Schlagwort: New Work

It’s the end of New Work as we know it…?! Oder: Wie Führung und die Gestaltung sozialer Organisationen in Zeiten des Fachkräftemangels gelingt!

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Der Titel löst Fragen aus: Was ist New Work? Ist New Work am Ende? Wenn ja, warum? Und was hat Führung und die Gestaltung sozialer Organisationen mit dem Fachkräftemangel zu tun?

Antworten auf diese Fragen sind bedeutsam, um Organisationen der Sozialen Arbeit zukunftsfähig zu gestalten und damit – wieder angelehnt an das bekannte Lied „It’s the End of the World…“ von R.E.M. – doch zu einem „…and we feel fine!“ zu kommen.

Das gelingt – wenn man die Herausforderungen des Fach- und Arbeitskräftemangels in der Sozialen Arbeit in den Blick nimmt – weniger mit „New Work“ als mit „New Organizing“ verstanden als die durchgängige Professionalisierung von Organisationen der Sozialen Arbeit unter Berücksichtigung ihrer Spezifika.


Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift bethel>wissen der Stiftungen Sarepta und Nazareth. Hier kann die Zeitschrift als PDF heruntergeladen werden.


Was New Work ist und wie es verstanden wird

New Work meint a) die Sozialutopie der Abkehr von der klassischen Lohnarbeit. Frithjof Bergmann (1 – die Zahlen sind Klammern verweisen auf die Quellen am Ende) wollte damit einen Gegenentwurf zum Kapitalismus liefern. Hängengeblieben ist von seinen Ideen oftmals allein der Satz, dass Menschen das tun sollten, was sie „wirklich, wirklich tun wollen“.

Dieser Satz hat einen nicht unwesentlichen Anteil an dem heute populären Verständnis von New Work im Sinne der Gestaltung von Organisationen, die von einem „evolutionären Sinn“ getrieben sind, in denen Menschen „ihr ganzes Selbst einbringen“ können und „hierarchiefrei und selbstorganisiert auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten. Mit dieser aktuellen Vorstellung von New Work, die durch das Buch „Reinventing Organizations“ von Laloux (2) populär wurde, geht einher, dass klassische Aspekte, die Organisationen definieren, in Frage gestellt werden: Formale Hierarchien, Vorgesetzte, klare Prozesse, Regeln und Vorgaben haben nach dieser Vorstellung von New Work einen schweren Stand.

Die Auswirkungen des Fach- und Arbeitskräftemangels auf Organisationen der Sozialen Arbeit

Befeuert werden diese Vorstellungen von New Work durch den demografischen Wandel und den damit einhergehenden Fachkräfte- bzw. Arbeitskräftemangel, von dem insbesondere die Gesundheits- und Sozialwirtschaft massiv betroffen ist (3). Denn – so die gängige Vorstellung – wenn sich (potenzielle) Fachkräfte ihren Arbeitsplatz aussuchen können, müssen Organisationen alles tun, um sie zu „gewinnen und zu binden“. Die Gewinnung und Bindung erfolgt dann häufig dadurch, dass man die „Mitarbeitenden in den Mittelpunkt der Organisation“ stellt und ihnen alle erdenklichen Annehmlichkeiten zur Verfügung stellt – angefangen von Mitgliedschaften in Fitnessstudios über Jobräder bis hin zu (in sozialen Berufen begrenzten) Möglichkeiten, Arbeitszeit, -ort und -inhalt selbst zu bestimmen. Dies nährt jedoch „auf Seiten der Menschen die Illusion, dass sich die Organisation um ihre Anliegen und Wünsche herum entwickelt – also die Organisation sich in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter stellt“. Diese Illusion hat jedoch „katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (4).

Der sich durch den demografischen Wandel verschärfende Arbeitskräftemangel führt auch dazu, dass Organisationen der Sozialen Arbeit nicht mehr davon ausgehen können, sehr gut ausgebildete, hoch motivierte und engagierte Fachkräfte zu finden. Vielmehr geht es zunehmend darum, die anfallende Arbeit überhaupt bewältigen zu können. Dies führt in vielen Arbeitsfeldern (z.B. Eingliederungshilfe, Altenhilfe oder Erziehung) dazu, dass neben Fachkräften zunehmend auch nicht explizit ausgebildete Arbeitskräfte eingesetzt werden (müssen).

Daraus ergeben sich neue Herausforderungen, wenn die komplexen Besonderheiten der „Produktion“ personenbezogener sozialer Dienstleistungen berücksichtigt werden. Diese Dienstleistungen sind dadurch charakterisiert, dass sie a) immateriell, b) unteilbar und nicht speicherbar sind und immer c) die Einbeziehung der Klient:innen in die Dienstleistungserstellung erfordern. Darüber hinaus sind sie immer d) individuell in direkter Interaktion mit den Klient:innen zu erbringen (5). Kurz:

Soziale Arbeit ist hochgradig komplex und findet zum einen immer „selbstorganisiert“ in direkter Interaktion mit den Klient:innen statt. Zum anderen erfordert professionelle, d.h. wirklich gute Soziale Arbeit überdurchschnittlich ausgeprägte fachliche und soziale Kompetenzen, um die Komplexität der Arbeit mit Menschen bewältigen zu können. Die leider vielerorts vorherrschende Vorstellung „Soziale Arbeit kann jede:r“ ist völlig abwegig!

Problematisch für die Menschen in der Sozialen Arbeit und die Organisationen der Sozialen Arbeit wird es dann, wenn – wie skizziert – Soziale Arbeit zunehmend von Laien erbracht wird, die aufgrund der Komplexität Sozialer Arbeit häufig überfordert sind, und gleichzeitig immer höhere Anforderungen (z.B. an Wirkungsnachweise) seitens der Kostenträger gestellt werden, da die Aufrechterhaltung der Qualität Sozialer Arbeit kaum noch möglich ist.

Werden diese Überlegungen dann mit (falsch verstandenen) Vorstellungen von New Work im Sinne der skizzierten „hierarchiefreien, selbstorganisierten und auf Augenhöhe arbeitenden Teams“ in Verbindung gebracht, wird deutlich, dass eine Orientierung an den (sehr heterogenen) Bedürfnissen der unterschiedlich ausgebildeten Mitarbeiter innen für Organisationen der Sozialen Arbeit auf Dauer kein zielführender Ansatz ist.

Führung in komplexen Organisationen

Dies unterstreicht auch ein Blick auf „Führung“, verstanden als „erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten“ (6). „Führung“ bzw. die erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten wird aus dieser Perspektive erst dann notwendig, wenn die in der Organisation vorhandenen formellen oder informellen Erwartungen (dazu mehr hier) nicht ausreichen, um Kooperation zu ermöglichen.

Die “kritischen Momente” sind z.B. dadurch gekennzeichnet, dass die Mitarbeiter/innen unsicher sind, wie sie sich verhalten sollen, oder dass Unklarheit darüber besteht, ob die Situation richtig interpretiert wird, wer das Wort ergreifen soll oder ob sich die Situation zu einem Konflikt entwickeln könnte. Mit anderen Worten: Es bräuchte keine Führung, wenn es gelänge, eine „perfekt organisierte Organisation“ zu schaffen. Das ist aber völlig unrealistisch. Und die „perfekt durchorganisierte Organisation“ als „Heilsbringer“ wird noch unrealistischer, wenn man die skizzierten Spezifika Sozialer Arbeit hinzuzieht:

Da die „Produktion“ personenbezogener sozialer Dienstleistungen „an der Basis“ in direkter Interaktion mit den Klient:innen stattfindet und dieser Prozess hochkomplex und in Teilen chaotisch (im Sinne von nicht planbar) verläuft und nicht durch Vorgaben oder Prozesse gestaltet werden kann („Wenn die Klientin XY sagt, musst du Z sagen!“), sind kritische Momente – Momente der Unsicherheit und Unklarheit – der Sozialen Arbeit inhärent – denn man hätte immer auch anders handeln können.

