominierenden Informalität“ gab und jede:r irgendwelche Dokumente irgendwie ändern und irgendwo „ablegen“ konnte.

Zur Erläuterung: Informalität lässt sich als das „Netzwerk bewährter Trampelpfade, die in Organisationen immer wieder beschritten werden“ (Kühl, 2010) definieren.

Eine Kultur der dominierenden Informalität bedeutet entsprechend, dass die Einhaltung formaler Vorgaben als weniger wichtig erachtet wird als das Netzwerk der bewährten Trampelpfade bzw. die erwarteten, spontanen, individuellen, nicht formal geregelten und damit eben informellen Entscheidungen von Individuen und Teams.

Meine These ist, dass eine Kultur der dominierende Informalität in sozialen Organisationen vorherrschend ist und diese Kultur Veränderungsbemühungen erschwert.

Überspitzt formuliert wird erwartet, dass Mitarbeiter:innen und Teams spontan, aus Erfahrung und Intuition, basierend auf den eigenen Vorlieben und „gefühlten Notwendigkeiten“, anstatt basierend auf Vorgaben der Organisationen, festgelegten Prozesse oder gar „Ansagen von oben“ zu agieren.

Um nur ein Beispiel zu nennen, zeigt sich die dominierende Informalität in der verhältnismäßig geringen Bedeutung eines standardisierten Qualitätsmanagements in sozialen Organisationen. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, weist bspw. Grunwald darauf hin, dass Vorstellungen eines rein standardisierten Qualitätsmanagements dazu führen, dass QM als die notwendigen informellen Handlungsspielräume beschneidend erlebt wird und die Befürchtung besteht, dass Strategien und Verfahren „zu sinnentleerten Qualitätsmanagement-Routinen werden, womit die potentiellen Chancen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Qualitätsmanagement und seiner möglichen Bedeutung für die eigene Organisation verspielt werden“ (2018, 618).

Meine These der „dominierenden Informalität sozialer Organisationen“ findest Du tiefer ausgearbeitet unter dem Link.

Aber:

Die Informalität (im Gegensatz zur Formalität) sozialer Organisationen muss nicht immer schlecht sein. In vielen Fällen ist informelles Handeln hoch funktional, insbesondere für soziale Organisationen:

Die Komplexität sozialer Arbeit erfordert spontane Entscheidungen, ein hohes Maß an intrinsischer Motivation, kreatives und individuelles, auf Beziehung setzendes Vorgehen. Entsprechend sinnvoll sind „agile Organisationsdesigns“ oder die Entwicklung selbstbestimmt agierender Teams in und für soziale Organisationen.

Aber eine Kultur, in der die Erwartung des Treffens individueller Entscheidungen vor der Erwartung des Einhaltens von allgemeingültigen, organisationalen Regeln steht, passt eben nicht zur immer formalisierenden Digitalisierung.

Was kann getan werden?

Zunächst einmal ist relevant, Informalität als existente Rahmenbedingung in sozialen Organisationen zu akzeptieren. Ganz allgemein formuliert kann nicht „alles“, jeder Handlungsschritt in Organisationen formalisiert werden.

Und spezifisch in der sozialen Arbeit ist der Versuch, dieses zu tun, an vielen Stellen dysfunktional. Man muss sich nur einmal den „Dienst nach Vorschrift“ in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung vorstellen, in der es nur wenige Vorschriften (für die Mitarbeitenden) geben kann.

Ebenfalls notwendig ist es, Digitalisierungsbemühungen aus der Brille der mit der Digitalisierung zwangsläufig einhergehenden Formalisierung zu betrachten. Es können nicht alle Mitarbeiter:innen mitentscheiden, welche Kommunikationsplattform verwendet wird. Ebenso kann, bspw. bei digitaler Dokumentation nicht mehr individuell entschieden werden, wer was wie dokumentiert. Eingabemasken sind vorgegeben und auszufüllen, ob man will oder nicht.

Über diese beiden Vorüberlegungen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsweise sollten die Mitarbeiter:innen informiert werden. Dadurch kann grundlegend ein zumindest besseres Verständnis geschaffen werden, was Digitalisierung sozialer Organisationen im Allgemeinen und im Spezifischen für die eigene Organisation bedeutet und welche Implikationen für die eigene Arbeit mit Digitalisierung einhergehen.

Information allein ist jedoch nicht ausreichend. Es bedarf basierend auf der Information dann der gemeinsamen Auseinandersetzung in der Organisation über die Auswirkungen. Es wird Menschen in der Organisation geben, die die Entwicklung begrüßen, Menschen, die die Entwicklung hinnehmen und Menschen, die sehr kritisch auf die Digitalisierungsbemühungen schauen.

Und nein, ich plädiere nicht dafür, „alle Menschen mitzunehmen“. Das wird nicht gelingen. Aber das Wahrnehmen auch der kritischen Stimmen in der Organisation ist wichtig, um gute Wege sinnvoller Digitalisierung zu beschreiten.

These 3: Gelingende Digitalisierung braucht unternehmerische Kompetenz

Nein, jetzt erfolgt kein Bashing der „ach so innovationsfeindlichen Sozialwirtschaft“ und ebenso kein Verweis auf die Unbeweglichkeit der „großen Tanker“. Das ist nämlich nicht so: Sozialwirtschaft ist und war schon immer hochgradig innovativ. Und unternehmerisch, wenn unternehmerisches Handeln verstanden wird als „mit wenigen Mitteln Großes zu leisten“.

Insbesondere sehe ich unternehmerische Kompetenzen bei den Führungskräften, Vorständen, Geschäftsführungen der Organisationen.

Ja, es mag manche geben, die immer noch an der „guten alten Zeit“ festhängen und die Asche anbeten, anstatt das Feuer weiterzugeben. Aber die Menschen, mit denen ich arbeiten darf, denken nach vorne, wollen etwas bewirken, Dinge im Sinne der ihnen anvertrauten Menschen voranbringen, Neues gestalten. Und das in hochgradig dynamischen, komplexen Umwelten unter den Rahmenbedingungen politischer Begrenztheiten und (zunehmend) bürokratisch agierender Kostenträger.

Ich vermisse hingegen unternehmerische Kompetenzen bei den Mitarbeiter:innen an der Basis.

Aber was genau verstehe ich unter „unternehmerischen Kompetenzen“, was haben diese mit stockenden Digitalisierungsbemühungen zu tun und vor allem: Warum sollten Mitarbeiter:innen an der Basis diese Kompetenzen nicht haben?

Unternehmerische Kompetenzen beziehen sich nicht nur auf die Fähigkeiten einer Person in Bezug auf „geschäftliche“ Aktivitäten, sondern ganz grundlegend auf Fähigkeiten, wie sie „auf die Welt“ schaut und mit dieser interagiert.

Im Gegensatz zu einer reaktiven Defizitorientierung geht es um die Entwicklung von Fähigkeiten, Chancen zu erkennen, kalkulierbare Risiken einzugehen, Innovationen voranzutreiben und Verantwortung zu übernehmen, um auch in Unsicherheit erfolgreich und „proaktiv“ agieren zu können.

Der Blick beispielsweise auf die Ausführungen zu Future Skills von Ehlers (2020) und im Spezifischen auf die Gruppe der „Organisationsbezogene Future Skills“ (Kompetenzen, die sich auf den Umgang mit der sozialen, organisationalen und institutionellen Umwelt beziehen) zeigt für mich das, was unter „unternehmerischen Kompetenzen“ gut gefasst werden kann. Ehlers beschreibt hier Fähigkeiten wie Sinnstiftung und Wertebezogenheit, die Fähigkeit, Zukünfte gestaltend mitzubestimmen, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu kooperieren und in besonderer Weise kommunikationsfähig, kritik- und konsensfähig zu sein. So ist – als nur ein Beispiel – Zukunftskompetenz „die Fähigkeit mit Mut zum Neuen, Veränderungsbereitschaft und Vorwärtsgewandtheit die derzeit gegebenen Situationen in andere, neue und bisher nicht bekannte Zukunftsvorstellungen weiterzuentwickeln und diese gestalterisch anzugehen“ (ebd., 94ff).

Unternehmerische Kompetenzen beinhalten Kompetenzen wie Innovations-, Führungs-, Kollaborations- und Kommunikationskompetenz. Aber auch Fähigkeiten wie Finanzwissen, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen lassen sich unter die „unternehmerischen Kompetenzen“ fassen.

Ich will hier nicht zu sehr in die Tiefe gehen, empfehle aber eine Auseinandersetzung mit den Future Skills.

Warum aber braucht es die hier angerissenen Kompetenzen für erfolgreiche Digitalisierung?

