In den letzten Wochen und Monaten habe ich in verschiedenen Veranstaltungen die Frage behandelt: Wie gelingt Führung sozialer Organisationen? Hinzu kamen aktuell Ergänzungen wie „in der Krise“ oder „digitale Führung“ oder ähnliches. Alle Veranstaltungen waren (aus meiner Sicht zumindest) sehr zufriedenstellend: Wir konnten gemeinsam Führung reflektieren, Herausforderungen für die jeweiligen Organisationen ansprechen und konkrete Stolpersteine und Möglichkeiten eruieren. Und ja: Das geht auch digital (auch wenn der Fokus der Videokonferenzen echt zehrt).
Was ist direkte und indirekte Führung?
Bei allen Veranstaltungen habe ich – mehr oder weniger – vorausgesetzt, dass klar ist, was Führung ist. Ein Definition vorab habe ich nicht geliefert, vielleicht auch aus dem eigenen Unvermögen, mal eben so benennen zu können, was Führung genau ist. Kannst Du Führung aus dem Stand definieren?
Das ist tatsächlich gar nicht einfach, denn – so schreibt auch Michael Herzka in dem lesenswerten Buch „Führung im Widerspruch – Management in sozialen Organisationen“:
„Jede Definition von Führung baut bereits auf einem Vorverständnis auf, es liegen ihr Annahmen zu Grunde bezüglich bestimmter Situationen, den beteiligten Personen und ihrer Beziehungen sowie den Ursachen und Wirkungen ihres Handelns.“ ( 25).
Damit man jedoch nicht im Unklaren bleibt und Führung oder „Leadership“ zu einem „Flutschbegriff“ wird (man redet drüber, alle fühlen sich wohl und können was sagen, aber konkret wird es nie), ist zunächst zwischen direkter und indirekter Führung zu unterscheiden:
Direkte Führung lässt sich als „Menschenführung“ von indirekter Führung als die „nicht unmittelbar mit interpersoneller Kommunikation verbundene Gestaltung von Rahmenbedingungen durch strategische Setzungen, Schaffung von Strukturen und Abläufen, explizite Festlegung geltender Normen und Werte etc.“ (ebd., 26) unterscheiden.
Einfacher kann man auch zwischen Führung (Menschenführung, Leadership, direkter Führung) und Management (indirekter Führung) unterscheiden.
Entscheidend ist, was Führungskräfte tun…
Die Unterscheidung von Führung und Management ist recht einfach. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, was Führungskräfte konkret tun. Ich will hier auch gar nicht in die Tiefe gehen und dies genau erläutern, sondern mich auf den Aspekt der Entscheidung fokussieren: Führungskräfte entscheiden. Das klingt wiederum etwas verkürzt, ist es sicherlich auch, macht aber zumindest eine wesentliche Aufgabe deutlich. Man kann sogar noch weiter gehen:
„Entscheidung ist das spezifische Mittel von Organisationen, sich zu organisieren“
(Lambers, 2016, 32).
Und auch die Transformation bestehender Organisationen hin zu sog. „selbstorganisierten Organisationen“, „kollegial geführten Organisationen“, „demokratischen Organisationen“ oder wie auch immer die angeblich neuen Management-Modelle genannt werden setzt eine Entscheidung – durch Führungskräfte – voraus. So beschreibt bspw. Laloux (2014) zwei wesentliche Voraussetzungen, um eine existierende Organisation hin zu einer selbstgesteuerten Organisation zu transformieren:
„1. Does the CEO “get it?” Does she see the world through Teal lenses? Is he personally excited about the idea of running the organization based on Teal principles?
2. Do the members of the board “get it” and support it?“
Laloux, 2014, 268
Diese Voraussetzungen sind mit Blick auf formal-hierarchisch strukturierte Organisationen nicht verwunderlich: Die oberste Führungsebene hat ganz einfach die Macht, entsprechende Prozesse zu ermöglichen oder auch zu unterbinden. Damit bleiben bottom-up Initiativen wichtig. Diese sollten sich jedoch bewusst sein, dass sie erst einmal nur „geduldet“ werden.
Führung zwischen Schuld und Hoffnung: Bedingungen von Entscheidungen
Zu welchem Zweck werden jedoch Führungsentscheidungen getroffen? Oftmals ist festzustellen, dass die Vorstellung – in der Öffentlichkeit und auch bei den Führungskräften selbst – überwiegt, dass es mit gutem Führungshandeln gelingt, „die Dinge in den Griff“ zu bekommen. Es werden neue Führungskräfte eingestellt, die den „Karren aus dem Dreck“ ziehen sollen. Ähnlich ist es mit Trainer*innen im Fussball.