Auch wenn diese Unklarheiten unmittelbar durch die eigene Entscheidung der Fachkraft in der jeweiligen Situation geklärt werden, braucht erfolgreiche Soziale Arbeit Führung – in diesem Fall Selbstführung, verstanden als die Kompetenz, in unklaren Situationen selbst Entscheidungen zu treffen. Dazu benötigen Fachkräfte der Sozialen Arbeit aber neben sozialer Kompetenz und Intuition auch Kompetenzen in verschiedenen relevanten Bereichen (u.a. Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Recht).

Und insbesondere (aber nicht nur) dann, wenn aufgrund des Fach- und Arbeitskräftemangels vermehrt Personen ohne entsprechende Ausbildung in der Sozialen Arbeit tätig sein werden, bedarf es der Führung, um in kritischen Momenten Einfluss nehmen und Entscheidungen treffen zu können. Da die Selbstführung hier aufgrund mangelnder Fachlichkeit an ihre Grenzen stoßen kann, muss die Einflussnahme zwangsläufig durch andere Instanzen erfolgen. Diese Instanzen müssen nicht notwendigerweise formale Vorgesetzte sein. Auch die Entscheidung „kritischer Momente“ im und durch das Team ist denkbar, sofern geeignete Entscheidungsmethoden (wie z.B. Konsent-Moderation, 8) eingesetzt werden.

Rahmenbedingungen gestalten und Erwartungen transparent machen

Wichtig bleibt aber, dass die Entscheidungen, wie Soziale Arbeit im Einzelfall und trotz Fachkräftemangel erfolgreich umgesetzt werden kann, so getroffen werden, dass sie den vorgegebenen und/oder von der Organisation gewünschten Standards entsprechen. Diese Standards müssen aber nicht immer wieder neu gemeinsam ausgehandelt werden. Vielmehr sind die Führungskräfte gefordert, diese Standards als Rahmenbedingung für die gemeinsame Arbeit zu setzen. Mit der Vorgabe allein ist es aber nicht getan: Führungskräfte tragen auch die Verantwortung für die Umsetzung und damit für die Einhaltung der von ihnen gesetzten Standards!

Damit dies möglichst konfliktfrei geschehen kann, empfiehlt es sich, die formalen Erwartungen an die jeweiligen Rollen (z.B. Führungskraft, Fachkraft und Nichtfachkraft) transparent zu machen und zu klären, was genau von welcher Rolle erwartet wird. Das Rollenverständnis hilft auch, Personen nicht „pauschal“ zu kritisieren, sondern auf die jeweiligen gemeinsam erarbeiteten und transparent gemachten Erwartungen an die jeweilige Rolle zu verweisen.

Fazit, oder: Wie Führung und die Gestaltung sozialer Organisationen in Zeiten des Fachkräftemangels gelingt

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich „the end of New Work“ nur auf die romantisierenden, oft illusionären Vorstellungen einer ganzheitlichen, radikal selbstorganisierten und auf Augenhöhe stattfindenden Sozialen Arbeit bezieht. Mit dem Ende von „New Work, wie wir sie kennen“ sollte auch das Ende der Illusion einhergehen, dass sich Organisationen um die Anliegen und Wünsche ihrer Mitarbeitenden herum entwickeln müssten.

Um den Herausforderungen des Fach- und Arbeitskräftemangels in der Sozialen Arbeit begegnen zu können, muss es in Zukunft statt um „New Work“ verstärkt um eine andere, funktionale Gestaltung von Organisationen der Sozialen Arbeit – von mir aus „New Organizing“ – gehen und damit um funktionale Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit – unter Berücksichtigung ihrer Spezifika.

Professionell und funktional meint insbesondere die Gestaltung von funktionalen Strukturen, die Trennung von Person und Rolle sowie die Etablierung von Führung, die in der Lage ist, in kritischen Momenten Verantwortung zu übernehmen, diese Momente zu analysieren, Entscheidungen zu treffen und für deren Umsetzung zu sorgen – in der Hoffnung, damit zu einem „…and we feel fine!“ zu kommen.

Quellen:

  • 1 Vgl. Bergmann, F. (2004): Neue Arbeit, neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
  • 2 Vgl. Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Verlag Franz Vahlen.
  • 3 Vgl. Hohendanner, Chr., Rocha, J., Steinke, J. (2024): Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor. Empirische Vermessung und Handlungsansätze. Oldenburg: De Gruyter.
  • 4 Wimmer, R., von Ameln, F. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, 211–216.
  • 5 Vgl. Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • 6 Muster, J. et al. (2020): Führung als erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten. Grundzüge, Implikationen und Forschungsperspektiven. In: Barthel, Chr. (Hrsg.): Managementmoden in der Verwaltung. Sinn und Unsinn. Wiesbaden: Springer Gabler. S. 285 – 305.
  • 7 Richter, T., Groth, T. (2023): Wirksam führen mit Systemtheorie. Kernideen für die Praxis. Carl Auer Verlag.
  • 8 Vgl. Rüther, Chr. (2022): KonsenT-Moderation. Gemeinsam effektiv auf Augenhöhe entscheiden. Ein Lehrbuch und Praxisleitfaden! Hamburg: Tredition.

Rezension: „Gute Arbeit“ von Marion King

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Das Buch „Gute Arbeit“ von Marion King ist mehr als eine Anleitung zur Verbesserung der Arbeitswelt; es ist ein leidenschaftlicher Appell an alle, die ihre berufliche und persönliche Selbstwirksamkeit entdecken und ausbauen wollen. Das Buch verbindet fundierte Theorie mit einer Fülle persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse der Autorin. King versteht es meisterhaft, den Leser mit humorvollen, berührenden und klugen Beobachtungen durch die Geschichte der Arbeit und in die Zukunft zu führen. Dabei gelingt es ihr, die oft abstrakten Konzepte von „New Work“ greifbar und praxisnah darzustellen.

Gliederung des Buches: Ein Blick auf die Struktur

Das Buch „Gute Arbeit“ von Marion King ist klar und übersichtlich gegliedert, was es dem Leser leicht macht, dem roten Faden zu folgen und die einzelnen Themen zu vertiefen. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt die Tiefe und Vielfalt der behandelten Aspekte:

  1. Das Vorwort: Marion King beginnt ihr Buch mit einer philosophischen Einführung von Natalie Knapp, die den Leser dazu anregt, sich seiner eigenen Macht und Wirksamkeit bewusst zu werden. Der Ton ist motivierend und gibt den Rahmen für die folgenden Kapitel vor.
  2. Der Zustand der Arbeit: In diesem einleitenden Kapitel beschreibt King aus verschiedenen Perspektiven, wie sich die heutige Arbeitswelt darstellt. Sie beleuchtet die Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Organisationen und der Führungskräfte und macht deutlich, dass zwischen Erwartungen und Realität oft eine Lücke klafft. Das Kapitel „Wer jammert, hat noch Reserven“ weist auf humorvolle Weise auf das Potenzial hin, das in scheinbar schwierigen Arbeitssituationen steckt.
  3. Alte Arbeit: Dieses Kapitel führt den Leser tief in die historische Entwicklung der Arbeitswelt. King beleuchtet die Ursprünge moderner Arbeitsprinzipien, angefangen bei Pionieren wie Taylor, Fayol und Ford. Sie analysiert kritisch, wie die industriellen Revolutionen die Arbeitswelt geprägt haben und welche der alten Paradigmen bis heute überlebt haben. Das Kapitel „Taylor meets IT“ beschreibt die digitale Transformation und die damit verbundenen Herausforderungen.
  4. Neue Arbeit: In diesem Teil widmet sich King der modernen Arbeitswelt, dem Konzept „New Work“ und den damit verbundenen Mythen. Sie beschreibt, wie die Bewegung durch Frithjof Bergmann an Popularität gewann und bietet eine differenzierte Sicht auf die oft idealisierte Vorstellung dieser neuen Arbeit. Echte „Gute Arbeit“, so King, entsteht nicht durch Schlagworte, sondern durch einen echten Wandel von Strukturen in Organisationen, die dann auch zu einer anderen Haltung führen (können).
  5. Machen: Der praxisorientierte Teil des Buches motiviert zum Handeln. King zeigt zwölf „gute“ Gründe auf, warum Veränderungen oft scheitern, und gibt Hinweise, wie diese Hürden überwunden werden können. Besonders inspirierend ist das Kapitel „Neue Arbeit selbst machen“, in dem die Autorin konkrete Methoden und Beispiele für Selbstwirksamkeit vorstellt. Hier geht es um den Mut, aus vorgefertigten Strukturen auszubrechen und aktiv neue Wege zu gehen. King betont, dass dieser Prozess nicht ohne Geduld und Ausdauer geht, was sie im Kapitel „Über Geduld“ aufgreift.
  6. Inspirationen: In den abschließenden Kapiteln geht King auf gesellschaftliche Veränderungen ein, die eng mit dem Wandel der Arbeitswelt verbunden sind. Sie spricht von „New Masculinity“ und „New (Generation) Female“ und zeigt auf, wie feministische Prinzipien und Selbstwirksamkeit in den Arbeitsalltag integriert werden können. Das Kapitel „Eine neue Schule“ eröffnet Perspektiven, wie Bildung und Selbstwirksamkeit zusammenhängen und warum beides für eine nachhaltige Arbeitskultur so wichtig ist.
  7. Anhang: Der letzte Teil des Buchs „Gute Arbeit“ von Marion King bietet eine Sammlung weiterführender Literatur und Empfehlungen zur Vertiefung der behandelten Themen. King nennt ihre persönlichen „Lieblingsbücher“ und schlägt damit eine Brücke für Leser:innen, die sich tiefer mit den philosophischen und praktischen Aspekten der Arbeitswelt beschäftigen möchten.