Auch dies ist eine große Frage, die sehr kurz beantwortet werden kann: Das sinnvollste Vorgehen zur Gestaltung einer dynamischen und komplexen Welt (egal, ob auf individueller Ebene, auf Ebene von Teams und Organisationen oder auf Ebene der Gesellschaft und der Welt als Ganzes) besteht im Experimentieren und Lernen. Nur durch das Ausprobieren des Neuen und das Lernen aus den gemachten Erfahrungen ist es möglich, sich Schritt für Schritt in die erwünschte Richtung, bspw. hin zur „digitalen Vision“ der eigenen Organisation, vorzutasten. Dieses aus dem agilen Management bekannte, „iterative Vorgehen“ wurde inzwischen an den verschiedensten Stellen ausführlich beschrieben.

Und dieses iterative Vorgehen findet sich auch im Denken und Handeln erfolgreicher Unternehmer:innen. Wiederum ohne zu tief einzusteigen findet sich unter dem Vorgehensweise „Effectuation“ eine anwendbare Logik, wie Unternehmer:innen „ins Handeln kommen“ und gleichzeitig Risiken minimieren, Partnerschaften eingehen und Zufälle nutzen.

Die unternehmerische Logik „Effectuation“ verbindet die unternehmerischen Kompetenzen mit den Notwendigkeiten des iterativen Vorgehens zur Gestaltung der Digitalisierung.

Aber warum vermisse ich diese Herangehensweise bei den Mitarbeiter:innen an der Basis sozialer Organisationen?

Dazu ist vorab zu konstatieren, dass das Problem nicht bei den Individuen liegt, sondern vielmehr als strukturelles Problem verstanden werden muss:

Da Soziale Arbeit im Wesentlichen kostenträgerfinanziert ist, bestehen wenige Anreize, „unternehmerisch“ zu agieren. Nur ein paar Gründe: Es besteht, insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels, nicht die Notwendigkeit, a) durch bessere Angebote neue „Kunden“ zu gewinnen. Außerdem besteht kaum Anreiz, b) „möglichst gute“, wirksame Soziale Arbeit zu leisten, damit die eigene Organisation weiterempfohlen wird. Hinzu kommt, dass c) die Vergütung Sozialer Arbeit in den meisten Fällen auf Tarifverträgen basiert, die wiederum wenig Anreize schaffen, besonders innovativ, überdurchschnittlich gut oder besonders effizient zu arbeiten. Und nein, der völlige organisationale und individuelle Burnout (spannend dazu der aktuelle Bericht der DAK) aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (ausgelöst insbesondere durch den Fachkräftemangel) ist keine Effizienz. Hinzu kommt, dass d) das für gelingende Digitalisierung notwendige iterative Vorgehen, das Experimentieren und Lernen, den Finanzierungsbedingungen der Kostenträger zuwiderläuft – in der Regelfinanzierung ebenso wie (zumindest offiziell) in der Finanzierung innovativer Projekte (deren Anschlussfinanzierung oftmals völlig unklar bleibt).

Kurz: Die strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft laden nicht dazu ein, unternehmerisch zu agieren. Und die angesprochenen Punkte a) – d) sind alles andere als abschließend. Sie verdeutlichen nur, dass fehlende unternehmerische Kompetenzen – wie so oft – kein ausschließlich individuelles Problem sind.

Und der Blick in die Zukunft zeigt aktuell sehr dramatisch, dass die Rahmenbedingungen alles andere als besser werden. Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 sprechen hier eine deutlich düstere Sprache. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bringt es auf den Punkt: „Die Pläne zwingen zu massiven Einschnitten bei sozialen Angeboten: von Freiwilligendiensten über die psychosoziale Versorgung Geflüchteter bis hin zur Unterstützung Arbeitsuchender.“ Marc Groß, Vorstandsvorsitzender der Liga-BW, sagt: „Sollten die Kürzungen wie vorgeschlagen beschlossen werden, trifft dies genau die Menschen, die es jetzt bereits am schwersten haben: Kinder, Jugendliche und Familien, Menschen in Armut, geflüchtete und zugewanderte Menschen“.

Und konkret im Kontext der Digitalisierung sind Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. Euro vorgesehen, die das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgesetzte Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung komplett aushebeln: „Hier werden die Verbände mitten im Aufbruch und in wichtigen strategischen Entwicklungen stark beeinträchtigt“, so die BAGFW.

Die Mitarbeiter:innen an der Basis aber sind nicht „geschult“ darin, Probleme „selbst in die Hand“ zu nehmen. Noch einmal: Das ist kein individueller Vorwurf, sondern strukturell bedingt. Und gleichzeitig ist es es relevant, genau hinzuschauen:

Das Jammern über schlechte Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, den Staat, die Politik, die da oben und diesdas hilft (und ist wirklich relevant) für die eigene Psychohygiene, verbessert die Situation aber nicht. Es gilt vielmehr, die eigene Freiheit zu nutzen. Und diese Freiheit ist in Organisationen mit der oben beschriebenen „dominierenden Informalität“ alles andere als klein. Denn gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team und oftmals auch völlig individuell zu entscheiden, was notwendig und möglich ist:

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer:innen gestaltet werden können. Die oberste Führungsebene hat – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort.

Wir waren ja beim Thema Digitalisierung, Du erinnerst Dich? Da gilt das Gleiche:

Trotz der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung ist es nur vor Ort möglich, die für die Digitalisierung notwendigen iterativen Experimente zu starten bzw. gesamtorganisationale Experimente für vor Ort zu adaptieren und aus diesen zu lernen, damit Digitalisierung gelingen kann.

Was kann getan werden?

Der erste Punkt ist der weitere Kampf (leider muss dieser Begriff benutzt werden) um die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft. Lobbyarbeit, die Verständigung mit den Kostenträgern über die komplexen Bedingungen sozialer Arbeit, wirksame Öffentlichkeitsarbeit für die Anliegen und die Bedeutung sozialer Dienstleistungen sind heute wichtig und werden in Zukunft wichtiger.

Aber auch wenn die Rahmenbedingungen das wesentliche Problem darstellen, brauchen wir mehr sichtbare Beispiele von Menschen, die mutig neue Wege beschreiten und unternehmerisch Innovationen vorantreiben.

Mir fallen hier viele Menschen ein, die Beispiel für gelingendes Unternehmertum sein können. Hier nur drei Beispiele:

  • Die Diakonie An Sieg und Rhein entwickelt mit der integrierten Sozialberatung die Sozialberatung der Zukunft. Dabei arbeiten Berater:innen mit verschiedenen inhaltlichen Spezialisierungen kollaborativ in Echtzeit mit Klient:innen zusammen. Patrick Ehmann, Geschäftsführer der Diakonie An Sieg und Rhein berichtet hier im Podcast vom aktuellen Stand der Entwicklungen des neuen Beratungsansatzes.
  • Bei der SozKom GmbH unter Leitung der beiden Geschäftsführerinnen Kathrin Stern und Rita Resch hat ein eigenes organisationales Betriebssystems – die „sozKomKratie“ – entwickelt und strukturiert sich anders. Das führt bspw. dazu, dass sich die Organisation keine Sorgen um Fachkräftegwinnung machen muss. Mehr dazu kannst Du hier im Podcast anhören.
  • Thomas Mampel beschreibt in seinem aktuellen Blogbeitrag das vom Stadtteilzentrum Berlin-Steglitz entwickelte kleine, aber sehr feine Projekt „Mobile Lernwerkstatt Demokratie“. Mit Koffern voll mit Moderations- und Workshopmaterial führen die Kolleg*innen spannende Projekttage zur aktuell mehr als relevanten Demokratieförderung an Schulen und in Kinder- und Jugendprojekten durch.

Ich will damit sagen, dass es die „Intrapreneur:innen“ in sozialen Organisationen braucht und gibt.

Intrapreneur:innen sind Mitarbeitende, „denen die Balance zwischen dem persönlichen Einsatz für die eigenen – von der hegemonialen Norm in ihren jeweiligen Organisationen abweichende (!) – Werte und Ideale auf der einen und der Anpassung an die institutionalisierten Settings, in denen sie agieren, auf der anderen Seite gelingt“, wie Hannes hier im Blog schreibt.

Entsprechend gilt es, in sozialen Organisationen, die Intrapreneur:innen, die Menschen, die neue Wege ausprobieren wollen, lebendig werden zu lassen. Das klingt leichter, als es ist. Einige Taktiken für Intrapreneur:innen beschreibt Hannes hier in diesem lesenswerten Beitrag.

