Schlagwort: soziale arbeit

Fünf Thesen zur Zukunft sozialer Organisationen in Zeiten des Wandels

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Der Beitrag ist die Verschriftlichung eines Impulses, den ich vor Kurzem in einer sozialen Organisation halten durfte. Auftrag war, einen größeren Blick auf die Entwicklungen der Sozialwirtschaft zu geben und meine Gedanken rund um die Zukunft sozialer Organisationen darzulegen. Ziel war, mit dem Impuls Anregungen für die Strategiearbeit der Organisation zu liefern.

Aber wo fängt man an? Wo, an welcher Stelle, ist es sinnvoll, zu überlegen, was Optionen sind, wie sich soziale Organisationen entwickeln können?

Ich habe hier den klassischen Weg gewählt und lege im ersten Schritt kurz da, wozu soziale Organisationen aus meiner Perspektive da sein sollen – was ihr Zweck ist. Davon ausgehend werden dann Überlegungen angestellt, welche Implikationen dies für die strategische Ausrichtung haben kann.

Wozu sind soziale Organisationen da?

Dazu hilft die Befassung mit der Definition Sozialer Arbeit. Diese ist in meinen Augen beinahe zeitlos und dient mir immer wieder als Anker, um auf dem Boden zu bleiben und gleichzeitig die Zukunft sozialer Organisationen in den Blick nehmen zu können:

„Soziale Arbeit fördert (als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin) gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (hier geht’s zur Definition).

Der erste Satz macht die Breite Sozialer Arbeit zwischen Mensch und Gesellschaft deutlich. Und bezogen auf beide Perspektiven wird betont, dass es um Förderung geht – zum einen die Förderung gesellschaftlicher Veränderungen, sozialer Entwicklungen und des sozialen Zusammenhalts und zum anderen die Förderung bzw. Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.

In der Definition heißt es, dass dazu „Strukturen eingebunden“ werden. Das sind die Organisationen, Institutionen, Einrichtungen ebenso wie Hochschulen, Verbände und und und.

Soweit, so einfach.

Wobei – die Realität zeigt, dass es eben gar nicht so einfach ist. Denn beide Perspektiven erfordern immer den Blick in die Zukunft:

  • Was braucht denn unsere Klientel heute und in Zukunft, damit es uns als Organisation gelingt, die Selbstbestimmung und Autonomie zu fördern?
  • Und was braucht die Gesellschaft (in unserem Sozialraum) heute und morgen, zu dem wir als Organisation einen essentiellen Beitrag leisten können?

Um das herauszubekommen komme ich zu meiner ersten These:

These 1: Datenkompetenz mehr als Bauchentscheidungen

Da ich kein Datenkompetenzprofi bin, habe ich mir bei Sebastian Unterstützung geholt. Entsprechend sind die folgenden Ausführungen eine Zusammenfassung seines mehr als lesenswerten Beitrags „Datenkompetenz in der Sozialen Arbeit und Sozialwirtschaft“.

In jeder sozialen Organisation fallen enorm viele Daten an. Darunter sind Daten über die Nutzer:innen der Dienstleistungen, Daten über die Mitarbeiter:innen, Daten über die Verweildauer von Klienten in Maßnahmen, Finanzdaten und und und…

Durch die Analyse der in der Organisation vorhandenen Daten können Anhaltspunkte herausgearbeitet werden, um festzustellen, wie gut bestimmte Angebote funktionieren und wo möglicherweise noch Optimierungspotenzial besteht.

Aus den Daten und der Analyse der Daten lässt sich ferner langfristig ein Wissensmanagement aufbauen, das dabei unterstützt, potenzielle Nutzer:innen gezielt zu den für sie am besten geeigneten Angeboten zu lenken. Darüber hinaus ist es angesichts des demografischen Wandels unabdingbar, Wissen, vor allem aber Kompetenzen der Mitarbeiter:innen systematisch zu erfassen und zu sichern, um so dem „brain drain“ vorzubeugen.

Achtung, Werbung: Zur Frage, wie der Aufbau eines sinnvollen Wissensmanagements gelingen kann, habe ich einen Workshop gestaltet.

Neben diesen Aspekt kann die systematische Datenanalyse ebenso Ergebnisse für die politische Lobbyarbeit liefern. So kann die Auswertung von Beratungs- oder Belegungsdaten beispielsweise zeigen, ob bestimmte soziale Probleme im Sozialraum auftreten.

Aus organisationaler Perspektive hochgradig relevant sind systematisch zur Verfügung gestellte und ausgewertete Daten für die interne Entscheidungsfindung innerhalb einer Organisation. Diese basiert zu häufig auf Intuition und dem berühmten, sehr wichtigen, zukünftig aber nicht mehr ausreichenden Bauchgefühl.

Und Sebastian weist auch darauf hin, dass Daten aus der eigenen Organisation als Grundlage für (eigene) KI-Lösungen sein können (hierzu sind vertiefend die Ausführungen im Blog von Emily immer mehr als lesenswert).

Die (nicht abschließenden) Beispiele zeigen auf, dass und welches Potenzial in einem systematischen Datenmanagement und der Datenanalyse stecken.

Sebastian betont, dass die Daten Informationen für eine Entscheidung liefern, die Entscheidung selbst aber immer die Fachkräfte und Mitarbeitenden in den Organisationen treffen. Der Mensch fällt somit durch die Daten nicht raus, im Gegenteil. Es braucht jedoch die Kompetenz, mit Daten angemessen umzugehen.

Dazu noch ein eigener Gedanke, der den Blick weitet und nicht mehr nur die digital zur Verfügung stehenden Daten betrachtet:

Wenn es gelingt, statt nach dem „Warum“ zu fragen, die Frage in den Vordergrund zu rücken „Woran erkennen wir, dass…?“, basieren unsere Entscheidungen ebenfalls auf Daten. Das sind dann zwar keine digitalen, aber genauso hilfreiche Daten, die in Entscheidungsfindungen leiten können. Methodisch hilfreich ist die regelmäßige Durchführung von Retrospektiven, die auf die Gewinnung und Bewertung von nicht nur digitalen Daten großen Wert legen.

Basierend auf den politischen Rahmenbedingungen ebenso wie basierend auf den gesellschaftlichen Entwicklungen, den Kürzungen der Sozialkassen und insbesondere dem demographischen Wandel werden sich Soziale Organisationen neben der datenbasierten Wirkungsmessung aber auch für „Weniger“ entscheiden müssen.

Ich fasse dieses „Weniger“ unter dem Begriff der Exnovation und komme damit zur zweiten These.

These 2: Exnovation mehr als Innovation

Wir müssen realistisch sein:

Der Fachkräftemangel in Verbindung mit der wirtschaftlichen Situation der Leistungsträger zwingt soziale Organisationen in die Notwendigkeit, abzuwägen, welche Angebote und Arbeitsfelder zukünftig noch sinnvoll bewirtschaftet werden können.

Berichte von schließenden bzw. aufgrund von Fachkräftemangel nicht öffnenden Altenhilfeeinrichtungen, die ganze Wohlfahrtsverbände in finanzielle Schieflagen bringen, sind ebenso an der Tagesordnung, wie der Ausbaustop der Kinderbetreuung. Wir stehen an dem Punkt, dass es in vielen Arbeitsfeldern keine ausreichende Anzahl an Fach- und leider auch nicht mehr an Arbeitskräften gibt.

Entsprechend wird die Zukunft sozialer Organisationen (auch) darin bestehen, abwägen zu müssen, welche Angebote und Dienstleistungen sie zukünftig noch erbringen werden. Die Nutzung von Daten zur Wirkungsmessung (These 1) kann hier wertvolle Dienste leisten.

Wichtig ist aber auch, dass sich Exnovation (hier findest Du nähere Ausführungen zum Begriff der Exnovation) nicht nur auf die Angebotsstrukturen der Organisationen bezieht.

Exnovation bezieht sich auch auf die interne Perspektive. Konkret geht es immer auch um die Frage, ob nicht auch die internen Prozesse, Abläufe, Hierarchien, Abteilungen… und damit die Formalstruktur der Organisation hinterfragt und hinsichtlich der Frage ihrer Funktionalität entschlackt werden muss.

Neben der Frage, welche Angebote eingestellt werden müssen, stellt sich in der dritten These explizit die Frage, welche Regeln und Prozesse funktional sind.

These 3: Funktionale Formalisierung mehr als die Hoffnung auf Eigenverantwortung

Zu dieser These ist einführend zu erwähnen, dass ich hier aus systemtheoretischer Perspektive auf die Frage schaue, was in Organisationen bewusst gestaltet werden kann.

Bewusst gestaltet werden kann die Formalstruktur der Organisation. So macht es aus meiner Perspektive keinen Sinn, an die Haltung der Mitarbeiter:innen oder die Kultur der Organisation zu appellieren.

Unter der Formalstruktur ist zu verstehen, dass bewusste Entscheidungen getroffen werden können über die Ziele und Zwecke der Organisation, über die Zuständigkeiten und formalen Hierarchien, über Regeln und Prozesse und über das Personal.

Das Personal ist insofern relevant, da es für zukünftige Entscheidungen in der Organisationen einen großen Unterschied macht, wer welche Stelle bzw. Rolle in der Organisation einnimmt.

Da es jedoch zunehmend weniger Fach- und Arbeitskräfte gibt, werden wir zunehmend mit Menschen arbeiten müssen, die nicht über die von uns gewünschte Qualifikation verfügen.

Hinzu kommt, dass auch weiterhin neue Fachkraftstellen besetzt werden müssen (staatliche Anerkennung in der Sozialen Arbeit). Hier können wir aber nicht mehr aus einem großen, intrinsisch motivierten Pool an Bewerber:innen auswählen.

Da somit die Möglichkeit verringert wird, die Entscheidungen in der Organisation über das Personal im für die Organisation gewünschten Sinne zu beeinflussen, muss ein stärkerer Fokus auf die funktionale Gestaltung von Zuständigkeiten ebenso wie auf die funktionale Gestaltung von Regeln und Prozessen gelegt werden.

Funktional bedeutet dabei, genau abzuwägen, an welcher Stelle in der Organisation und den Teams mehr Regeln und Vorgaben funktional sind und welche Regeln und Vorgaben auch überflüssig sind.

In meinen Augen brauchen wir mehr Regeln und Vorgaben, die sich auf das „Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit beziehen: Wie treffen wir Entscheidungen? Wie gestalten wir unsere Teamsitzungen? Wie werden welche Prozesse erledigt? Wie regeln wir die Zuständigkeiten? Wie erfolgt die Dienstplanung?

Dabei geht es um die Notwendigkeit, die formale Seite der Organisation zu stärken um der in sozialen Organisationen dominierenden Informalität entgegenzuwirken – aber so, dass es für die Organisation funktional ist!

Die Entscheidungen über die Formalstruktur werden jedoch von Führungskräften getroffen. Entsprechend gilt es zunehmend, ein Augenmerk auf die Aus- und Weiterbildung von Führungskräften zu legen, um deren Organisationsbewusstsein zu stärken und eine Abkehr vom reinen Blick auf den Menschen zugunsten des Blicks auf die Verhältnisse im sozialen System Organisation zu erreichen.

Entscheidungen in sozialen Organisationen werden jedoch in den seltensten Fällen eindeutig zu treffen sein. Dazu These 4:

These 4: Dilemmatamanagement mehr als die Suche nach Eindeutigkeit

Es ist wohl wenig überraschend, dass sich insbesondere Organisationen der Sozialwirtschaft zunehmend mit gegensätzlichen und damit paradoxen Anforderungen konfrontiert sehen. Übergreifend zeigt sich das bspw. in dem Zwang, ihre Komplexität gleichzeitig zu steigern und zu reduzieren, kreatives Chaos ebenso wie Ordnung zu organisieren und gleichzeitig flexibel und stabil zu sein.

An allen Ecken und Enden sehen wir, dass es gelingen soll, einerseits Wandel zu initiieren und zu fördern und andererseits Sicherheit und die notwendige Stabilität (nicht nur) in Veränderungsprozessen zu garantieren.

Für Organisationen der Sozialwirtschaft kommt hinzu, dass es die Spannungen zwischen personenbezogenen und strukturbezogenen Leitungsimpulsen ebenso wie zwischen der Orientierung an den Mitarbeitenden und an den Aufgaben und außerdem an den sachlichen Zielen der Organisation gibt.

Wenn der Fachkräftemangel in den Blick genommen wird, gilt es einerseits, Vertrauen in die Bereitschaft der Mitarbeitenden zur Leistung und in ihre Kompetenz zu haben und gleichzeitig die zunehmend notwendige Kontrolle nicht aus den Augen zu verlieren.

In Organisationen der Sozialwirtschaft ist auf der einen Seite die Offenheit und Flexibilität bei Einzelentscheidungen hochgradig relevant, steht aber im Spannungsverhältnis zur Begrenzung der Komplexität möglicher Entscheidungen durch die „Vorgabe von Orientierungen/Richtungen für Wahrnehmung/Interpretation/Entscheidungen“ auf der anderen Seite (vgl. Merchel, 2015, S. 285 f).

Das ist soweit alles bekannt und tagtäglich erlebbar. Schwieriger ist da die Frage, wie man mit den Dilemmata in Organisationen der Sozialwirtschaft umgehen kann.

Grunwald (Grunwald, 2022, 98) schlägt dazu „einen die Pole ausbalancierenden und von Lernprozessen geprägten Umgang mit dem Grunddilemma ‚offene versus geschlossene Organisationsformen‘“ vor .

Führungskräften in sozialen Einrichtungen muss es gelingen, „allgemeine und diffuse Paradoxien und Widersprüche der Organisation zu überführen in formulier- und greifbare Spannungsfelder und Dilemmata“ (ebd.) und diese „nicht als Hemmschuh zu begreifen, dem mit psychologischen und sozialpsychologischen Methoden beizukommen ist, sondern sie als einen möglichen Motor von Wandel in Organisationen zu begreifen. Dilemmata sind Hinweise auf nicht auflösbare Widersprüche (…), die nicht standardisierte Kommunikation notwendig machen; Kommunikationen, die für die Entwicklung von Organisationen genutzt werden können“ (Kühl, 2015, 125ff).

Klingt auch einleuchtender, als die Umsetzung in der Realität einfach ist. Hilfreich und konkreter ist eine Auseinandersetzung mit den Dilemmata über das Tetralemma. Darunter ist ein Modell zu verstehen, das zur Reflexion von Konflikten und Ambivalenzen entwickelt wurde und auch zur Entscheidungsfindung hilfreich sein kann.

„Die Struktur des Modells lässt sich zunächst in vier Positionen darstellen:

  • Das Eine – die eine Seite der Ambivalenz bzw. die eine Option oder Perspektive.
  • Das Andere – die andere Seite der Ambivalenz bzw. die andere Option oder Perspektive.
  • Beides – die bisher möglicherweise übersehenen Verbindungen oder Vereinbarkeiten zwischen dem Einen oder dem Anderen.
  • Keines von Beiden – die bisher möglicherweise übersehenen Kontexte, die das Eine und das Andere auch noch tangieren, bedingen oder möglicherweise erst verursachen; worum es bei dem Einen und dem Anderen eben auch noch gehen könnte.“ (Kleve, Tetralemma)

Hinzu kommt eine weitere, fünfte Ebene:

  • „… all dies nicht – und selbst das nicht“ – die Negation der bisherigen vier Positionen sowie die Negation dieser Negation bzw. etwas ganz Anderes.

Kleve schreibt, dass die fünf Positionen des Tetralemmas „als Etappen eines Prozesses bzw. einer Wanderung zu verstehen [sind]: Man kann sie bei Ambivalenzen oder Konfliktsituationen durchlaufen, um auf dem Weg auf Neues, neue Perspektiven oder Optionen, zu stoßen“ (ebd.).

These 5: Organisationale Resilienz mehr als kurzfristige Anpassungsfähigkeit

Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag zum Thema „organisationale Resilienz“ verfasst. Ich darf die in dem Beitrag zusammenfassenden Aspekte – soviel kann schon hier verraten werden – weiter ausbauen und zu einem die organisationale Resilienz kritisch betrachtenden Buchbeitrag ausweiten.

Im Zuge der Vorbereitung des Beitrags habe ich in den letzten Wochen viel zum Thema organisationale Resilienz gelesen, habe Podcasts gehört und mich in das Thema tiefer eingearbeitet.

Dabei sind mir – bislang – vor allem zwei spannende Gedanken über den Weg gelaufen:

Der erste Gedanke wird durch den Satz „If you’re old, you’re not dead!“ gut zusammengefasst.

Ja, da kann man schmunzeln und sich freuen. Man kann den Blick aber auch auf viele seit Jahren, Jahrzehnten und teilweise Jahrhunderten existierende soziale Organisationen richten.

Viele dieser Organisationen wirken auf den ersten Blick alles andere als hip, agil, modern oder post-bürokratisch. Aber – und das ist der relevante Punkt – sie sind nicht tot! Sie existieren trotz aller Umbrüche, historischen Entwicklungen, Krisen und Veränderungen.

Wenn wir an dieser Stelle unser Narrative ändern, weg von den jungen, hippen Unternehmen, die wir doch so gerne sein bzw. in denen wir doch so gerne arbeiten würden, hin zu den Stärken, zur Resilienz der „Tanker“ der Sozialwirtschaft, kann es gelingen, Zukunft positiv zu gestalten.

Ja, da sind Büros ohne Kickertische. Aber soziale Organisationen brauchen (in vielen Fällen) keine hippen Büros, da Soziale Arbeit bei und mit den Menschen stattfindet. Anders gesagt (und nicht ganz ernst gemeint) sind die muffigen Büros vielleicht sogar funktional, damit die Sozialarbeitenden nicht zu viel Zeit darin, sondern bei den Menschen vor Ort verbringen, für die sie Verantwortung tragen (und nein, dass ist kein Plädoyer für dauerndes Sparen an allem).

Und der zweite Gedanke bezieht sich auf das Krisen-Training. So erlangen Menschen ebenso wie Organisationen Resilienz nicht in der Krise, sondern im Training vor der Krise.

Nur vor der Krise können Organisationen resilient aufgestellt werden. Was das im Detail heißen kann (es gibt sogar eine eigene ISO-Norm für organisationale Resilienz), habe ich im Beitrag zum Thema dargelegt.

In der Krise jedoch gilt Krisenmodus. Das ist wie beim Fußball – auch da kann man vorher trainieren, nicht jedoch im Spiel.

Angesichts der gesellschaftlichen Spaltungen, der massiven Auswirkungen durch den Klimawandel, der unglaublich schnellen technologischen Entwicklungen und, und, und, wird eines sicher sein:

Krisen werden – auch in und für soziale Organisationen – zu Normalität.

Aber auch hier wieder: Krise selbst ist für soziale Organisationen alles andere als neu. Man kann sogar sagen, dass Krise das Geschäftsmodell sozialer Organisationen ist. Stabilität und Wandel – siehe Dilemmatamanagement – ist und war schon immer Alltag sozialer Organisationen.

Anstatt also im Jammermodus zu verharren, sind jetzt, heute Anstrengungen zu unternehmen, die eigene Organisation bzw. konkreter die Formalstrukturen der eigenen Organisation weiterzuentwickeln und resilient zu gestalten. Hier ist – so mein Eindruck – noch Luft nach oben.

Fazit zur Zukunft sozialer Organisationen, oder: Kraft und soziale Energie

Zum Anfang vom Ende ein Zitat vom Godfather of New Work – Bergmann. Dieser schrieb 2004:

„Nicht wir sollten der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte uns dienen. Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden.“

Arbeit sollte Kraft und Energie verleihen.

Angesichts der ständigen Krisen, die – wie hier erläutert – insbesondere die Soziale Arbeit an die Belastungsgrenze und darüber hinaus bringt, ist das leichter gesagt als getan.

Und trotzdem sollte es Ziel sein.

Es sollte bei aller Effizienz und Digitalisierung immer die Frage im Hinterkopf mitschwingen, wie es gelingen kann, Arbeit allgemein, Soziale Arbeit im Speziellen und soziale Organisationen im Besonderen so zu gestalten, dass sie Menschen mehr Energie gibt als nimmt.

Passend dazu schreibt Hartmut Rosa in der Zeit vom 11. Januar 2024 von der „sozialen Energie“.

Er stellt die Frage, wie es sein kann, dass wir, freitagsabends, fertig von einer langen Woche, Energie aufbringen, uns vom Sofa quälen, rausgehen und mit mehr Energie nach Hause kommen? „Anstrengung führt zu Energiegewinn!“ Das ist seltsam:

Wir müssen Energie aufbringen, wir müssen uns anstrengen, um Energie zu gewinnen. Das widerspricht dem inneren Schweinehund ebenso wie jeder physikalischen Energielogik.

Die seltsame Logik funktioniert jedoch nur bei sozialer Energie! Und sie funktioniert nicht, wenn es um das Abarbeiten von To-Do-Listen, wenn es um reine „Input-Output-Beziehungen“ geht.

Übertragen auf Arbeit, die Kraft und Energie verleiht, übertragen auf Soziale Arbeit in sozialen Organisationen, ergeben sich daraus viele Fragen.

So kennt wohl jede:r in dem hochgradig herausfordernden Berufsfeld das „Ausgelaugtsein“ (siehe Beitrag hier) nach einem Tag mit fordernden Klient:innen. Nach einem Tag massiver Kommunikation ruft die Ruhe doppelt laut. Im Extrem lässt sich auf die Burn-Out-Raten unserer Branche blicken, die – so bspw. der jährlich erscheinende AOK-Fehlzeitenreport – nicht nur Jahr für Jahr an der Spitze der Statistik liegen, sondern in den letzten Jahren nochmals massiv gestiegen sind.

Dieses „Ausgelaugtsein“ ruft aber auch, wenn man den ganzen Tag gerödelt hat und am Ende des Tages das Gefühl hat, keine Zeit mehr und trotzdem nichts „geschafft“ zu haben – Input-Output. Bürokratie, ick hör‘ Dir trapsen!

Parallel zu diesen Gedanken lese ich meinem Sohn gerade – wieder einmal – Momo vor.

Und logo, darin kommt Beppo mit seinem berühmten Straßenfeger-Zitat vor:

„Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Oder mit den Worten von Rosa:

„Anstrengung führt zu Energiegewinn, wenn ihr subjektiver Fokus auf der Tätigkeit selbst, auf dem „Throughput“ liegt, und sie führt zu Erschöpfung, wenn er auf der Input-Output Beziehung ruht.“

Wie aber können wir unser individuelles Leben, unsere Arbeit, soziale Organisationen und übergreifend eine Gesellschaft gestalten, die (wieder?) wegkommt vom „Input-Output“ hin zum „throughput“?

Dieser Blick auf Soziale Arbeit und die Zukunft sozialer Organisationen wird, angesichts der sich stapelnden Krisen der Welt, für uns alle wichtig werden.

Für die Menschen aber, die sich um andere Menschen kümmern, wird er überlebenswichtig.


Ich hoffe, dass meine Gedanken zu den Thesen hilfreich sein können, strategisch zu denken und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Sie sind und können aber nur Orientierung sein. Und vor allem:

Es sind meine Perspektiven auf die aktuelle Situation sozialer Organisation, in meinem Kopf konstruiert, basierend auf meinen aktuellen Erfahrungen. Entsprechend gespannt bin ich auf Deine – vielleicht unterstützenden, vielleicht aber auch konträren – Gedanken hierzu.

Daraus ergibt sich dann ein breiteres Bild, das dabei helfen kann, die Sozialwirtschaft, die sozialen Organisationen und die darin agierenden Menschen für die anstehenden Herausforderungen zu unterstützen.

Lass doch gerne einen Kommentar mit Deinen Gedanken da…

Vergesst das Digital Mindset, oder: Warum die Digitalisierung sozialer Organisationen so oft scheitert (und was trotzdem hilft…)

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Dass die Digitalisierung sozialer Organisationen sowohl Chancen wie Herausforderungen bietet, ist unbestritten (vgl. ausführlich Freier et al., 2021). So zeigen sich aus fachlicher Perspektive beispielhaft Chancen zur Förderung sozialer Teilhabe, Autonomie und Selbstbestimmung durch digitale Kommunikationstools (What’sApp, Threads, Instagram, Mastodon…). Die gleichen Kommunikationstools verstärken aber auch gesellschaftliche Spaltungstendenzen z.B. durch Bildung in sich geschlossener, sich gegenseitig verstärkender „bubbles“. Als weiteres Beispiel für die Herausforderungen der Digitalisierung ergeben sich „Fragen der Sicherung von Datenschutz, Vertraulichkeit und Zugänglichkeit, u.a. im Zusammenhang der Metadatenproduktion im Kontext sozialer Dienstleistungen“ (Seelmeyer, Kutscher, 2021, 27), wohingegen die Chancen unter anderem zur Effizienzsteigerung durch Standardisierung von Kommunikation, Dokumentation und Prozessabläufen in Organisationen der Sozialwirtschaft enorm sind. Darüber hinaus und aktuell hoch relevant sind Fragen rund um die IT-Sicherheit, die soziale Organisationen vor zusätzliche Herausforderungen stellen.