Analyse und Reflexion zum Buch „Gute Arbeit“ von Marion King

„Wer jammert, hat noch Reserven!“ Puhhh, ich musste länger über den Satz nachdenken, der über der „eigentlichen Einleitung zum Buch“ (S. 22/23) steht (King bezieht sich auf den Artikel von Duve, 2003) und dachte an die Einrichtungen und Organisationen in denen ich unterwegs bin – Pflege, Soziale Arbeit, Erziehung, Gesundheit… Geht da noch was?

King ist sich sicher: „Ich weiß ganz sicher, dass da noch was geht, dass es anders geht – das mit dem Arbeiten und das mit dem Verändern.“ (ebd.)

Ja, dieser Blick macht das Buch für mich aus: Es geht was, es geht anders, vor allem aber geht es (selbst-)wirksamer. Arbeit genauso wie Veränderung. Allein an dem kurzen Einblick ins Buch zeigt sich, dass Gute Arbeit weit mehr ist als eine rein theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit. Es ist ein Buch, das bewegen und aufrütteln soll – und das auch schafft.

Dazu trägt Kings Schreibstil bei – fesselnd und direkt, sie spricht ihre Leser:innen wie Vertraute an und macht die Lektüre zu einer fast persönlichen Erfahrung. Dazu tragen auch die vielen Beispiele aus ihrem eigenen Berufsleben bei, die auf lebendige Weise veranschaulichen, dass Veränderungen nicht nur notwendig, sondern auch und anders machbar sind.

Mir gefällt aber besonders Kings Fähigkeit, die Verbindung zwischen einer aus meiner Sicht realisitsch eingeordneten Perspektive von „New Work“ (in Anführungsstrichen als Klammer für alle zeitgemäßen Formen, Methoden und Tools von Arbeit und Zusammenarbeit, S. 67) und der eigenen ebenso wie der organisationalen Selbstwirksamkeit herzustellen.

Ja klar, manches sind Wiederholungen für Menschen, die sich schon lange im Kontext von New Work und Organisationsentwicklung bewegen – aber das ist normal und wichtig, denn: Ohne ein- und hinführende Worte zu komplexen Themenstellungen geht es nicht.

Marion King zeigt aber insgesamt, dass es bei erfüllender Arbeit nicht nur um Produktivität und Karriere geht, sondern darum, Einfluss auf seine Umwelt zu nehmen und (wieder) Sinn in seiner Arbeit zu finden. In einer Welt, die oft von Leistungsgedanken und kurzfristigen Erfolgen getrieben ist, erinnert das Buch daran, dass wahre Erfüllung nur dann erlebt wird, wenn man langfristig wirklich, wirklich etwas bewirkt.

Und so denke ich über die eigene Hoffnung nach, mit meiner Arbeit etwas – was auch immer – zu bewirken – für mich, vor allem aber für die tollen Menschen und Organisationen, mit denen ich in herausfordernden Zeiten zusammenarbeiten darf.

Fazit

Das Buch „Gute Arbeit“ von Marion King ist ein inspirierendes und facettenreiches Buch, das weit über die gängigen Buzzwords der „New Work“-Bewegung hinausgeht. Es ist ein Aufruf zu Verantwortung, Mut und Offenheit – sowohl für den Einzelnen als auch für Organisationen. Kings humorvoller und zugleich nachdenklicher Ton führt die Leser:innen durch die verschiedenen Facetten der Arbeitswelt und motiviert zur aktiven Gestaltung des Wandels.

Aus meiner Sicht eine klare Empfehlung für alle, die sich mit dem Status quo nicht zufrieden geben und bereit sind, sich nicht nur für „Gute Arbeit“, sondern auch für die Stärkung der Selbstwirksamkeit auf gesellschaftlicher Ebene einzusetzen.

Und das braucht’s – Selbstwirksamkeitserfahrungen für sich selbst, in unseren Organisationen und der Gesellschaft. Da geht noch was!

Und hier geht’s zum Buch!

Der IdeeQuadrat New Work Canvas 2.0 – (D)ein Tool für die gelingende Organisationsentwicklung

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Hä, was? IdeeQuadrat New Work Canvas? Muss das sein? Braucht wirklich jede:r ein eigenes Canvas? Ja, ich verstehe, aber ich möchte hier so etwas wie meine „Hintergrundfolie“ in Organisationsentwicklungsprozessen mit Dir teilen. Außerdem erfährst Du, wie Du mit dem IdeeQuadrat New Work Canvas in Deinem Team oder Deiner Organisation arbeiten kannst. Vielleicht passt inzwischen auch der Name nicht mehr ganz – New Work – was ist das eigentlich? Denn übergreifend geht es mir darum, gute, funktionale, von mir aus auch „gesunde“ Organisationen zu gestalten – ob New Work oder nicht…

So durfte ich in den letzten Jahren ich immer wieder spannende Einblicke in die unterschiedlichsten Organisationen gewinnen und mit ihnen gemeinsam Strategien entwickeln, Führungskräfte und Teams begleiten, Organisationsstrukturen neu gestalten oder selbstbestimmt agierende Teams auf den Weg bringen und deren Zusammenarbeit weiter entwickeln.

Bei all diesen Themen gibt es für mich im Hintergrund immer ein Bild der gesamten Organisation oder des Teams, mit der bzw. dem ich arbeite. Und dieses Bild, diesen Hintergrund möchte ich hier mit Dir teilen.

Im folgenden findest Du die etwas überarbeitete Version 2.0 der IdeeQuadrat New Work Canvas.

IdeeQuadrat New Work Canvas: Gesamtbild und Methode

Das IdeeQuadrat New Work Canvas dient – wie gesagt – dazu, nicht nur einen begrenzten Ausschnitt der Organisation wahrzunehmen, sondern die Organisation bestmöglich als „soziales System“ und damit – Achtung, Buzzword – ganzheitlich zu betrachten.

Aber hier schon die Einschränkung:

Ein Canvas als Bild und Methode ist immer eine Reduktion von Komplexität und nicht die Realität. Aber genau dazu dient ein Canvas: Die komplexe Wirklichkeit diskutierbar und damit zielgerichtet bearbeitbar zu machen, ohne in endlose und nicht zielführende Diskussionen über „Alles und Nichts“ zu verfallen.

Neben dem Gesamtbild dient das IdeeQuadrat New Work Canvas aber auch als Methode, um gezielt an bestimmten Bausteinen bzw. „Kategorien der Organisation“ zu arbeiten und diese im Sinne des Zwecks der Organisation bzw. des Teams weiterzuentwickeln.

Was ist neu?

Ich habe das Canvas sprachlich angepasst und inhaltlich erweitert. Die inhaltliche Erweiterung bezieht sich vor allem auf die Integration von Fragen zur organisationalen Resilienz. Diese wurde jedoch nicht in einer eigenen Kategorie zusammengefasst, sondern in die bestehenden neun Kategorien integriert.