Darüber hinaus ist es relevant, dass in Studium und Ausbildung die Entwicklung neuer Wege in der Unsicherheit, das Experimentieren und Lernen als Voraussetzung für gelingende Digitalisierung, viel stärker und in der Breite verankert werden muss. Nur so lassen sich die heutigen und zukünftigen Herausforderungen meistern.

Der Blick in die Ausbildungslandschaft zeigt, dass es an vielen Stellen in Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen bereits tolle Projekte gibt, die „unternehmerische Kompetenzen“ fördern. Über diese Projekte muss es gelingen, die berufliche Identität der Menschen an der Basis dahingehend zu erweitern, dass sich diese Menschen nicht „nur“ als Anwält:innen für ihr Klientel, sondern auch als Entre- oder Intrapreneur:innen für die Entwicklung der Angebote, der Teams und Organisationen und damit als Anwält:innen des Sozialen verstehen.

Fazit: Digitalisierung muss gestaltet werden

Mal wieder ein viel zu langer Blogbeitrag. Aber vielleicht hast Du bis hierher durchgehalten. Also nur noch einmal kurz:

Jeder und jedem ist inzwischen bewusst, dass gelingende Digitalisierung mehr braucht als Technik. Gelingende Digitalisierung braucht

  • klare Erwartungen,
  • ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung und
  • unternehmerische Kompetenz.

Und noch viel mehr, aber der Beitrag ist sowieso schon viel zu lang…


Wie steht es bei Dir persönlich und in Deiner Einrichtung um die drei hier beschriebenen Thesen? Stimmst Du zu? Oder wo siehst Du es anders? Lass es mich gerne wissen, als Kommentar hier im Blog, als Mail oder als Kommentar in den sozialen Medien. Freue mich, von Dir zu lesen.

Resonanz, Exnovation und Kooperation, oder: Das Ende des Business as usual für die Zukunft der Sozialwirtschaft

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Beendigung der Armut. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. Ermächtigung der Frauen. Dies sind die drei der fünf „außerordentlichen Kehrtwenden“, die laut dem neuen Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ (vgl. Dixsons-Declève et al., 2022) notwendig sind, um die Risiken der Klimakatastrophe substanziell zu reduzieren. Angeführt werden darüber hinaus der Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und der Einsatz sauberer Energie, um die Menschheit zu retten.

Der Anspruch Sozialer Arbeit

Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen – dies könnte gut eine anspruchsvolle Mission einer sozialen Organisation oder eines Wohlfahrtsverbands sein: Welt retten, um die Menschheit zu retten – reduziert auf das Machbare.

Das lässt den Anspruch Sozialer Arbeit erkennen: Soziale Arbeit will die Lebenswelt der Menschen, für die soziale Organisationen die (Mit-)Verantwortung tragen, besser machen, was auch beim Blick auf die Internationale Definition Sozialer Arbeit (vgl. DBSH, 2016) deutlich wird:

Soziale Arbeit fördert „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (…). Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern“.

Soziale Arbeit hat sich viel vorgenommen! Es stellt sich die Frage, ob wir – jede*r Einzelne, unsere Organisationen und die Soziale Arbeit als Ganzes – diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurden und in der Zukunft gerecht werden können.

Vergangenheit und Zukunft, oder: Das Ende des Business as Usual

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als „wahre Erfolgsgeschichte“ (Merten, 2001, 165) erzählen. Hans Thiersch spricht vom letzten Jahrhundert gar als „sozialpädagogisches Jahrhundert“ (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die Soziale Arbeit“ weiterentwickelt. Aber fördert sie wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen? Da können Zweifel aufkommen.

Und der IW-Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ (Hickmann, Koneberg, 2022) zeigt, dass Berufe in den Bereichen Sozialarbeit / Erziehung / Pflege schon heute besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind. Das spüren die Beschäftigten an allen Ecken. Soziale Organisationen bewegen sich in den uns alle betreffenden Polykrisen (vgl. bspw. Scharmer, 2022) am Rande der Belastungsgrenze.

Für die Gestaltung der Zukunft ist da wenig Platz, denn wenn man linear in die Zukunft sozialer Organisationen blickt, ergibt sich folgendes Bild:

Angesichts demographischer Entwicklungen steigt der Gesamtbedarf an personenbezogenen Dienstleistungen bei gleichzeitig abnehmender Anzahl an Erwerbstätigen. Herausforderungen wie Digitalisierung, Energiekrise, Krieg, Klimakatastrophe kommen hinzu.

Wenn es weitergeht, wie bisher, können die Belastungsdämme der Organisationen und der Sozialwirtschaft nicht mehr lange standhalten.

Die triviale Folgerung aus diesem kurzen Überblick muss lauten (und nach Innen und Außen lauter werden):

 Ein „Weiter so!“, ein „Business as usual“ kann und wird nicht mehr funktionieren. Es braucht „Transformation hin zum Neuem“!

Aber wie sieht das Neue aus? Und vor allem: Wie kann die Transformation dorthin gelingen?

Um diese Fragen spezifisch für soziale Organisationen zu beantworten, lohnt es sich, ausgehend von den Kehrtwenden des Club of Rome, den Blick zu weiten: Wie kann Transformation auf globaler Ebene gelingen und was lässt sich daraus für soziale Organisationen lernen und adaptieren?

Gemeinsam Spüren, oder: Echte Transformation braucht neues Lernen

Im Folgenden wird eine von drei notwendigen Veränderungen herausgegriffen, die angesichts der aktuellen Krisen erforderlich sind, um die Forderungen des Club of Rome auf der systemischen Makroebene, also auf globaler, nationaler und/oder der Ebene der Funktionssysteme (Bildung, Politik, Gesundheit, Soziales…) umzusetzen:

Es braucht die Transformation des Lernens – weg von der Leistungs- und Prüfungsorientierung hin zur Entwicklung von Fähigkeiten zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen, ko-kreativen Gestaltung der Zukunft (vgl. Scharmer, 2022).

Der Gedanke, dass wir zur Bewältigung der globalen Krisen die Art, wie wir Lernen verstehen, ändern müssen, ist nicht neu: Bereits der im Jahr 1979 im Anschluss an den 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Bericht des Club of Rome unter dem Titel „No limits to learning“ rückt explizit das Thema „innovative learning“ in den Vordergrund. Darunter ist ein Lernen zu verstehen, das Kreativität und effektive Kooperation ins Zentrum rückt (vgl. Göpel, 2022, 132). Über Neu-Lernen, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten und Kooperation kann es gelingen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

So wissen wir, was wir tun sollten, kommen aber oft nicht ins Handeln. Rechtliche, institutionelle und individuelle Abhängigkeiten hindern uns daran, gemeinsam neu zu Lernen und das Business as usual nicht nur ernsthaft infrage zu stellen, sondern wirklich anders zu agieren.

Aber wie können wir neu Lernen lernen und das kollektive Gefühl von „so kann es nicht mehr weitergehen“ transformieren in das Neue?

Dazu braucht es (vgl. Scharmer, 2022):

  • institutionelle Infrastrukturen, die alle relevanten Akteure zusammenbringen, um das System gemeinsam zu gestalten,
  • Führungsinstrumente und -kapazitäten, um das Bewusstsein der verschiedenen Akteure von einer Silo- zur Systemsicht zu verändern und
  • finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der oben genannten Maßnahmen.

Resonanz erzeugen, oder: Co-kreative institutionelle Infrastrukturen

Wir sind gefordert, in unseren Organisationen co-kreative institutionelle Infrastrukturen und damit Dialogräume zu gestalten, in denen es gelingt, Resonanz (vgl. Rosa, 2022) zwischen den Themen und den verschiedenen Akteur*innen zu erzeugen.

Resonanz meint a) die Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ (ebd., 57). Damit ist das Hören und Spüren des dezidiert Anderen, des Neuen gemeint – „und das kann durchaus irritierend sein“ (ebd., 59). Hier ist die Verbindung zur organisationalen Innovations- und damit Lernfähigkeit interessant: Für die Ermöglichung von Innovation ist es notwendig, „irritationsrelevante Informationen“ wahrzunehmen bzw. sich von diesen „anrufen“ lassen zu können.

Aus dem „angerufen werden“ folgt b) die Selbstwirksamkeit: „Ich stelle plötzlich fest, (…), dass ich in der Lage bin auf das Empfangene zu reagieren“ (ebd., 60). In Bezug zur organisationalen Innovationsfähigkeit gilt es, die irritierenden Informationen aus der Umwelt für die Organisation nutzbar machen zu können.

Aus der Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ und selbst wirksam zu werden entsteht dann c) die Möglichkeit echter Verwandlung bzw. Transformation:

„Da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre, und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich“ (Rosa, 2022, 62).