Im Folgenden wird der Blick nicht auf die Wiederholung (bekannter) Chancen und Risiken der Digitalisierung gerichtet, sondern explizit auf die Organisationsgestaltung im Zuge der Digitalisierung. Hier stellen sich zwei Kernfragen:

  1. Warum sind Digitalisierungsprojekte in Organisationen der Sozialwirtschaft besonders herausfordernd und
  2. wie kann auf diese Herausforderungen angemessen reagiert werden?

Der vorliegende Beitrag erscheint in diesem Frühjahr auch in leicht abgewandelter Form in der Fachzeitschrift „Kerbe – Forum für Soziale Psychiatrie“.


Warum Digitalisierungsprojekte sozialer Organisationen besonders herausfordernd sind

Ganz grundlegend (und zwangsläufig verkürzt) lassen sich Organisationen aus Perspektive der Systemtheorie als soziale Systeme verstehen, die sich darüber definieren, dass sie sich 1) zur Umwelt abgrenzen, 2) einen oder mehrere Zwecke verfolgen, 3) im Gegensatz zu bspw. Familien eine formale Struktur aufweisen und 4) Bedingungen für die Mitgliedschaft formulieren.

Für eine einfache Betrachtung von Organisationen ist die Unterscheidung von formaler Seite, informaler Seite und Schauseite hilfreich: „Bei der formalen Seite handelt es sich um das offizielle Regelwerk, an das sich die Mitglieder gebunden fühlen müssen. Es sind die Mitgliedschaftsbedingungen (…). Die informale (…) Seite einer Organisation besteht aus eingeschliffenen Praktiken, aus gepflegten Kniffen zur Arbeitserleichterung und aus regelmäßigen Abweichungen von den formalen Regeln. Bei der Schauseite handelt es sich um die Fassade der Organisation“ (Kühl, 2018, 20).

Der Blick auf die sich aus dieser Perspektive ergebenden Spezifika der von Organisationen der Sozialen Arbeit zu gestaltenden sozialen Dienstleistungen (vgl. dazu näher Gesmann, Merchel, 2019, 49ff) zeigt, dass die Mitarbeitenden zwar auf der einen Seite in ihrer Rolle als Mitglieder der Organisation die in der Stellenbeschreibung (oft diffus) formulierten formalen Anforderungen erfüllen (müssen). Gleichzeitig stehen die Organisationen aber unter anderem vor der Herausforderung, dass Soziale Dienstleistungen nur sehr begrenzt standardisierbar sind. Daraus wiederum folgt eine Dominanz von Zweckprogrammen. Diese legen fest, welche Ziele und Zwecke erreicht werden sollen, geben aber nicht vor, wie genau diese zu erreichen sind. Denn „im Gegensatz zu Konditionalprogrammen verfügen Zweckprogramme (…) über ein deutlich höheres Maß an ‚Elastizität‘ (…), was dem stark individualisierten Aufgabencharakter von sozialen Dienstleistungen gerecht wird“ (ebd., 35f). Aber nicht nur an der „Basis“ ergeben sich durch die Komplexität personenbezogener Dienstleistungsarbeit Herausforderungen. Auch Führungskräfte sind gefordert, „Führungs- und Organisationsdilemmata bewusst wahrzunehmen und mit ihnen produktiv umzugehen“ (Grunwald, 2022, 92). Mehr noch: „Die Auseinandersetzung mit und die bewusste Gestaltung von Dilemmata sozialer Organisationen ist eine Herausforderung, die sich für Fachlichkeit (…) und Management in und von sozialen Organisationen gleichermaßen stellt“ (ebd.).

Zum einen erwächst daraus eine besondere Problematik in der Gestaltung und Entwicklung von Organisationen der Sozialwirtschaft. Denn gestalt- bzw. bewusst entscheidbar ist in Organisationen insbesondere die formale Seite. Darunter sind – auch im Sinne der Digitalisierung – Programme (Ziele und Zwecke sowie Regeln und Prozesse), Kommunikationswege (Hierarchien) und Personalentscheidungen zu verstehen (vgl. bspw. Kühl, 2016). Interessant sind folgende Fragen: „Lassen sich die Programme ändern, und wenn ja, welche? Können die existierenden Kommunikationswege geändert werden, und wenn ja, in welcher Form? Welche Einstellungen, Versetzungen und Entlassungen von Personen sind möglich, um den Typus von Entscheidungen an einzelnen Stellen zu beeinflussen?“ (ebd., 55)

Wenn jedoch aufgrund der Komplexität sozialer Organisationen von Mitarbeitenden aller Hierarchiestufen permanent neue, sich nicht selten mit den formalen Vorgaben der Organisation reibende und damit „grenzwertige“, aber für die Organisation brauchbare (hilfreiche, konstruktive, produktive…) Entscheidungen und Handlungsweisen gefordert sind, verlieren die Möglichkeiten der Gestaltung von Organisationen der Sozialwirtschaft ihre Wirksamkeit.

Zum anderen kommt unter dem Aspekt „Digitalisierung“ die Problematik hinzu, dass „digitale Systeme (…) nach ihrer Programmierung und deren (mathematisch-)formalistischer Logik [funktionieren]. Sie können ‚nur‘ das verstehen, lernen und leisten, was ihre Programmierung grundsätzlich vorsieht – und das sind diejenigen Aspekte der Wirklichkeit, die für ihre numerische (binäre Code-) Sprache verwertbar sind“ (Jungtäubl, 2021, 37f).

Digitale Systeme geben vor, was zu tun oder zu dokumentieren oder wie zu kommunizieren ist. Sie lassen keinen Raum für eigene Interpretationen und steuern „das Handeln aufgrund der digitalen Systemen inhärenten mathematisch-informationstechnischen Formalisierungslogik“ (ebd.). Kurz:

Digitalisierung sozialer Organisation geht immer mit Formalisierung einher. Dadurch kommt es zu Spannungen zwischen dem Informellen, dem „Menschlichen“, der kaum standardisierbaren Interaktionsarbeit, die personenbezogenen, sozialen Dienstleistungen innewohnt, auf der einen und der Notwendigkeit der Standardisierung durch digitale Technologien und Tools auf der anderen Seite.

Als Beispiel sei nur auf das häufig anzutreffende, aufgrund des Datenschutzes nachvollziehbare Verbot der Nutzung von WhatsApp auf der einen und der trotzdem stattfindenden, „brauchbar illegalen“ Nutzung von WhatsApp zur Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Klient:innen auf der anderen Seite verwiesen (vgl. zum Begriff „brauchbare Illegalität“ Kühl, 2020).

Da sich Digitalisierungsbestrebungen in Organisationen der Sozialwirtschaft also immer im Spannungsfeld zwischen dem häufig im Sinne der Klientel notwendigen, informellen Handeln auf der einen und der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung auf der anderen Seite bewegen, basieren Widerstände der Mitarbeitenden gegen diese Bestrebungen nicht (nur) auf individuellen Vorbehalten gegenüber neuen, technologischen Entwicklungen. Die Widerstände lassen sich vielmehr als Festhalten an der für gelingende Soziale Arbeit notwendigen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen professionellen Grundhaltung Sozialer Arbeit verstehen. Sie stabilisieren also das gesamte System!

IT-Awareness, oder: Wie kann den Herausforderungen der Digitalisierung sozialer Organisationen begegnet werden?

Das skizzierte Spannungsfeld zwischen Digitalisierungsbestrebungen auf der einen und professioneller Sozialer Arbeit auf der anderen Seite zeigt auch bezogen auf Herangehensweisen zum Ausgleich dieser Spannungen Ansatzpunkte sowohl auf Ebene der Mitarbeitenden in sozialen Organisationen als auch auf Ebene der Gestaltung sozialer Organisationen.

Bezogen auf die Ebene der Mitarbeitenden wird häufig von einem „Digital Mindset“ gesprochen, das für erfolgreiche Digitalisierung notwendig wäre: „Learning new technological skills is essential for digital transformation. But it is not enough. Employees must be motivated to use their skills to create new opportunities. They need a digital mindset“ (Neeley, Leonardi, 2022).

Das widerspricht jedoch der sozialarbeiterischen Grundhaltung – dem „Social Work Mindset“ 😉

Sinnvoller also als das Lamentieren über ein „fehlendes oder falsches Mindset“ der Mitarbeitenden in der Sozialen Arbeit ist aus meiner Sicht, dass sich diese über die Notwendigkeiten, Chancen und Möglichkeiten der Nutzung digitaler Tools – von digitaler Kommunikation über Dokumentation bis hin zu Nutzung von „künstlicher Intelligenz“ klarer als bisher bewusst werden. Mit anderen Worten: Von den Mitarbeitenden zu verlangen bzw. zu erwarten, ein Digital Mindset, eine digitale Grundhaltung, zu entwickeln, ist zu viel verlangt. Die Forderung trifft nicht ihre wirklichen Bedürfnisse bzw. ihre Berufsrealität. Vielmehr gilt es, auf ihrer Seite ein stärkeres „Sich-bewusst-Werden“ der Notwendigkeit der Nutzung digitaler Tools und damit eine „IT-Awareness“ zu entwickeln.

Hinzu kommt dann die Ausbildung von einem für die jeweilige Rolle in der Organisation passfähigen „Digital Skillset“. Darunter sind die Fähigkeiten und Kompetenzen zu verstehen, die für die Nutzung der in der jeweiligen Rolle unabdingbaren Tools (Hard- und Software) notwendig sind.

Hilfreich dazu ist es, wenn sich Organisationen der Sozialwirtschaft intensiver als bisher mit der Frage befassen, welche Tools in welcher Rolle zwingend genutzt werden müssen und welche Fähigkeiten dafür auf Ebene der Mitarbeitenden geschult und welche nachhaltigen Lernpfade zur Entwicklung des Digital Skillsets begangen werden müssen. Ohne an dieser Stelle in die Tiefe gehen zu können:

Durch die Digitalisierung ergeben sich bezogen auf die Lernpfade völlig neue, hilfreiche Lern- und Entwicklungsoptionen (vgl. bspw. näher Foelsing, Schmitz, 2021).

Digitalisierung sozialer Organisationen – sechs Aspekte

Bezogen auf die Gestaltung sozialer Organisationen in einer digitalisierten Welt sind (zusammenfassend) sechs Aspekte relevant:

  1. Organisationsbewusstsein schaffen: Es bedarf übergreifend und unabhängig von Digitalisierungsbestrebungen ein Bewusstsein über die Spezifika der Funktionslogiken von Organisationen unter Berücksichtigung der Besonderheiten von Organisationen der Sozialwirtschaft.
  2. Partizipative Erarbeitung der Zwecke: Die Notwendigkeit der Steuerung sozialer Organisationen über ihre Zwecke erfordert, die Zwecke – das „Warum und Wozu“, die Mission, den „purpose“ – auf allen Ebenen der Organisation (in Teams, Abteilungen und der Gesamtorganisation) partizipativ zu erarbeiten, um so den Sinn Sozialer Arbeit trotz der mit der Digitalisierung einhergehenden Formalisierung (wie bspw. damit verbundene Dokumentations- oder Kommunikationspflichten) zu würdigen.
  3. Bewusstsein über die Notwendigkeit der Digitalisierung schaffen: Wichtiger als die Forderung eines „digital mindsets“ ist die Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins über die Möglichkeiten, Grenzen und Notwendigkeiten des Einsatzes digitaler Tools und Techniken im sozialarbeiterischen Alltag. Die Schaffung dieser „IT-Awareness“ gelingt über die partizipative Auseinandersetzung mit digitalen Möglichkeiten und die Gestaltung von individuellen und wirksamen Lernpfaden zur Entwicklung des „digital skillsets“ der Mitarbeiter:innen in ihren jeweiligen Rollen.
  4. Prozesse gestalten: Gelingende Digitalisierungsbestrebungen sozialer Organisationen erfordern klar definierte Prozesse und die Entscheidung, welche dieser Prozesse digitalisierbar sind. Mit der klaren Definition der Prozesse, bspw. mithilfe einer Prozesslandkarte (vgl. näher Brandl, 2021, 83ff), geht einher, zu entscheiden, welche der Prozesse wirklich notwendig sind und welche Prozesse zukünftig weggelassen oder neu und damit digital gestaltet werden können.
  5. Geschäftsmodelle entwickeln: Die Verbindung von Definition und (Neu-)Gestaltung von Prozessen eröffnet auch Möglichkeiten des Überdenkens des bestehenden und der Gestaltung von neuen, digitalisiert(er)en Geschäftsmodellen. Insbesondere unter Berücksichtigung zurückgehender finanzieller Möglichkeiten und der Herausforderungen des Fachkräftemangels (vgl. bspw. Epe, 2022b) ergeben sich so Chancen, zukünftig soziale Dienstleistungen effizienter und effektiver anbieten zu können.
  6. Zusammenarbeit agil gestalten: Auf Ebene der Zusammenarbeit gilt es weiterhin, agile Formen der Zusammenarbeit zu etablieren. Diese setzen zusammenfassend darauf, „überschwängliche Regelwerke zu vermeiden, auf iterative Vorgehensweisen und schlanke, flexible Prozesse zu setzen und den Fokus auf zu erreichende Ziele zu legen bei ständiger Beachtung von Änderungen der Umweltbedingungen“ (Jungtäubl, 2021, 41). Zu beachten ist, dass es sich bei agiler Arbeit jedoch nicht um ein „anything goes“ handelt, sondern um die „Formalisierung des Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit. Hier profitieren soziale Organisationen davon, dass agile Arbeitsweisen sozialen Dienstleistungen inhärent sind. Hier gilt es, viele der oftmals informellen Verhaltensweisen der Zusammenarbeit (das „Wie?“) auf eine formale Ebene zu haben und bspw. in einem Teamkodex festzuhalten, wie genau die Abläufe und Zuständigkeiten im Team geregelt sind. Diese „Leitlinien der gemeinsamen Zusammenarbeit“ sind wiederum in regelmäßigen Abständen – iterativ – weiterzuentwickeln (vgl. bspw. Epe, 2022c).

Fazit

Digitalisierung führt immer zu einer Formalisierung – auch sozialer Organisationen.

Diese Formalisierung steht jedoch im Widerspruch zu der in sozialen Organisationen dominierenden Informalität, die sozialen, personenbezogenen Dienstleistungen aufgrund ihrer Komplexität und Ambiguität inhärent ist.

Entsprechend skeptisch werden Digitalisierungsvorhaben von Seiten der Mitarbeitenden betrachtet. Für die Verantwortlichen gilt es, die Besonderheiten, Paradoxien und Dilemmata, unter denen soziale Dienstleistungen erbracht werden, im Blick zu behalten.

Und es gilt die Angst vor der mit der Digitalisierung einhergehenden Formalisierung zu verlieren und stattdessen diese als hilfreich für eine effiziente und im Sinne der Nutzer:innen effektive Soziale Arbeit zu verstehen.

Darüber kann es gelingen, die „IT-Awareness“ der Mitarbeiter:innen zu erhöhen und zu gelingender Digitalisierung sozialer Organisationen beizutragen.

Quellen:

  • Brandl, P.(2021), Prozessoptimierung: Basis zur Neugestaltung sozialer Dienstleistungen. Regensburg: Walhalla.
  • Epe, H. (2022a), Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. Endingen, www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet, abgerufen am 15.11.2023.
  • Epe, H. (2022b), Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft, oder: Hört auf, zu suchen (und was stattdessen sinnvoll ist)! Endingen, www.ideequadrat.org/fachkraeftemangel-in-der-sozialwirtschaft-ideen-loesungen, abgerufen am 23.12.2023.
  • Epe, H. (2022c), Kollaboration im Team, oder: Wie Du Leitlinien für die Zusammenarbeit entwickelst. Endingen, www.ideequadrat.org/leitlinien-fuer-die-kollaboration-im-team-jetzt-aber-konkret, abgerufen am 07.01.2024.
  • Foelsing, J., & Schmitz, A. (2021), New Work braucht New Learning. Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten. Wiesbaden: Springer Gabler.
  • Freier, C., König, J., Manzeschke, A., & Städtler-Mach, B. (Hrsg.), (2021), Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft. Wiesbaden: Springer VS.
  • Gesmann, S., & Merchel, J. (2019), Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl Auer.
  • Grunwald, K. (2022), Management sozialwirtschaftlicher Organisationen. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer VS.
  • Jungtäubl, M. (2021), Gestaltung von Interaktionsarbeit und professionellem Handeln bei Personenbezogener Dienstleistungsarbeit zwischen (digitalisierter) Formalisierung und Selbstorganisation, in: Freier, C., König, J., Manzeschke, A., & Städtler-Mach, B. (Hrsg.), Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft. Wiesbaden: Springer VS. S. 29 – 48.
  • Kühl, S. (2018), Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kühl, S. (2020), Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen. Working Paper 4/2020. Bielefeld, www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/soziologie/fakultaet/personen /kuehl/pdf/Kuhl-Stefan;-Working-Paper-4-2020-Brauchbare-Illegalitat-Weswegen-sich-Regelbruche-nicht-vermeiden-lassen.pdf, abgerufen am 22.12.2023.
  • Neeley, T., & Leonardi, P. (2022), Developing a Digital Mindset. How to lead your organization into the age of data, algorithms, and AI. 100(5-6), S. 50-55.
  • Seelmeyer, U., & Kutscher, N. (2021), Zum Digitalisierungsdiskurs in der Sozialen Arbeit: Befunde – Fragen – Perspektiven, in: Wunder, M. (Hrsg.), Digitalisierung und Soziale Arbeit – Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 17 – 30.
  • Spiegel, H. v. (2008), Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München: Reinhardt.

Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisation: Maßnahmen der Organisationsentwicklung

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Mit Blick auf meine Beratungsaufträge der letzten Monate ist es spannend zu sehen, dass zunehmend soziale Organisationen der Sozialwirtschaft und Vereine, die soziale, personenbezogene Dienstleistungen erbringen, Unterstützung bezogen auf die Frage suchen, wie ein guter Generationenwechsel gelingen bzw. wie die Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Interessant ist, dass zwar in jedem Verein und jeder Organisation der Zeitpunkt kommt, an dem die bisherigen Vorstandsmitglieder oder die Geschäftsführung ausscheiden. Eine Besonderheit von Organisationen und Vereinen der Sozialwirtschaft besteht aus meiner Sicht aber (unter anderem) in der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit insgesamt.

Im Folgenden werde ich einleitend auf diese historischen Entwicklungen eingehen, um darauf basierend die Ziele der Nachfolgeplanung zu beschreiben. Dann werden konkrete Maßnahmen der Organisationsentwicklung skizziert, die aus meiner Sicht grundlegend sind, um die Nachfolgeplanung gelingen zu lassen.

Historischer Blick auf die Entwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit

Nein, ich werde hier nicht die Gesamtentwicklung der Sozialen Arbeit darlegen. Hier zum Beispiel kann man dies viel besser nachlesen.

Mich interessiert hier die historische Entwicklung der Sozialen Arbeit in den 1970er/1980er Jahren.

Wichtig in dem Zusammenhang ist, dass die deutschen Fachhochschulen, die heute teilweise als Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bezeichnet werden, in den 1970er-Jahren aus verschiedenen Bildungseinrichtungen wie Ingenieurschulen, Akademien und Höheren Fachschulen für Gestaltung, Sozialarbeit oder Wirtschaft entstanden.

Die Gründung dieses eigenständigen Hochschultyps wurde durch eine Grundsatzerklärung der Ministerpräsidenten am 5. Juli 1968 festgelegt. Am 31. Oktober 1968 wurde das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Fachhochschulwesens“ verabschiedet, wodurch der Grundstein für die Etablierung der Fachhochschulen gelegt wurde. Anschließend erfolgten die entsprechenden Abkommen in den einzelnen Bundesländern (vgl. näher hier).

Für die Soziale Arbeit erfolgte damit „ein wichtiger Schritt zur Akademisierung und Verwissenschaftlichung, der getragen war von einem zunehmenden Professionalisierungsbedürfnis innerhalb der Sozialen Arbeit und begünstigt vom fortschrittsorientierten bildungspolitischen Klima der Zeit“ (Kruse, 2008, 42).

Aus diesen Entwicklungen in Verbindung mit Sparmaßnahmen (basierend bspw. durch die Ölkrise) und der demographischen Entwicklung („Boomer“), die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit hatten, resultierte, dass ab Mitte/Ende der 70er Jahre Absolvierende begannen, Taxi zu fahren erfolgreich soziale Organisationen in Eigeninitiative aufzubauen.

Ausgehend von einem etwa 40 Jahre dauernden Berufsleben wird deutlich, dass die Menschen, die damals die heute teilweise großen Organisationen und Vereine auf den Weg brachten, kurz vor oder bereits in ihrem Ruhestand stehen.

Entsprechend deutlich zeigt sich seit einigen Jahren die Notwendigkeit, Nachfolgeplanungen aktiv anzugehen. Oder, wie Hamm et al. (2021, V) in ihrem Vorwort betonen:

„Eine Gründergeneration, die den sozialen und Bildungsbereich in seinen feinsten Unterscheidungen aufgebaut und geprägt hat, geht in den Ruhestand. Wir wissen es schon lange und die Zeit zum Handeln ist gekommen.“

Klar ist aber auch, dass die Nachfolgeplanung in eine Zeit fällt, die diese Nachfolge alles andere als einfach macht. Denn nicht nur die „Gründer:innen“ von damals gehen in den Ruhestand und suchen Nachfolger:innen. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft gerade am Anfang steht und enorme Auswirkungen haben wird.

Daraus wiederum folgt, dass ein einfaches „Weiter so!“ oder auch ein „business as usual“ aufgrund fehlender Fachkräfte und deren geänderten Anforderungen an die Übernahme von Verantwortung insbesondere in kleinen und mittleren sozialen Organisationen und Vereinen nicht funktionieren kann. Es ist schon jetzt und wird auch in Zukunft nicht möglich sein, „einfach“ die Nachfolger:innen zu bestimmen und erwarten zu können, dass der Verein oder die Organisation weiterhin „funktioniert“.

Vielmehr gilt es, die Ziele der Nachfolgeplanung für die eigene Organisation zu bestimmen und darauf basierend Maßnahmen der Organisationsentwicklung abzuleiten, damit diese Ziele erreicht werden können und das Überleben der Organisation nachhaltig sichergestellt werden kann.

Aber was sind Ziele der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen?

Ziele der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen

Die Ziele der Nachfolgeplanung lassen sich übergreifend wie folgt zusammenfassen:

Kontinuität sichern: Wesentlich ist natürlich die Gewährleistung einer nahtlosen Fortführung der Aktivitäten des Vereins bzw. der Organisation bei Änderungen im Vorstand und Geschäftsführung. Das gilt zwar immer, wird aber insbesondere dann, wenn der Verein bzw. die Organisation bislang im Wesentlichen durch die Gründungspersönlichkeit geprägt wurde, zu einem Kernaspekt der Nachfolgeplanung.

Talententwicklung fördern: Um die Kontinuität sicherstellen zu können, ist es unabdingbar, frühzeitig in die Identifizierung, Entwicklung und Förderung von talentierten Mitarbeiter:innen zu investieren, um sicherzustellen, dass qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen bereitstehen.

Wissenstransfer sicherstellen: Der Wissenstransfer umfasst die Übertragung von spezifischem Fachwissen, Erfahrungen und dem Wissen über Netzwerke von erfahrenen Führungskräften auf die nächste Generation.

Risikominderung: Die Reduzierung der Risiken, die mit erwarteten und unerwarteten Abgängen von Schlüsselpersonen verbunden sind, sichert wiederum die Kontinuität. Dies kann zum einen durch den Aufbau einer „Pipeline von qualifizierten Nachfolger:innen“ geschehen. Zum anderen ist aber der Aufbau eines funktionalen Prozessmanagements hilfreich, über das sichergestellt wird, dass die Arbeit schnell und reibungslos fortgeführt wird.

Unternehmenskultur bewahren: Hier bin ich zweigespalten. So kann die Sicherstellung, dass Werte und Kultur auch während des Übergangs aufrechterhalten werden, wichtig sein, um die Verunsicherung durch den Wechsel nicht zu groß werden zu lassen, hoch relevant sein. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, gerade den Neubeginn und die sich damit verändernde Kultur zu befördern.