IdeeQuadrat New Work Canvas ist das Gesamtbild der Organisation

Die Gestaltung der Canvas basiert auf verschiedenen Management-Modellen. Zu nennen ist insbesondere das St. Galler Management-Modell, außerdem das New Work Canvas der Neue Narrative und das „Operating System Canvas“ von the ready.

Durch die Zusammenführung dieser Modelle habe ich versucht, einen Gestaltungsrahmen für Führungskräfte abzubilden, der es ermöglicht, die eigene Organisation ganzheitlich zu betrachten und daraus Probleme und Lösungsoptionen zu identifizieren.

Das IdeeQuadrat New Work Canvas soll zudem genügend Flexibilität bieten, um je nach Herausforderung geeignete Methoden und Lösungsansätze anzuwenden und – bei Erfolg – zu implementieren.

Inhaltlich gliedert sich das Canvas in neun Kategorien, die jedoch nicht „übereinander“ liegen und damit eine unterschiedliche Wertigkeit haben. Vielmehr stehen die Kategorien „gleichberechtigt“ nebeneinander. Sie bilden damit gewissermaßen das „Grundgerüst“ der Organisation.

Und im Canvas sind den Kategorien jeweils Aussagen zugeordnet:

Vision, Zweck und Identität

  • Wir haben eine klare Vision!
  • Wir orientieren unsere Entscheidungen an dieser Vision und an den Bedürfnissen unserer Nutzer*innen!
  • Allen ist klar, wofür wir als Team/Organisation da sind (Purpose)!
  • Der/die Zweck/e unserer Organisation (Mission) und jedes Teams in unserer Organisation sind definiert!
  • Wir kommunizieren den Purpose aktiv nach innen und außen!
  • Unser Purpose hilft uns, Entscheidungen zu treffen!

Sachmittel und Ressourcen

  • Wir sind finanziell gut aufgestellt!
  • Wir investieren Zeit und Geld!
  • Der Zustand der Gebäude und Einrichtungen entspricht den Anforderungen zur Erfüllung unseres Zwecks!
  • Unsere Strategien beeinflussen die Ressourcenallokation sinnvoll!
  • Unsere digitale Infrastruktur ist zeitgemäß!
  • Wir entwickeln unsere Sachmittel und Ressourcen bedarfsgerecht weiter!

Optimierung, Innovation und Exnovation

  • Es ist für alle Mitarbeiter:innen transparent, wie wir lernen und uns weiterentwickeln!
  • Wir haben ein lebendiges Innovationsmanagementsystem implementiert, das festlegt, wer wie Ideen zu Innovationen werden lässt und wer daran beteiligt ist!
  • Die Wahrnehmungen und Ideen der Mitarbeiter:innen werden aktiv in relevante Prozesse einbezogen.
  • Wir beziehen die Nutzer:innen in die Innovationsentwicklung mit ein!
  • Wir haben lebendige Routinen zur Reflexion bestehender Angebote, Dienstleistungen und Prozesse etabliert!
  • Wir gestalten den Austausch mit unseren externen Stakeholdern aktiv und nehmen ihre Perspektiven ernst.
  • Es gilt als sicher und willkommen, bestehendes Wissen und Routinen in Frage zu stellen.

Strukturen

  • Die Aufbauorganisation (Organigramm) ist allen Mitarbeiter:innen bewusst!
  • Wir entwickeln unsere Aufbauorganisation, die Struktur unserer Teams, unsere Regeln und Vorgaben kontinuierlich weiter, um den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen!
  • Wir haben klare und gleichzeitig flexible Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten in unserer Organisation/im Team in Mandaten kompetenzbasiert geregelt!
  • Wir ermöglichen bereichsübergreifende Zusammenarbeit, um komplexe Herausforderungen bewältigen zu können!

Mitarbeiter:innen und Partner

  • Die Kompetenzen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechen unseren heutigen und zukünftigen Anforderungen!
  • Wir gestalten unser Lernen und unsere Personalentwicklung aktiv und zukunftsorientiert!
  • Wir haben gelebte Routinen im Umgang mit internen Konflikten!
  • Wir kennen unsere externen Stakeholder (Politik, Kostenträger, Angehörige…)!
  • Wir arbeiten mit unseren externen Stakeholdern vertrauensvoll zusammen und beziehen sie in Entscheidungen ein!

Prozesse

  • Unsere Kern-, Unterstützungs- und Führungsprozesse sind definiert und bekannt!
  • Unsere Prozesse werden verbindlich gelebt!
  • Wir haben Routinen etabliert, um unsere Prozesse regelmäßig weiterzuentwickeln!
  • Standardisierbare Prozesse sind auf allen Ebenen digitalisiert!
  • Wir haben Routinen etabliert, um den Überblick über unsere Projekte und Aufgaben zu behalten!

Strategien und Konzepte

  • Wir haben klare und sinnvolle strategische Stoßrichtungen für die (nahe) Zukunft definiert!
  • Wir treiben die Umsetzung der Strategien aktiv voran!
  • Unsere Strategien entsprechen unseren Stärken!
  • Wir sind offen für irritierende Impulse aus unserem Umfeld!
  • Wir entwickeln, verfeinern und erneuern unsere Strategien kontinuierlich!
  • Unsere Strategien leiten uns bei unseren täglichen Entscheidungen!

Mandate und Funktionen

  • Wir haben in der Organisation und in den Teams klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten (Mandate) definiert, um selbstbestimmtes Arbeiten zu fördern!
  • Wir fördern eine Führungskultur, die effektives Führungsverhalten auch in Zeiten der Unsicherheit und des Wandels ermöglicht und unterstützt.
  • Die Zuständigkeiten für die Mandate sind definiert und die erforderlichen Kompetenzen bekannt!
  • Wir haben Routinen für die Wahl der Mandate in den Teams etabliert, die sicherstellen, dass die Mandate kompetenzbasiert vergeben werden.
  • Die Mitarbeiter*innen übernehmen die gemeinsam vereinbarten Aufgaben verbindlich!

Kommunikation

  • Jede unserer Teambesprechungen hat ein Ziel und eine klare Struktur?
  • Es ist klar, wer an den Besprechungen teilnehmen muss und warum!
  • Die Besprechungen werden moderiert und die Ergebnisse dokumentiert!
  • Wir haben Routinen entwickelt, um nicht zielführende Besprechungen zu verbessern (oder zu streichen)!
  • Unsere Kommunikationswege sind auch außerhalb von Besprechungen sinnvoll!
  • Informationen und Wissen sind transparent verfügbar!

Das IdeeQuadrat New Work Canvas zur Organisationsdiagnose

Die Aussagen zu den einzelnen Kategorien sollen deutlich machen, wo die Gesamt-Organisation bzw. das Team steht.

Dazu reicht eine einfache Bewertungsskala (1 – trifft überhaupt nicht zu … 10 – trifft voll und ganz zu), mit der Du die einzelnen Fragen durchgehen kannst. So bekommst Du einen ersten Überblick, wo Deine Organisation (oder Dein Team) steht und wo es Probleme und Herausforderungen gibt.

Das IdeeQuadrat New Work Canvas kann somit in einem ersten Schritt als Tool zur Ist-Analyse bzw. zur Organisationsdiagnose in Bezug auf die alle Kategorien genutzt werden.

Download: Hier den IdeeQuadrat New Work Canvas 2.0 herunterladen!

Konkrete Veränderung einer Kategorie

Neben dem Überblick über die Gesamtorganisation und der Erarbeitung des Status quo dient das Canvas aber auch als Methode, mit der jederzeit an der Organisation oder auch am Teamdesign gearbeitet werden kann.

Das funktioniert alleine, aber noch besser im Team. Ebenso ist es möglich, das Canvas in Großgruppenveranstaltungen einzusetzen (z.B. als Orientierung in einem Open Space).

Und so geht’s: In einem ersten Schritt ist es notwendig, eine Kategorie auszuwählen, in der Veränderungen angegangen werden sollen (bspw. die Kategorie „Mandate und Funktionen“).