Und genau darum geht es: Um Verwandlung, um Transformation, die als Abkehr vom Business as Usual das Neue, echte Innovation und tiefgreifende Veränderung ermöglicht.

Der Moment der Resonanz kann jedoch nicht gekauft, hergestellt oder erzwungen werden. Resonanz ist d) unverfügbar (vgl. ebd., 64). Und genauso ist es in Organisationen:

Appelle an die Mitarbeiter_innen, „jetzt aber mal innovativ zu sein“ oder das Erzwingen nicht resonanzfähiger „New Work Maßnahmen“ werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ergebnislos verpuffen, wenn nicht echte, strukturelle Veränderungen erfolgen, die anderes Arbeiten nach sich ziehen.

Auf-Hören, oder: Systemische Führungsinstrumente und -kapazitäten

Im obigen Zitat irritiert das Wort „aufhören“. Rosa verbindet mit dem Auf-Hören das sich „anrufen und erreichen lasse[n] von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-Do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist“ mit dem gängigen Verständnis des Begriffs Aufhören im Sinne von „anhalten, stoppen“ (ebd., 56).

Beides ist wichtig: Zum einen gilt es, aufzuhorchen und sich von den irritierenden Informationen aus der Umwelt anrufen zu lassen, um daraus Neues zu gestalten. Zum anderen gilt es aber auch, aufzuhören und Aktivitäten zu stoppen, die keinen Mehrwert für die Menschen und die Organisation liefern.

Es lohnt die Beschäftigung mit Exnovation – der anderen Seite von Innovation: Exnovation heißt, dass Nutzungssysteme, Prozesse, Praktiken oder Angebote, die getestet und bestätigt wurden, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen, eingestellt werden (vgl. Epe, 2022). Exnovation heißt jedoch keinesfalls, in der Organisation eine Kultur der Nicht-Innovation zu propagieren. Exnovation, das Aufhören, die Abschaffung, das Beenden, gehört zur Innovation zwingend dazu – wie zwei Seiten einer Medaille.

Und hier sei mit Blick auf das „sozialpädagogische Jahrhundert“ die Frage gestattet: Wo haben wir im Sozialwesen erfolgreich Dinge nicht mehr getan, nicht (mehr) wirksame Angebote nicht weitergeführt und wirklich aufgehört, um so Raum für Neues zu schaffen?

Gleiches gilt institutionell: Anstatt grundlegende, strukturelle Barrieren zu beseitigen, die die Veränderung des Systems blockieren, versuchen wir, Menschen zu motivieren, „sich zu verändern“ und neue Methoden und Angebote zu schaffen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten. Echtes Lernen und damit Veränderung komplexer sozialer Systeme geschieht aber nicht, indem wir „mehr des Gleichen“ tun. Die Beseitigung struktureller Barrieren, das Weglassen, das Exnovieren ist oft der wirkungsvollste Hebel, um soziale Systeme und damit Organisationen in Veränderung zu bringen.

Veränderung bedeutet, etwas aus dem gewohnten Trott zu bringen. Es mag zwar oberflächlich beruhigend und entlastend sein, sich an Routinen und Business as usual zu klammern. Sinnvoller ist aber die Frage: Was von dem, was wir in unserer Organisation oder im Team tun, kann weg, womit können wir aufhören?

Bezogen auf Vorgaben in Organisationen hat sich zur Beantwortung der Frage die einfache Methode „Kill a stupid rule“ bewährt:

  1. In Kleingruppen sammeln die Beteiligten regelmäßig bestehende Regeln aus ihrer Organisation, die sie gerne abschaffen/ändern würden und notieren diese.
  2. Die Notizen werden vorgestellt und in ein Koordinatensystem eingruppiert: wenig bis sehr aufwändig und kleine bis große Wirkung.
  3. Ideen mit wenig Aufwand und großer Wirkung können direkt angegangen werden. Ideen mit mehr Aufwand kann man priorisieren und nach und nach umsetzen.

Eigentlich einfach, aber wir wissen auch: Das Auf-Hören fällt schwer – gesellschaftlich, organisational und individuell.

Kooperation, oder: Finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der Maßnahmen

So, wie in unseren Organisationen nicht eine Person allein „den Laden am Laufen hält“ lässt sich die Transformation der Gesellschaft nicht durch „den einen Hebel“ und damit losgelöst von anderen sozialen Systemen betrachten. Mehr noch:

„Kooperation war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Lebens, und sie ist bis heute ein das Leben in all seinen Varianten begleitendes Phänomen geblieben“ (Bauer, 2006, 221).

Wollen wir die Zukunft des Sozialwesens gestalten und die Abkehr vom Ego- zum Eco-System und Möglichkeiten gestalten, „vom größeren Gesamtsystem aus zu handeln“ (Scharmer, 2013, 220), müssen wir eine Kultur der Kooperation (wieder)beleben, auch wenn dies „ein radikaler Gegenentwurf zum neoliberalen und zum auf Verdrängungswettbewerb und Auslese aufbauenden darwinistischen Menschenbild [ist], das Ökonomie und Gesellschaft seit langer Zeit und heute noch prägt“ (Seliger, 2022, 119).

Kooperation erfolgt in vielen Fällen bereits zwischen sozialen Organisationen und zwischen unterschiedlichen Verbänden (auch wenn es hier ebenfalls Entwicklungsbedarf gibt). Aber gerade mit Blick auf die Finanzierung Sozialer Arbeit ist der Blick auf Kooperation hochgradig relevant:

Soziale Organisationen sind in ihrer Finanzierung im Wesentlichen abhängig von Sozialleistungsträgern. Entsprechend greift der isolierte Blick auf die institutionelle Transformation, auf innerorganisationale Veränderungsnotwendigkeit zu kurz – ohne damit zu sagen, dass innerhalb der Organisationen keine Veränderungen stattfinden sollten – da sie in der Finanzierung ihrer Leistungen abhängig sind von den Sozialleistungsträgern.

Eine Herausforderung der Verbindung von Sozialleistungsträgern auf der einen und sozialen Organisationen als Leistungserbringern auf der anderen Seite besteht aber darin, dass beide Systeme unterschiedliche binäre „Leitdifferenzen“ (Codes) aufweisen, anhand derer sich die Entscheidungen im jeweiligen System orientieren.

Soziale Organisationen wägen ihre Entscheidungen – sehr grob formuliert – anhand der Leitdifferenz „Helfen / nicht helfen“ (vgl. Kleve, 2007, 147) ab, wohingegen die Sozialleistungsträger ihre Entscheidungen anhand der Leitdifferenz „Rechtlich vorgegeben / nicht vorgegeben“ abwägen.

Daraus folgt, dass soziale Organisationen komplexe soziale Probleme anders angehen würden, wenn die Finanzierungsmöglichkeiten dies zuließen. So wird bspw. die Einbeziehung der Klient*innen und die Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung in allen moderneren Methoden Sozialer Arbeit gefordert, deren Umsetzung jedoch in Teilen durch die Notwendigkeit konterkariert, sich an die Vorgaben der Sozialgesetze zu halten, um darüber die Finanzierung sicherzustellen.

Zur zukünftigen Sicherstellung einer sinnvollen Finanzierung ist es also notwendig, die Kooperation zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern deutlich zu steigern, um über den Dialog ein gegenseitiges Verständnis der Notwendigkeiten wirksamer Finanzierung herzustellen.

Außerdem ist in sozialen Systemen, großen wie kleinen, alles miteinander verbunden (vgl. Göpel, 2022, 36ff). Entsprechend muss der kooperationsfokussierte Blick über die Grenzen der Sozialwirtschaft hinaus geweitet werden: Kooperation muss auch verstärkt zwischen anderen Unternehmen und Funktionssystemen gestärkt werden, um Transformation zu ermöglichen.

Das Ausweiten der Kooperation vereinfacht wiederum das unverzichtbare „Sich-anrufen-lassen“ von anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten, die ergriffen werden können, um gelingende Zukunft zu gestalten.

Das Ende des Business as usual, oder: Mutige Visionen für die Zukunft der Sozialwirtschaft

Es muss nicht wiederholt werden, dass die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen heute und in Zukunft widmen müssen, massiv sind. Sie werden heute nicht absehbare Veränderungen erfordern. Einfache Antworten und Business as usual werden aber definitiv nicht funktionieren, auch wenn die Suche nach Sicherheit und Beständigkeit in einer hyperaktiven Welt allgegenwärtig ist. Aber es hilft nicht, angesichts der Dynamik und Komplexität der Herausforderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gute in der aktuellen Situation: In allen Problemen (ver-)stecken sich auch Chancen, wenn wir lernen, mutige Visionen der Zukunft der Sozialwirtschaft in den Blick zu nehmen:

Mutige Visionen brechen mit dem Business as Usual. Sie helfen uns, die Gegenwart hinter uns zu lassen und damit neue Perspektiven einzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und gehen an Ihren Arbeitsplatz. Dort muss über Nacht ein Wunder geschehen sein und es ist alles so, wie Sie es sich schon immer erträumt haben:

  • Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert hat?
  • Was sind die größten Unterschiede zu gestern?
  • Wie fühlt sich die Veränderung an? Was ist beglückend?
  • Mit welchem Bild würden Sie die neue Situation Ihrer Organisation darstellen?