Mitarbeiterbindung steigern: In Phasen des Übergangs gilt es, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für Mitarbeiter:innen zu schaffen, um ihre Bindung an die Organisation zu fördern. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels ist dies effizienter und effektiver, als auf neue Mitarbeiter:innen zu hoffen, die komplett neu eingearbeitet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Weggang von Mitarbeiter:innen immer mit einem Weggang von Erfahrungswissen und Kompetenzen verbunden ist.

Strategische Ausrichtung unterstützen: Auch in Übergangsphasen gilt es, sicherzustellen, dass die Nachfolgeplanung mit den strategischen Zielen des Vereins bzw. der Organisation in Einklang steht und die langfristige Entwicklung unterstützt wird.

Transparenz und Fairness gewährleisten: Bei dem oben erwähnten Aufbau von Nachfolger:innen ist relevant, transparente und faire Prozesse für die Auswahl der Personen zu entwickeln, um das Vertrauen aller Mitarbeiter:innen zu stärken und mögliche Konflikte zu minimieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das SCARF-Modell, in dem Fairness explizit als Grundlage für die Aufrechterhaltung der Motivation der Mitarbeiter:innen betont wird.

Compliance sicherstellen: Selbstverständlich gilt, auch bei der Nachfolge sicherzustellen, dass rechtliche Anforderungen und Governance-Standards in Bezug auf die Planung und Dokumentation von Nachfolgeprozessen sichergestellt werden.

Diese Ziele können je nach Arbeitsfeld, Größe und Ausrichtung der Organisation bzw. des Vereins und aufgrund individueller Umstände variieren. Unabhängig davon aber ist eine effektive Nachfolgeplanung unabdingbar, um die Stabilität, Kontinuität und Entwicklungsfähigkeit der eigenen Organisation bzw. des Vereins sicherzustellen.

Auch wenn oben bereits ein paar Aspekte angesprochen wurden, will ich im Folgenden explizit Maßnahmen der Organisationsentwicklung beschreiben, die für die Nachfolgeplanung im Verein bzw. der Organisation angegangen werden können.

Maßnahmen der Organisationsentwicklung

Vorauszuschicken ist, dass jede Organisation und jeder Verein unterschiedlich ist. Dies ist zwar eine Binsenweisheit, führt aber dazu, dass pauschale Antworten auf die Frage, wie eine gelingende Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen aussehen kann, nicht verallgemeinert werden kann.

Entsprechend verläuft auch die Organisationsentwicklung zur Gestaltung der Nachfolge nach dem „allgemeinen Vorgehen“ der Organisationsentwicklung. Dabei steht zu Beginn eine mehr oder weniger intensive Organisationsanalyse an, um die Probleme („Was ist das Anliegen/Problem?“) verstehen zu können. Damit geht auch die Zielklärung („Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?“) einher.

Basierend auf der Analyse der Ausgangssituation erfolgt dann die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung („Wie werden Sie dieses Ziel erreichen? Für welche Maßnahme(n) entscheiden Sie sich?“). Dies ist wiederum mit der zeitlichen, personellen und finanziellen Planung der Umsetzung („Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?“) verknüpft.

Dann erfolgt die Umsetzung der Maßnahmen sowie die Kontrolle der Durchführung („Ist die festgestellte Abweichung zwischen dem ursprünglichen Plan und dem augenblicklichen Stand ein Anlass für Korrekturen?“).

Den Prozess abschließend darf die Evaluation, Reflexion und der Transfer von Ergebnissen („Im Hinblick auf welche Kriterien ist der Prozess ein Erfolg? Haben wir das Ziel erreicht? Was wurde in dem Prozess der Bearbeitung individuell und kollektiv gelernt? Auf welche weiteren Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen anwendbar/übertragbar?“) nicht vernachlässigt werden. Aus der Evaluation werden dann die wiederum nächsten Schritte abgeleitet.

Hier habe ich diese „allgemeinen Schritte“ gelingender Organisationsentwicklung in einem fünfstufigen Modell beschrieben.

Spezifisch bezogen auf die Möglichkeiten der Nachfolgeplanung zeigen sich übergreifend folgende Maßnahmen als wirksam:

Definition von Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen

Auch wenn dies als Basis funktionierender Organisationen angesehen werden kann, ist es zunächst wichtig, die Ziele, Verantwortlichkeiten und die Prozesse der Organisation bzw. des Vereins in den Blick zu nehmen und so zu gestalten, dass allen Beteiligten klar ist, was der Zweck des Vereins ist, wer für was zuständig ist und welche Regeln, Prozesse und Routinen eingehalten werden müssen.

Hier findest Du einen Beitrag zum GRPI-Modell, das die Bedeutung von Zielen, Zuständigkeiten, Prozessen und der Kommunikation in Teams und Organisationen hervorhebt und eine einfache, aber gute Orientierung für die Gestaltung gelingender Teams und Organisationen bietet.

Ein besonderer Fokus ist in diesem Schritt auf die Aufgaben und Zuständigkeiten von Vorstand und Geschäftsführung zu richten. Erst darüber wird transparent, welche Anforderungen an die Nachfolger:innen gestellt werden. Gerade in über Jahrzehnte gewachsenen und von Gründungspersönlichkeiten getragenen Organisationsstrukturen werden viele Aspekte implizit gelebt und nicht mehr explizit ausformuliert, was für Nachfolger:innen zu echten Herausforderungen führt.

Übergreifend geht es in diesem Aspekt um die Gestaltung von zeitgemäßen und für die Organisation bedarfsgerechten Organisationsstrukturen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fördern, um den Zweck der Organisation bzw. des Vereins auch zukünftig angemessen verfolgen zu können.

Entwicklung von Kompetenzprofilen

Gerade dann, wenn es um die Nachfolge von komplexen Führungspositionen geht, kann es sehr sinnvoll sein, basierend auf den definierten Zielen, Prozessen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten Kompetenzprofile für die potentiellen Nachfolger:innen zu entwickeln. Auch wenn es niemals möglich sein wird, die eierlegende Wollmilchsau aka neue Führungskraft zu finden, kann das Kompetenzprofil die fachlichen, sozialen und persönlichen „Mindest-Kompetenzen“ der Nachfolger:innen beschreiben.

Aufbau eines Talentpools

Auch wenn dieser Aspekt eigentlich eine Binsenweisheit ist, ist darauf hinzuweisen, dass es, um eine gute Auswahl potentieller Kandidaten für die Nachfolge zu haben, wichtig ist, sich frühzeitig Gedanken um die Nachfolge zu machen und einen Talentpool aufzubauen. In diesem Talentpool können Mitarbeiter:innen der Organisation bzw. des Vereins, die für eine Nachfolge in Frage kommen, erfasst und entsprechend auf die kommende Führungsposition(en) vorbereitet werden.

Förderung der Nachwuchsarbeit

Zum vorherigen Aspekt gehört zwangsläufig die Förderung der Nachwuchsarbeit im Verein bzw. der Organisation. Dies kann durch Angebote wie Mentoring-Programme oder (sinnvolle) Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen. Bezüglich der Weiterbildungsmaßnahmen macht es Sinn, sich mit dem „New Learning“ zu beschäftigen: Darunter ist zu verstehen, die Herausforderungen der Veränderungen der Organisation und die Prinzipien zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsgestaltung mit der Frage zu kombinieren, wie wir als Individuen und als Organisationen jetzt und in Zukunft sinnvoll lernen.

Insbesondere geht es dabei um einen Wechsel von tayloristisch geprägten, top-down organisierten und vorgegebenen Lernsettings hin zu bedürfnisorientierten, dynamik- und komplexitätsrobusten, kollaborativen Lernökosystemen. Lernen und Weiterbildung wird damit ein möglichst selbstbestimmter und sozialer Prozess, der bedürfnis- oder problemorientiert an echte Herausforderungen gebunden ist (vgl. Foelsing, Schmitz, 2021, 107).

Zu denken ist bei der Nachwuchsarbeit auch an Mentoring-Programme, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen von den erfahrenen Führungskräften lernen. Hierbei ergeben sich durch technologische Möglichkeiten (bspw. virtuelle Plattformen, Kollaborationstools und künstliche Intelligenz) neue Chancen, um den Wissenstransfer zu fördern. Genauso können aber auch Reverse-Mentoring-Programme implementiert werden, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen erfahrene Führungskräfte in Bezug auf aktuelle Technologien, Trends und Perspektiven schulen.

Erstellung eines Nachfolgeplans

Auf Grundlage der oben genannten Maßnahmen kann ein Nachfolgeplan erstellt werden. Dieser Nachfolgeplan sollte einen Zeitplan für die Nachfolgeregelung sowie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Nachfolger:innen enthalten.

Fazit zur Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen

Hamm et al. (2021, 354) bringen es auf den Punkt:

„Die Führungsebene in sozialen Organisationen besteht in ihrer Konstellation teilweise seit Jahrzehnten und ist aufeinander abgestimmt. Die Nachfolgeplanung in solchen Settings ist nur schwer denkbar ohne:

  • Anpassungen in den organisationalen und
  • personellen Strukturen.“

Bei der Anpassung der organisationalen (und der in diesem Beitrag weniger beleuchteten personellen) Strukturen ist aber wieder zu betonen, dass es notwendig ist, die Individualität der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Vereins in den Blick zu nehmen. Basierend auf den je individuellen personellen und finanziellen Möglichkeiten und vorgegebenen Strukturen sowie basierend auf dem jeweiligen Arbeitsfeld mit seinen rechtlichen Rahmenbedingungen ist zu analysieren, wo die Organisation steht (Organisationsdiagnose zur Ist-Analyse). Darauf folgend können dann hypothesenbasiert funktionale Anpassungen und Entwicklungen getestet und implementiert werden.

Die skizzierten und sicherlich nicht abschließenden Maßnahmen zur Organisationsentwicklung im Rahmen der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen sind entsprechend als Anregungen zu verstehen, welche wesentlichen Optionen ergriffen werden sollten, um die eigene Organisation bzw. den eigenen Verein auch nach Weggang der Gründungspersönlichkeiten zukunftsfähig und resilient zu gestalten.

Quellen:

  • Foelsing, J., Schmitz, A. (2021): „New Work braucht New Learning – Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten“. Wiesbaden: Springer.
  • Hamm, M., Heider-Winter, C., Leu, N.-A. (Hrsg., 2021): Strategische Nachfolgeplanung in Non-Profit-Organisationen. Fit für den Generationswechsel im Gemeinnützigkeitsbereich. Berlin: Springer Gabler.
  • Kruse, E. (2008): Das Studium der Sozialen Arbeit. Sozial Extra 32, 39–43.

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048, oder: Die Problemlösungen von heute sind die Lösungsprobleme von morgen!

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Vor Kurzem wurde ich angefragt, einen Beitrag für die Zeitschrift „FORUM sozial – Die Fachzeitschrift des DBSH“ zu verfassen. Dabei sollte es um die Frage gehen, wie ich mir soziale Organisationen im Jahr 2048 vorstelle. Zentral dabei sollte die Frage sein, wie sich Organisationen der Sozialen Arbeit entwickeln müssen, um die Herausforderungen im Jahr 2048 bewältigen zu können. 2048 – das ist ein Blick 25 Jahre in die Zukunft. Diese ist aber, wenig verwunderlich, zukünftig. Ich aber denke aus der Gegenwart, basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit und den absehbaren, kurzfristigen Herausforderungen. Und trotzdem habe ich versucht, meine Sicht auf „utopische Organisationen der Sozialen Arbeit“ zu werfen.

Der Beitrag ist dann aber etwas lang geworden, so dass ich noch einmal in die Überarbeitung gehen musste. Entsprechend findest Du hier die „long version“ und im Frühjahr 2024 dann den Beitrag in der Zeitschrift „FORUM sozial“. Jetzt aber los:


„Könnten wir eine kraftvollere, gefühlvollere und sinnvollere Art der Zusammenarbeit erfinden, wenn wir nur unser Glaubenssystem ändern?“

Laloux, F., 2014

Die Ausführungen von Frederic Laloux in seinem 2014 erschienenen Buch „Reinventing Organizations“ haben mich fasziniert. Im Kontext „sozialer Organisationen“ ist da vor allem Buurtzorg  als Vorreiterorganisation zu nennen. Buurtzorg ist eine niederländische Organisation im Arbeitsfeld der ambulanten Pflege mit mehr als 10.000 Mitarbeiter:innen, die in selbstorganisierten Teams zusammenarbeiten.

Das klingt doch schon sehr utopisch, oder?

Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der evolutionäre Zweck der Organisation

Laloux beschrieb 2014 drei wesentliche Durchbrüche (vgl. Laloux, 2014, 55ff) „neuer“ Organisationen:

  • – Selbstorganisation,
  • – Ganzheitlichkeit und
  • – die Orientierung am evolutionären Zweck der Organisation.

Für mich waren die Ausführungen von Laloux mehr als Utopie:

Sie passten – aus meiner damaligen Sicht – vielmehr „wie die Faust auf’s Auge“ oder besser: auf die von mir gesehenen Herausforderungen sozialer Organisationen.

Herausforderungen bestanden darin, so meine damalige Annahme, dass soziale Organisationen zu hierarchisch, zu langsam, zu wenig innovativ, zu reguliert, zu starr, zu you name it… wären, um die Dynamik und Komplexität der unterschiedlichen Arbeitsfelder in einer Welt im Wandel bewältigen zu können. Hier wäre die von Laloux beschriebene Selbstorganisation doch „der Hammer“?! Menschen entscheiden selbst, vor Ort, an der Basis, was zu tun ist?!

Meine Annahme bestand außerdem darin, dass die seit Jahren hohen Burnout-Raten der Mitarbeiter:innen daraus resultierten, dass es ihnen nicht möglich ist, ihre in der Organisation nicht gewünschten, aber in ihnen verborgenen Kompetenzen und Fähigkeiten zu zeigen. Wenn aber die empfundene Dissonanz zwischen dem, was tagtäglich getan werden muss und dem, was aus der Professionalität der individuellen Organisationsmitglieder fachlich als sinnvoll erachtet wird, permanent zu groß ist, ist Burnout doch vorprogrammiert, oder? Hier wäre die von Laloux beschriebene Einbeziehung des „ganzen Menschen“ doch der perfekte Lösungsansatz, oder? Und dies vor allem in Organisationen, in denen „der Mensch im Mittelpunkt“ steht?

Und ferner bestand meine Annahme darin, dass die Bedarfe der Klient:innen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt würden. Wenn es gelänge, soziale Organisationen zu gestalten, die ihren „evolutionären Zweck“ verfolgten, dann müsste es gelingen, diese Herausforderung zu bewältigen und wirklich soziale Probleme zu lösen, oder?

Kurz: Meine Utopie bestand aus sozialen Organisationen, in denen Menschen ganzheitlich und vertrauensvoll zusammenarbeiten, um darüber dem Zweck der Organisationen zu dienen, denn, so Laloux (ebd., 83), “when organizations are built not on implicit mechanisms of fear but on structures and practices that breed trust and responsibility, extraordinary and unexpected things start to happen.

Warum sich meine Sicht auf soziale Organisationen gewandelt hat

Inzwischen, fast 10 Jahre nach dem Erscheinen von „Reinventing Organizations“ und der Befassung mit der Frage der theoretischen und praktischen Gestaltung von Organisationen in Verbindung mit den Besonderheiten von Organisationen der sozialen Arbeit, hat sich meine Sicht zu Teilen radikal gewandelt.

Der Wandel basierte insbesondere auf der Auseinandersetzung mit der Frage, was Organisationen eigentlich sind und wie sie sich verändern lassen. Und, wenig überraschend:

Diese Fragen hatten sich schon (viele) Menschen vor mir – und vor Laloux – gestellt.

Mich faszinierten und faszinieren in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen rund um die Systemtheorie. Wenn hier noch die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit hinzugezogen werden, wird es zwar komplex, aber ebenso Augen öffnend (vgl. für einen sehr guten Überblick bspw. Gesmann, Merchel, 2019).

Entsprechend folgt hier eine Skizze dessen, was Organisationen sind, wie diese zu verändern sind und an der einen oder anderen Stelle auch der Blick auf die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit.

Am Ende gibt es dann aber doch noch einen kleinen, vielleicht ernüchternden, hoffentlich aber ermutigenden Blick auf meine Vorstellung utopischer Organisationen der Sozialen Arbeit.

Nehmt den Menschen aus dem Mittelpunkt, oder: Was sind Organisationen?

Ganz grundlegend (und verkürzt) lassen sich Organisationen (aus Perspektive der Systemthorie – vgl. bspw. Kühl, 2016, 18) als „soziale Systeme“ verstehen, die sich darüber definieren, dass sie sich zur Umwelt abgrenzen, einen oder mehrere Zwecke verfolgen, im Gegensatz zu bspw. Familien eine formale Struktur aufweisen und Mitgliedschaftsbedingungen formuliert sind. Das ist wenig überraschend.

Überraschender ist da schon die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen. Organisationen bestehen aus Entscheidungen, die in den formalen und informalen Strukturen der Organisation (teilweise schriftlich, teilweise mündlich) manifestiert sind.

Das wirkt auf den ersten Blick „unmenschlich“. Aber wenn man versucht, den Menschen „aus dem Mittelpunkt“ der Organisation zu nehmen, ergeben sich enorme Vorteile für das Be- und Verstehen von Organisationen, denn:

Wenn eine Organisation aus Menschen bestünde, ergäben sich bei jedem Weggang von Menschen aus der Organisation Lücken, die niemals von anderen Menschen gefüllt werden könnten, da Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit nun mal sehr verschieden sind. Mehr noch:

Wenn Organisationen um einzelne Menschen herum gebaut werden (was dann und wann bspw. bezogen auf Gründer:innen zu beobachten ist), „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (Wimmer, 2019). Katastrophal wird es für die Organisation vor allem dann, wenn nach Weggang einer oder mehrerer Personen ihr Überleben gefährdet ist.

Anstatt also als „ganzer Mensch“ Teil der Organisation zu werden, übernehmen Menschen Rollen in der Organisation. Sehr einfach ausgedrückt wird man nicht als „Klaus“ oder „Claudia“ eingestellt, sondern – hoffentlich unabhängig vom Geschlecht – in der Rolle als „Sozialarbeiter:in“.

Das ist zum einen ein Gegenentwurf zu Laloux’s Ganzheitlichkeit, wobei er zumindest sieht, dass seine Idee eine echte Herausforderung ist:

„It is a challenge for any organization to create an environment where people feel safe to show up whole.“

Laloux, 2014, 151

Zum anderen zeigt der Blick auf die Spezifika sozialer Organisationen, dass wir mit dem „Herausnehmen des Menschen aus dem Mittelpunkt“ echte Probleme haben.

So erfüllen Sozialarbeiter:innen zwar als Mitglieder der Organisation die in der Stellenbeschreibung (oft diffus) formulierten Anforderungen. Gleichzeitig aber dient in der Sozialen Arbeit „die Person als Werkzeug“ (vgl. bspw. Spiegel 2008, S. 101 f.), wodurch eine Trennung von Person und Rolle erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Daraus resultiert eine auf Seiten der Mitarbeitenden schwer auszuhaltende Konfusion zwischen den Anforderungen der Organisation, den Bedarfen der Klientel und den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen. Auf Seiten der Organisation entsteht eine „dominierende Informalität“ (vgl. näher dazu Epe, 2022). D.h., dass die Einhaltung der von der Organisation entschiedenen Regeln, Vorgaben und verbindlichen Absprachen als nachrangig bzw. unwichtiger gesehen wird als das individuelle, teilweise sehr spontane und damit wenig planbare „Helfen wollen“ im Sinne der Klientel.

Im Übrigen sind die Rolle bzw. Stelle selbst, aber auch die in der Stellenbeschreibung festgehaltenen „formalen Erwartungen“ Beispiele für die Entscheidungen, aus denen Organisationen bestehen.

Wie können Organisationen verändert werden?

Auch wenn die Ausführungen sehr verkürzt waren, zeigt die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen bestehen, den Ansatzpunkt für die Veränderung und Entwicklung von Organisationen.

Das klingt wiederum zunächst trivial: Wenn in der Organisation entschieden wird, „anders“ zu sein, dann funktioniert das auch. So könnte die Entscheidung getroffen werden, zukünftig anders, agil, innovativ, selbstorganisiert, vielleicht sogar „ganzheitlich“ zu arbeiten – und dann wird das so gemacht, fertig.

Die Realität in Organisationen wiederum zeigt jedoch, dass es so leicht eben nicht ist. Das resultiert daraus, dass zwischen mehreren sog. „Entscheidungsprämissen“ unterschieden werden muss, die den Spielraum für konkrete Entscheidungsmöglichkeiten festlegen. Zu unterscheiden sind zunächst a) prinzipiell unentscheidbare Entscheidungsprämissen und b) prinzipiell entscheidbare Entscheidungsprämissen. Das klingt holprig, das Gemeinte wird aber an folgendem Beispiel deutlich:

Als Führungskraft möchte man entscheiden, dass ab morgen alle Mitarbeitenden innovativ sind. Jedoch ist das Generieren neuer Ideen a) prinzipiell nicht entscheidbar, auch wenn dies schön wäre. Genauso wenig kann über die Haltung oder das „Mindset“ der Mitarbeiter:innen entschieden werden wie darüber, dass sie „nett“ miteinander umgehen, oder dass sich die vorhandene Organisationskultur gefälligst in eine vorab festgelegte Richtung zu ändern hat.

Die b) prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen in Organisationen sind wiederum zu unterteilen in i) prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämissen sowie in ii) prinzipiell entscheidbare, jedoch nicht entschiedene Entscheidungsprämissen. Hier sind wiederum viele Beispiele denkbar:

Die schon angesprochene Beschreibung der Stelle der Sozialarbeiter:in ist eine prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämisse wohingegen oftmals nicht offiziell entschieden wurde, dass Raucherpausen als Arbeitszeit geduldet und nicht von den Pausenzeiten abgezogen werden. Diese Entscheidung kann auch anders getroffen werden – sie ist damit prinzipiell entscheidbar, hier jedoch nicht entschieden.

Das klingt an dieser Stelle noch sehr theoretisch, eröffnet aber den Blick auf das, was zur Entwicklung von Organisationen entschieden werden kann. Das lässt sich kurz zusammenfassen:

Alle Entscheidungen, die den prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zugeordnet werden können, tragen zur Entwicklung und Veränderung von Organisationen bei. Insbesondere lassen sich die folgenden vier prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen unterscheiden:

  1. Zweckprogramme: Hier wird entschieden, welche Ziele oder Zwecke in der Organisation erreicht werden sollen.
  2. Konditionalprogramme: Vorgaben, Regeln und Prozesse der Organisation. Sie legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird.
  3. Entscheidungswege: Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Hierarchien, Mitzeichnungsrechte und damit, verkürzt, das Organigramm.
  4. Personal: Hier kommt „der Mensch“ wieder ins Spiel, denn es macht für Organisationen einen großen Unterschied, wer welche Stelle wie ausfüllt. Unter den Bedingungen des Fachkräftemangels ergeben sich hier jedoch Probleme, wenn nicht mehr ausgewählt werden kann, sondern Menschen bspw. aufgrund von Fachkraftquoten eingestellt werden müssen.

Fraglich bleibt leider, was wie entschieden und damit formalisiert werden sollte und welche prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen besser nicht entschieden werden.

Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen!

So gibt es bezogen auf Zweck- und Konditionalprogramme, auf Entscheidungswege und das Personal leider nicht die eine „richtige Entscheidung“, da fraglich ist, was für die jeweils sehr individuelle Organisation unter ihren je spezifischen Bedingungen richtig ist. Das ist interessant, wenn man auf die aktuell sehr populären „Management-Moden“ schaut:

Agiles Management und agile Organisationen, „teal organizations“ (vgl. Laloux, 2014, 43ff), demokratische Organisationen, Holocracy, „irgendwas mit New Work“ und Vieles mehr wollen oftmals Lösungen sein für in der eigenen Organisation vielleicht gar nicht existierende Probleme. Aber wenn doch selbst die Apotheken-Umschau (im November 2022) ihren Titel mit „New Work“ schmückt – dann muss an dem New Work doch was dran sein, oder etwa nicht?

Nein, denn der Blick auf die oben skizzierten, in Organisationen prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zeigt, dass dort ein „richtig“ nicht propagiert wird. Vielmehr geht es darum, für die jeweilige Organisation zu analysieren, zu bewerten und dann zu entscheiden, was funktional sein könnte. Daraus folgt, dass es OK ist, wenn Entscheidungswege steil oder flach sind und es ebenso OK ist, wenn in der einen Organisation viele, in der anderen hingegen wenige Regeln, Vorgaben und definierte Prozesse existieren. Es kann auch Organisationen geben, die nur einen Zweck verfolgen und Organisationen, die mehrere Zwecke in unterschiedlichen Bereichen verfolgen.