Daran anschließend folgt ihr als Team der Change-Formel (vgl. Seliger, 2022, 54ff), die ich noch ein wenig erweitert habe. Ihr beantwortet die unter dem jeweiligen Punkt der Change-Formel aufgeführten Fragen (die ich hier nicht wiederhole, sie stehen auf der Canvas) zu den fünf Schritten:

  1. Driver
  2. Vision
  3. Ressources
  4. First steps
  5. Reflection

Dazu noch zwei Hinweise:

Bearbeitet die einzelnen Schritte nacheinander und beachtet, dass nur dann, wenn alle Bausteine – D + V + R + F + R – zusammenkommen, sich Veränderungsenergie freisetzt und die Möglichkeit kontinuierlicher Veränderung entsteht. Sobald ein Baustein fehlt, geht die Veränderungsenergie verloren und ihr bleibt stecken.

Außerdem verlaufen Veränderungen sozialer Systeme nie linear, sondern eher in Wellen oder Kreisen („zwei Schritte vor, einer zurück“). So gilt es immer wieder, innezuhalten, zu reflektieren, Zeit zu lassen und einen neuen Anlauf zu wagen.

Schritt für Schritt zur zeitgemäßen, bedarfsgerechten Organisation

Bei der Bearbeitung der Canvas-Fragen wird deutlich, dass es nicht immer sinnvoll ist, die gesamte Organisation komplett umzukrempeln und ein völlig neues „Betriebssystem“ zu installieren oder alles auf den Kopf zu stellen.

Gerade die kleinen Baustellen in den einzelnen Kategorien, die schnell und aktiv, dafür aber ernsthaft und verbindlich angegangen werden, bringen oft die größten Verbesserungen. Denn es sind die kleinen Impulse und Irritationen, die ein System in Bewegung bringen.

Und manchmal muss man gar nicht verändern, sondern mit etwas aufhören, um weiterzukommen.

Und jetzt:

Ladet den IdeeQuadrat New Work Canvas herunter und arbeitet damit oder gebt ihn an interessierte Menschen weiter. Mich würde sehr interessieren, ob und wie ihr mit der Canvas gearbeitet habt. Außerdem würde mich interessieren, wo ihr Entwicklungsmöglichkeiten für die Canvas seht. Hinterlasst doch einfach einen Kommentar dazu oder schreibt mir eine Mail

Ach ja, ich begleite euch natürlich auch gerne bei der Arbeit an eurer Organisation 😉 Dazu könnt ihr hier einfach Kontakt aufnehmen.

How (not) to kill your Company, oder: Die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit und wie Du ihnen begegnen kannst.

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Hier mein Skript zu einer „Keynote“ 😉 meines Impulses, den ich vor wenigen Tagen im neu eröffneten Futurum halten durfte. Das Forum stand unter dem Oberthema „Diakonisches Umfeld im Wandel“ und die Teilnehmer:innen waren aufgefordert, ihren „Haupt-Killerfaktor“ zur Veranstaltung mitzubringen, um im Anschluss an meinen Impuls über diese Faktoren tiefer in den Austausch zu gehen. Ausgehend von dieser Themensetzung habe ich einleitend über die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit gesprochen.

Einschränkend ist zu erwähnen, dass es sich hierbei um die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht handelt – und ich werde meine Meinung dazu in Zukunft sicherlich ändern, weiterentwickeln und anpassen. Das sind also die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt.

Jetzt aber – fast – los. Fast, weil ich einführend meinen Bezugsrahmen skizzieren will:

Mein Bezugsrahmen oder: Wozu existieren Organisationen der Sozialen Arbeit?

Unter dem Bezugsrahmen verstehe ich einleitend die Frage:

Wozu existieren Organisationen der Sozialen Arbeit heute und in Zukunft?

Für mich ist das so etwas wie der „Basic Purpose“, eine (fast) allgemeingültige Orientierung, die hilfreich sein kann.

Und mein Bezugsrahmen, den ich im Folgenden als Hintergrundfolie mitlaufen lasse, ist die „Definition Sozialer Arbeit“, die Du hier finden kannst.

Sie lautet:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.

Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.

Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen.

Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (Hervorhebungen durch d. Verf.).

Für mich ist diese Definition deshalb relevant, um eine – zwar sehr allgemeine, aber – grundlegende Orientierung darüber zu haben, wozu Organisationen der Sozialen Arbeit in all ihren Ausprägungen existieren. Sie liefert damit aus meiner Sicht eine gute Orientierung, warum es sinnvoll und wichtig ist, über das Überleben und die Zukunft von Organisationen der Sozialen Arbeit nachzudenken.

Es ist hervorzuheben, dass „die Sozialwirtschaft“ bzw. vor allem die beim Vortrag anwesenden Vertreter:innen der Komplexträger sich nicht nur in der Sozialwirtschaft, sondern in der „Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ bewegen. So lassen sich z.B. Krankenhäuser, aber auch Pflegeeinrichtungen nicht unmittelbar unter dieser Definition zusammenfassen. Für mich wird damit deutlich, dass die ohnehin schon enorme Komplexität, in der sich die verantwortlichen Vorstände und Geschäftsführer dieser Organisationen bewegen, noch einmal deutlich erhöht wird.

Dennoch glaube ich, dass die Definition der Sozialen Arbeit eine Orientierung für die folgenden fünf Hauptgefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit geben kann.

Die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit

Jetzt geht’s aber wirklich los… Und ich bin gespannt auf Dein Feedback – gerne hier in den Kommentaren oder per Mail!

Gefahr I: Management-Moden!

Management-Moden lassen sich definieren als „Managementkonzepte, die relativ schnell viel Aufmerksamkeit von Manager:innen auf sich ziehen, ohne dass ihre Relevanz wissenschaftlich oder durch längere praktische Erfahrung belegt ist.“

Sie bieten „ihren Adressaten suggestive, aber vergleichsweise einfache Lösungen und Tools an, ohne situative oder organisationale Komplexität in Rechnung zu stellen“ (Bartel, 2020:4).

Bei näherer Befassung mit Management-Moden lassen sich bekannte Begriffe finden, wie:

  • „agiles Management“
  • „post-bürokratische Organisationen“
  • „Fehlerkultur“
  • „OKR“
  • „Lernende Organisation“
  • „Transformationale Führung“
  • „New Work“

Die Liste ist nicht abschließend und ließe sich verlängern.

Die aus meiner Sicht große Gefahr in der Existenz besteht darin, dass aufgrund der Existenz von Management-Moden organisationale Veränderungen nicht aufgrund echter Herausforderungen angegangen werden, sondern aufgrund normativer Beweggründe:

„Damit wir modern sind, müssen wir jetzt New Work machen!“

In meinem Newsletter vom 28. Juni 2024, den Du hier nachlesen und hier abonnieren kannst, bin ich vertiefend auf Management-Moden eingegangen.

Unter Berücksichtigung der Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit wird die Gefahr noch deutlicher:

So lassen sich Organisationen der Sozialen Arbeit, den Ausführungen von Klaus Grunwald (vgl. Grunwald, 2018:165ff) folgend, als „hybride Organisationen“ definieren.

Damit ist gemeint, dass sie mit verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren (informeller Sektor, Dritter Sektor, Staat und Markt) verbunden sind und von diesen geprägt werden. Diese Sektoren sind jedoch durch jeweils eigene Systemlogiken gekennzeichnet.

Organisationen der Sozialen Arbeit sind dementsprechend gefordert, unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Handlungslogiken zu integrieren, unterschiedliche Zielsetzungen zu einem eigenen Zielbündel zusammenzufügen, unterschiedliche und wiederum zum Teil widersprüchliche Einfluss- und Entscheidungsstrukturen zu berücksichtigen und zu kombinieren sowie aus unterschiedlichen Identitätsangeboten eine eigene Identität zu formen.

Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, auch intern Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass sie den „hybriden Anforderungen“ gerecht werden und eine Vielzahl von Zweck- und Sinnbestimmungen zulassen und gleichzeitig identitätsstiftend sind.