Beginnen Sie, Ihre Vision mutig zu malen, denn

„Mut heißt nicht, keine Angst zu haben! Mut heißt nur, dass man trotzdem springt!“ (Sarah Lesch).


Quellen:

  • Botkin, J. W., Elmandjra, M., Malitza, M.: No limits to learning: bridging the human gap. 1st ed. Pergamon international library. Oxford; New York: Pergamon Press, 1979.
  • DBSH. Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. 2016. Download unter: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html. Abruf am 16.12.2022.
  • Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., Espen Stoknes, P.:  Earth for all: ein Survivalguide für unseren Planeten. Übersetzt von Rita Seuß und Barbara Steckhan. 4. Auflage. München: oekom, 2022.
  • Epe, H.: Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht! Download unter: https://www.ideequadrat.org/exnovation/. Download am 03.01.2023.
  • Göpel, M.: Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
  • Hickmann, H., Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67. Download unter https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Top-Fachkr%C3%A4ftel%C3%BCcken.pdf. Download am 20.12.2022.
  • Kleve, H.: Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2007.
  • Merten, R.: Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192, 2001.
  • Rosa, H.: Demokratie braucht Religion. München: Kösel-Verlag, 2022.
  • Scharmer, O.: Protect the Flame. Circles of Radical Presence in Times of Collapse. 2022. Download unter: https://medium.com/presencing-institute-blog/protect-the-flame-49f1ac2480ac. Abruf am 15.12.2022.
  • Scharmer, O.: Theorie U – von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 3. Aufl. Management. Heidelberg: Carl-Auer-Verl, 2013.
  • Seliger, R.: Systemische Beratung der Gesellschaft: Strategien für die Transformation. Erste Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.
  • Thiersch, H.: Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Hinweis: Der Text ist vorab (in leicht angepasster Version) in den „Blättern der Wohlfahrtspflege“, 3/23, veröffentlicht worden. doi.org/10.5771/0340-8574-2023-3-96!


New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part II: Der Blick zurück!

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Nach Part I – meiner New Social Work Definition – findest Du hier Part II der Serie „New Social Work Zwischenbilanz“. Darin werde ich auf meinen ganz persönlichen Weg hin zu New Social Work schauen und dann – anhand der vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) etwas strukturierter die Anfänge der Entwicklungen rund um New Social Work darlegen.

Meine Anfänge rund um New Social Work

Damals, genauer 2014, habe ich – wie gesagt – das Buch „Reinventing Organizations“ verschlungen, erst auf Englisch als PDF, dann analog auf Englisch und Deutsch. Ich war fasziniert: Eine neue Art, Organisationen, Arbeit und übergreifend auch tradierte Grundprinzipien unseres Lebens in unserer Gesellschaft zu (über)denken.

Kurz zur Wiederholung: Laloux hat damals eine Studie bei 12 Organisationen durchgeführt. Die Kriterien zur Auswahl der Organisationen waren: mind. 100 Mitarbeiter sowie mindestens 5 Jahre Arbeit nach Strukturen und Prozessen, Praktiken und Kulturen, die mit den Merkmalen des integralen evolutionären Paradigmas übereinstimmen.

Es wurden Fragen gestellt, die sich auf 45 Praktiken und Prozesse in diesen Organisationen beziehen. Dabei wurden zentrale übergreifende Organisationsprozesse wie Strategie, Marketing, Verkauf, Unternehmensführung, Finanzplanung oder Controlling sowie wichtige Prozesse im Bereich Human Resources (bspw. Einstellungen, Weiterbildungen) und „Praktiken des Alltags“ wie Meetings, Organisationsfluss oder die Ausstattung der Büroräume in den Fokus genommen.

Es wurde versucht herauszufinden, „ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Pioniere von konventionellen Managementmethoden unterscheiden“ (ebd., 8).

Ohne hier in die Tiefe zu gehen, lässt sich das Ergebnis der Studie dahingehend zusammenfassen, dass die Studie die drei wichtigen „Durchbrüche“ oder Prinzipien Selbststeuerung (oder Selbstführung), Ganzheit und evolutionären Sinn als wesentlich für Organisationen des integralen evolutionären Paradigmas gezeigt hat.

Selbststeuerung bedeutet, dass alle Mitglieder der Organisation alle Entscheidungen selbst treffen können, sofern sie sich 1. den Rat der von der Entscheidung Betroffenen und 2. den Rat der Experten in der jeweiligen Angelegenheit eingeholt haben. Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Transparenz und der Zugang zu Informationen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können.

Evolutionärer Sinn bedeutet, dass die Organisationen, in denen die genannten Prinzipien funktionieren, einem klaren Sinn, einem Unternehmenszweck folgen, der für alle Mitglieder der Organisation verständlich, einleuchtend und sinngebend ist. Dabei geht es nicht nur um die „Weltverbesserung“, auch bspw. der Zweck der Schaffung von Arbeitsplätzen in einer strukturschwachen Region kann sinnstiftend wirken. Mit klaren, auf den Zweck ausgerichteten, freien Entscheidungen aller Mitarbeitenden wären bspw. Zielvereinbarungen hinfällig, da jeder wüsste, welchen Beitrag er zur Erreichung des Zwecks zu leisten imstande ist.

Ganzheitlichkeit bedeutet, dass „der ganze Mensch“ mit all seinen Emotionen, Zweifeln, Gedanken usw. die Organisation mitgestaltet. Daraus entsteht einer Kultur der Offenheit, Wertschätzung und Akzeptanz.

Die Verbindung der bei Frederic Laloux formulierten Kernaussagen von „teal organizations“ – Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und evolutionärem Sinn – mit den grundlegenden Funktionslogiken sozialer Organisationen war augenöffnend.

Denn davon ausgehend, dass

  • soziale Organisationen einen Zweck verfolgen, der sinnstiftend ist („Helfen“ oder Menschenrechte oder wie auch immer) und
  • das Menschen, die im Bereich der Sozialen Arbeit tätig sind, über ein bio-psycho-soziales Menschenbild der „Ganzheitlichkeit“ aufgrund ihrer Profession verfügen (sollten) und
  • darüber hinaus in der täglichen Arbeit immer wieder eigenverantwortlich, selbstgesteuert, idealerweise vor dem Hintergrund einer professionellen Haltung, mit entsprechendem Wissen, Kompetenzen und Methoden agiert und reagiert werden muss (wenn ich nicht blitzschnell eine Entscheidung treffe, haut der Jugendliche mir eine auf die Nase),

ist anzunehmen, dass Organisationen der Sozialwirtschaft „eigentlich“ das Ideal an eine neue Arbeitswelt, an eine „New Social Work“ verkörpern.

Der Blick auf und in Soziale Organisationen hingegen zeigte ein anderes, formal-hierarchisches Bild tradierter Organisationen, deren Mitglieder schon damals hohe Burn-Out-Raten aufwiesen und Sinnstiftung nicht unbedingt an erster Stelle stand.

Spätestens beim Blick auf einen Kernbereich sozialer Arbeit – die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen – wurde deutlich:

Solange die Professionellen an vielen Stellen im Sozialwesen selbst nicht autonom und selbstbestimmt handeln können (begründet in organisationalen wie auch gesetzlichen Bedingungen) wird es schwer, wenn nicht gar unmöglich, Selbstbestimmung und Autonomie der Klient:innen zu stärken.

Seit diesem Zeitpunkt lassen mich Fragen rund um die funktionale Entwicklung, rund um die Gestaltung und das Design sozialer Organisationen nicht mehr los:

  • Machen klassische Hierarchien Sinn, wenn es um die Stärkung von selbstbestimmt agierenden Teams geht?
  • Wie organisieren wir Arbeit in der Sozialen Arbeit?
  • Macht die Art, wie wir soziale Organisationen denken und gestalten, überhaupt Sinn?
  • Welche Antworten können andere, auf den ersten Blick „moderne“ Ideen von Zusammenarbeit – bspw. die Ideen rund um Agilität – helfen, besser im Sinne der Nutzer:innen sozialer Dienstleistungen zu agieren?
  • Wie kann es besser gelingen, soziale Organisationen zu gestalten?