Man kann sich Organisationsentwicklung somit vorstellen wie das, was ein DJ an einem Mischpult betreibt: Es kann der Regler „Zwecke“, der Regler „Entscheidungswege“, der Regler „Konditionalprogramme“ oder auch der Regler „Personal“ bewegt / verändert werden.

Wichtig ist, dass die Veränderungen eines Reglers Auswirkungen auf die anderen Regler hat oder, anders formuliert: „Jede Veränderung eines Strukturaspekts hat (…) mehr oder minder starke Auswirkungen auf die anderen Strukturaspekte“ (Kühl, 2016, 29) – es bleibt jedoch unklar, welche Auswirkungen genau dies sein werden. Anders formuliert folgt daraus, dass „es ’normal‘ ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden“ (Göpel, 2022, 33).

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

Anstatt „Management-Moden“ und utopische Vorstellungen von Organisationen zu verfolgen, ist die zu beantwortende Frage gelingender Organisationsentwicklung:

Passen die Konditionalprogramme, Entscheidungswege und das Personal zu den von der Organisation verfolgten Zwecken oder (wo) sind Veränderungen vorzunehmen?

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit

Aber was heißt das jetzt für meine Vorstellung „utopischer“ sozialer Organisationen? Habe ich kein zukünftiges Wunschbild sozialer Organisationen, das zwar – wie für Utopien üblich – wahrscheinlich nicht realisiert werden kann, aber als Orientierung gebender „Nordstern“ dienen könnte?

Doch, das habe ich, aber es ist deutlich nüchterner, als vielleicht erwartet:

Meine Utopie von Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048 sind Organisationen, die dazu beitragen, dass soziale Entwicklungen und der soziale Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen wirklich gefördert werden. Als Orientierung für die Organisationen dienen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt.

Ob diese Organisationen nun klassisch hierarchisch strukturiert sind, agile Strukturen aufweisen, wenige oder viele Regelungen und Vorgaben von den Mitarbeiter:innen abverlangen, irgendwas mit New Work zu tun haben oder nicht, ist zweitrangig.

Zum einen ist es viel wichtiger, ein „Organisationsbewusstsein“ für soziale Organisationen zu entwickeln: Es ist und bleibt auch in Zukunft auf allen Ebenen sozialer Organisationen, insbesondere aber für Führungskräfte, relevant zu verstehen, was eine Organisation ist und wie „die Einstellungen des Mischpults“ verändert werden können / sollten / müssten.

Zum anderen ist mir wichtig, dass es den Menschen, die für die Führung und Gestaltung sozialer Organisationen Verantwortung tragen (und damit eigentlich allen Mitarbeiter:innen), gelingt, Motivation, Kraft, Mut und Optimismus aufrechtzuerhalten. Denn nur damit ist die kontinuierliche Arbeit an der zeitgemäßen und bedarfsgerechten Gestaltung sozialer Organisationen unter den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Sozialwirtschaft zu bewältigen.

Nebenbei bemerkt: Meine Utopie sozialer Organisationen ist nur eine kleine Abwandlung der deutschsprachigen Definition Sozialer Arbeit, die in meinen Augen als zeitlose Orientierung für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit dienen und ebenso wunderbar als Orientierung für Entscheidungen in sozialen Organisationen herangezogen werden kann.


Wie aber sieht Deine Utopie sozialer Organisationen aus? Freue mich auf deinen Kommentar dazu…


Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet/. Download am 15.11.2023.
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Göpel, M. (2022): Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brüssel: Nelson Parker.
  • Spiegel, Hiltrud von (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München.
  • Wimmer, R. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Wie organisationale Resilienz in Sozialen Organisationen gestaltet werden kann: Ansätze, Herausforderungen und Lösungen

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Die Herausforderungen, denen Soziale Organisationen gegenüberstehen, sind enorm. Spannend ist, dass die sich überlagernden gesellschaftlichen Probleme und Polykrisen nicht nur akut sind, sondern sich gegenseitig verschärfen (vgl. hier). Dramatisch dabei ist, dass sich aktuell kaum erkennbare politische Lösungen abzeichnen. Vor dem Hintergrund dieser mehr als herausfordernden Situation ist es entscheidend, dass Menschen in und – hier liegt mein wesentliches Interesse in der Organisationsentwicklung – Soziale Organisationen übergreifend resilient bleiben. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, wie organisationale Resilienz erreicht werden kann.

Dazu findest Du im Folgenden einige Ideen und Ansätze. So wird einführend der Begriff der organisationalen Resilienz definiert. Daran anschließend werden die aktuell diskutierten Ansätze organisationaler Resilienz skizziert und ein Blick auf die besonderen Herausforderungen sozialer Organisationen geworfen. Abschließend wird ein Vorgehensmodell zur Gestaltung organisationaler Resilienz beschrieben, dass Dir in Deiner Organisation helfen kann, Schritte in Richtung „Krisenfestigkeit“ und damit organisationaler Resilienz zu gehen.

Der Beitrag basiert auf einer Ausformulierung eines meiner IdeeQuadrat Newsletter, den ich vor Kurzem verfasst habe. Falls Du Lust hast, regelmäßig Ideen und Gedanken rund um New Social Work, rund um Organisationsentwicklung sozialer Organisationen, Tipps, Links, Infos und mehr zu bekommen, kannst Du den Newsletter hier abonnieren.

Und als Transparenzhinweis: Ja, ich habe die Gratisversion von ChatGPT für erste Ideen zum Text genutzt und verwende auch einige Abschnitte davon hier im Text.

Was ist organisationale Resilienz?

Organisationale Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit einer Organisation, sich an Veränderungen, Störungen, Krisen und unerwartete Herausforderungen anzupassen und dennoch effektiv zu funktionieren. Dabei wirken verschiedene Aspekte und „Qualitäten einer Organisation auf der Mikro-, Meso- und Makroebene [zusammen], die das Unternehmen widerstandsfähig und flexibel für die Handhabung von Belastungen und Krisen machen“ (vgl. Heller, J. (Hrsg.) (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Heidelberg: Springer, 134).

Der Begriff der organisationalen Resilienz ist eng mit dem Konzept der Resilienz in der Psychologie verbunden. Dort beschreibt es die Fähigkeiten einer Person, in schwierigen Zeiten widerstandsfähig zu bleiben und sich von Rückschlägen zu erholen.

Im organisatorischen Kontext geht es bei Resilienz inbesondere um:

  1. Anpassungsfähigkeit: Eine resiliente Organisation kann sich schnell auf neue Situationen einstellen und flexibel auf Veränderungen reagieren. Dies kann bedeuten, dass sie Geschäftsmodelle, Entscheidungswege, Prozesse oder Strategien verändern kann, um sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
  2. Krisenbewältigung: Resiliente Organisationen sind in der Lage, mit Krisen und unvorhergesehenen Herausforderungen effektiv umzugehen. Sie haben bspw. Notfallpläne und -verfahren, um in Krisensituationen zu reagieren und den Betrieb aufrechtzuerhalten.
  3. Lernfähigkeit: Eine resiliente Organisation lernt aus Erfahrungen und Fehlern. Es werden regelmäßig Restrospektiven und Nachbetrachtungen durchgeführt, um zu verstehen, was schief gelaufen ist. Darauf basierend werden Maßnahmen zur Verbesserung erarbeitet und umgesetzt.
  4. Kommunikation: Effektive, effiziente und transparente Kommunikation ist ein wichtiger Faktor für organisationale Resilienz. Die Fähigkeit, Wissen und Informationen innerhalb der Organisation zu teilen und mit internen wie externen Stakeholdern zu kommunizieren, hilft, Unsicherheit zu reduzieren und Vertrauen aufzubauen.
  5. Ressourcenmanagement: Resiliente Organisationen verwalten ihre Ressourcen sorgfältig, um sicherzustellen, dass sie in schwierigen Zeiten ausreichend Kapazitäten und Mittel haben, um weiterhin funktionieren zu können.
  6. Risikomanagement: Eine wichtige Komponente der organisatorischen Resilienz ist die Identifizierung und Bewertung von Risiken. Durch die proaktive Erkennung von potenziellen Bedrohungen können Organisationen Maßnahmen ergreifen, um sich besser darauf vorzubereiten.

Kurz: Organisationale Resilienz trägt dazu bei, das Überleben und damit auch den langfristigen Erfolg von Organisationen sicherzustellen. Dabei geht es nicht allein darum, auf unmittelbare Herausforderungen zu reagieren, sondern proaktiv auf eine langfristige Fähigkeit zur Anpassung und Überwindung von Schwierigkeiten hinzuarbeiten.

Bei der Befassung mit organisationaler Resilienz ist es hilfreich, die Ebenen „Mitarbeitende“, „Teams“ und die „Organisation als Ganzes“ zu unterscheiden.

So ist a) „organisationale Resilienz aus Sicht der Beschäftigten (…) dann gegeben, wenn das resiliente Verhalten durch organisationale Ressourcen unterstützt wird. Diese Ressourcen umfassen Aspekte wie etwa: Handlungsspielraum Unterstützung durch Vorgesetzte, angemessene Arbeitsmenge und Arbeitsintensität“ (vgl. ebd., S. 104, Hervorhbg. durch den Verf.).

Aus b) der Perspektive von Teams ist organisationale Resilienz dann gegeben, wenn folgende Facetten berücksichtigt sind (vgl. ebd.):

  • Die Organisation hält die Mitarbeitenden über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden.
  • Die Organisation schafft ein Verständnis der Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation.
  • Die Organisation stellt Ressourcen flexibel bereit, um eine Reaktion auf unvorhergesehene Probleme zu ermöglichen.

Und übergreifend, aus c) der Perspektive der Organisation, gibt es sogar eine ISO-Norm zu organisationaler Resilienz (22136:2017), in der die folgenden 9 Elemente organisationaler Resilienz beschrieben werden (vgl. näher dazu bspw. hier):

  1. Gemeinsame Vision und Klarheit über den Zweck: Eine resiliente Organisation zeichnet sich durch die gemeinsame Vision, klare Ziele und gemeinsame Werte aus. Dies wird auf allen Hierarchieebenen geteilt.
  2. Verständnis des internen und externen Umfelds und Einflussnahme: Eine resiliente Organisation verfügt über ein tiefes Verständnis der internen und externen Systeme, in denen sie agiert. Dies ermöglicht der Organisation, aktiv Einfluss zu nehmen und Möglichkeiten zur Anpassung zu schaffen.
  3. Führung, die Unsicherheit und Scheitern akzeptiert und ermutigt: In einer resilienten Organisation herrscht eine Führungskultur, die es den Mitarbeitenden erlaubt, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
  4. Festlegung von relevanten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen: Eine resiliente Organisation verankert gemeinsame Überzeugungen und Werte, positive Einstellungen und Verhaltensweisen fest in der Kultur, die für jeden Einzelnen von Bedeutung sind.
  5. Teilen von Informationen und Wissen: Die Mitglieder einer resilienten Organisation teilen aktiv Informationen und Wissen. Das Lernen aus Erfahrungen, einschließlich Fehlern, wird unterstützt und gefördert.
  6. Verfügbarkeit von Ressourcen: Eine resiliente Organisation verfügt über Ressourcen wie qualifizierte Mitarbeitende, finanzielle Mittel, Gebäude, Informationen und Technologie, um die anfälligen Bereiche der Organisation abzusichern und eine schnelle Anpassung an sich ändernde Umstände zu ermöglichen.
  7. Entwicklung und Koordination der Unternehmensbereiche: In einer resilienten Organisation werden die verschiedenen Unternehmensbereiche (bspw. Personalwesen, Qualitätsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Krisenmanagement und Informationstechnologie), definiert, entwickelt und koordiniert. Dies geschieht im Einklang mit den strategischen Zielen der Organisation.
  8. Evaluierung und Unterstützung kontinuierlicher Verbesserung: Eine resiliente Organisation bewertet ihre Ergebnisse und lernt aus Erfahrungen, um Chancen für kontinuierliche Verbesserung zu identifizieren.
  9. Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren und zu managen: Eine resiliente Organisation erkennt frühzeitig zukünftige Veränderungen, kann angemessen darauf reagieren und diese erfolgreich bewältigen.

Organisationale Resilienz und die besonderen Herausforderungen sozialer Organisationen

Meine erste Überlegung war, jeden der einzelnen Aspekte organisationaler Resilienz aus der ISO-Norm herauszugreifen und in Bezug zu den Besonderheiten sozialer Organisationen zu reflektieren. Der Aufwand dahinter ist jedoch enorm und der Mehrwert für Dich wahrscheinlich eher begrenzt… Entsprechend habe ich aus den drei Bereichen a) Mitarbeitende, b) Teams und c) Organisationen jeweils einen Aspekt herausgegriffen, die ich als besonders beachtenswert empfunden habe: 

  1. Auf Ebene der Mitarbeitenden ergeben sich spätestens durch den Fachkräftemangel Herausforderungen bezogen auf die angemessene Arbeitsmenge und Arbeitsintensität. Es ist keine Raketenwissenschaft, festzustellen, dass bei gleichbleibender Arbeitsmenge (bspw. zu betreuende Kids in der Kita) und abnehmendem Personal die Arbeitsmenge für die verbleibenden Mitarbeiter:innen steigt. In den Kernprozessen Sozialer Organisationen fehlt die Möglichkeit der Automatisierung (fast) vollständig.
  2. Auf Ebene der Teams sind zum einen die Ressourcen für Unvorhergesehenes (sog. Slack Ressources) fraglich: Gibt es sowas überhaupt oder sind soziale Organisationen „komplett auf Kante genäht“? Spannender finde ich aber, dass, so die obigen Ausführungen, Resilienz in Teams gefördert wird durch ein klares Verständnis der Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation. Mein Blick in soziale Organisationen zeigt jedoch immer wieder, dass nicht nur das Verständnis der Strukturen und Prozesse, sondern Strukturen und Prozesse überhaupt fehlen. Da fällt es dann entsprechend schwer, ein Verständnis dieser zu entwickeln.
  3. Auf Ebene der „Organisation als Ganzes“ könnte ich vieles, will aber nur das erste Element herausgreifen: Resiliente Organisationen antizipieren Veränderungen. Dazu braucht es die Fähigkeit, sog. irritationsrelevante Informationen überhaupt wahr- und dann auch noch aufnehmen zu können. Das klingt einfacher, als es ist, denn: Organisationen als soziale Systeme grenzen sich – sehr verkürzt – bewusst von ihrer Umwelt ab. Sie ignorieren bewusst viele Informationen, die vielleicht wichtig sein könnten, um mit der Komplexität überhaupt umgehen zu können: Hochschulen schauen auf das Hochschulsystem, soziale Organisationen beobachten die Entwicklungen der Sozialgesetzgebungen, Krankenhäuser beobachten die Entwicklungen im Medizinsektor und so weiter… Würden alle Informationen einfließen, wäre das System überlastet. Wenn man sich aber bspw. die Entwicklungen rund um KI oder AI anschaut (ich empfehle gerade diese Podcast-Episode sehr), stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese haben? Dabei reicht es nicht aus, dass einzelne Menschen in der Organisation sich mit diesen Fragen befassen. Vielmehr muss gegeben sein, dass es zu „anschlussfähigen Kommunikationen“ in der Organisation kommt.

Noch einmal: Ich hätte auch andere Aspekte herausgreifen können, die die Entwicklung organisationaler Resilienz in sozialen Organisationen erschweren. So wäre bspw. die Herausforderungen durch die Abhängigkeit von Kostenträgern (vgl. das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis) ebenso erwähnenswert wie die Frage, ob und wie es gelingen kann, die Lernfähigkeit als Mitarbeiter:in, Team und Gesamtorganisation zu steigern.

Und trotz dieser Herausforderungen müssen wir uns angesichts der skizzierten Veränderungen damit befassen…

…wie die Stärkung der organisationalen Resilienz auch in sozialen Organisationen gelingen kann!

Abschließend möchte ich einen Schritt-für-Schritt-Ansatz zur Stärkung der organisationalen Resilienz in Sozialen Organisationen empfehlen. Und ganz ehrlich: Es geht um die Gestaltung und Entwicklung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber der Reihe nach:

Zu Beginn der Entwicklung resilienter Organisationen steht a) eine umfassende Bestandsaufnahme, gefolgt von b) einer gründlichen Resilienz-Diagnose und endet schließlich mit c) gezielten Maßnahmen zur Stärkung der relevanten Fähigkeiten.

Bestandsaufnahme und Resilienz-Diagnose

Hilfreich für die Bestandsaufnahme bzw. die „Ist-Analyse“ ist die Orientierung an einem Management-Modell, das hilft, alle Bereiche einer Organisation in den Blick zu nehmen. Denkbar ist bspw. eine Befassung mit dem St. Galler Management Modell. Aber etwas Eigenwerbung darf hier ja ruhig sein…

Deswegen empfehle ich das – aus meiner Sicht natürlich – hilfreiche Werkzeug zur Bestandsaufnahme – die IdeeQuadrat New Work Canvas.

In diesem Werkzeug finden sich zahlreiche Fragen, die dazu beitragen können, die Organisation zu analysieren und über Vorgänge in der Organisation zu reflektieren, um dann auf der Reflexion basierend Entscheidungen treffen zu können, die zur Gestaltung der organisationalen Resilienz dienen.

Kategorien, die in der Arbeit mit dem IdeeQuadrat New Work Canvas in den Blick genommen werden, sind:

  • Vision, Zweck und Identität
  • Sachmittel und Ressourcen
  • Optimierung, Innovation und Exnovation
  • Strukturen und Entscheidungswege
  • Interne und externe Stakeholder
  • Prozesse und Regeln
  • Strategien und Konzepte
  • Mandate und Funktionen
  • Kommunikation

Bei der Bestandsaufnahme und der damit einhergehenden Resilienz-Diagnose wird der Blick zunächst auf die bestehenden Herausforderungen in der Gegenwart gerichtet. Der Blick auf die Herausforderungen ist insofern relevant, da zum einen oftmals unklar ist, wie die Vorgänge in meist hochgradig dezentralen sozialen Organisationen gestaltet sind und zum anderen nur über die wahrgenommene Notwendigkeit der Entwicklung ausreichend „Veränderungsenergie“ erzeugt werden kann, um (sofern notwendig) tiefgreifende Anpassungen vorzunehmen.

Gezielte Maßnahmen zur Stärkung der organisationalen Resilienz

Der dritte Schritt ist die Entscheidung und Umsetzung gezielter Maßnahmen zur Stärkung der Organisationalen Resilienz. Diese sind je nach Herausforderung der jeweiligen Organisation hochgradig individuell. Entsprechend ist es schwierig, hier „für alle passende Maßnahmen“ zu beschreiben.

Der Blick auf die in der ISO-Norm aufgeführten Aspekte jedoch eröffnet zumindest eine Orientierung dessen, was für eine resiliente Organisation gegeben sein sollte. Orientiert an den Kategorien des IdeeQuadrat New Work Canvas ist es entsprechend relevant…

  • …sich über die Vision und (vor allem) die Mission der eigenen Organisation(seinheit) bewusst zu werden: Die Mission, der Zweck, von mir aus auch der „Purpose“ der Organisation ist relevant, damit allen Beteiligten klar ist, woran die Organisation arbeitet. Die Fokussierung auf eine erstrebenswerte Mission (und Vision), in der auch die emotionalen Aspekte innerhalb der Organisation berücksichtigt werden, bietet eine klare Ausrichtung, an der sich gemeinsame Strategien und Prozesse orientieren können.
  • …sich den vorhandenen Ressourcen bewusst zu sein und diese krisenfest zu entwickeln. Dabei sind es in dieser Kategorie vornehmlich finanzielle und personelle Ressourcen und Sachmittel. Hinzu kommen aber auch Gebäude oder die digitale Infrastruktur ebenso wie die Kompetenzen und Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen. Krisenfest entwickeln heißt übrigens nicht ausschließlich, die Ressourcen auszubauen und um jeden Preis zu wachsen. Auch der Blick auf Ineffizienzen und damit einhergehende Ressourceneinsparungen ist relevant.
  • …Prozesse zu gestalten, die es ermöglichen, aus Erfahrung zu lernen. Lernen ist umfassend zu verstehen. So sind zum einen regelmäßige Möglichkeiten zu schaffen, hypothesenbasiert Bestehendes (bspw. Prozesse, Abläufe, Angebote, Geschäftsmodelle) zu optimieren und weiterzuentwickeln. Hinzu kommt die Entwicklung der Innovationsfähigkeit, unterstützt durch ein passfähiges Innovationsmanagement. Nicht außer acht gelassen werden darf aber auch hier die Möglichkeit, explizit zu exnovieren und das Bestehende auf allen Ebenen infrage zu stellen. Hierbei ist relevant, internes und externes Wissen in den Prozess der Optimierung, Innovation und Exnovation zu integrieren.
  • …Strukturen zu gestalten, die Anpassungsfähigkeit ermöglichen. Das klingt leichter, als es in der Realität ist. Denn: In sozialen Organisationen geht es nicht immer um die Gestaltung „agiler Organisationsstrukturen“. Diese sind – in ihrer Grundstruktur – oftmals aufgrund der Dezentralität gegeben. So kümmern sich (kleine) Teams um die Wertschöpfung vor Ort, in Wohngruppen, Beratungsstellen, regionalen Einrichtungen. Anpassungsfähigkeit kann hier auch bedeuten, Klarheit (auch in der Krise) über die Gestaltung transparenter Entscheidungswege (Hierarchien) zu schaffen, anstatt Hierarchie ausschließlich „zu verteufeln“.
  • …zukunftsfähige Lern- und Entwicklungswege für die Menschen in der Organisation zu schaffen. Das Personal ist das wesentliche Kapital sozialer Organisationen. Dies gilt nicht nur, aber deutlich verstärkt in Zeiten des Fachkräftemangels. Entsprechend gilt es, sicherzustellen, dass die Kompetenzen der Mitarbeitenden mit aktuellen und zukünftigen Anforderungen korrelieren! Dies erhöht zum einen die Mitarbeiter(ver)bindung und sichert zum anderen das Überleben der Organisation. Hier sind aus meiner Sicht die Ansätze des New Learnings enorm hilfreich.
  • …transparente und funktionale Regeln und Prozesse zu schaffen, die Zusammenarbeit sicherstellen. So fällt mir immer wieder auf, dass Kern-, Unterstützungs- und Managementprozesse entweder gar nicht sind definiert oder nicht bekannt sind. Diese sind jedoch insbesondere in Krisenzeiten hilfreich, um den Betrieb verlässlich aufrechtzuerhalten. Es gilt jedoch auch, bestehende Vorgaben und Prozesse im Sinne der Exnovation zu hinterfragen und nicht funktionale Prozesse abzuschaffen.
  • …klare und sinnvolle strategische Stoßrichtungen für die (nahe) Zukunft zu definieren. Denn: Sofern nicht klar ist, wo die Entwicklungsrichtung der Organisation liegt, worein heute und in Zukunft investiert werden soll (und muss), bleibt auch in der Krise unklar, wo strategische Änderungen vorgenommen werden müssen. An dieser Stelle ist noch relevant, dass nicht nur die Entwicklung, sondern vor allem die Umsetzung der Strategien aktiv gestaltet wird. Im Sinne der adaptiven Strategie gilt es, auch aktuelle Entwicklungen in die Strategie zu implementieren, um auch hierüber die Anpassungsfähigkeit sicherzutellen.
  • …in der Organisation und in den Teams klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu definieren. Hierbei recht es oft nicht aus, allein unflexible und wenig aussagekräftige „Stellenbeschreibungen“ zu erstellen. Vielmehr geht es um die Unterscheidung von Rollen (im Sinne von Stellen) und den Verantwortungsbereichen (Mandaten). So haben bspw. in einem Team einer stationären Einrichtung alle die gleiche Stellenbeschreibung. Dies führt jedoch dann zu Problemen, wenn (nicht nur) in der Krise selbstbestimmt agiert und Verantwortung übernommen werden muss.
  • …die Art und Weise, wie in der Organisation miteinander umgegangen wird, in den Blick zu nehmen. Die Interaktionen und Kommunikationen haben großen Einfluss auf den Geist, die Atmosphäre, die Kultur, das emotionale Wohlbefinden und die Effektivität der Teams und der Organisation als Ganzes. Und gerade in Krisenzeiten sind dies hoch relevante Aspekte, die das Überleben (oder auch nicht) einer Organisation massiv beeinflussen können. Wie auch in der ISO-Norm angeführt, geht es hier bspw. auch um die Frage, wie und ob Wissen in der Organisation geteilt wird.