Konkret müssen Organisationen der Sozialen Arbeit einerseits den Systemlogiken der Kostenträger folgen und gesetzeskonform handeln, um ihre Leistungen refinanziert zu bekommen. Gleichzeitig sind sie gefordert, auf einem Markt zu agieren, der dem binären Code Bezahlen/Nicht-Bezahlen folgt. Hinzu kommt, dass die Leistungen von Organisationen der Sozialen Arbeit in einem normativ aufgeladenen Umfeld agieren: Die Schließung von Angeboten aufgrund rein ökonomischer Notwendigkeiten stößt auf massiven gesellschaftlichen Widerstand.

Zusammenfassend besteht die Notwendigkeit, „hybride Anforderungen“ in eine Organisation zu integrieren, d.h. die Funktionslogiken unterschiedlicher Organisationseinheiten den hybriden Anforderungen anzupassen. Kurz:

One Management-Mode does not fit all Anforderungen.

Anstatt also der nächsten Management-Mode hinterherzurennen, sollte bei jeder Anpassung, Entwicklung und Veränderung die Frage in den Vordergrund rücken:

Was ist funktional für unseren Zweck?

Gefahr II: Die Mitarbeiter:innen im Mittelpunkt!

Diesen Aspekt habe ich bereits mehrfach angesprochen: Durch den Fachkräftemangel wird auf der Seite der Mitarbeiter:innen die Illusion genährt, dass sich die Organisation um ihre eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickeln müsse.

Wenn aber die Organisation in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeiter:innen gestellt wird und damit die Personenorientierung die Oberhand gewinnt, hat dies „katastrophale Folgen für die Organisation“ (Wimmer, 2019).

Mit Blick auf die Geschichte vieler Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt sich die Personenorientierung (im Gegensatz zur Aufgabenorientierung) auch ohne Fachkräftemangel an vielen Stellen sehr deutlich – von der Gründung sozialer Organisationen auf der Basis individueller Schicksale der Gründer:innen über die auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesenen Rechtsformen sozialer Organisationen bis hin zur auf intrinsische Motivation setzenden professionellen Identität der in sozialen Berufen Tätigen. Dies führt dazu, dass das für Organisationen konstitutive Element der Trennung von Person und Rolle in Organisationen der Sozialen Arbeit wenig ausgeprägt ist (vgl. näher hier).

Das primäre Ziel jeder Organisation ist jedoch ihr Überleben, das sekundäre Ziel ist die Erfüllung des Organisationszwecks.

Es ist unstrittig, dass dazu insbesondere in sozialen Organisationen Menschen notwendig sind, die aber bestimmte Rollen einnehmen. Aufgrund des Fachkräftemangels in der Sozialwirtschaft können wir aber nicht mehr davon ausgehen, dass die Rollen aufgrund der „Haltung“ der Personen (vor allem bei Nicht-Fachkräften) „adäquat“ ausgefüllt werden.

Statt also die (sehr unterschiedlichen) Bedürfnisse der Personen in den Vordergrund zu stellen, gilt es, die formalen Rollenerwartungen (viel) expliziter zu machen und Prozesse, Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar(er) zu definieren.

Hier habe ich die Methode „Marktplatz der Erwartungen“ beschrieben, die hilft, ein klares Verständnis über und klare Erwartungen an die Rollen, Mandate bzw. Verantwortungsbereiche in der Organisation und damit (möglichst) klare Zuständigkeiten zu definieren.

Gefahr III: Alles gleichzeitig!

Vor dem Impuls habe ich mein digitales Netzwerk nach den aus ihrer Perspektive größten Gefahren befragt. Insbesondere bei LinkedIn gab es viele, sehr tiefgehende Rückmeldungen dazu, du Du hier nachlesen kannst.

Ein Aspekt, der mir in diesem Zusammenhang besonders auffiel, war der immer wieder vorgebrachte Hinweis auf den fehlenden Fokus bzw. die fehlende Strategie in und von Organisationen der Sozialen Arbeit, die tatsächlich angegangen wird.

Dies ist einerseits verständlich, wenn man die oben skizzierten hybriden Herausforderungen von Organisationen der Sozialen Arbeit in den Blick nimmt:

Wenn sich Organisationen der Sozialen Arbeit an unterschiedlichen Systemlogiken orientieren müssen, fällt es schwer, „den einen Weg“ zu gehen bzw. die eine Strategie umzusetzen. Hinzu kommt zum anderen, dass globale, gesellschaftliche, politische wie auch technologische Entwicklungen immer auch unmittelbare Auswirkungen auf Organisationen der Sozialen Arbeit haben. Nur zwei Beispiele:

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine führt nicht nur (wie bei allen Unternehmen) zu enorm steigenden Energiekosten, sondern gleichzeitig zu der Notwendigkeit, Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, zu unterstützen. Ebenso reicht es nicht aus, sich mit digitalen Möglichkeiten zur Optimierung der eigenen Organisation zu beschäftigen, denn die Nutzbarkeit digitaler Tools und Technologien muss unter dem Begriff der Ermöglichung von Teilhabe immer auch aus der Perspektive der Klient:innen sozialer Organisationen betrachtet werden.

Kurz: Die Allzuständigkeit der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen zeigt sich auch in einer Allüberforderung der Organisationen der Sozialen Arbeit, die sich allen Themen gleichzeitig widmen sollten/könnten/müssten.

Gleichzeitig wird natürlich auch der Fachkräftemangel von den anwesenden Teilnehmer:innen als ein, wenn nicht aktuell als das größte Problem von Organisationen der Sozialen Arbeit gesehen. Anders gesagt:

Organisationen der Sozialen Arbeit werden – mit Blick nach außen – nicht umhin kommen, deutlich stärker zu fokussieren, abzuwägen und zu priorisieren, was in und von Organisationen der Sozialen Arbeit zukünftig noch angeboten werden kann bzw. neu angeboten werden sollte.

Gleichzeitig muss mit Blick nach innen hinterfragt werden, welche internen Prozesse, Abläufe, Hierarchien, Abteilungen usw. (formale Organisationsstruktur) funktional sind (siehe Gefahr I) und welche weggelassen werden können.

Peter Drucker bringt es auf den Punkt, wenn er sagt:

„Wenn man etwas Neues will, muss man aufhören, etwas Altes zu tun“.

Es gilt also, adaptive Strategien zu entwickeln und umzusetzen, denn:

„Es gibt vielleicht nur ein einziges unausweichliches Ordnungsgesetz [in Organisationen]: daß nicht alles auf einmal geändert werden kann“ (Luhmann 1976:140 und Danke Stefan, für das schöne Zitat 😉

Ganz kurz zusammengefasst sind damit Strategien gemeint, die den Strategieprozess aus zwei Perspektiven denken:

  • a) für strategische Ziele müssen geeignete Wege gesucht werden (klassische Strategiearbeit) und
  • b) müssen Organisationen gleichzeitig offen bleiben für die Suche nach geeigneten Zielen, Problemen und Einsatzmöglichkeiten für die in den Organisationen vorhandenen Mittel, Problemlösungen und vorhandenen Ressourcen.

Details zur Gestaltung adaptiver Strategien findest Du hier.

Gefahr IV: Immer aus dem Bauch heraus!

Organisationen können definiert werden als „ein Netzwerk fortlaufender Entscheidungen“ (Richter, Groth, 2023, 125) – Entscheidungen, die sich in den formellen und informellen Strukturen der Organisation manifestieren (teils schriftlich, teils mündlich). So ist bereits die Gründung einer Organisation eine Entscheidung. Weitere Entscheidungen folgen (z.B. die Entscheidung, Personal einzustellen; die Entscheidung über den Zweck der Organisation; die Entscheidung über die Regeln, die in der Organisation gelten). Mit den ersten Entscheidungen wird ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt. „Jede Entscheidung impliziert weiteren Klärungs- und Handlungsbedarf, die entstehende Geschichte bereits getroffener Entscheidungen fordert und begrenzt weitere Entscheidungen“ (ebd., 126).

Soweit so einfach.

Fraglich ist jedoch, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden – vor allem, wenn es sich um einschneidende Entscheidungen handelt (z.B. die Einstellung von Angeboten, siehe Gefahr III).

Entscheidungen können einmal „aus dem Bauch heraus“ und damit intuitiv getroffen werden. Dagegen ist auch wenig einzuwenden, sofern die Intuition auf langjährigen Erfahrungen beruht. Aber gerade bei Entscheidungen, die finanzielle und ggf. existenzielle Auswirkungen haben, ist das Bauchgefühl nicht immer der beste Ratgeber.