Reinventing Social Organizations und New Work

Neben dem Blick auf die Gestaltung der Organisationen kam ein zweiter Aspekt hinzu: Die „Real New Work“ im Sinne Frithjof Bergmanns. Auch hier kurz zur Wiederholung zusammenfassend:

New Work wurde von Bergmann als Alternative zum vorherrschenden Lohnarbeitssystem beschrieben. Bergmann geht es darum, dass unser Lohnarbeitssystem von Grund auf zu den in unserer Gesellschaft zunehmend verstärkt auftretenden Problemen führt:

“Sie besondere Form der Arbeit, die wir ‚Lohnarbeit‘ nennen, ist erst so alt wie die industrielle Revolution, also ungefähr 200 Jahre. schon als dieses System eingeführt wurde, gab es warnende Stimmen, die ihm keine gute Zukunft voraussagten. heute krankt das Lohnarbeitssystem an vielfältigen und schweren Mängeln. Deshalb ist es an der Zeit, die Arbeit von Grund auf neu zu organisieren. das Lohnarbeitssystem ist dabei, zu sterben, und das nächste System, die neue Arbeit, muss aufgebaut werden.” (Bergmann, 2004, 11).

New Work nach Bergmann basiert darauf, das System der Lohnarbeit zu ersetzen durch ein System, das aus den drei Teilen

  • – Erwerbsarbeit (1/3),
  • – High-Tech-Self-Providing (Selbstversorgung, 1/3) und
  • – dem „Calling“, der Berufung bzw. der Arbeit, die man wirklich, wirklich will (1/3)

besteht.

Hintergrund der Entwicklung des Konzeptes war schon damals die Feststellung, dass die „klassische“ Erwerbsarbeit insbesondere aufgrund der Roboterisierungs- und Automatisierungsprozesse zurückgehen wird. Aktuelle Entwicklungen rund um die sich mit enormer Geschwindigkeit entwickelnde KI unterstreichen die visionären Gedanken von Bergmann, dessen Ausführungen auf der zusammenbrechenden bzw. sich ins Ausland verlagernden amerikanischen Automobilindustrie in den 1980er/1990er Jahren und dem Niedergang von General Motors basierten. Sehr kurz dargestellt:

Es gab einfach deutlich weniger Arbeit – für (fast) alle Menschen!

Bergmann schlägt als Alternative zur Entlassung der von der Automatisierung betroffenen Menschen vor (bspw. 2/3 der Menschen) vor, die verbleibende Arbeit auf alle Menschen zu verteilen. Die Arbeitszeit jede:r Einzelnen sinkt (vgl. aktuelle Debatten um die Vier-Tage-Woche) – etwas schematisch – auf 1/3 seiner (Arbeits-)Zeit, die mit klassischer Lohnarbeit verbracht wird. Dafür aber gäbe es kaum vollständig arbeitslose Menschen.

Mit diesem ersten Drittel Erwerbsarbeit gelänge es, so Bergmann, eine finanzielle Basis für alle zu schaffen. Gleichzeitig werden durch das erzielte Einkommen Anschaffungen möglich, die nicht durch eigene Arbeit oder nachbarschaftliche Netzwerke erzeugt werden können.

Damit sind noch etwa 2/3 Zeit übrig. Das zweite Drittel der zur Verfügung stehenden Zeit sollte – so Bergmann – mit Selbstversorgung auf technisch höchstem Niveau zugebracht werden. Hier geht es nicht ausschließlich (aber auch) darum, Kartoffeln im eigenen Garten anzubauen. Es geht darum, mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten (bspw. 3D-Druck) Dinge des täglichen Lebens (angefangen von der Kartoffel bis hin zu bspw. technischen Geräten) herzustellen.

Hinzu kommt, dass sich die Menschen zunehmend verstärkt Gedanken um den tatsächlich sinnvollen Konsum machen, wodurch sich der Bedarf nach Wachstum und neuen Produkten automatisch reduziert (vgl. hierzu die Notwendigkeit, ökologisch auf einen nachhaltigen Weg zu kommen). Außerdem bleibt Zeit, kaputte Dinge zu reparieren. Und immer noch bleibt 1/3 Zeit übrig.

Hier steht – als dritte Säule der „Real New Work“ – die Arbeit im Zentrum, die die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“:

Ausgehend von der Prämisse, dass Arbeit grundsätzlich – und vor allem in und nach enormen Krisen – niemals endet, wenn man Arbeit als über das Lohnarbeitssystem hinausgehend definiert (bspw. Familie, Pflege, Ehrenamt, Aufbau), ist dieser Bestandteil des Konzepts „Neue Arbeit/Neue Kultur“ (so Bergmanns Buchtitel 2004) als wesentlich, als Kern, anzusehen.

Bergmann favorisierte hier einen evolutionären Ansatz der Systemveränderung, der nur nach und nach erfolgen kann, vorangetrieben durch Menschen, die sich in ihrem Tun an ihrem „Calvin“, ihrer Berufung und damit dem orientieren, was sie wirklich, wirklich tun wollen. Aus seiner Perspektive brauchte es also Menschen, die sich als Vorbilder allmählich unabhängiger machen vom Lohnarbeitssystem durch Unternehmertum (im Besten Sinne) in Verbindung mit High-Tech-Selbstversorgung.

Zusammenfassend also soll New Work im Sinne Bergmanns die Abhängigkeit vom Lohnarbeitssystem für alle Menschen reduzieren und selbstorganisiert Selbstständigkeit, Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglichen. Der Zwang zur beinahe ausschließlichen Partizipation an traditionellen Lohnarbeitsstrukturen, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten, kann sich damit auflösen.

New Work betrifft aus Perspektive von Bergmann damit über jeden einzelnen Menschen das Gesellschaftssystem, in dem wir leben, als Ganzes. Das Konzept fokussiert auf die Frage, wie viel Selbstbestimmung und Eigenverantwortung den Menschen selbst zugetraut werden kann und darf.

Und Bergmann ging es an keiner Stelle seiner Veröffentlichungen um die Gestaltung von bestehenden Organisationen. Bergmann ging es um die Suche nach einem dritten Weg zwischen Sozialismus (keine gute Idee) und Kapitalismus (auch keine gute Idee).

Wie aber sähe eine Welt aus, in der wir nachhaltig, in Gemeinschaften, Communities und lokalen Netzwerken, das produzieren, was wirklich gebraucht wird? Eine Welt, in der die existierenden Dinge repariert und damit möglichst lange im Leben erhalten werden? Und eine Welt, in der die Menschen Zeit finden, das zu tun, was sie „wirklich, wirklich wollen“?.

Ziemlich utopisch, irgendwie, aber wiederum hat der Blick auf die Soziale Arbeit für mich das Feuer entfacht, stärker nachzudenken:

Soziale Arbeit fördert eben nicht nur die Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen, sondern – so wie es in der internationalen Definition Sozialer Arbeit heißt – gesellschaftliche Entwicklungen. Und genau das ist doch das, was Bergmann impliziert hat:

  • – Wie sähe eine Förderung gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die „enkelfähig“ und damit nicht nur für ein paar wenige, privilegierte Menschen nützlich, sondern für – global – möglichst alle Menschen zukunftsfähig ist?

Die Verbindung der Gestaltung von lebendigen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten sozialen Organisationen und der Gestaltung von einer enkelfähigen Gesellschaft führte zu meiner „New Social Work Definition“.

Die vier Ebenen der New Social Work Zwischenbilanz im Rückblick

Nach diesen doch etwas ausführlicheren Vorgedanken 😉 will ich zumindest noch kurz auf die vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) schauen.

Das Individuum im Rückblick

Es gibt – allein in Deutschland – etwa 80 Mio. Individuen, Tendenz leicht sinkend. Entsprechend maße ich mir nicht an, pauschale Aussagen zu treffen. Aber es lassen sich doch Entwicklungen über die letzten 10 Jahre erkennen, die zumindest ich ganz spannend finde.

Im Jahr 2014 sah die Welt (sofern man die Augen nicht weit öffnete) noch ziemlich rosig aus. Die wirtschaftliche Entwicklung war nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 wieder grandios, Arbeitslosigkeit war kein Thema, Greta war auch Freitags noch in der Schule und der Klimawandel damit irgendwie noch nicht ganz so dramatisch. Selbst „die Digitalisierung“ steckte noch – zumindest mit Blick auf das Sozialwesen – in den Kinderschuhen.