Fazit, oder: Wir sind besser als wir denken!

Klar ist, dass in einer Zeit, in der der soziale Sektor vor immer neuen Herausforderungen steht, die Entwicklung organisationaler Resilienz von entscheidender Bedeutung ist. Und es wurde auch deutlich, dass organisationale Resilienz Anpassungen und Entwicklungen auf individueller, auf Team- und auf Organisationsebene erfordert. Und da haben soziale Organisationen sowieso spezifische Herausforderungen. Kurz:

Oh man, wer soll das bitte wann und wie machen?

Ja, das ist richtig. Aber! Aber ich habe oben des Öfteren die hoch diversen, dezentralen Strukturen sozialer Organisationen betont. Ja, auch diese bringen einige Herausforderungen mit. Aber sie bieten auch enorme Möglichkeiten, sofern die Vorteile berücksichtigt werden.

Und die Vorteile liegen in der Diversität. Wenn soziale Systeme wie Ökosysteme betrachtet werden, dann zeigt sich, dass insbesondere Monokulturen hochgradig krisenanfällig sind. Reine Fichtenmonokulturen sterben durch einen kleinen Käfer sowie Geschäftsmodelle, die ausschließlich auf ein Produkt bzw. Angebot setzen, durch eine kleine Gesetzesänderung oder Innovation am Ende sein können.

P.S.: Das Bild zu diesem Beitrag zeigt den Garten meines Vater. Ich finde, es zeigt sehr gut, was Resilienz bedeuten kann (auch wenn hier der Wildwuchs etwas überwiegt 😉


Wie aber steht es um die Resilienz Deiner Organisation, Deines Teams oder Deiner ganz persönlichen Resilienz? Hinterlasse dazu gerne einen Kommentar – hier oder auf den verschiedenen, anderen Kanälen…

Quellen

  • Heller, J. (Hrsg.) (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Heidelberg: Springer.

Resonanz, Exnovation und Kooperation, oder: Das Ende des Business as usual für die Zukunft der Sozialwirtschaft

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Beendigung der Armut. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. Ermächtigung der Frauen. Dies sind die drei der fünf „außerordentlichen Kehrtwenden“, die laut dem neuen Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ (vgl. Dixsons-Declève et al., 2022) notwendig sind, um die Risiken der Klimakatastrophe substanziell zu reduzieren. Angeführt werden darüber hinaus der Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und der Einsatz sauberer Energie, um die Menschheit zu retten.

Der Anspruch Sozialer Arbeit

Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen – dies könnte gut eine anspruchsvolle Mission einer sozialen Organisation oder eines Wohlfahrtsverbands sein: Welt retten, um die Menschheit zu retten – reduziert auf das Machbare.

Das lässt den Anspruch Sozialer Arbeit erkennen: Soziale Arbeit will die Lebenswelt der Menschen, für die soziale Organisationen die (Mit-)Verantwortung tragen, besser machen, was auch beim Blick auf die Internationale Definition Sozialer Arbeit (vgl. DBSH, 2016) deutlich wird:

Soziale Arbeit fördert „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (…). Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern“.

Soziale Arbeit hat sich viel vorgenommen! Es stellt sich die Frage, ob wir – jede*r Einzelne, unsere Organisationen und die Soziale Arbeit als Ganzes – diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurden und in der Zukunft gerecht werden können.

Vergangenheit und Zukunft, oder: Das Ende des Business as Usual

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als „wahre Erfolgsgeschichte“ (Merten, 2001, 165) erzählen. Hans Thiersch spricht vom letzten Jahrhundert gar als „sozialpädagogisches Jahrhundert“ (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die Soziale Arbeit“ weiterentwickelt. Aber fördert sie wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen? Da können Zweifel aufkommen.

Und der IW-Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ (Hickmann, Koneberg, 2022) zeigt, dass Berufe in den Bereichen Sozialarbeit / Erziehung / Pflege schon heute besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind. Das spüren die Beschäftigten an allen Ecken. Soziale Organisationen bewegen sich in den uns alle betreffenden Polykrisen (vgl. bspw. Scharmer, 2022) am Rande der Belastungsgrenze.

Für die Gestaltung der Zukunft ist da wenig Platz, denn wenn man linear in die Zukunft sozialer Organisationen blickt, ergibt sich folgendes Bild:

Angesichts demographischer Entwicklungen steigt der Gesamtbedarf an personenbezogenen Dienstleistungen bei gleichzeitig abnehmender Anzahl an Erwerbstätigen. Herausforderungen wie Digitalisierung, Energiekrise, Krieg, Klimakatastrophe kommen hinzu.

Wenn es weitergeht, wie bisher, können die Belastungsdämme der Organisationen und der Sozialwirtschaft nicht mehr lange standhalten.

Die triviale Folgerung aus diesem kurzen Überblick muss lauten (und nach Innen und Außen lauter werden):

 Ein „Weiter so!“, ein „Business as usual“ kann und wird nicht mehr funktionieren. Es braucht „Transformation hin zum Neuem“!

Aber wie sieht das Neue aus? Und vor allem: Wie kann die Transformation dorthin gelingen?

Um diese Fragen spezifisch für soziale Organisationen zu beantworten, lohnt es sich, ausgehend von den Kehrtwenden des Club of Rome, den Blick zu weiten: Wie kann Transformation auf globaler Ebene gelingen und was lässt sich daraus für soziale Organisationen lernen und adaptieren?

Gemeinsam Spüren, oder: Echte Transformation braucht neues Lernen

Im Folgenden wird eine von drei notwendigen Veränderungen herausgegriffen, die angesichts der aktuellen Krisen erforderlich sind, um die Forderungen des Club of Rome auf der systemischen Makroebene, also auf globaler, nationaler und/oder der Ebene der Funktionssysteme (Bildung, Politik, Gesundheit, Soziales…) umzusetzen:

Es braucht die Transformation des Lernens – weg von der Leistungs- und Prüfungsorientierung hin zur Entwicklung von Fähigkeiten zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen, ko-kreativen Gestaltung der Zukunft (vgl. Scharmer, 2022).

Der Gedanke, dass wir zur Bewältigung der globalen Krisen die Art, wie wir Lernen verstehen, ändern müssen, ist nicht neu: Bereits der im Jahr 1979 im Anschluss an den 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Bericht des Club of Rome unter dem Titel „No limits to learning“ rückt explizit das Thema „innovative learning“ in den Vordergrund. Darunter ist ein Lernen zu verstehen, das Kreativität und effektive Kooperation ins Zentrum rückt (vgl. Göpel, 2022, 132). Über Neu-Lernen, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten und Kooperation kann es gelingen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

So wissen wir, was wir tun sollten, kommen aber oft nicht ins Handeln. Rechtliche, institutionelle und individuelle Abhängigkeiten hindern uns daran, gemeinsam neu zu Lernen und das Business as usual nicht nur ernsthaft infrage zu stellen, sondern wirklich anders zu agieren.

Aber wie können wir neu Lernen lernen und das kollektive Gefühl von „so kann es nicht mehr weitergehen“ transformieren in das Neue?

Dazu braucht es (vgl. Scharmer, 2022):

  • institutionelle Infrastrukturen, die alle relevanten Akteure zusammenbringen, um das System gemeinsam zu gestalten,
  • Führungsinstrumente und -kapazitäten, um das Bewusstsein der verschiedenen Akteure von einer Silo- zur Systemsicht zu verändern und
  • finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der oben genannten Maßnahmen.

Resonanz erzeugen, oder: Co-kreative institutionelle Infrastrukturen

Wir sind gefordert, in unseren Organisationen co-kreative institutionelle Infrastrukturen und damit Dialogräume zu gestalten, in denen es gelingt, Resonanz (vgl. Rosa, 2022) zwischen den Themen und den verschiedenen Akteur*innen zu erzeugen.

Resonanz meint a) die Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ (ebd., 57). Damit ist das Hören und Spüren des dezidiert Anderen, des Neuen gemeint – „und das kann durchaus irritierend sein“ (ebd., 59). Hier ist die Verbindung zur organisationalen Innovations- und damit Lernfähigkeit interessant: Für die Ermöglichung von Innovation ist es notwendig, „irritationsrelevante Informationen“ wahrzunehmen bzw. sich von diesen „anrufen“ lassen zu können.

Aus dem „angerufen werden“ folgt b) die Selbstwirksamkeit: „Ich stelle plötzlich fest, (…), dass ich in der Lage bin auf das Empfangene zu reagieren“ (ebd., 60). In Bezug zur organisationalen Innovationsfähigkeit gilt es, die irritierenden Informationen aus der Umwelt für die Organisation nutzbar machen zu können.

Aus der Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ und selbst wirksam zu werden entsteht dann c) die Möglichkeit echter Verwandlung bzw. Transformation:

„Da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre, und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich“ (Rosa, 2022, 62).

Und genau darum geht es: Um Verwandlung, um Transformation, die als Abkehr vom Business as Usual das Neue, echte Innovation und tiefgreifende Veränderung ermöglicht.

Der Moment der Resonanz kann jedoch nicht gekauft, hergestellt oder erzwungen werden. Resonanz ist d) unverfügbar (vgl. ebd., 64). Und genauso ist es in Organisationen:

Appelle an die Mitarbeiter_innen, „jetzt aber mal innovativ zu sein“ oder das Erzwingen nicht resonanzfähiger „New Work Maßnahmen“ werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ergebnislos verpuffen, wenn nicht echte, strukturelle Veränderungen erfolgen, die anderes Arbeiten nach sich ziehen.

Auf-Hören, oder: Systemische Führungsinstrumente und -kapazitäten

Im obigen Zitat irritiert das Wort „aufhören“. Rosa verbindet mit dem Auf-Hören das sich „anrufen und erreichen lasse[n] von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-Do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist“ mit dem gängigen Verständnis des Begriffs Aufhören im Sinne von „anhalten, stoppen“ (ebd., 56).

Beides ist wichtig: Zum einen gilt es, aufzuhorchen und sich von den irritierenden Informationen aus der Umwelt anrufen zu lassen, um daraus Neues zu gestalten. Zum anderen gilt es aber auch, aufzuhören und Aktivitäten zu stoppen, die keinen Mehrwert für die Menschen und die Organisation liefern.

Es lohnt die Beschäftigung mit Exnovation – der anderen Seite von Innovation: Exnovation heißt, dass Nutzungssysteme, Prozesse, Praktiken oder Angebote, die getestet und bestätigt wurden, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen, eingestellt werden (vgl. Epe, 2022). Exnovation heißt jedoch keinesfalls, in der Organisation eine Kultur der Nicht-Innovation zu propagieren. Exnovation, das Aufhören, die Abschaffung, das Beenden, gehört zur Innovation zwingend dazu – wie zwei Seiten einer Medaille.

Und hier sei mit Blick auf das „sozialpädagogische Jahrhundert“ die Frage gestattet: Wo haben wir im Sozialwesen erfolgreich Dinge nicht mehr getan, nicht (mehr) wirksame Angebote nicht weitergeführt und wirklich aufgehört, um so Raum für Neues zu schaffen?

Gleiches gilt institutionell: Anstatt grundlegende, strukturelle Barrieren zu beseitigen, die die Veränderung des Systems blockieren, versuchen wir, Menschen zu motivieren, „sich zu verändern“ und neue Methoden und Angebote zu schaffen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten. Echtes Lernen und damit Veränderung komplexer sozialer Systeme geschieht aber nicht, indem wir „mehr des Gleichen“ tun. Die Beseitigung struktureller Barrieren, das Weglassen, das Exnovieren ist oft der wirkungsvollste Hebel, um soziale Systeme und damit Organisationen in Veränderung zu bringen.

Veränderung bedeutet, etwas aus dem gewohnten Trott zu bringen. Es mag zwar oberflächlich beruhigend und entlastend sein, sich an Routinen und Business as usual zu klammern. Sinnvoller ist aber die Frage: Was von dem, was wir in unserer Organisation oder im Team tun, kann weg, womit können wir aufhören?

Bezogen auf Vorgaben in Organisationen hat sich zur Beantwortung der Frage die einfache Methode „Kill a stupid rule“ bewährt:

  1. In Kleingruppen sammeln die Beteiligten regelmäßig bestehende Regeln aus ihrer Organisation, die sie gerne abschaffen/ändern würden und notieren diese.
  2. Die Notizen werden vorgestellt und in ein Koordinatensystem eingruppiert: wenig bis sehr aufwändig und kleine bis große Wirkung.
  3. Ideen mit wenig Aufwand und großer Wirkung können direkt angegangen werden. Ideen mit mehr Aufwand kann man priorisieren und nach und nach umsetzen.

Eigentlich einfach, aber wir wissen auch: Das Auf-Hören fällt schwer – gesellschaftlich, organisational und individuell.

Kooperation, oder: Finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der Maßnahmen

So, wie in unseren Organisationen nicht eine Person allein „den Laden am Laufen hält“ lässt sich die Transformation der Gesellschaft nicht durch „den einen Hebel“ und damit losgelöst von anderen sozialen Systemen betrachten. Mehr noch:

„Kooperation war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Lebens, und sie ist bis heute ein das Leben in all seinen Varianten begleitendes Phänomen geblieben“ (Bauer, 2006, 221).

Wollen wir die Zukunft des Sozialwesens gestalten und die Abkehr vom Ego- zum Eco-System und Möglichkeiten gestalten, „vom größeren Gesamtsystem aus zu handeln“ (Scharmer, 2013, 220), müssen wir eine Kultur der Kooperation (wieder)beleben, auch wenn dies „ein radikaler Gegenentwurf zum neoliberalen und zum auf Verdrängungswettbewerb und Auslese aufbauenden darwinistischen Menschenbild [ist], das Ökonomie und Gesellschaft seit langer Zeit und heute noch prägt“ (Seliger, 2022, 119).

Kooperation erfolgt in vielen Fällen bereits zwischen sozialen Organisationen und zwischen unterschiedlichen Verbänden (auch wenn es hier ebenfalls Entwicklungsbedarf gibt). Aber gerade mit Blick auf die Finanzierung Sozialer Arbeit ist der Blick auf Kooperation hochgradig relevant:

Soziale Organisationen sind in ihrer Finanzierung im Wesentlichen abhängig von Sozialleistungsträgern. Entsprechend greift der isolierte Blick auf die institutionelle Transformation, auf innerorganisationale Veränderungsnotwendigkeit zu kurz – ohne damit zu sagen, dass innerhalb der Organisationen keine Veränderungen stattfinden sollten – da sie in der Finanzierung ihrer Leistungen abhängig sind von den Sozialleistungsträgern.

Eine Herausforderung der Verbindung von Sozialleistungsträgern auf der einen und sozialen Organisationen als Leistungserbringern auf der anderen Seite besteht aber darin, dass beide Systeme unterschiedliche binäre „Leitdifferenzen“ (Codes) aufweisen, anhand derer sich die Entscheidungen im jeweiligen System orientieren.

Soziale Organisationen wägen ihre Entscheidungen – sehr grob formuliert – anhand der Leitdifferenz „Helfen / nicht helfen“ (vgl. Kleve, 2007, 147) ab, wohingegen die Sozialleistungsträger ihre Entscheidungen anhand der Leitdifferenz „Rechtlich vorgegeben / nicht vorgegeben“ abwägen.

Daraus folgt, dass soziale Organisationen komplexe soziale Probleme anders angehen würden, wenn die Finanzierungsmöglichkeiten dies zuließen. So wird bspw. die Einbeziehung der Klient*innen und die Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung in allen moderneren Methoden Sozialer Arbeit gefordert, deren Umsetzung jedoch in Teilen durch die Notwendigkeit konterkariert, sich an die Vorgaben der Sozialgesetze zu halten, um darüber die Finanzierung sicherzustellen.

Zur zukünftigen Sicherstellung einer sinnvollen Finanzierung ist es also notwendig, die Kooperation zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern deutlich zu steigern, um über den Dialog ein gegenseitiges Verständnis der Notwendigkeiten wirksamer Finanzierung herzustellen.

Außerdem ist in sozialen Systemen, großen wie kleinen, alles miteinander verbunden (vgl. Göpel, 2022, 36ff). Entsprechend muss der kooperationsfokussierte Blick über die Grenzen der Sozialwirtschaft hinaus geweitet werden: Kooperation muss auch verstärkt zwischen anderen Unternehmen und Funktionssystemen gestärkt werden, um Transformation zu ermöglichen.

Das Ausweiten der Kooperation vereinfacht wiederum das unverzichtbare „Sich-anrufen-lassen“ von anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten, die ergriffen werden können, um gelingende Zukunft zu gestalten.

Das Ende des Business as usual, oder: Mutige Visionen für die Zukunft der Sozialwirtschaft

Es muss nicht wiederholt werden, dass die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen heute und in Zukunft widmen müssen, massiv sind. Sie werden heute nicht absehbare Veränderungen erfordern. Einfache Antworten und Business as usual werden aber definitiv nicht funktionieren, auch wenn die Suche nach Sicherheit und Beständigkeit in einer hyperaktiven Welt allgegenwärtig ist. Aber es hilft nicht, angesichts der Dynamik und Komplexität der Herausforderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gute in der aktuellen Situation: In allen Problemen (ver-)stecken sich auch Chancen, wenn wir lernen, mutige Visionen der Zukunft der Sozialwirtschaft in den Blick zu nehmen:

Mutige Visionen brechen mit dem Business as Usual. Sie helfen uns, die Gegenwart hinter uns zu lassen und damit neue Perspektiven einzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und gehen an Ihren Arbeitsplatz. Dort muss über Nacht ein Wunder geschehen sein und es ist alles so, wie Sie es sich schon immer erträumt haben:

  • Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert hat?
  • Was sind die größten Unterschiede zu gestern?
  • Wie fühlt sich die Veränderung an? Was ist beglückend?
  • Mit welchem Bild würden Sie die neue Situation Ihrer Organisation darstellen?

Beginnen Sie, Ihre Vision mutig zu malen, denn

„Mut heißt nicht, keine Angst zu haben! Mut heißt nur, dass man trotzdem springt!“ (Sarah Lesch).


Quellen:

  • Botkin, J. W., Elmandjra, M., Malitza, M.: No limits to learning: bridging the human gap. 1st ed. Pergamon international library. Oxford; New York: Pergamon Press, 1979.
  • DBSH. Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. 2016. Download unter: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html. Abruf am 16.12.2022.
  • Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., Espen Stoknes, P.:  Earth for all: ein Survivalguide für unseren Planeten. Übersetzt von Rita Seuß und Barbara Steckhan. 4. Auflage. München: oekom, 2022.
  • Epe, H.: Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht! Download unter: https://www.ideequadrat.org/exnovation/. Download am 03.01.2023.
  • Göpel, M.: Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
  • Hickmann, H., Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67. Download unter https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Top-Fachkr%C3%A4ftel%C3%BCcken.pdf. Download am 20.12.2022.
  • Kleve, H.: Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2007.
  • Merten, R.: Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192, 2001.
  • Rosa, H.: Demokratie braucht Religion. München: Kösel-Verlag, 2022.
  • Scharmer, O.: Protect the Flame. Circles of Radical Presence in Times of Collapse. 2022. Download unter: https://medium.com/presencing-institute-blog/protect-the-flame-49f1ac2480ac. Abruf am 15.12.2022.
  • Scharmer, O.: Theorie U – von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 3. Aufl. Management. Heidelberg: Carl-Auer-Verl, 2013.
  • Seliger, R.: Systemische Beratung der Gesellschaft: Strategien für die Transformation. Erste Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.
  • Thiersch, H.: Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Hinweis: Der Text ist vorab (in leicht angepasster Version) in den „Blättern der Wohlfahrtspflege“, 3/23, veröffentlicht worden. doi.org/10.5771/0340-8574-2023-3-96!


Selbstbestimmt und effizient Lernen, oder: Warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit wichtig wird!

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Es ist eine echte Floskel: In einer sich ständig verändernden und komplexen Welt gewinnt lebenslanges Lernen eine immer größere Bedeutung! Lernen ist eine der bedeutsamsten Future Skills. Dies gilt nicht nur „auch“, sondern insbesondere für Organisationen der Sozialen Arbeit: Die Mitarbeiter:innen sind kontinuierlich gefordert, sich mit komplexen sozialen Herausforderungen und kontinuierlich Neuem auseinandersetzen. Für das „einzige Kapital“ sozialer Organisationen – die Mitarbeiter:innen – ist es entsprechend notwendig, Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu nutzen. Hinzu kommt, dass traditionelle Lernmethoden zunehmend von modernen, selbstgesteuerten Lernmöglichkeiten abgelöst werden, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen besser entsprechen. Und außerdem geht es nicht nur um die Mitarbeiter:innen: Auch die Organisationen haben Weiterbildungsbedarfe, ausgelöst durch bspw. rechtliche oder organisatorische Veränderungen, die über kleine, schnelle, bedarfsgerechte Lernmöglichkeiten bedient werden können. Aber wie sieht zeitgemäßes und bedarfsgerechtes Lernen, wie sieht „New Learning“ in sozialen Organisationen aus? In diesem Blogbeitrag erfährst Du, was Microlearning ist und warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit Vorteile bringt. Außerdem findest Du Ideen für Inhalte, die „Microlearning-kompatibel“ sind.

Was ist Microlearning?

Microlearning, auch Mikrolernen genannt, bezeichnet das Lernen in kleinen Einheiten und kurzen Schritten. Dabei werden kompakte Lerneinheiten bzw. -module erstellt, die auf das Wesentliche reduziert sind und ein einzelnes, klar abgegrenztes Lernziel oder für die Mitarbeiter:innen relevantes Thema behandeln. Diese Lernmodule sind wirklich kurz – so kurz wie für den Inhalt möglich – und konzentrieren sich auf die Vermittlung nur einer sehr spezifischen Kompetenz bzw. auf die Beantwortung nur einer sehr spezifischen Frage.

Charakteristika von Microlearning:

Im Folgenden findest Du einige allgemeine Charakteristika von „Micro-Learning-Angeboten“:

  • Kompakte Lerneinheiten: Microlearning bricht das Lernmaterial in kleine, leicht verdauliche Bestandteile herunter. Anstatt lange Lernsitzungen zu absolvieren, nehmen Lernende in kurzer Zeit komprimierte Wissensportionen auf.
  • Fokussiertes Lernziel: Jede Microlearning-Einheit verfolgt ein spezifisches Lernziel, das klar und präzise definiert ist. Dadurch wird das Lernen gezielt und effizient gestaltet.
  • Zeit- und ortsunabhängig: Microlearning ermöglicht es den Lernenden, möglichst flexibel zu lernen, wann und wo es ihnen am besten passt. Die Lerneinheiten können über verschiedene Medien wie PC, Smartphone, Tablet oder auch – sofern inhaltlich sinnvoll – in Präsenz vor Ort abgerufen bzw. absolviert werden.
  • Vielfältige Lernformate: Microlearning nutzt verschiedene Formate wie Texte, Videos, interaktive Elemente oder Quizfragen, um das Lernerlebnis abwechslungsreich und ansprechend zu gestalten. Microlearning vor Ort sind entsprechend kurze Einheiten, die zu einem bestimmten Thema in der Organisation angeboten werden.
  • Gezielte Wiederholungen: Durch wiederkehrende Microlearning-Einheiten und Quizfragen wird das Wiederholen von Inhalten gefördert, um das langfristige Behalten zu unterstützen und die benötigten Kompetenzen dann abzurufen, wenn sie wirklich gebraucht werden.

Vorteile von Microlearning:

  • Bessere Aufmerksamkeit: Durch die kurzen und prägnanten Lerneinheiten können Lernende ihre Aufmerksamkeit besser auf das Thema konzentrieren und sind weniger anfällig für Ablenkungen.
  • Effizientes Lernen: Microlearning ermöglicht schnelles und gezieltes Lernen. Es spart Zeit, da Mitarbeiter:innen nicht lange aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden müssen.
  • Flexibilität: Lernende können selbst entscheiden, wann und wo sie lernen möchten. Dies fördert die Selbstorganisation und Eigenverantwortung beim Lernen.
  • Selbstwirksamkeit: Kurze Lerneinheiten sind schneller „durch Erfolg gekrönt“, als lange Workshopeinheiten zu einem bestimmten Thema. Daraus resultieren schnellere Lernerfolge, die wieder „Spaß am Lernen“ vermitteln.
  • Entwicklung einer Lernkultur: Die kontinuierliche Nutzung sinnvoller, die Selbstwirksamkeit steigernder Lernmöglichkeiten kann zu einer „Lernkultur“ in der Gesamtorganisation führen, denn: Die Verhältnisse bestimmen das Verhalten.
  • Besseres Wissensmanagement: Das kompakte Format von Microlearning-Einheiten erleichtert das „Organisieren und Verwalten“ des erlernten Wissens.

Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:

Der Fachkräftemangel stellt die aktuell größte Herausforderung für Soziale Organisationen dar. Der Fachkräftemangel in Verbindung mit sich dynamisch verändernden Themenstellungen – Digitalisierung allgemein, KI, IT-Sicherheit, sozial-ökologische Nachhaltigkeit, Demokratiekrise… – vergrößern diese Herausforderung jedoch massiv: Der Wandel der Organisationen muss gelingen bei sich gleichzeitig verringernden Möglichkeiten nachhaltigen Lernens durch weniger und häufig wechselndes Personal.

Stefan Gesmann bringt es auf den Punkt: „Angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Feld der Sozialen Arbeit werden sich Leitungskräfte zukünftig noch weniger erlauben können, die betriebliche Weiterbildung ungesteuert nebenherlaufen zu lassen“ (Gesmann, 2022, 170).

Entsprechend kann Microlearning auch und gerade in sozialen Organisationen echte Vorteile bieten:

  • Zeit- und kosteneffizient: Traditionelle Lernformen können zeitaufwendig und damit kostenintensiv sein. Mit Microlearning können Mitarbeiter:innen neue Inhalte in kurzen, flexiblen Einheiten erlernen, ohne ihren Arbeitsablauf (zu) stark zu beeinträchtigen. Dies spart Zeit und ermöglicht den Mitarbeiter:innen, „parallel zum Job“ zu lernen.
  • Flexibilität: Soziale Arbeit braucht Flexibilität. Mitarbeiter:innen müssen oft schnell auf neue Situationen reagieren. Microlearning bietet die Möglichkeit, benötigtes Wissen „just-in-time“ abzurufen, sei es in der Arbeitsstelle, im Home Office oder unterwegs.
  • Individuelles Lernen: Jede:r Mitarbeiter:in hat unterschiedliche Wissensstände und (Lern-)Bedürfnisse. Mit Microlearning können (relativ) einfach individuelle Lernpfade gestaltet werden, die den jeweiligen Anforderungen gerecht werden und eine maßgeschneiderte Weiterbildung ermöglichen.
  • Nachhaltiges Lernen: Kurze und prägnante Lerneinheiten fördern das bessere Behalten von Informationen. Die Möglichkeit, Inhalte in kleinen Häppchen zu wiederholen, stärkt das Langzeitgedächtnis und sorgt für nachhaltiges Lernen.

Chancen von Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:

Ich habe mir gerade eine Cajon gekauft (so eine Trommelkiste). Ich will damit meinen Sohnemann beim Gitarre spielen begleiten. Aber ich kann es nicht. Was also tun? YouTube-Videos schauen im Sinne meines eigenen Lernens. Dadurch erhoffe ich mir die Chance, ein Instrument zu lernen. Aber welche Chancen bietet Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit?

  • Praxisnähe: Microlearning-Module können sich auf praktische Situationen im Arbeitsalltag der Sozialen Arbeit konzentrieren. Mitarbeiter:innen können spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die ihnen in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar dann, wenn Fragen und Herausforderungen auftreten, zugutekommen.
  • Weiterentwicklung der Mitarbeiter:innen: Durch den einfachen Zugang zu relevantem Wissen und die Möglichkeit, schnell und einfach aktuell notwendige Kompetenzen im Sinne von Future Skills zu erwerben, können Mitarbeiter:innen ihre eigenen Kompetenzen kontinuierlich verbessern und sich den Anforderungen einer sich wandelnden Organisation und übergreifend einer sich wandelnden Gesellschaft anpassen.
  • Multimodalität: Microlearning vereint idealerweise verschiedene Medien wie Texte, Videos, Podcasts oder interaktive Lernmaterialien. Daraus resultiert ein Lernerlebnis, das auf die individuellen Lernbedürfnisse der einzelnen Mitarbeiter:innen abgestimmt und damit vielfältig und ansprechend ist. Nur so gelingt der Kulturwandel hin zu einer echten Lernkultur.

Inhalte für Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit

OK, die Chancen und Vorteile sind klar und (so meine Meinung, natürlich 😉 ziemlich einleuchtend. Aber was, also welche Inhalte können im Format des Microlearnings vermittelt werden? Um die Spannung nicht zu groß werden zu lassen: Ehrlich gesagt sind nahezu alle Arten von Inhalten für Microlearning geeignet. Vor allem aber lassen sich sich schnell und ressourcenschonend aktuelle Inhalte aufbereiten und den Mitarbeiter:innen zur Verfügung stellen. Wichtig ist aber, dass die Inhalte klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden. Die Inhaltsvielfalt ermöglicht es, Microlearning als vielseitiges und effektives Lernformat in verschiedenen Bereichen der Aus- und Weiterbildung einzusetzen. Aber etwas konkreter:

  • Wissenshäppchen: Komplexe Themen können in kleine, leicht verständliche Wissenshäppchen aufgeteilt werden. So können einzelne Konzepte oder Fakten in kurzer Zeit vermittelt werden. Zu denken ist hier bspw. an rechtliche Änderungen (BTHG, KJSG, Grundlagen aus den SGB usw.).
  • Fertigkeiten und Soft Skills: Praktische Fertigkeiten und Soft Skills, wie z.B. Kommunikationstechniken, Zeitmanagement oder Präsentationsfähigkeiten, lassen sich gut in kurzen Lerneinheiten trainieren. Zu denken ist – vor allem auf Ebene der Führungskräfte – auch an Skills zur Verhandlungsführung, zur Führung von Hilfeplangesprächen.
  • Informationen zu definierten Prozessen: Die dominierende Informalität sozialer Organisationen (What??? Hier lesen… 😉 in Verbindung mit dem Fachkräftemangel erfordert zunehmend die Definition von klaren Prozessen über Anforderungen und Arbeitsabläufe. Neue oder veränderte Prozesse können sehr gut über Microlearning-Einheiten verdeutlicht werden.
  • Methoden rund um Führung und Teamentwicklung: Auch wenn Methoden nicht alles sind, helfen kleine Ideen und Anregungen, bspw. zu Methoden der Teamentwicklung, im Alltag schon weiter. Und selbst im Führungsalltag auftretende Fragen lassen sich (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln.
  • Serviceinformationen: Informationen über neue Dienstleistungen können in kurzen Lerneinheiten präsentiert werden, um (neue) Mitarbeiter:innen (oder auch die Nutzer:innen) schnell auf den neuesten Stand zu bringen. Das ist bspw. rund um das „Onboarding“ bzw. die Einarbeitung von neuen Mitarbeiter:innen hoch interessant und ressourcenschonend.
  • Sicherheits- und Compliance-Schulungen: Richtlinien, Verfahren und Sicherheitsbestimmungen können in kurzen, wiederkehrenden Einheiten vermittelt werden, um das Bewusstsein der Mitarbeiter:innen zu schärfen. Neben Arbeitsschutz oder Datenschutz fallen mir hier insbesondere Schulungen rund um die IT-Sicherheit ein.
  • Sprach- und Vokabeltraining: Fremdsprachen oder Fachterminologie lassen sich ebenfalls gut in kurzen Lernmodulen üben, um die Lernenden kontinuierlich und zum Beginn einer neuen Tätigkeit mit neuen Vokabeln zu versorgen.
  • Mini-Simulationen: Kleine Simulationen oder Fallstudien können verwendet werden, um reale Situationen nachzubilden und die Entscheidungsfindung der Lernenden zu fördern.

Ohne hier zu tief auf die (umfangreichen) Gestaltungsmöglichkeiten einzugehen, macht es Sinn, in den Lerneinheiten Reflexionsfragen oder Feedback-Möglichkeiten am Ende einer Lerneinheit einzubinden, um die Möglichkeit zu schaffen, das Gelernte zu überdenken und den Lernfortschritt zu bewerten.

Noch einmal: Nahezu alle Arten von Inhalten eignen sich für Microlearning – auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. Wichtig ist nur, dass sie klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden – die Inhalte, nicht die Organisationen. Wobei…?

Aber – das erklärt sich wohl von selbst – Microlearning ist nicht die Lösung für alle Lernnotwendigkeiten. Die Vermittlung von breitem, grundlegenden Wissen zu einem Thema fällt darunter, da die kleinen Lerneinheiten per Definition darauf fokussieren, jeweils genau ein Problem zu lösen bzw. jeweils eine Frage zu beantworten. Es reicht auch nicht, einfach jeden Kurs oder jede Weiterbildung in Mikro-Lerneinheiten umzuwandeln, indem man den Kurs einfach in kleinere Stücke zerlegt. Die Unterteilung größerer Kurse und Lerneinheiten macht vielleicht Sinn, um Informationen in kleinen „Learning Nuggets“ zu organisieren. Der aufgeteilte Inhalt des Kurses muss aber immer mit dem Rest des Lerninhalts kombiniert werden, um einen sinnvolles Lernen zu ermöglichen. Die Strategie hinter Microlearning besteht jedoch daraus, für sich unabhängige Lerneinheiten zu gestalten, die auf einen einzigen Zweck ausgerichtet sind.

Fazit:

Für das Phrasenschwein: In Organisationen der Sozialen Arbeit ist lebenslanges Lernen essenziell, um den vielfältigen sozialen Herausforderungen gerecht zu werden.

Aber Spaß beiseite: Microlearning kann hier eine effektive und zeitgemäße Lernmethode darstellen, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen und den Weiterbildungsbedarfen der Organisation entgegenkommt!

Hinzu kommt, dass uns neben aller Effektivität heute und zukünftig nichts anderes übrig bleibt: Wir müssen die Effizienz in den Blick nehmen, auch wenn dieser Begriff nicht so wahnsinnig beliebt ist in der Sozialen Arbeit. Wir benötigen effiziente Möglichkeiten, Lernen und damit „Personalentwicklung“ zu ermöglichen.

Abschließend nur noch ein kurzer Blick auf die schon erwähnte Kulturentwicklung: Diese funktioniert – sehr kompakt ausgedrückt – nicht durch Appelle an eine andere Haltung („Wir sind ab morgen innovativ und kreativ, damit das klar ist!“). Kulturentwicklung funktioniert über die kontinuierliche Anpassung der Verhältnisse, der Strukturen und Abläufe in der Organisation oder dem Team.

Gerade die Gestaltung einer positiven Lernkultur kann mithilfe der Einführung von Microlearning wunderbar gefördert werden. Ach ja, oben hatte ich geschrieben, dass sich selbst im Führungsalltag auftretende Fragen (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln lassen. Dies finde ich gerade für neue und angehende Führungskräfte spannend, die einen Rollenwechsel vom Teammitglied hin zur Teamleitung vornehmen. Denn Rollenwechsel geht mit der Entwicklung der eigenen Identität einher. Und die Entwicklung der eigenen Identität funktioniert nicht durch ein zweitägiges Führungskräfteseminar, sondern durch eine kontinuierliche Beschäftigung mit den im Alltag auftretenden Herausforderung.


Gibt es in Deiner Organisation entsprechende Möglichkeiten, in kleinen Einheiten selbstbestimmt zu lernen? Schreib dazu doch nen Kommentar oder schick mir gerne eine Mail!


Quellen:

New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part II: Der Blick zurück!

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Nach Part I – meiner New Social Work Definition – findest Du hier Part II der Serie „New Social Work Zwischenbilanz“. Darin werde ich auf meinen ganz persönlichen Weg hin zu New Social Work schauen und dann – anhand der vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) etwas strukturierter die Anfänge der Entwicklungen rund um New Social Work darlegen.

Meine Anfänge rund um New Social Work

Damals, genauer 2014, habe ich – wie gesagt – das Buch „Reinventing Organizations“ verschlungen, erst auf Englisch als PDF, dann analog auf Englisch und Deutsch. Ich war fasziniert: Eine neue Art, Organisationen, Arbeit und übergreifend auch tradierte Grundprinzipien unseres Lebens in unserer Gesellschaft zu (über)denken.

Kurz zur Wiederholung: Laloux hat damals eine Studie bei 12 Organisationen durchgeführt. Die Kriterien zur Auswahl der Organisationen waren: mind. 100 Mitarbeiter sowie mindestens 5 Jahre Arbeit nach Strukturen und Prozessen, Praktiken und Kulturen, die mit den Merkmalen des integralen evolutionären Paradigmas übereinstimmen.

Es wurden Fragen gestellt, die sich auf 45 Praktiken und Prozesse in diesen Organisationen beziehen. Dabei wurden zentrale übergreifende Organisationsprozesse wie Strategie, Marketing, Verkauf, Unternehmensführung, Finanzplanung oder Controlling sowie wichtige Prozesse im Bereich Human Resources (bspw. Einstellungen, Weiterbildungen) und „Praktiken des Alltags“ wie Meetings, Organisationsfluss oder die Ausstattung der Büroräume in den Fokus genommen.

Es wurde versucht herauszufinden, „ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Pioniere von konventionellen Managementmethoden unterscheiden“ (ebd., 8).

Ohne hier in die Tiefe zu gehen, lässt sich das Ergebnis der Studie dahingehend zusammenfassen, dass die Studie die drei wichtigen „Durchbrüche“ oder Prinzipien Selbststeuerung (oder Selbstführung), Ganzheit und evolutionären Sinn als wesentlich für Organisationen des integralen evolutionären Paradigmas gezeigt hat.

Selbststeuerung bedeutet, dass alle Mitglieder der Organisation alle Entscheidungen selbst treffen können, sofern sie sich 1. den Rat der von der Entscheidung Betroffenen und 2. den Rat der Experten in der jeweiligen Angelegenheit eingeholt haben. Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Transparenz und der Zugang zu Informationen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können.

Evolutionärer Sinn bedeutet, dass die Organisationen, in denen die genannten Prinzipien funktionieren, einem klaren Sinn, einem Unternehmenszweck folgen, der für alle Mitglieder der Organisation verständlich, einleuchtend und sinngebend ist. Dabei geht es nicht nur um die „Weltverbesserung“, auch bspw. der Zweck der Schaffung von Arbeitsplätzen in einer strukturschwachen Region kann sinnstiftend wirken. Mit klaren, auf den Zweck ausgerichteten, freien Entscheidungen aller Mitarbeitenden wären bspw. Zielvereinbarungen hinfällig, da jeder wüsste, welchen Beitrag er zur Erreichung des Zwecks zu leisten imstande ist.

Ganzheitlichkeit bedeutet, dass „der ganze Mensch“ mit all seinen Emotionen, Zweifeln, Gedanken usw. die Organisation mitgestaltet. Daraus entsteht einer Kultur der Offenheit, Wertschätzung und Akzeptanz.

Die Verbindung der bei Frederic Laloux formulierten Kernaussagen von „teal organizations“ – Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und evolutionärem Sinn – mit den grundlegenden Funktionslogiken sozialer Organisationen war augenöffnend.

Denn davon ausgehend, dass

  • soziale Organisationen einen Zweck verfolgen, der sinnstiftend ist („Helfen“ oder Menschenrechte oder wie auch immer) und
  • das Menschen, die im Bereich der Sozialen Arbeit tätig sind, über ein bio-psycho-soziales Menschenbild der „Ganzheitlichkeit“ aufgrund ihrer Profession verfügen (sollten) und
  • darüber hinaus in der täglichen Arbeit immer wieder eigenverantwortlich, selbstgesteuert, idealerweise vor dem Hintergrund einer professionellen Haltung, mit entsprechendem Wissen, Kompetenzen und Methoden agiert und reagiert werden muss (wenn ich nicht blitzschnell eine Entscheidung treffe, haut der Jugendliche mir eine auf die Nase),

ist anzunehmen, dass Organisationen der Sozialwirtschaft „eigentlich“ das Ideal an eine neue Arbeitswelt, an eine „New Social Work“ verkörpern.

Der Blick auf und in Soziale Organisationen hingegen zeigte ein anderes, formal-hierarchisches Bild tradierter Organisationen, deren Mitglieder schon damals hohe Burn-Out-Raten aufwiesen und Sinnstiftung nicht unbedingt an erster Stelle stand.

Spätestens beim Blick auf einen Kernbereich sozialer Arbeit – die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen – wurde deutlich:

Solange die Professionellen an vielen Stellen im Sozialwesen selbst nicht autonom und selbstbestimmt handeln können (begründet in organisationalen wie auch gesetzlichen Bedingungen) wird es schwer, wenn nicht gar unmöglich, Selbstbestimmung und Autonomie der Klient:innen zu stärken.

Seit diesem Zeitpunkt lassen mich Fragen rund um die funktionale Entwicklung, rund um die Gestaltung und das Design sozialer Organisationen nicht mehr los:

  • Machen klassische Hierarchien Sinn, wenn es um die Stärkung von selbstbestimmt agierenden Teams geht?
  • Wie organisieren wir Arbeit in der Sozialen Arbeit?
  • Macht die Art, wie wir soziale Organisationen denken und gestalten, überhaupt Sinn?
  • Welche Antworten können andere, auf den ersten Blick „moderne“ Ideen von Zusammenarbeit – bspw. die Ideen rund um Agilität – helfen, besser im Sinne der Nutzer:innen sozialer Dienstleistungen zu agieren?
  • Wie kann es besser gelingen, soziale Organisationen zu gestalten?

Reinventing Social Organizations und New Work

Neben dem Blick auf die Gestaltung der Organisationen kam ein zweiter Aspekt hinzu: Die „Real New Work“ im Sinne Frithjof Bergmanns. Auch hier kurz zur Wiederholung zusammenfassend:

New Work wurde von Bergmann als Alternative zum vorherrschenden Lohnarbeitssystem beschrieben. Bergmann geht es darum, dass unser Lohnarbeitssystem von Grund auf zu den in unserer Gesellschaft zunehmend verstärkt auftretenden Problemen führt:

“Sie besondere Form der Arbeit, die wir ‚Lohnarbeit‘ nennen, ist erst so alt wie die industrielle Revolution, also ungefähr 200 Jahre. schon als dieses System eingeführt wurde, gab es warnende Stimmen, die ihm keine gute Zukunft voraussagten. heute krankt das Lohnarbeitssystem an vielfältigen und schweren Mängeln. Deshalb ist es an der Zeit, die Arbeit von Grund auf neu zu organisieren. das Lohnarbeitssystem ist dabei, zu sterben, und das nächste System, die neue Arbeit, muss aufgebaut werden.” (Bergmann, 2004, 11).

New Work nach Bergmann basiert darauf, das System der Lohnarbeit zu ersetzen durch ein System, das aus den drei Teilen

  • – Erwerbsarbeit (1/3),
  • – High-Tech-Self-Providing (Selbstversorgung, 1/3) und
  • – dem „Calling“, der Berufung bzw. der Arbeit, die man wirklich, wirklich will (1/3)

besteht.

Hintergrund der Entwicklung des Konzeptes war schon damals die Feststellung, dass die „klassische“ Erwerbsarbeit insbesondere aufgrund der Roboterisierungs- und Automatisierungsprozesse zurückgehen wird. Aktuelle Entwicklungen rund um die sich mit enormer Geschwindigkeit entwickelnde KI unterstreichen die visionären Gedanken von Bergmann, dessen Ausführungen auf der zusammenbrechenden bzw. sich ins Ausland verlagernden amerikanischen Automobilindustrie in den 1980er/1990er Jahren und dem Niedergang von General Motors basierten. Sehr kurz dargestellt:

Es gab einfach deutlich weniger Arbeit – für (fast) alle Menschen!

Bergmann schlägt als Alternative zur Entlassung der von der Automatisierung betroffenen Menschen vor (bspw. 2/3 der Menschen) vor, die verbleibende Arbeit auf alle Menschen zu verteilen. Die Arbeitszeit jede:r Einzelnen sinkt (vgl. aktuelle Debatten um die Vier-Tage-Woche) – etwas schematisch – auf 1/3 seiner (Arbeits-)Zeit, die mit klassischer Lohnarbeit verbracht wird. Dafür aber gäbe es kaum vollständig arbeitslose Menschen.

Mit diesem ersten Drittel Erwerbsarbeit gelänge es, so Bergmann, eine finanzielle Basis für alle zu schaffen. Gleichzeitig werden durch das erzielte Einkommen Anschaffungen möglich, die nicht durch eigene Arbeit oder nachbarschaftliche Netzwerke erzeugt werden können.

Damit sind noch etwa 2/3 Zeit übrig. Das zweite Drittel der zur Verfügung stehenden Zeit sollte – so Bergmann – mit Selbstversorgung auf technisch höchstem Niveau zugebracht werden. Hier geht es nicht ausschließlich (aber auch) darum, Kartoffeln im eigenen Garten anzubauen. Es geht darum, mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten (bspw. 3D-Druck) Dinge des täglichen Lebens (angefangen von der Kartoffel bis hin zu bspw. technischen Geräten) herzustellen.

Hinzu kommt, dass sich die Menschen zunehmend verstärkt Gedanken um den tatsächlich sinnvollen Konsum machen, wodurch sich der Bedarf nach Wachstum und neuen Produkten automatisch reduziert (vgl. hierzu die Notwendigkeit, ökologisch auf einen nachhaltigen Weg zu kommen). Außerdem bleibt Zeit, kaputte Dinge zu reparieren. Und immer noch bleibt 1/3 Zeit übrig.

Hier steht – als dritte Säule der „Real New Work“ – die Arbeit im Zentrum, die die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“:

Ausgehend von der Prämisse, dass Arbeit grundsätzlich – und vor allem in und nach enormen Krisen – niemals endet, wenn man Arbeit als über das Lohnarbeitssystem hinausgehend definiert (bspw. Familie, Pflege, Ehrenamt, Aufbau), ist dieser Bestandteil des Konzepts „Neue Arbeit/Neue Kultur“ (so Bergmanns Buchtitel 2004) als wesentlich, als Kern, anzusehen.

Bergmann favorisierte hier einen evolutionären Ansatz der Systemveränderung, der nur nach und nach erfolgen kann, vorangetrieben durch Menschen, die sich in ihrem Tun an ihrem „Calvin“, ihrer Berufung und damit dem orientieren, was sie wirklich, wirklich tun wollen. Aus seiner Perspektive brauchte es also Menschen, die sich als Vorbilder allmählich unabhängiger machen vom Lohnarbeitssystem durch Unternehmertum (im Besten Sinne) in Verbindung mit High-Tech-Selbstversorgung.

Zusammenfassend also soll New Work im Sinne Bergmanns die Abhängigkeit vom Lohnarbeitssystem für alle Menschen reduzieren und selbstorganisiert Selbstständigkeit, Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglichen. Der Zwang zur beinahe ausschließlichen Partizipation an traditionellen Lohnarbeitsstrukturen, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten, kann sich damit auflösen.

New Work betrifft aus Perspektive von Bergmann damit über jeden einzelnen Menschen das Gesellschaftssystem, in dem wir leben, als Ganzes. Das Konzept fokussiert auf die Frage, wie viel Selbstbestimmung und Eigenverantwortung den Menschen selbst zugetraut werden kann und darf.

Und Bergmann ging es an keiner Stelle seiner Veröffentlichungen um die Gestaltung von bestehenden Organisationen. Bergmann ging es um die Suche nach einem dritten Weg zwischen Sozialismus (keine gute Idee) und Kapitalismus (auch keine gute Idee).

Wie aber sähe eine Welt aus, in der wir nachhaltig, in Gemeinschaften, Communities und lokalen Netzwerken, das produzieren, was wirklich gebraucht wird? Eine Welt, in der die existierenden Dinge repariert und damit möglichst lange im Leben erhalten werden? Und eine Welt, in der die Menschen Zeit finden, das zu tun, was sie „wirklich, wirklich wollen“?.

Ziemlich utopisch, irgendwie, aber wiederum hat der Blick auf die Soziale Arbeit für mich das Feuer entfacht, stärker nachzudenken:

Soziale Arbeit fördert eben nicht nur die Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen, sondern – so wie es in der internationalen Definition Sozialer Arbeit heißt – gesellschaftliche Entwicklungen. Und genau das ist doch das, was Bergmann impliziert hat:

  • – Wie sähe eine Förderung gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die „enkelfähig“ und damit nicht nur für ein paar wenige, privilegierte Menschen nützlich, sondern für – global – möglichst alle Menschen zukunftsfähig ist?

Die Verbindung der Gestaltung von lebendigen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten sozialen Organisationen und der Gestaltung von einer enkelfähigen Gesellschaft führte zu meiner „New Social Work Definition“.