Sicherlich ist es schwierig, Entscheidungen über Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit immer und an allen Stellen datenbasiert zu treffen. So stellen sich z.B. Fragen wie:

  • Wie lässt sich empirisch nachweisen, dass explizit das Angebot für die Veränderungen bei den Klient:innen verantwortlich ist (und nicht bspw. das familiäre Umfeld)
  • Wie können einheitliche Indikatoren erstellt werden, die die Spezifika der Institution abbilden und gleichzeitig allgemeingültig sind?

Gleichzeitig verfügen soziale Organisationen jedoch über enorm viele Daten (Daten über die Nutzer:innen der Dienstleistungen, über die Mitarbeiter:innen, über die Verweildauer von Klient:innen in Maßnahmen, Finanzdaten und und und…). Durch die Analyse der in der Organisation vorhandenen Daten können Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, wie gut bestimmte Dienstleistungen funktionieren und wo möglicherweise Optimierungspotenzial besteht.

Die Gefahr, die ich in diesem Zusammenhang sehe, ist, dass in dem Moment, in dem andere Akteure die Wirkung von Angeboten datenbasiert nachweisen, diese bei allen Entgeltverhandlungen gewinnen. Und die Nutzung und Auswertung von Daten wird – auch durch die rasante Entwicklung von KI-Lösungen – immer einfacher.

Entsprechend ist es aus organisatorischer Sicht hoch relevant, systematisch bereitgestellte und ausgewertete Daten für die interne Entscheidungsfindung in einer Organisation zu nutzen. Wie bereits erwähnt, basiert diese derzeit noch zu oft auf Intuition und dem berühmten Bauchgefühl, das zwar sehr wichtig ist, aber in Zukunft nicht mehr ausreichen wird.

Es ist aber notwendig, die Datenkompetenz in der Sozialen Arbeit jetzt und in Zukunft deutlich auszubauen, um (nicht nur digitale) Daten für Entscheidungen nutzen zu können.

Gefahr V: Systemüberlastung!

Gelingende Veränderung braucht Ressourcen – Zeit, Geld, Personal, Menschen, die Lust haben, Netzwerke… Hinzu kommt, dass bei Veränderung die „Leistungsfähigkeit“ (von Teams und/oder Organisationen) zunächst sogar abnimmt, da – zumindest bei echten Veränderungen – das „neue“ Arbeiten erst gelernt werden muss.

Der Blick in Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt jedoch an vielen Stellen, dass die Organisationen zu 100% und mehr ausgelastet sind. Logo, auch hier kann der Fachkräftemangel angeführt werden. Hinzu kommen aber aus meiner Sicht an vielen Stellen auch hochgradig ineffiziente Prozesse und insgesamt wenig funktionale formale Strukturen der Organisationen.

Ständiges Arbeiten an und über der Belastungsgrenze führt jedoch zu organisationalem Burnout. Darunter ist zu verstehen, dass sich eine Organisation „in einem Zustand der Erschöpfung und Lähmung befindet und diesen als unerwünscht erkannten Zustand aus eigener Kraft nicht mehr positiv verändern kann“ (mehr hier).

Ursachen für organisationalen Burnout sind (vgl. ebd.)

  • externer Systemstress (Strukturwandel, Wettbewerbsdruck, Finanzmarktrisiken, veränderter Rechtsrahmen…);
  • interner Ressourcenstress (Erfolgsarroganz, Kompentenzdefizite, nachhaltiger Ressourcenmangel, übertriebener Ergebnisdruck);
  • endogener Identitätsstress (ständige Strategiewechsel, wiederholte Reorganisationsprogramme, Verlustängste des Managements, übertolerante Fehlerkultur).

Der Blick auf die Ursachen aus Sicht der Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt einige neuralgische Punkte (z.B. veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen wie das BTHG oder das KJSG, dauerhafte Ressourcenknappheit, Kompetenzdefizite auf der Leitungsebene).

Zusätzliche Belastungen und Krisen in Organisationen, die sich bereits im organisationalen Burnout befinden, führen zum Zusammenbruch des Systems.

Wie aber kann es gelingen, organisationalem Burnout und damit Systemüberlastung – insbesondere unter den herausfordernden Bedingungen von Organisationen der Sozialen Arbeit – zu begegnen?

Für mich ist hier die Auseinandersetzung mit organisationaler Resilienz von zentraler Bedeutung. Ja, man könnte Organisationale Resilienz auch als Managementmodus definieren. Aber die Ausführungen und Ideen hinter dem Konzept liefern viele hilfreiche Ansätze, die – wie in Deutschland üblich – in einer ISO-Norm (ISO 22316) beschrieben sind. Demnach verfügen „Resiliente Organisationen“ über folgende 9 Elemente:

  1. Gemeinsame Vision und Klarheit über den Zweck: Eine resiliente Organisation zeichnet sich durch die gemeinsame Vision, klare Ziele und gemeinsame Werte aus. Dies wird auf allen Hierarchieebenen geteilt.
  2. Verständnis des internen und externen Umfelds und Einflussnahme: Eine resiliente Organisation verfügt über ein tiefes Verständnis der internen und externen Systeme, in denen sie agiert. Dies ermöglicht der Organisation, aktiv Einfluss zu nehmen und Möglichkeiten zur Anpassung zu schaffen.
  3. Führung, die Unsicherheit und Scheitern akzeptiert und ermutigt: In einer resilienten Organisation herrscht eine Führungskultur, die es den Mitarbeitenden erlaubt, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
  4. Festlegung von relevanten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen: Eine resiliente Organisation verankert gemeinsame Überzeugungen und Werte, positive Einstellungen und Verhaltensweisen fest in der Kultur, die für jeden Einzelnen von Bedeutung sind.
  5. Teilen von Informationen und Wissen: Die Mitglieder einer resilienten Organisation teilen aktiv Informationen und Wissen. Das Lernen aus Erfahrungen, einschließlich Fehlern, wird unterstützt und gefördert.
  6. Verfügbarkeit von Ressourcen: Eine resiliente Organisation verfügt über Ressourcen wie qualifizierte Mitarbeitende, finanzielle Mittel, Gebäude, Informationen und Technologie, um die anfälligen Bereiche der Organisation abzusichern und eine schnelle Anpassung an sich ändernde Umstände zu ermöglichen.
  7. Entwicklung und Koordination der Unternehmensbereiche: In einer resilienten Organisation werden die verschiedenen Unternehmensbereiche (bspw. Personalwesen, Qualitätsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Krisenmanagement und Informationstechnologie), definiert, entwickelt und koordiniert. Dies geschieht im Einklang mit den strategischen Zielen der Organisation.
  8. Evaluierung und Unterstützung kontinuierlicher Verbesserung: Eine resiliente Organisation bewertet ihre Ergebnisse und lernt aus Erfahrungen, um Chancen für kontinuierliche Verbesserung zu identifizieren.
  9. Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren und zu managen: Eine resiliente Organisation erkennt frühzeitig zukünftige Veränderungen, kann angemessen darauf reagieren und diese erfolgreich bewältigen.

Auch hier lassen sich wiederum für Organisationen der Sozialen Arbeit spezifische Aspekte finden, die berücksichtigt werden müssen. Ich habe diese hier beschrieben.

Wichtig ist jedoch, dass Organisationen nicht in der Krise resilient werden, sondern im Training vor der Krise. Nur vor der Krise können Organisationen resilient gemacht werden.

In der Krise gilt der Krisenmodus. Das ist wie beim Fußball – auch da kann man vorher trainieren, aber nicht im Spiel.

Angesichts der gesellschaftlichen Spaltungen, der massiven Auswirkungen des Klimawandels, der unglaublich schnellen technologischen Entwicklungen und, und, und, ist eines aber sicher:

Krisen werden zunehmend zur Normalität – auch in und für soziale Organisationen.

Und dann gilt – optimistisch gesehen:

„If you‘re old, you‘re not dead!“ 😉

Gemeint ist damit, dass wir es in der Sozialen Arbeit nicht mit hippen Start-Ups zu tun haben, sondern mit Organisationen, die es geschafft haben, über Jahre, Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte zu existieren. Mit anderen Worten:

Wir können Krisen und wir haben Ressourcen, um mit Krisen umzugehen. Und vielleicht sind gerade Organisationen der Sozialen Arbeit aufgrund ihrer Besonderheiten besonders resilient.