Die Vorstellung, als Führungskraft die Dinge im Griff zu haben, bekommt jedoch sofort Risse, wenn eigene Erfahrungen in sozialen Systemen hinzugezogen werden: Zwar treffe ich Entscheidungen. Diese haben auch Auswirkungen. Sie haben jedoch beileibe nicht immer die erwünschten Ergebnisse und Auswirkungen (Eltern mit Kindern kennen dies…). Gleichzeitig – und damit komme ich zum ersten Begriff – habe ich natürlich die Hoffnung, dass meine Entscheidungen die gewünschten Ergebnisse haben.
Führung ist Hoffnung
Hoffnung lässt sich als zuversichtliche innerliche Ausrichtung definieren, gepaart mit einer positiven Erwartungshaltung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht (vgl. wikipedia).
Kommt Dir bekannt vor, oder? Ohne Deine mehr oder weniger zuversichtliche innerliche Ausrichtung hättest Du wahrscheinlich den Job nicht angeboten bekommen. Das ist also die Grundvoraussetzung 😉
Und dann triffst Du Entscheidungen natürlich basierend auf der positiven Erwartungshaltung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird. Sonst würdest Du nicht agieren, nicht handeln. Schwierig wird es eigentlich erst beim letzten Teil:
Wirkliche Gewissheit, dass das eintritt, was Du durch die Entscheidung beabsichtigt hast, hast Du nicht. Dein, bzw. allgemeiner formuliert, das Führungshandeln wird zu hoffnungsvollen Impulsen in das soziale System Organisation. Hoffnungsfroh formuliert versucht Führung somit, Bedingungen zu schaffen, damit die Selbstorganisationsfähigkeit der Organisation gesteigert wird (vgl. Herzka, 2013, 41). Der oftmals vorherrschende Steuerungsoptimismus bekommt damit einige Dellen. Gleichzeitig wird jedoch klarer, wo die eigenen Möglichkeiten und Grenzen sind.
Hoffnung zeigt sich darüber hinaus auch noch in der Frage wirkungsvoller Entscheidungen für eine zeitgemäße Organisationsgestaltung. Hier ist die Aussage von Ruth Seliger bezeichnend, die den Versuch, die eigene Organisation zu gestalten, als Entscheidungen definiert, die darauf ausgerichtet sind, „ein lebendiges System in eine gewünschte Richtung zu verführen“ (Seliger, 2013, 84).
Gelingende Ver-Führung geht immer mit der Hoffnung einher, erfolgreich zusein mit der Chance, scheitern zu können.
Führung ist Schuld
Wenn Führung wie dargelegt als hoffnungsvoller Impuls verstanden werden kann, die Selbstorganisationsfähigkeit der Organisation zu steigern, machen sich Führungskräfte – sofern sie sich dessen bewusst sind, in ihren Entscheidungen immer schuldig.
Schuld ist ein harter Begriff, aber auch hier lohnt sich der Blick in Wikipedia, wobei natürlich zu betonen ist, dass der Begriff „Schuld“ in verschiedensten Zusammenhängen verwendet wird, wodurch eine Definition immer den Kontext betrachten muss.
Aus einer ethischen Perspektive kann Schuld die „Verletzung wohlverstandener Interessen anderer“ bedeuten (vgl. wikipedia).
Die Interessen anderer sind im Kontext von direkter Führung vornehmlich die Interessen der eigenen Mitarbeiter*innen. Diese haben gegenüber der Organisation und der Führung bestimmte Interessen: So haben die Mitarbeiter*innen bspw. das Interesse, dass ihre Organisation auch nach der Corona-Pandemie weiter besteht, sie ihren Arbeitsplatz behalten, Geld für ihre Familie bekommen, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen uvm.
Führung soll – so zumindest die Erwartung der Mitarbeiter*innen – diese Interessen vertreten, umsetzen, schützen etc. Denn sonst bräuchte es Führung nicht: Wenn die Mitarbeiter*innen ausschließlich selbst für die strategische Ausrichtung, die Sicherstellung der Auftragslage, die Arbeit an der Organisation etc. zuständig wären, verlöre Führung ihre Existenzberechtigung. Entsprechend ist Führung (auch) Interessenvertretung der Mitarbeiter *innen.
Sind sich Führungskräfte jedoch den beschriebenen Einschränkungen hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Entscheidungen in sozialen Systemen bewusst und agieren trotzdem so, als hätten sie den Laden im Griff, machen sie sich schuldig: Sie handeln wider besseren Wissens gegen die Interessen der Mitarbeiter *innen.
An dieser Stelle lassen sich sicherlich noch weitere Ausführungen zu Schuldgefühlen im Führungsalltag machen, aber das würde den ohnehin zu langen Beitrag dann doch sprengen…
Und dann sind Führungskräfte sowieso immer an allem schuld… 😉
Unternehmertum, Selbstorganisation und Menschlichkeit: Führung zwischen Schuld und Hoffnung
Das ist ja alles schön und gut, aber was folgt aus der Festellung, dass sich Führung zwischen den Spannungsfeldern Hoffnung und Schuld abspielt? Für mich sind insbesondere die Aspekte Unternehmertum, Selbstorganisation und Menschlichkeit in den Blick zu nehmen.