Die vier Ebenen der New Social Work Zwischenbilanz im Rückblick

Nach diesen doch etwas ausführlicheren Vorgedanken 😉 will ich zumindest noch kurz auf die vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) schauen.

Das Individuum im Rückblick

Es gibt – allein in Deutschland – etwa 80 Mio. Individuen, Tendenz leicht sinkend. Entsprechend maße ich mir nicht an, pauschale Aussagen zu treffen. Aber es lassen sich doch Entwicklungen über die letzten 10 Jahre erkennen, die zumindest ich ganz spannend finde.

Im Jahr 2014 sah die Welt (sofern man die Augen nicht weit öffnete) noch ziemlich rosig aus. Die wirtschaftliche Entwicklung war nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 wieder grandios, Arbeitslosigkeit war kein Thema, Greta war auch Freitags noch in der Schule und der Klimawandel damit irgendwie noch nicht ganz so dramatisch. Selbst „die Digitalisierung“ steckte noch – zumindest mit Blick auf das Sozialwesen – in den Kinderschuhen.

Ich bin alles andere als Historiker, aber vielleicht war in der breiten Bevölkerung zu dem Zeitpunkt wirklich alles irgendwie „im Lot“. Danach ergaben sich aber ein paar Entwicklungen, die ich hier, auf individueller Ebene, herausgreifen will:

Spätestens im Jahr 2018, mit dem Beginn des Streiks von Greta und der Entwicklung von Fridays for Future unter dem Motto „Wir streiken bis ihr handelt!“ wurde der Freitag zum internationalen Streiktag, an dem Kinder und Jugendliche (!) auf die Straße gingen. Aber dem Zeitpunkt mussten sich auch Erna und Franz aus Hintertupfingen genauso Otto Normalverbraucher mit der Frage auseinandersetzen, ob Freitags zur Schule gehen wichtiger ist als die Rettung der Lebensgrundlagen des Planeten. Fridays for Future wurde DIE Bewegung, die in aller Munde war. Spätestens als Greta Thunberg bei Politiker:innen international Gehör fand und mit Barack Obama, dem Papst und vor der UNO sprechen konnte, war klar, dass es bei diesem Klima irgendwie doch Handlungsbedarf gibt (auch wenn der erste Bericht des Club of Rome bereits 1972 alles Wichtige rund um die zu erwartende Katastrophe dargelegt hat).

Der zweite „Einschlag“ kam dann zum Beginn des Jahres 2020 mit der Pandemie. Ich will hier nicht wiederholen, wie die Entwicklungen gelaufen sind, denn jede:r hat wohl noch eigene Bilder, Erlebnisse, dramatische Geschichten aber auch positive Errungenschaften im Kopf, die mit der Pandemie einhergingen. Meinen Pandemiebeginn habe ich damals hier verewigt.

Als wir dann alle irgendwie glaubten, dass jetzt auch mal gut sei mit der Dystopie, hat ein Verrückter aus Russland befohlen, die Ukraine anzugreifen und einen Angriffskrieg auf europäischem Boden anzuzetteln. Neben allem Schrecklichen eines Krieges war plötzlich jede:r ganz unmittelbar betroffen von steigenden Energiepreisen, von der Angst der zukünftigen Entwicklungen und, und, und…

Abschließend nur noch der Hinweis auf die aktuellen Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz bzw. konkret um die KI-basierte Textgeneratoren, allen voran ChatGPT:

Auch wenn es viele Fragen und Unklarheiten gibt, sind die Entwicklungen, die sich seit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 ergeben haben, über einbrechende Börsenkurse bis hin zur Entlassung von angestellten Texter:innen, beachtlich. Für einen tieferen Einblick lohnen sich die letzten 30 Minuten des Podcasts „Jetzt mal ehrlich“ (Du musst Bock auf Start-Up-Denglisch haben).

Aus diesen nur skizzierten Entwicklungen folgt:

Wer sich mit Wandel schwertut, wird es in Zukunft schwer haben. Und unsere jede:r Einzelne und damit unsere Gesellschaft insgesamt tut sich wahnsinnig schwer mit Veränderungen. Wir sind es – etwas pauschal – als Individuen in den letzten 60 Jahren nicht mehr gewohnt, komplexe und dynamische Entwicklungen zu bewältigen und zu gestalten und müssen dies erst wieder lernen.

Für den Blick auf die Soziale Arbeit zeigt sich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, besonders hart treffen:

So ist der Klimawandel ein nicht nur ökologisches, sondern ein sozial-ökologisches Problem. Auf die massiven Auswirkungen der klimatischen Veränderungen insbesondere für Hilfsbedürftige – in Deutschland, Europa und natürlich auch global – weisen die Wohlfahrtsverbände an verschiedenen Stellen sehr deutlich hin (bspw. hier).

Die Steigerung der Energiekosten trifft – wenig verwunderlich – die von Armut betroffenen Menschen der Gesellschaft ganz anders als die „Oberschicht“ und auch die Auswirkungen der Roboterisierung und Technisierung und damit alles rund um KI und Co. sind ebenfalls für Menschen in prekären Lebenslagen massiver als für die „Bildungselite“ (für die diese Entwicklungen ebenfalls massive Auswirkungen haben werden).

Kurz: All die hier (alles andere als umfassend) skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen betrafen und betreffen jeden einzelnen Menschen und insbesondere das Klientel Sozialer Arbeit.

Ist es aber gelungen, passende Antworten – auch aus der Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit heraus – auf diese Entwicklungen zu finden? In meinen Augen zeigen insbesondere die politischen Entwicklungen und konkret das Wahlverhalten, dass dies bislang leider nicht gelungen ist. Die demokratiezersetzenden Tendenzen sprechen Bände. Das liegt – so meine Einschätzung – an der wenig ausgeprägten Unsicherheitsbewältigungskompetenz, die für die aktuellen Zeiten notwendig ist. Dazu aber im nächsten Teil dieser Serie – dem Blick auf den Status Quo rund um New Social Work – mehr.

Die Organisationsentwicklung im Rückblick

New Social Work ist ziemlich komplex, das gebe ich zu. Vielleicht war das Komplexe auch ein Grund, warum meine Ausführungen zu New Social Work hier im Blog oder auch auf ersten Veranstaltungen, auf denen ich sprechen durfte, damals zwar auf Interesse, aber auch auf Kopfschütteln stießen („Spannend, ja, aber wie soll das denn gehen?“).

Gerade die „Profiteure des bestehenden Systems“ (Vorstände, Geschäftsführungen, Führungskräfte, politische Entscheidungsträger:innen) waren damals doch (diplomatisch ausgedrückt) „zurückhaltend“, was die Ideen zumindest rund um die Neugestaltung von Organisationen anging.

Und die gesellschaftlichen Megatrends steckten (aus meiner Perspektive) in den Kinderschuhen der Sozialwirtschaft:

  • Die Digitale Soziale Arbeit nahm erst 2015/2016 so richtig Fahrt auf.
  • Der demographische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel waren zwar am Horizont als dunkle Wolke erkennbar, aber der Regenschirm stand unbenutzt zu Hause.
  • Und erst heute rückt die (sozial-)ökologische Nachhaltigkeit flächendeckend in sozialen Organisationen auf die Agenda, auch wenn der erste Bericht des Club of Rome auch damals nicht neu war.

Persönlich muss ich betonen, dass es richtig cool war und ist, dass es schon damals viele Menschen gab, die progressiv in die Zukunft geschaut, den Blog gelesen, die Ideen verstanden und geteilt haben. Viele Menschen im Digitalen und Analogen haben schon damals erkannt, dass es sinnvoll und notwendig war, das „Soziale“ neu zu denken. Und viele dieser Menschen sind für mich langjährige und treue Wegbegleiter:innen und Freund:innen geworden. Danke dafür!

Übergreifend aber war das Thema „Organisationsentwicklung“ noch nicht so präsent, wie es dann geworden ist. Zwar profitiere ich selbst natürlich von den Entwicklungen ;-). Und trotzdem ist Vorsicht geboten: Haben sich die Bedingungen wirklich verändert oder sitzen auch soziale Organisationen „Managementmoden“ auf?

Managementmoden lassen sich charakterisieren als „breit geteilte Vorstellungen darüber, wie Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser, Hochschulen, Schulen, Armeen, Polizeien oder Verbände besser organisiert werden können. Die Managementmoden suggerieren dabei, dass durch die Einführung neuer Gestaltungsprinzipien die Anpassungs-, Leistungs- und Innovationsfähigkeit erhöht werden können. Sie setzen mit diesem Versprechen an dem in Organisationen verbreiteten Bedürfnis an, wahrgenommene Defizite zu beheben und bisher nicht genutzte Verbesserungsmöglichkeiten zu erschließen“ (Kühl, 2022).

Und die Anziehungskraft von Reinventing Organizations in Verbindung mit dem aus der Softwarebranche ausbrechenden „agilen Management“ war enorm. Sätze wie „Endlich so arbeiten, wie wir das schon immer gewollt haben!“ oder „Selbstorganisation? Da kann ich dann endlich mal denen da oben zeigen, wie es richtig geht!“ oder „Wenn es gelänge, unseren Laden so richtig agil zu gestalten, wären alle Probleme der Welt gelöst!“ wurden zwar nicht explizit geäußert, implizit gab es aber schon eine „Goldgräberstimmung“, immer begleitet von einem sehr sympathischen Holländer, dem es gelungen ist, die Pflegebranche der Niederlande zu revolutionieren. Hier habe ich einmal dargelegt, warum Du Buurtzorg nicht als Vorbild nehmen solltest.

Und in einem meiner letzten Newsletter habe ich „vom Ende der Euphorie“ geschrieben. Darunter habe ich die Abkehr vom doch sehr utopisch anmutenden Frederic Laloux hin zum realen, etwas nüchternen Blick auf die Funktionsweise sozialer Organisationen als komplexe soziale Systeme verstanden. So machen formale Hierarchien genauso wie das Konzept der Trennung von Person und Rolle in Organisationen sehr viel Sinn (vgl. dazu ausführlich Matthiesen, Muster, Laudenbach, 2022).

Ich will und kann hier in diesem Beitrag nicht in die Tiefe gehen, aber die folgende Frage wurde in meinen Augen in den letzten Jahren zu wenig gestellt:

„Wenn Organisationsentwicklung hin zu mehr Agilität, Selbstorganisation und Co. die Lösung ist, was ist dann eigentlich unser Problem?“

Falls Du Lust auf mehr Theorie hast, empfehle ich Dir diesen Beitrag zur „dominierenden Informalität in Sozialen Organisationen“, in dem ich dargelegt habe, dass soziale Organisationen an vielen Stellen sogar stärkerer Formalisierung bedürfen und nicht das halbherzige Umsetzen der neuesten Managementmode.

Die Ebene sozialer Organisationen zeigt im Rückblick ein sehr differenziert zu betrachtendes Bild: Organisationsentwicklung war und ist dringend erforderlich, aber nicht unbedingt so, wie es, durch viele Managementmoden angetrieben, gerne propagiert wurde.

Das Sozialwesen im Rückblick

Im Jahr 2016 wurde das BTHG – das Bundesteilhabegesetz – verabschiedet. In der Pressemeldung damals hieß es, dass „das Gesetz (…) mehr Möglichkeiten und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen“ schafft (BMAS, 2016). Für mich zeigt diese Entwicklung recht viel:

Einerseits zeigten sich in den letzten Jahren politisch wirklich gute Entwicklungen, die bspw. Menschen mit Behinderung oder auch Kinder (Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, inzwischen sogar ausgeweitet auf einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule) betrafen.

Bzgl. des BTHG sind Organisationen der Eingliederunghilfe zur Umsetzung des BTHG gefordert, neue Angebote und neue Organisationsstrukturen zu gestalten. Der Paradigmenwechsel von der Institutionenorientierung hin zur Personenorientierung ist hochgradig sinnvoll. Das BTHG soll die Teilhabe und damit die individuellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. In der Praxis soll dies durch die Aufsplitterung der Betreuungsleistungen in Grund- oder Basismodule als Tagespauschale auf der einen Seite und auf der anderen Seite durch verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden, geschehen (vgl. zu Fragen der Organisationsentwicklung und dem BTHG diesen Beitrag hier).

Der genauere Blick in die Herausforderungen zur Umsetzung der mit dem Gesetzesvorhaben BTHG einhergehenden Veränderungen zeigt jedoch auch viel Schatten:

Die Umsetzung ist zum einen eine enorme bürokratische Aufgabe und zum anderen lässt sich das BTHG auch als massives Sparprogramm lesen. So zeigt sich die Paradoxie des BTHG darin, dass auf der einen Seite damit geworben wird, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Leistungen sollen sich am individuellen Assistenzbedarf orientieren und passgenau erbracht werden. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber klar formuliert, dass durch die Reform des BTHGs die seit Jahrzehnten ansteigende Ausgabendynamik gebremst werden soll (vgl. Bt-Drs. 18/9522, S.3). Auf diesen Widerspruch kann man eigentlich nicht oft genug hinweisen.

Ich erwähne das Beispiel BTHG hier – auf der Ebene des Sozialwesens – so ausführlich, da ich in den letzten Jahren kaum echte Verbesserungen im Sozialwesen erkennen konnte. Oft sind die Entwicklungen eher potemkinsche Dörfer anstatt echte Verbesserungen im Sinne der Menschen zu bewirken.

So zeigt auch das Beispiel Ganztagsbetreuung in der Grundschule ähnliche Schwächen: Schon zur Verabschiedung des Gesetzes zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG) war glasklar, wie sich die Personalsituation im Arbeitsfeld Erziehung und Bildung entwickeln wird. Wie kommt man also auf die Idee, ein Gesetz zu verabschieden, dass auf dem Rücken der Mitarbeiter:innen im Sozialwesen ausgetragen wird oder – auch keine bessere Perspektive – die Qualitätsstandards in der Ganztagsbetreuung soweit senkt, dass jeder Hans Wurst mit den Kids arbeiten kann („Waren Sie selbst mal Kind? Ja? Dann können Sie hier anfangen!“).

Du merkst – ich bin im Rückblick eher skeptisch, was die Entwicklungen des Sozialwesens angeht. Eine nachhaltige, zukunftsfähige „New Social Work“ im Sinne einer qualitativ hochwertigen Sozialen Arbeit, angeboten von zeitgemäß und bedarfsgerecht gestalteten Sozialen Organisationen, zur Förderung der gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. New Social Work Definition) ist kaum erkennbar.

Das hängt zu großen Teilen mit politischen Entscheidungen zusammen. Und Entscheidungen im politischen System sind leider alles andere als rational, wissenschaftlich fundiert oder immer so zukunftsfähig, wie es dringend nötig wäre.

Es geht im „System Politik“ nicht um die Leitdifferenz „richtig/falsch“, sondern um Mehrheiten, um Meinungen und um die Leitdifferenz „Macht/keine Macht“. Die Entscheidungen der Menschen im System, der Politiker:innen, orientieren sich – bewusst, meist aber unbewusst – an dieser Leitdifferenz.

Das erklärt die oftmals absurd wirkenden Äußerungen von Politiker:innen bspw. der konservativen Parteien aka CDU/CSU zu Themen rund um die Klimakatastrophe, voraussetzend, dass Merz, Söder und Co. nicht einfach nur dumm sind.

Und das erklärt eben auch die Entwicklungen rund um das ganze „Gedöns“ bzw. die Sozialpolitik, mit der für die politische Karriere kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Ob sich das heute geändert hat und in Zukunft ändert? We’ll see in Part 3… Aber ich nehme sehr gerne Kommentare entgegen, die das Bild etwas positiver erscheinen lassen. Also:

Immer her mit den guten Nachrichten (bspw. hier in den Kommentaren oder unter diesem Link hier)!!!

Die Gesellschaft im Rückblick

Ich gehe hier nur noch sehr kurz drauf ein, da ich denke, schon zuvor, auf Ebene des Individuums und des Sozialwesens, einiges zur gesellschaftlichen Entwicklung geschrieben zu haben. Deswegen nur als Wiederholung:

Rückblickend lebten wir zwischen 2010 und 2020 in einer ziemlich ruhigen Dekade, die wirtschaftlich und politisch wenig Aufregendes gebracht hat. Ein Schelm, wer an die Angela denkt…

Nein, ernsthaft: Es ging bergauf, Sicherheit, zumindest die gefühlte Sicherheit, stand ob auf der Agenda. Und diese damals noch gefühlte Sicherheit wankt, an allen Ecken und Enden.

Das sind wir hier im globalen Norden in dieser Intensität nicht gewohnt. Entsprechend gespannt bin ich, wo es sich hinentwickelt.

Für das Sozialwesen bedeutet wirtschaftliches Wachstum und Stabilität natürlich auch (im Groben) „ruhige(re) Zeiten“, die sich schon jetzt und zukünftig weiter verändern werden.

Fazit Part II: New Social Work Zwischenbilanz und der Blick zurück

Puh, alles ganz schön komplex und an den wenigsten Stellen auch nur ansatzweise zu Ende diskutiert. Aber ich hoffe, einen kleinen Einblick in meine Gedankenwelt gegeben zu haben.

Spannend ist für mich jetzt die Frage, wie sich Deine Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit, im Blick zurück und über die letzten 10 Jahre verändert hat?

Wo hast Du im Rückblick Verbesserungen erlebt? Wo ist es nicht besser geworden?

Ich würde mich riesig freuen, wenn Du unter diesem Link hier Deine Rückmeldung zum Blick zurück, zum Status Quo und zu einer wünschenswerten Zukunft teilen würdest… Die ersten Rückmeldungen trudeln über den Link bereits ein!

Danke dafür schon jetzt!

Quellen:

  • Bergmann, F. (2004): Neue Arbeit, Neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, 2016): Bundesteilhabegesetz verabschiedet. URL: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2016/bthg-verabschiedet.html. Download am 30.05.2023.
  • Kühl, S. (2022): Managementmoden – Wie man unsicheres in sicheres Wissen verwandelt. URL: https://versus-online-magazine.com/de/kolumne/stefan-kuehl/managementmoden/ . Download am 30.05.2023.
  • Matthiesen, K., Muster, J., Laudenbach, P. (2022): Die Humanisierung der Organisation. Wie man den Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. München: Verlag Franz Vahlen.

New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part I: Die Definition!

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Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Beitragsserie rund um New Social Work. Und zum Auftakt ist zunächst (m)eine New Social Work Definition darzulegen. Damit umreiße ich, was unter New Social Work zu verstehen ist (Part I). Daran anschließend will ich in Part II zurück, in die Historie, und in Teil III ins Jetzt, den Status Quo rund um New Social Work schauen. Dann, im (vorerst) abschließend in Teil IV, versuche ich, einen Blick in die Zukunft rund um „New Social Work“ zu wagen.

Hintergrund der Beitragsserie ist, dass ich im Jahr 2014 den Blog „IdeeQuadrat“ startete. Der erste Beitrag: Ein Review des Buchs „Reinventing Organizations“. Kurz drauf dann meine „Entdeckung“ des „Bergmannschen New Work“.

Die Verbindung aus neuen Formen der Organisationsentwicklung basierend auf Prinzipien von Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der Suche nach dem „evolutionären Sinn“, mit den utopischen Gedanken einer Abkehr vom Lohnarbeitssystem haben mich begeistert, gefesselt und das finden lassen, was ich „wirklich, wirklich tun“ will. Das war der Beginn der Geschichte von IdeeQuadrat und der Beginn meiner vertieften Auseinandersetzung mit New Social Work.

Dabei leiten mich Fragen rund um zeitgemäße und bedarfsgerechte Organisationsentwicklung kombiniert mit dem Fokus auf soziale Organisationen, meiner beruflichen Herkunft, ohne gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen aus dem Blick zu verlieren. Ich habe damit von Beginn an Organisationen, die uns alle von der Wiege bis zur Bahre begleiten – Kitas, Kindergärten, Jugendhilfeeinrichtungen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Suchthilfe, Wohlfahrtsverbände, kleine Träger, Komplexträger mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen und übergreifend „das Sozialwesen“ als gesellschaftsprägendes System fokussiert.

Und jetzt, nach fast zehn Jahren, ist einiges passiert. Einiges ist auch nicht passiert. Zeit für eine Zwischenbilanz. Und die beginnt mit Part 1 – der…

New Social Work Definition

New Social Work ist Organisationsentwicklung. New Social Work aus Blickrichtung der Organisationsentwicklung ist die Suche nach und das Gestalten von funktionalen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten Organisationsdesigns für soziale Organisationen, die es ermöglichen, wirksame Soziale Arbeit im Sinne der Nutzer:innen wie der Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen leisten zu können. Wortwörtlich: soziale Arbeit.

New Social Work ist gleichzeitig Arbeit an der Gesellschaft. New Social Work nimmt damit gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick. Sie ist politisch – wie Soziale Arbeit schon immer politisch war. Und sie ist zukunftsorientiert, denn New Social Work nimmt „gesellschaftliche Megatrends“, die gesellschaftlichen Veränderungen in den Blick, von der digitalen Transformation, über die Individualisierung, den demographischen Wandel bis hin zu Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit uvm.

Vier Ebenen einer New Social Work

Der Definition liegen vier Ebenen zugrunde, die hier skizziert und jeweils in den folgenden Beiträgen dieser Serie in den Blick genommen werden, um eine angemessene Betrachtungstiefe zu ermöglichen:

1. Ebene: Das Individuum

Der „Real New Work“ im Sinne Bergmanns ging es über die Schaffung einer Alternative zum klassisch-kapitalistischen Lohnarbeitssystem darum, Menschen zu befähigen, das zu finden, was sie „wirklich, wirklich tun“ wollen. Darüber rückt automatisch „der Mensch“ als Individuum nach auf die Bühne.

Es geht um die Vorstellungen, die wir in unserer Gesellschaft „vom Wesen des Menschen“ haben. Eas geht um unsere Menschenbilder: Nur dann, wenn die Vorstellung existiert, dass Menschen sich entwickeln, sich verändern können und wollen und damit nach Selbstbestimmung und Autonomie, nach Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, nach Selbstverwirklichung und Sinn streben, machen Vorstellungen rund um New Work und die Suche nach dem, was Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“ Sinn.

Nur aus dem gleichen Menschenbild heraus ist Soziale Arbeit als Profession und Disziplin denkbar. Nur dann, wenn wir als Professionelle davon ausgehen, dass wir einen Beitrag zur Selbstbestimmung und Autonomie der Menschen – egal in welchem Arbeitsfeld – leisten können, macht Soziale Arbeit Sinn.

Fraglich ist aber, wie es bestmöglich gelingen kann, zum einen Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft und unseren Organisationen zu schaffen, die dem Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie zuträglich sind? Zum anderen ist fraglich, wie das „auf die Welt bringen des in den Menschen liegenden Potenzials“ bestmöglich gelingen kann. Hier rückt u.a. das Bildungssystem in den Fokus. Und – aus einer bestimmten Richtung – sind auch soziale Organisationen immer Organisationen der Bildung.

2. Ebene: Die Organisationen

Wie definiert umfasst New Social Work als einen Fokusbereich die Organisationsentwicklung und damit einer Veränderung der Arbeitswelt. Denn es wird im Wesentlichen durch die Veränderung der Arbeitswelt möglich, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern, hin zu mehr Nachhaltigkeit, Zusammen-Leben, Sinn, Zeit für das wirklich, wirklich Wichtige für jeden einzelnen Menschen.

Das ist übrigens, wenn man die Geschichte betrachtet, schon immer so gewesen: Durch die Entwicklung der Landwirtschaft sind die Menschen sesshaft geworden, durch die Entwicklung der Webstühle und der Dampfmaschine wurde das Industriezeitalter eingeläutet und durch die Informationstechnologie bewegen wir uns immer in einer „Wissensgesellschaft“. Und all diese Veränderungen der Arbeitswelt haben zu neuen Gesellschaftssystemen geführt:

„Wichtige historische Gesellschaftsformationen sind nach Marx die klassenlose Urgesellschaft der frühen Stammesgesellschaften, die von Landwirtschaft und despotischer Herrschaft geprägte ‚asiatische Produktionsweise‘, die Sklavenhaltergesellschaft der Antike, der Feudalismus des Mittelalters und die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise“.

Hinzu kommen natürlich Sozialismus und Kommunismus, deren Bezug zur Arbeitswelt als „Diktatur des Proletariats“ auf der Hand liegt. Damit wird deutlich:

Die Veränderung der Organisationen und damit die Veränderung der Art, wie wir arbeiten, führt zu gesellschaftlicher Veränderung.

Und soziale Organisationen, die „als Vorreiter der gesellschaftlichen Transformation ihren wirkungsvollen Beitrag für eine lebenswerte Gesellschaft nachhaltig leisten„, spielen dabei eine unfassbar wichtige Rolle.