Ich bin alles andere als Historiker, aber vielleicht war in der breiten Bevölkerung zu dem Zeitpunkt wirklich alles irgendwie „im Lot“. Danach ergaben sich aber ein paar Entwicklungen, die ich hier, auf individueller Ebene, herausgreifen will:

Spätestens im Jahr 2018, mit dem Beginn des Streiks von Greta und der Entwicklung von Fridays for Future unter dem Motto „Wir streiken bis ihr handelt!“ wurde der Freitag zum internationalen Streiktag, an dem Kinder und Jugendliche (!) auf die Straße gingen. Aber dem Zeitpunkt mussten sich auch Erna und Franz aus Hintertupfingen genauso Otto Normalverbraucher mit der Frage auseinandersetzen, ob Freitags zur Schule gehen wichtiger ist als die Rettung der Lebensgrundlagen des Planeten. Fridays for Future wurde DIE Bewegung, die in aller Munde war. Spätestens als Greta Thunberg bei Politiker:innen international Gehör fand und mit Barack Obama, dem Papst und vor der UNO sprechen konnte, war klar, dass es bei diesem Klima irgendwie doch Handlungsbedarf gibt (auch wenn der erste Bericht des Club of Rome bereits 1972 alles Wichtige rund um die zu erwartende Katastrophe dargelegt hat).

Der zweite „Einschlag“ kam dann zum Beginn des Jahres 2020 mit der Pandemie. Ich will hier nicht wiederholen, wie die Entwicklungen gelaufen sind, denn jede:r hat wohl noch eigene Bilder, Erlebnisse, dramatische Geschichten aber auch positive Errungenschaften im Kopf, die mit der Pandemie einhergingen. Meinen Pandemiebeginn habe ich damals hier verewigt.

Als wir dann alle irgendwie glaubten, dass jetzt auch mal gut sei mit der Dystopie, hat ein Verrückter aus Russland befohlen, die Ukraine anzugreifen und einen Angriffskrieg auf europäischem Boden anzuzetteln. Neben allem Schrecklichen eines Krieges war plötzlich jede:r ganz unmittelbar betroffen von steigenden Energiepreisen, von der Angst der zukünftigen Entwicklungen und, und, und…

Abschließend nur noch der Hinweis auf die aktuellen Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz bzw. konkret um die KI-basierte Textgeneratoren, allen voran ChatGPT:

Auch wenn es viele Fragen und Unklarheiten gibt, sind die Entwicklungen, die sich seit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 ergeben haben, über einbrechende Börsenkurse bis hin zur Entlassung von angestellten Texter:innen, beachtlich. Für einen tieferen Einblick lohnen sich die letzten 30 Minuten des Podcasts „Jetzt mal ehrlich“ (Du musst Bock auf Start-Up-Denglisch haben).

Aus diesen nur skizzierten Entwicklungen folgt:

Wer sich mit Wandel schwertut, wird es in Zukunft schwer haben. Und unsere jede:r Einzelne und damit unsere Gesellschaft insgesamt tut sich wahnsinnig schwer mit Veränderungen. Wir sind es – etwas pauschal – als Individuen in den letzten 60 Jahren nicht mehr gewohnt, komplexe und dynamische Entwicklungen zu bewältigen und zu gestalten und müssen dies erst wieder lernen.

Für den Blick auf die Soziale Arbeit zeigt sich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, besonders hart treffen:

So ist der Klimawandel ein nicht nur ökologisches, sondern ein sozial-ökologisches Problem. Auf die massiven Auswirkungen der klimatischen Veränderungen insbesondere für Hilfsbedürftige – in Deutschland, Europa und natürlich auch global – weisen die Wohlfahrtsverbände an verschiedenen Stellen sehr deutlich hin (bspw. hier).

Die Steigerung der Energiekosten trifft – wenig verwunderlich – die von Armut betroffenen Menschen der Gesellschaft ganz anders als die „Oberschicht“ und auch die Auswirkungen der Roboterisierung und Technisierung und damit alles rund um KI und Co. sind ebenfalls für Menschen in prekären Lebenslagen massiver als für die „Bildungselite“ (für die diese Entwicklungen ebenfalls massive Auswirkungen haben werden).

Kurz: All die hier (alles andere als umfassend) skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen betrafen und betreffen jeden einzelnen Menschen und insbesondere das Klientel Sozialer Arbeit.

Ist es aber gelungen, passende Antworten – auch aus der Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit heraus – auf diese Entwicklungen zu finden? In meinen Augen zeigen insbesondere die politischen Entwicklungen und konkret das Wahlverhalten, dass dies bislang leider nicht gelungen ist. Die demokratiezersetzenden Tendenzen sprechen Bände. Das liegt – so meine Einschätzung – an der wenig ausgeprägten Unsicherheitsbewältigungskompetenz, die für die aktuellen Zeiten notwendig ist. Dazu aber im nächsten Teil dieser Serie – dem Blick auf den Status Quo rund um New Social Work – mehr.

Die Organisationsentwicklung im Rückblick

New Social Work ist ziemlich komplex, das gebe ich zu. Vielleicht war das Komplexe auch ein Grund, warum meine Ausführungen zu New Social Work hier im Blog oder auch auf ersten Veranstaltungen, auf denen ich sprechen durfte, damals zwar auf Interesse, aber auch auf Kopfschütteln stießen („Spannend, ja, aber wie soll das denn gehen?“).

Gerade die „Profiteure des bestehenden Systems“ (Vorstände, Geschäftsführungen, Führungskräfte, politische Entscheidungsträger:innen) waren damals doch (diplomatisch ausgedrückt) „zurückhaltend“, was die Ideen zumindest rund um die Neugestaltung von Organisationen anging.

Und die gesellschaftlichen Megatrends steckten (aus meiner Perspektive) in den Kinderschuhen der Sozialwirtschaft:

  • Die Digitale Soziale Arbeit nahm erst 2015/2016 so richtig Fahrt auf.
  • Der demographische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel waren zwar am Horizont als dunkle Wolke erkennbar, aber der Regenschirm stand unbenutzt zu Hause.
  • Und erst heute rückt die (sozial-)ökologische Nachhaltigkeit flächendeckend in sozialen Organisationen auf die Agenda, auch wenn der erste Bericht des Club of Rome auch damals nicht neu war.

Persönlich muss ich betonen, dass es richtig cool war und ist, dass es schon damals viele Menschen gab, die progressiv in die Zukunft geschaut, den Blog gelesen, die Ideen verstanden und geteilt haben. Viele Menschen im Digitalen und Analogen haben schon damals erkannt, dass es sinnvoll und notwendig war, das „Soziale“ neu zu denken. Und viele dieser Menschen sind für mich langjährige und treue Wegbegleiter:innen und Freund:innen geworden. Danke dafür!

Übergreifend aber war das Thema „Organisationsentwicklung“ noch nicht so präsent, wie es dann geworden ist. Zwar profitiere ich selbst natürlich von den Entwicklungen ;-). Und trotzdem ist Vorsicht geboten: Haben sich die Bedingungen wirklich verändert oder sitzen auch soziale Organisationen „Managementmoden“ auf?

Managementmoden lassen sich charakterisieren als „breit geteilte Vorstellungen darüber, wie Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser, Hochschulen, Schulen, Armeen, Polizeien oder Verbände besser organisiert werden können. Die Managementmoden suggerieren dabei, dass durch die Einführung neuer Gestaltungsprinzipien die Anpassungs-, Leistungs- und Innovationsfähigkeit erhöht werden können. Sie setzen mit diesem Versprechen an dem in Organisationen verbreiteten Bedürfnis an, wahrgenommene Defizite zu beheben und bisher nicht genutzte Verbesserungsmöglichkeiten zu erschließen“ (Kühl, 2022).

Und die Anziehungskraft von Reinventing Organizations in Verbindung mit dem aus der Softwarebranche ausbrechenden „agilen Management“ war enorm. Sätze wie „Endlich so arbeiten, wie wir das schon immer gewollt haben!“ oder „Selbstorganisation? Da kann ich dann endlich mal denen da oben zeigen, wie es richtig geht!“ oder „Wenn es gelänge, unseren Laden so richtig agil zu gestalten, wären alle Probleme der Welt gelöst!“ wurden zwar nicht explizit geäußert, implizit gab es aber schon eine „Goldgräberstimmung“, immer begleitet von einem sehr sympathischen Holländer, dem es gelungen ist, die Pflegebranche der Niederlande zu revolutionieren. Hier habe ich einmal dargelegt, warum Du Buurtzorg nicht als Vorbild nehmen solltest.

Und in einem meiner letzten Newsletter habe ich „vom Ende der Euphorie“ geschrieben. Darunter habe ich die Abkehr vom doch sehr utopisch anmutenden Frederic Laloux hin zum realen, etwas nüchternen Blick auf die Funktionsweise sozialer Organisationen als komplexe soziale Systeme verstanden. So machen formale Hierarchien genauso wie das Konzept der Trennung von Person und Rolle in Organisationen sehr viel Sinn (vgl. dazu ausführlich Matthiesen, Muster, Laudenbach, 2022).