Unternehmertum
Oben habe ich kurz angesprochen, dass nicht erfüllte Hoffnung auch als Scheitern gewertet werden kann: Wenn meine mit einer Entscheidungen verbundenen Hoffnungen nicht erfüllt werden, bin ich nicht „erfolgreich“ im Sinne der Durchsetzung meiner Ideen und Pläne. Relevant ist jedoch, dass ich Entscheidungen getroffen habe und damit den Versuch unternommen habe, etwas – hoffentlich (da ist es wieder) – zum Besseren zu verändern. Ich habe den Versuch unternommen, bin also aktiv geworden, um ein real existierendes Problem, eine Spannung, zu lösen. Und das ist wohl die einfachste (und beileibe nicht die schlechteste) Definition von Unternehmertum.
Übrigens hat das aktuelle BrandEins Magazin den Schwerpunkt „Unternehmertum“, in dem Wolf Lotter sehr zutreffend schreibt, dass Unternehmer *innen „Entscheider, Erneuerer, Entdecker [sind]. Nichts brauchen wir heute mehr als das.“ Oder kurz:
Unternimm als Führungskraft trotz aller damit verbundenen Herausforderungen hoffnungsvoll etwas, um die Zukunft zu gestalten. Damit kannst Du Dich natürlich schuldig machen, da Du in dem Wissen handelst, dass es auch schief gehen kann.
Selbstorganisation
Übrigens: Das gilt nicht nur für Führungskräfte oder „Selbständige“, sondern für jeden Menschen, der aktiv dazu beiträgt, dass wie auch immer geartete Probleme – auch innerhalb einer Organisation – angegangen werden.
Unternehmertum gelingt jedoch deutlich besser unter Bedingungen, die Selbstorganisation zulassen. Wir können uns in den Organisationen doch nicht auf der einen Seite darüber beklagen, dass die Menschen keine Verantwortung übernehmen wollen und ihnen auf der anderen Seite – überspitzt formuliert – durch Regeln und Vorgaben, Mikromanagement und Kontrollwahn jegliche Eigenverantwortung absprechen. Entsprechend gilt es, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Selbstorganisation im Sinne der Organisation zielführend gelingen kann. Wiederum kann niemand sagen, dass die getroffenen Entscheidungen auf jeden Fall zum gewünschten Ergebnis führen. Aber im Sinne der Impulse in bestehende Systeme macht es Sinn, die Hoffnung zu haben, dass sich das System selbststeuernd in die gewünschte Richtung entwickelt, oder kurz:
Führe so, dass die Selbstorganisationsfähigkeit der eigenen Organisation steigt. Das muss nicht gelingen, kann aber.
Menschlichkeit
Selbstorganisation wiederum gelingt, wenn Menschen autonom und selbstbestimmt handeln können. Der Antrieb, autonom und selbstbestimmt handeln zu wollen ist angelegt in jedem Menschen. Allein die Wandlung des unter Eltern häufig gebrauchten Begriffs „Trotzphase“ in die „Autonomiephase“ wendet das Verhalten des Kindes an der Kasse positiv: Es strebt danach, autonom und selbstbestimmt handeln zu wollen.
Das funktioniert solange, bis es – und auch hier wieder überspitzt – in das staatliche Schul- oder längerfristig Bildungssystem eintritt. Leider bestätigen sich für mich mit Blick auf das Schulsystem in Zeiten der Corona-Krise meine diesbezüglichen Befürchtungen: Neben dem, dass sich Schulen aus verschiedenen Gründen mit der Digitalisierung schwertun höre ich in Gesprächen mit befreundeten Lehrer*innen, dass die Schulen jetzt daran arbeiten (müssen – sie sind leider nicht autonom in ihren Entscheidungen), den „versäumten Stoff nachzuholen“ bzw. in den Kopp zu kloppen, wie man im Sauerland sagen würde. Diese Vorstellung von Lernen und Entwicklung ist das einfache Gegenteil von Autonomie und Selbstbestimmung und angesichts der Notwendigkeit, den Laden wieder ans (positive) Laufen zu bekommen, tödlich: Wir brauchen autonom und selbstbestimmt handelnde Menschen, jetzt mehr denn je. Hier sei nur noch abschließend wieder auf die Definition für Soziale Arbeit verwiesen. Darin steht im ersten Satz: „Soziale Arbeit fördert (…) die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“ Das lässt sich als Führungsgrundsatz umdeuten, oder kurz:
Führe so, dass Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen gefördert werden.
Ich habe die Hoffnung (das war ja das Thema), dass wir das gut hinbekommen…
Ein paar Fragen:
Wie gelingt Dir die Reflexion Deiner Führungsarbeit? Welche Tools und Methoden nutzt Du? Und hast Du schon mal was von Management-Innovation gehört?
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