Für New Social Work rückt auf dieser Ebene die Frage ins Zentrum, wie es gelingen kann, Organisationen, deren Zwecke, Prozesse, formale Hierachien und darüber „soziale Arbeit“ so zu gestalten, dass der Zweck der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Teams bestmöglich erreicht werden kann.

3. Ebene: Das Sozialwesen

Soziale Organisationen sind eingebunden in ein nach bestimmten Bedingungen funktionierendes „funktionsspezifisches Teilsystem“ der Gesellschaft – das Sozialwesen.

Funktionsspezifische Teilsysteme sind „funktions-, leistungs-, medien-/codespezifische und (re-)programmierbare, sich selbst validierende selbstsubstitutive autopoietische Systeme“ (Krause, 2005, 44), die einerseits mehr oder weniger miteinander und andererseits in der Gesamtheit all dieser gesellschaftlichen Kommunikationen auch übereinander kommunizieren und damit Gesellschaft prägen. Sie sind operativ geschlossen. Der Code bzw. die Leitdifferenz des Sozialsystems ist „helfen/nicht helfen“ (Kleve, 2007, 147). Jedes funktionsspezifische gesellschaftliche Teilsystem übernimmt für die Gesellschaft exklusiv eine bestimmte Funktion (vgl. Krause, 2005, 49).

Auch wenn fraglich ist, ob das Sozialwesen exklusiv eine bestimmte Funktion übernimmt und damit per Definition ein eigenständiges, funktionsspezifisches Teilsystem unserer Gesellschaft ist, gehe ich zur Komplexitätsreduktion einmal davon aus. Soziale Dienstleistungen als öffentliche Güter und damit „das Sozialwesen insgesamt“ ist hochgradig abhängig von der geltenden Sozialpolitik.

Daraus resultieren wiederum Fragen: (Wie) gelang, gelingt und wird es zukünftig gelingen, zum einen der Sozialpolitik, sinnvolle, zukunftsgerichtete Entscheidungen für die Menschen, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind, zu treffen? Und wie gelang, gelingt und wird es zukünftig den Verantwortungsträger:innen wie bspw. den Wohlfahrtsverbänden gelingen, diese Entscheidungen im Sinne der Anwaltschaft für die Nutzer:innen (und nicht nur zur eigenen Sicherung des Überlebens) zu beeinflussen?

4. Ebene: Die Gesellschaft

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als »wahre Erfolgsgeschichte« (Merten 2001, S. 165) erzählen. Thiersch bezeichnet das letzte Jahrhundert gar als »sozialpädagogisches Jahrhundert« (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die“ Soziale Arbeit weiterentwickelt.

Auf der vierten Ebene stellt sich die Frage, ob Soziale Arbeit wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt gefördert hat, aktuell fördert und zukünftig fördern wird?

Fazit Part I: New Social Work Definition

Wenn ich die Ausführungen zur New Social Work Definition so anschaue, könnte es ein ziemlich umfangreiches Unterfangen werden, eine Zwischenbilanz rund um New Social Work zu ziehen. Aber ich denke, es ist an der Zeit, innezuhalten und dies zu versuchen. Entsprechend will ich in den kommenden Beiträgen – für mich, für Dich und vielleicht auch darüber hinaus – auf die oben gestellten Fragen eingehen.

Dabei werden meine Antworten sicherlich immer sehr persönlich gefärbt sein. Ich hoffe, das passt für Dich…

Gespannt bin ich aber schon jetzt, zu hören, was Du von der Definition und den Ausführungen hältst? Lass doch einen Kommentar da und gib eine Rückmeldung dazu. Vielleicht kann ich diese in den weiteren Beiträgen einbauen… Danke schon jetzt!

Quellen

  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Kleve, H. (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl., Wiesbaden: Springer.
  • Krause, D. (2005): Luhmann-Lexikon. 4.Aufl., Stuttgart: Lucius & Lucius.
  • Merten, R. (2001): Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192.
  • Thiersch, H. (1992): Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Das Dilemma der Agilisierung sozialer Organisationen – und was trotzdem getan werden kann!

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Warum gelingt es sozialen Organisationen so schwer, sich zeitgemäß und bedarfsgerecht zu verändern? Warum sehen wir an so wenigen Stellen echte Leuchttürme, best practice Beispiele, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ihr Organisationsdesign, ihre Strukturen, Arbeitsweisen, Prozesse usw. anpassungsfähig an sich komplex und dynamisch verändernde Umwelten zu gestalten und gleichzeitig ihren Zweck nicht aus den Augen zu verlieren? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht eindimensional, sondern erfordert unterschiedliche Blickrichtungen. Im Folgenden wird insbesondere ein Aspekt herausgegriffen, der ein Dilemma, in dem soziale Organisationen stecken- ich nenne es das „Dilemma der Agilisierung sozialer Organisationen“ – beleuchtet. Außerdem werden Möglichkeiten dargelegt, die es ermöglichen, sich „trotzdem“ zu bewegen.

Das Dilemma, oder: Warum fällt es sozialen Organisationen so schwer, sich zu verändern?

Ein Dilemma ist eine Zwickmühle. Ein Dilemma bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, die beide zu einem unerwünschten Resultat führen und durch seine Ausweglosigkeit als paradox empfunden wird. Ein klassisches Beispiel ist das berühmt gewordene Dilemma von Buridans Esel. Der Esel verharrt unbeweglich zwischen zwei gleichgroßen und gleich weit entfernten Heubündeln. Er kann sich weder für das eine noch für das andere entscheiden – er verhungert.

Bezogen auf die Sozialen Organisation hier eine kurze Darlegung der beiden Heuhaufen:

Dilemma Perspektive 1: Das Überleben der Organisation

ChatGPT liefert auf die Frage danach, warum es sozialen Organisationen so schwerfällt, sich zu verändern, im ersten Punkt den folgenden Absatz und beschreibt damit sehr gut die eine Seite des Dilemmas:

„Soziale Organisationen oder – etwas präziser – Organisationen der Sozialwirtschaft haben oft eine komplexe Struktur und sind stark reguliert, um sicherzustellen, dass sie ihre gemeinnützigen Ziele erfüllen. Diese Regulierungen können dazu führen, dass Veränderungen schwierig umzusetzen sind, da sie häufig genehmigt und von den zuständigen Behörden überwacht werden müssen.“

Das fasst das Dilemma etwas verkürzt, aber treffend zusammen:

Soziale Organisationen sind nicht frei in ihrer Gestaltung, wenn sie überleben wollen.

Dieses Überleben nehme ich hier explizit auf, denn „Zweck 1. Ordnung“ eines sozialen Systems ist es, überleben zu wollen. Patrick Breitenbach schreibt dazu in einem Beitrag treffend:

„Was ist der Hauptzweck, der „Zweck 1. Ordnung“, einer Unternehmung, ja eines gesamten Wirtschaftssystems (und Systemen überhaupt)? Es ist die Selbsterhaltung, das Überleben – im Business auch „Viability“ genannt.

Es geht also um die Tragfähigkeit einer Unternehmung, eines Systems oder einer Existenz. Dieses Handeln ist evolutionär tief in unsere DNA eingebrannt. Kombiniert mit einem zunächst natürlichen und später zugleich künstlich verstärkten Wettbewerbssprinzip rund um knappe oder verknappte Ressourcen, beherrscht es unser gesamtes Dasein. Das ist der Kern unseres „Operating Models“ – wenn man so will.“

ChatGPT greift den Punkt auf und schreibt weiter:

„Ein weiterer Grund, warum Organisationen der Sozialwirtschaft Veränderungen schwerfallen kann, ist die Tatsache, dass sie oft von begrenzten finanziellen Ressourcen abhängig sind. Dies kann bedeuten, dass sie sich auf bestimmte Einkommensströme verlassen, wie beispielsweise staatliche Zuschüsse oder Spenden von privaten Spendern, die möglicherweise begrenzt oder schwankend sind. Diese Abhängigkeit von begrenzten Ressourcen kann dazu führen, dass Organisationen zögern, Veränderungen vorzunehmen, aus Angst, ihre finanzielle Stabilität zu gefährden.“

Die Gefährdung der finanziellen Stabilität ist es aber, was Organisationen an den Rand ihres Überlebens bringt. Entsprechend und völlig nachvollziehbar halten sozialen Organisationen an ihren bewährten, ihre Existenz sichernden Strukturen fest.

Eine wirkliche, tiefgreifende Veränderung der Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen kann die Existenz sozialer Organisation gefährden, da es von Seiten der Kostenträger kaum Spielraum zur Entwicklung, Experimentierfelder, Möglichkeiten zur Neugestaltung gibt.

Ohne den Fall in der Tiefe verfolgt zu haben wird zumindest in diesem Beitrag zum Insolvenzverfahrens von Buurtzorg Deutschland explizit darauf verwiesen, dass „die Abrechnung auf Stundenbasis statt nach Leistung für Krankenkassen ein Problem“ darstellt. Noch einmal:

Alternative Modelle und Arbeitsweisen sind für die Nutzer:innen (ggf.) super, scheitern aber an den Rahmenbedingungen der Kostenträger.

Dilemma Perspektive 2: Die Komplexität Sozialer Arbeit und die Notwendigkeit der Agilisierung sozialer Organisationen

Auf der anderen Seite steht die Herausforderung sozialer Organisationen, Komplexität bewältigen zu müssen. Jede Arbeit mit Menschen, ob in der Kita, in der Jugendhilfe, in der Gemeinwesensarbeit, in der Arbeit mit älteren Menschen oder auch mit Menschen mit Behinderung ist komplex, individuell und immer auf die Mitarbeit der Nutzer:innen angewiesen. Mehr noch: Die aktuelleren Methoden sozialer Arbeit betonen explizit, dass nicht die Expertise der Mitarbeiter:innen im Zentrum steht („Wir wissen schon, was für dich richtig ist!“), sondern der „Wille der Menschen“, wie es bspw. explizit im Konzept der Sozialraumorientierung heißt.

Diese Perspektive, die Ausrichtung am Willen des Menschen, die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung als (ein) Zweck Sozialer Arbeit, ist nicht neu und sollte eigentlich nicht verwundern. Denn genau so heißt es auch in der Internationalen Definition Sozialer Arbeit, die ich ja immer wieder gerne anbringe:

„Soziale Arbeit fördert … die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“

Damit Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen diese Perspektive einnehmen können, sind sie gefordert, die Regeln, Strukturen, Vorgaben, Prozesse usw. der eigenen Organisation zu „hintergehen“ und so zu agieren, dass sie bestmöglich im Sinne ihrer Klientel agieren können. Daraus resultiert die dominierende Informalität, die ich bereits in diesem Beitrag hier umfänglich dargelegt habe. Sehr kurz zusammengefasst:

Organisationen lassen sich vornehmlich über die Entwicklung von formalen Strukturen, Prozessen und der Veränderung des Personals entwickeln. Mitarbeiter:innen in sozialen Organisationen jedoch interessieren sich nicht großartig für das, was die Organisation vorgibt, sondern agieren so, dass sie – aus ihrer Perspektive gedacht – bestmögliche Hilfe für die Nutzer:innen leisten können. Organisationsentwicklungsprozesse „verpuffen“ dann, da die Mitarbeiter:innen einfach das weitermachen, was aus ihrer Sicht für die Nutzer:innen funktional ist. Wie gesagt, das ist nur eine sehr kurze Zusammenfassung dieses Artikels, der die Herausforderung der dominierenden Informalität ausführlich darlegt.

Aufgreifen will ich hier noch die auf den ersten Blick sehr positiven Veränderungen der Sozialgesetzbücher – allen voran die Entwicklungen rund um das BTHG. Teilhabe, Partizipation, Inklusion werden aber nicht nur dort, sondern auch im KJSG groß geschrieben. Beide Gesetze fokussieren zunehmend – wie auch die grundlegenden Methoden Sozialer Arbeit – auf die Perspektive der Nutzer:innen und stellen diese in den Mittelpunkt allen Handelns.

Kurz zusammengefasst wird die Institutionenorientierung von der Personenorientierung abgelöst (welche Auswirkungen das für die Organisationsentwicklung sozialer Organisationen hat, haben Florian Acker und ich hier dargelegt).

Zerrissenheit

Wenn aber mit Blick auf den einen Heuhaufen – um das Beispiel des Esels wieder aufzugreifen – „die Menschen in den Mittelpunkt rücken“ müssen (nicht die Mitarbeiter:innen, sondern die Nutzer:innen) und mit Blick auf den anderen Heuhaufen an den Finanzierungslogiken der Kostenträger festgehalten werden muss, sich die Organisationen also nicht gemäß ihrem Zweck entwickeln können, kommt es zur Zerrissenheit.

Dieses Dilemma ist (ohne dies für die Soziale Arbeit empirisch belegen zu können) aller Wahrscheinlichkeit nach (mit) ein Grund, warum die Burnoutraten in sozialen Organisationen so hoch sind (vgl. dazu bspw. den jährlich erscheinenden AOK Fehlzeitenreport).

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Konzepte rund um „Moral Distress“, die im Kontext der Pflege bereits detailliert untersucht wurden.

Agilisierung sozialer Organisationen – was tun?

Welche Handlungsoptionen haben Soziale Organisationen, um die Zerrissenheit, um das Dilemma besser in den Griff zu bekommen? Ich betone dieses „besser“, da eine Auflösung des Dilemmas, so wünschenswert es auch wäre, wohl keine Option darstellt.

Auseinandersetzung mit dilemmatischen Konstellationen in der Organisation

Stabilität vs. Wandel, klare Verantwortlichkeiten vs. Flexibilität, Identifikation vs. Offenheit, Freiräume zur Entwicklung vs. Ausnutzung organisationsfremder Interessen. All dies sind Dilemmata, die in Organisationen immer wieder auftreten. Eine Tendenz zu einem Pol (z.B. Stabilität) geht immer auf Kosten des anderen Pols (z.B. Wandel). Es lässt sich kein einfacher oder dauerhafter Kompromiss erreichen (vgl. Weibler, Deeg, 2020).

Weibler und Deeg schreiben im verlinkten Beitrag, dass Dilemmata in Organisationen grundsätzlich „weniger gelöst als vielmehr (einigermaßen) neutralisiert bzw. in eine bearbeitbare Form gebracht werden, beispielsweise durch zeitliche Entzerrung“.

Für Führungskräfte gilt, dass „eher ein bewusstes Versuchen für den Moment angebracht [ist], das sich dann wieder in eine andere Richtung bewegt, wenn die Nachteile die errungenen Vorteile allmählich überwiegen. Dafür müssen Verschiebungen in deren Verhältnis allerdings aufmerksam beobachtet und am sich abzeichnenden Wendepunkt auch ein Umsteuern aktiv eingeleitet werden“ (ebd.).

Dabei ist relevant, „sich auch in schwierigsten Umständen nicht irritieren zu lassen und im quasi unstillbaren menschlichen Verlangen nach Gewissheit gründenden Versuchungen, nervös nach dem Naheliegenden mittels Heranziehung bestimmter Annahmen, Erklärungen oder Fakten zu greifen, zu widerstehen“ (ebd.).

Die Autoren betonen abschließend, dass es zusätzlich hilft, „ein ‚Entweder-Oder-Denken‘ zugunsten einer ‚Sowohl-als-auch-Herangehensweise‘ aufzugeben und mit Dilemmata möglichst kreativ und konstruktiv umzugehen. Dies ermöglicht es Führungskräften, neue Handlungsspielräume zu eröffnen und geschickter bzw. gewandter zu (re-)agieren, wenn sie sich in oftmals sehr unbehaglichen dilemmatischen Entscheidungssituationen bewegen. Weniger werden solche zukünftig wohl eher nicht“ (ebd.).

Die genannten Aspekte führen zu einer „Führung im Widerspruch“, die Michael Herzka schon 2013 ausführlich mit spezifischem Bezug zur Führung in sozialen Organisationen dargelegt hat.

Das oben beschriebene Dilemma jedoch zeigt sich nicht innerhalb sozialer Organisationen, die organisationsintern mit den mindestens gleichen Dilemmata zu kämpfen haben wie andere Organisationen auch. Das Dilemma zeigt sich vielmehr zwischen der Organisation und den Kostenträgern.

Wie also kann hier vorgegangen werden?

Basics der Organisationsentwicklung, oder: Das Mögliche tun

Oftmals wird die Abhängigkeit von den gesetzlichen Rahmenbedingungen als – überspitzt formuliert – Ausrede herangezogen, um keine Änderungen vornehmen zu müssen („Wir können nicht anders, weil die Kostenträger dies und jenes…“).

Das ist zu kurz gegriffen. Es gibt immer Handlungsoptionen und seien sie auch noch so klein.

Hier setzen die Basics an, die ich in Teams und sozialen Organisationen häufig vermisse. Unter diesen Basics fasse ich auf organisationaler Ebene eine regelmäßige Beschäftigung mit der Mission, der Vision, den Werten und den Strategien der Organisation.

Ich sehe Leitbilder, die vor Dekaden erstellt wurden, Leitbilder, die Werte propagieren, die auf Hochglanzbroschüren in Schubladen, an Wänden oder auch im Internet vergilben. Hier gilt es, diese Leitbilder regelmäßig in die Hand zu nehmen und zu prüfen, ob sie zum einen geeignet sind, Orientierung zu geben und zum anderen zu prüfen, ob sich grundlegende Veränderungen ergeben haben, die eine Anpassung des Leitbilds erfordern.

Auf Teamebene ist es ähnlich: Ich sehe in den seltensten Fällen so etwas wie einen „Teamkodex“, der für die Mitglieder eines Teams Orientierung gibt und darlegt, wie gemeinsam im Team gearbeitet werden soll.

Beides, die iterative Überprüfung des Leitbilds der Organisation sowie die Entwicklung und ebenfalls regelmäßige Überprüfung und Anpassung eines Teamkodex bedeutet nicht, einen riesigen Aufwand betreiben zu müssen. Es bedeutet auch nicht, die Gesamtorganisation komplett auf den Kopf zu stellen, neu, agil, demokratisch oder wie auch immer zu strukturieren.

Vielmehr ist die regelmäßig investierte Zeit in die grundlegenden Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen hilfreich, um für die Zukunft besser in den nicht auflösbaren Widersprüchen Sozialer Arbeit agieren zu können.

Organisationsbewusstsein entwickeln

Den berühmten „Praxisschock“ kennen wahrscheinlich alle, die sich mit Studium und Ausbildung in sozialen Berufen befassen. In Studium und Ausbildung kommt eine Auseinandersetzung mit der Funktionsweise sozialer Systeme zu kurz. Zwar haben Sozialarbeiter:innen (hoffentlich) immer grundlegende systemische Kompetenzen erlangt. Diese beziehen sich jedoch in den allermeisten Fällen auf die Klientensysteme und nicht auf das soziale System „Organisation“. Entsprechend sollte die Funktionsweise von sozialen Organisationen in ihren komplexen Abhängigkeiten unter den aktuellen Gegebenheiten (Fachkräftemangel, Digitalität und Co.) deutlich verstärkt Thema in Ausbildung und Studium werden, damit die Absolvierenden im Arbeitsleben nicht frustriert werden.

Gleiches gilt für Weiterbildungsangebote, die soziale Organisationen für ihre Mitarbeiter:innen und Führungskräfte anbieten: Insbesondere Führungskräfteschulungen sollten einen wesentlichen Teil darauf verwenden, die Funktionslogiken sozialer Systeme in den Mittelpunkt stellen. Damit können zum einen die „Steuerungsphantasien“ der (angehenden) Führungskräfte in Grenzen gehalten und zum anderen Handlungsoptionen zur Gestaltung von Teams und Organisationen – wiederum mit offener Kommunikation über die Dilemmata Sozialer Arbeit – vermittelt werden.

Dialog mit den Kostenträgern

Wie ich im Beitrag oben und bspw. auch hier ausführlich dargelegt habe, „ticken“ soziale Organisationen diametral entgegengesetzt zu den Kostenträgern. Mit anderen Worten:

„Im Gegensatz zu den auf die Gestaltung von Komplexität angelegten Sozialen Organisationen sind die Sozialleistungsträger (u.a. Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungsträger, Krankenkassen, die für die Kosten aufkommen) nicht im Erziehungssystem anhand der genannten Codes organisiert, sondern fokussieren in ihren Strukturen und Handlungsweisen auf Rechtmäßigkeit und Berechenbarkeit bei hoher Zuverlässigkeit, Effektivität und Effizienz.“

In dem verlinkten Beitrag habe ich als (eine) Lösungsoption formuliert, dass es „im Zuge grundlegender Transformationen gelingen muss, alle basierend auf einer System-Umwelt-Analyse definierten Stakeholder an einen Tisch zu bekommen – und das schon vor dem anstehenden OE-Prozess. Nur durch gemeinsames Verständnis der Anliegen der jeweils anderen Seiten kann (nicht: muss) sich die Option eröffnen, neue Wege gehen und dringend benötigte Experimente in der Neugestaltung pluralisitscher Organisationen realisieren zu können.“

Diese Dialogforen, diese gemeinsamen Gespräche zur zukünftigen Zusammenarbeit vermisse ich noch auf vielen Ebenen – im Kleinen wie im Großen.

Wie wollen wir leben? Oder: Zukunft gestalten

Oben habe ich die Definition Sozialer Arbeit sehr verkürzt und auf die Arbeit mit den Individuen fokussiert dargestellt.

Ausführlich heißt die Definition aber:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“

Es kommt die Förderung gesellschaftlicher Veränderungen, sozialer Entwicklungen und die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts hinzu. Krasse Aufgabe, ehrlich gesagt.

Diese Aufgabe beinhaltet eine gesellschaftliche Gestaltungsaufforderung an die Soziale Arbeit. Kurz gesagt:

Wie wollen wir leben?

Diese Frage ist nicht dadurch zu beantworten, dass Soziale Arbeit – neben dem, dass sie Gesetze umsetzen muss – nach immer neuen Lösungen für aktuelle Probleme sucht. Innovation ist gut und wichtig, greift aber – sofern sie auf Problemlösungen ausgerichtet ist – zu kurz.

Wir brauchen vielmehr eine Auseinandersetzung mit wünschenswerten Zukünften.

Dazu bedarf es einer deutlich weitergehenden Perspektive, einem Blick in die nicht existierende Zukunft. Es braucht Szenarien, die zwischen Utopie und Dystopie Möglichkeiten thematisieren, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu welchen Realitäten führen können. Es braucht eine Auseinandersetzung dazu, was Visionen Sozialer Arbeit der Zukunft sein können.

Auf Twitter habe ich mal gefragt: „Was ist eigentlich die Vision der Sozialwirtschaft 2035?“.

Es gab keine Antwort dazu (und ich selbst habe diese Antwort auch nicht.

Und ChatGPT 😉 liefert auf die Frage nach der Vision der Sozialwirtschaft auch wenig Erhellendes (Stärkere Betonung der Nachhaltigkeit, stärkere Nutzung von Technologie, stärkere Betonung sozialer Gerechtigkeit).

Nur in einem Punkt bin ich sehr bei dem, was die AI sagt:

„Ausbau der Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationen der Sozialwirtschaft und anderen Akteuren wie der öffentlichen Hand und Unternehmen könnte verstärkt werden, um gemeinsam gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.“ (siehe oben).

Es ist dringend Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.

Fazit zum Umgang mit Dilemmata

Dilemmata sind normal in Organisationen. Allein das Verhältnis von Organisation und den darin eingespannten Individuen ist hier zu benennen. Weitere Dilemmata habe ich oben angeführt.

Das Dilemma zwischen sozialen Organisationen und den Kostenträgern geht darüber jedoch hinaus. Entsprechend gilt es, auch über die eigene Organisation hinaus zu denken und neben den Handlungsoptionen innerhalb der Organisationen in der Branche der Sozialwirtschaft den Dialog mit den politischen Akteuren, den Kostenträgern, deutlich zu intensivieren. Soziale Arbeit muss aus dieser Perspektive wieder politischer werden.

Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit einer Zukunft, die als lebenswert angesehen wird.

Innovationen im Sinne von Problemlösungen reichen da nicht (mehr) aus.

Es gilt, sowohl die Zukünfte Sozialer Arbeit zu gestalten als auch die Organisationsentwicklung soweit möglich in Angriff zu nehmen – weg von der Institutionen- hin zur Personenorientierung.


P.S.: Wenn Du nach dem Lesen dieses Beitrags Deine Organisation zwischen diesen herausfordernden Polen entwickeln magst, stehe ich Dir gerne als Begleiter zur Seite. Einfach hier Kontakt aufnehmen