Ich will und kann hier in diesem Beitrag nicht in die Tiefe gehen, aber die folgende Frage wurde in meinen Augen in den letzten Jahren zu wenig gestellt:

„Wenn Organisationsentwicklung hin zu mehr Agilität, Selbstorganisation und Co. die Lösung ist, was ist dann eigentlich unser Problem?“

Falls Du Lust auf mehr Theorie hast, empfehle ich Dir diesen Beitrag zur „dominierenden Informalität in Sozialen Organisationen“, in dem ich dargelegt habe, dass soziale Organisationen an vielen Stellen sogar stärkerer Formalisierung bedürfen und nicht das halbherzige Umsetzen der neuesten Managementmode.

Die Ebene sozialer Organisationen zeigt im Rückblick ein sehr differenziert zu betrachtendes Bild: Organisationsentwicklung war und ist dringend erforderlich, aber nicht unbedingt so, wie es, durch viele Managementmoden angetrieben, gerne propagiert wurde.

Das Sozialwesen im Rückblick

Im Jahr 2016 wurde das BTHG – das Bundesteilhabegesetz – verabschiedet. In der Pressemeldung damals hieß es, dass „das Gesetz (…) mehr Möglichkeiten und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen“ schafft (BMAS, 2016). Für mich zeigt diese Entwicklung recht viel:

Einerseits zeigten sich in den letzten Jahren politisch wirklich gute Entwicklungen, die bspw. Menschen mit Behinderung oder auch Kinder (Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, inzwischen sogar ausgeweitet auf einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule) betrafen.

Bzgl. des BTHG sind Organisationen der Eingliederunghilfe zur Umsetzung des BTHG gefordert, neue Angebote und neue Organisationsstrukturen zu gestalten. Der Paradigmenwechsel von der Institutionenorientierung hin zur Personenorientierung ist hochgradig sinnvoll. Das BTHG soll die Teilhabe und damit die individuellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. In der Praxis soll dies durch die Aufsplitterung der Betreuungsleistungen in Grund- oder Basismodule als Tagespauschale auf der einen Seite und auf der anderen Seite durch verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden, geschehen (vgl. zu Fragen der Organisationsentwicklung und dem BTHG diesen Beitrag hier).

Der genauere Blick in die Herausforderungen zur Umsetzung der mit dem Gesetzesvorhaben BTHG einhergehenden Veränderungen zeigt jedoch auch viel Schatten:

Die Umsetzung ist zum einen eine enorme bürokratische Aufgabe und zum anderen lässt sich das BTHG auch als massives Sparprogramm lesen. So zeigt sich die Paradoxie des BTHG darin, dass auf der einen Seite damit geworben wird, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Leistungen sollen sich am individuellen Assistenzbedarf orientieren und passgenau erbracht werden. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber klar formuliert, dass durch die Reform des BTHGs die seit Jahrzehnten ansteigende Ausgabendynamik gebremst werden soll (vgl. Bt-Drs. 18/9522, S.3). Auf diesen Widerspruch kann man eigentlich nicht oft genug hinweisen.

Ich erwähne das Beispiel BTHG hier – auf der Ebene des Sozialwesens – so ausführlich, da ich in den letzten Jahren kaum echte Verbesserungen im Sozialwesen erkennen konnte. Oft sind die Entwicklungen eher potemkinsche Dörfer anstatt echte Verbesserungen im Sinne der Menschen zu bewirken.

So zeigt auch das Beispiel Ganztagsbetreuung in der Grundschule ähnliche Schwächen: Schon zur Verabschiedung des Gesetzes zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG) war glasklar, wie sich die Personalsituation im Arbeitsfeld Erziehung und Bildung entwickeln wird. Wie kommt man also auf die Idee, ein Gesetz zu verabschieden, dass auf dem Rücken der Mitarbeiter:innen im Sozialwesen ausgetragen wird oder – auch keine bessere Perspektive – die Qualitätsstandards in der Ganztagsbetreuung soweit senkt, dass jeder Hans Wurst mit den Kids arbeiten kann („Waren Sie selbst mal Kind? Ja? Dann können Sie hier anfangen!“).

Du merkst – ich bin im Rückblick eher skeptisch, was die Entwicklungen des Sozialwesens angeht. Eine nachhaltige, zukunftsfähige „New Social Work“ im Sinne einer qualitativ hochwertigen Sozialen Arbeit, angeboten von zeitgemäß und bedarfsgerecht gestalteten Sozialen Organisationen, zur Förderung der gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. New Social Work Definition) ist kaum erkennbar.

Das hängt zu großen Teilen mit politischen Entscheidungen zusammen. Und Entscheidungen im politischen System sind leider alles andere als rational, wissenschaftlich fundiert oder immer so zukunftsfähig, wie es dringend nötig wäre.

Es geht im „System Politik“ nicht um die Leitdifferenz „richtig/falsch“, sondern um Mehrheiten, um Meinungen und um die Leitdifferenz „Macht/keine Macht“. Die Entscheidungen der Menschen im System, der Politiker:innen, orientieren sich – bewusst, meist aber unbewusst – an dieser Leitdifferenz.

Das erklärt die oftmals absurd wirkenden Äußerungen von Politiker:innen bspw. der konservativen Parteien aka CDU/CSU zu Themen rund um die Klimakatastrophe, voraussetzend, dass Merz, Söder und Co. nicht einfach nur dumm sind.

Und das erklärt eben auch die Entwicklungen rund um das ganze „Gedöns“ bzw. die Sozialpolitik, mit der für die politische Karriere kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Ob sich das heute geändert hat und in Zukunft ändert? We’ll see in Part 3… Aber ich nehme sehr gerne Kommentare entgegen, die das Bild etwas positiver erscheinen lassen. Also:

Immer her mit den guten Nachrichten (bspw. hier in den Kommentaren oder unter diesem Link hier)!!!

Die Gesellschaft im Rückblick

Ich gehe hier nur noch sehr kurz drauf ein, da ich denke, schon zuvor, auf Ebene des Individuums und des Sozialwesens, einiges zur gesellschaftlichen Entwicklung geschrieben zu haben. Deswegen nur als Wiederholung:

Rückblickend lebten wir zwischen 2010 und 2020 in einer ziemlich ruhigen Dekade, die wirtschaftlich und politisch wenig Aufregendes gebracht hat. Ein Schelm, wer an die Angela denkt…

Nein, ernsthaft: Es ging bergauf, Sicherheit, zumindest die gefühlte Sicherheit, stand ob auf der Agenda. Und diese damals noch gefühlte Sicherheit wankt, an allen Ecken und Enden.

Das sind wir hier im globalen Norden in dieser Intensität nicht gewohnt. Entsprechend gespannt bin ich, wo es sich hinentwickelt.

Für das Sozialwesen bedeutet wirtschaftliches Wachstum und Stabilität natürlich auch (im Groben) „ruhige(re) Zeiten“, die sich schon jetzt und zukünftig weiter verändern werden.

Fazit Part II: New Social Work Zwischenbilanz und der Blick zurück

Puh, alles ganz schön komplex und an den wenigsten Stellen auch nur ansatzweise zu Ende diskutiert. Aber ich hoffe, einen kleinen Einblick in meine Gedankenwelt gegeben zu haben.

Spannend ist für mich jetzt die Frage, wie sich Deine Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit, im Blick zurück und über die letzten 10 Jahre verändert hat?

Wo hast Du im Rückblick Verbesserungen erlebt? Wo ist es nicht besser geworden?

Ich würde mich riesig freuen, wenn Du unter diesem Link hier Deine Rückmeldung zum Blick zurück, zum Status Quo und zu einer wünschenswerten Zukunft teilen würdest… Die ersten Rückmeldungen trudeln über den Link bereits ein!

Danke dafür schon jetzt!

Quellen:

  • Bergmann, F. (2004): Neue Arbeit, Neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, 2016): Bundesteilhabegesetz verabschiedet. URL: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2016/bthg-verabschiedet.html. Download am 30.05.2023.
  • Kühl, S. (2022): Managementmoden – Wie man unsicheres in sicheres Wissen verwandelt. URL: https://versus-online-magazine.com/de/kolumne/stefan-kuehl/managementmoden/ . Download am 30.05.2023.
  • Matthiesen, K., Muster, J., Laudenbach, P. (2022): Die Humanisierung der Organisation. Wie man den Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. München: Verlag Franz Vahlen.