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Fazit, oder: Heuristiken* zum Umgang mit den größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit

Zur Wiederholung noch einmal der Blick auf den eingangs eröffneten Bezugsrahmen:

Ziel muss es sein, Organisationen der Sozialen Arbeit zu entwickeln und zu gestalten, die heute und in Zukunft in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt zu fördern sowie die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen zu stärken!

Das treibt mich in meiner Arbeit an und das sollte – zumindest aus meiner Sicht – auch Motivation genug sein, trotz aller Herausforderungen und „Gefahren“ weiterzumachen und zu versuchen, an, mit und in Organisationen der Sozialen Arbeit zu arbeiten.

Einschränkend und abschließend möchte ich jedoch betonen, dass es an vielen Stellen nicht um ein „statt“ geht. Man könnte z.B. meinen, ich plädiere – um nur ein Beispiel herauszugreifen – dafür, „statt intuitiv zu entscheiden“ nur noch datenbasiert zu entscheiden. Das ist zu kurz gegriffen.

Vielmehr können Heuristiken helfen. Darunter versteht man Methoden, um mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen.

Heuristiken kennen wir z.B. aus dem agilen Manifest, in dem es heißt „Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen“, „Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor umfassender Dokumentation“, „Zusammenarbeit mit den Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen“ und „Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung“ (hier mehr).

Wichtig ist die Betonung von „haben Vorrang vor“. Dies bedeutet nicht, dass Pläne nicht mehr verfolgt werden sollen, sondern dass die Reaktion auf Veränderungen Vorrang vor der strikten Verfolgung von Plänen hat. Die Planverfolgung bleibt also relevant.

Überträgt man nun diese Denklogik auf die obigen Ausführungen zu den größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit, so lassen sich folgende Heuristiken formulieren:

  • Funktionale Veränderungen vornehmen hat Vorrang vor dem Verfolgen von Management-Moden!
  • Formale Erwartungen an Rollen definieren hat Vorrang vor der Personenorientierung!
  • Adaptive Strategien entwickeln und umsetzen hat Vorrang vor der kurzfristigen Reaktionen!
  • Datenkompetenz entwickeln und Wirkung messen hat Vorrang vor Bauchentscheidungen!
  • Organisationale Resilienz trainieren hat Vorrang vor dem Arbeiten über der Überlastungsgrenze!

Damit wird – hoffentlich – deutlich, dass auch die andere Seite kurzfristig relevant sein kann. Bauchentscheidungen z.B. sind ebenso relevant wie die kurzfristige Notwendigkeit, an und (wirklich nur kurz) über der Belastungsgrenze zu arbeiten. Und selbst Managementmoden haben ihre Berechtigung.

Nachhaltige Organisationsentwicklung, oder: Wie Du die Permakultur Design Prinzipien mit Deiner Organisation verbinden kannst

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Nachhaltigkeit steht derzeit – glücklicherweise – hoch im Kurs. Häufig bezieht sich der Begriff auf ökologische Nachhaltigkeit, die zusammen mit sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit die sogenannte „triple bottom line“ bildet. Und die Beschäftigung mit ökologischer Nachhaltigkeit führt oft zur Permakultur.

Vielleicht sagt Dir der Begriff etwas? Kurz gesagt, handelt es sich bei der Permakultur um ein Konzept für Landwirtschaft und Gartenbau, das darauf basiert, Ökosysteme und Kreisläufe in der Natur zu beobachten und nachzuahmen. In den 1970er Jahren wurde das Konzept von dem Australier Bill Mollison und seinem Schüler David Holmgren entwickelt. Laut Wikipedia hat sich die Permakultur seitdem von einer landwirtschaftlichen Gestaltungsmethode zu einer ökologischen Lebensphilosophie und einer weltweiten Graswurzelbewegung entwickelt. Dabei geht es um eine Kultur der nachhaltigen Lebensweise und Landnutzung.

Vor Kurzem hörte ich in einem Podcast zum ersten Mal vom „Permakultur-Design“. Das brachte mich auf die Idee, zu überlegen, ob und wie die Prinzipien des Permakultur-Designs auf aktuelle Ansätze der Organisationsentwicklung übertragen werden können, um damit auch eine „nachhaltige Organisationsentwicklung“ zu ermöglichen.

Vielleicht können die Überlegungen Organisationen helfen, nachhaltiger und resilienzfähiger zu werden, indem sie die Prinzipien der Permakultur auf ihre Strukturen und Prozesse anwenden. Die Natur bietet zahlreiche Vorbilder für Effizienz, Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Entwicklung, die sich auch in der Organisationsentwicklung als wertvoll erweisen könnten.

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Was ist Permakultur Design?

Permakultur-Design lässt sich definieren als „das bewusste Gestalten und Erhalten von landwirtschaftlich produktiven Systemen, die die Diversität, Stabilität und Resilienz von natürlichen Ökosystemen enthalten. Es ist die harmonische Verbindung der Landschaft mit den Menschen, die davon ihre Nahrungsmittel, Energie, Unterkunft und andere materielle und nicht-materielle Bedürfnisse auf nachhaltige Weise beziehen“ (Bill Mollison, „Vater der Permakultur“).

Permakultur-Design strebt also danach, landwirtschaftliche Systeme zu schaffen, die nicht nur produktiv, sondern auch ökologisch nachhaltig sind. Dabei werden die Prinzipien und Eigenschaften natürlicher Ökosysteme nachgeahmt, um eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Natur zu fördern. Dies führt zu stabilen und widerstandsfähigen Systemen, die langfristig Bestand haben und die Bedürfnisse der Menschen auf eine umweltfreundliche Weise erfüllen.

Bill Mollison legt in seinem Konzept der Permakultur-Designs besonderen Fokus auf Gartenbau und Landwirtschaft. Entscheidend ist dabei die Bedeutung des bewussten Gestaltens und Erhaltens, das uns auffordert, unseren gesunden Menschenverstand zu nutzen. Mollison betont die Wichtigkeit der Beobachtung – beispielsweise von Sonne, Wind und Wasser – um unsere Landschaft besser zu verstehen. Nur durch sorgfältige Beobachtung können wir effektive Planungen vornehmen.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt seiner Definition sind die landwirtschaftlich produktiven Systeme. Permakultur-Design zielt nicht nur darauf ab, die Natur zu schützen, sondern auch darauf, die Landschaft optimal zu nutzen. Dadurch kann die Produktivität erheblich gesteigert werden, ohne die Natur zu schädigen. Vielmehr schafft Permakultur Systeme, die den natürlichen Ökosystemen ähneln. Diese natürlichen Ökosysteme zeichnen sich durch eine hohe Artenvielfalt aus, können sich in begrenztem Maße an Veränderungen anpassen und erfüllen damit wichtige Funktionen auf der Erde.

Weitere Informationen und vertiefende Literatur zu diesem Thema findest Du hier. Und hier findest Du eine Übersicht von Büchern rund ums Thema.

Zusammenfassend geht es beim Permakultur-Design um die Schaffung und Gestaltung vollständiger und produktiver Ökosysteme, im Gegensatz zu Monokulturen. Permakultur ist weit mehr als nur eine Form nachhaltiger Landwirtschaft. Sie stellt eine grundsätzliche Herangehensweise dar, die die Dynamiken natürlicher Prozesse vom Design bis zur technischen Umsetzung konstruktiv nutzt. Permakultur ist zugleich eine Philosophie und eine Reihe sozialer Praktiken, Techniken und ethischer Normen. Ihr Ziel ist es, sicherzustellen, dass alle lebenden Systeme gesund bleiben und gedeihen können (Holmgren, 2015, 124).

Spannend wird es insbesondere bei der Betrachtung „lebender Systeme“, wenn man an Organisationen als „soziale Systeme“ denkt. Hier können die Prinzipien der Permakultur innovative Ansätze für die Organisationsentwicklung bieten, indem sie nachhaltige und resiliente Strukturen fördern.

David Holmgren hat 12 Permakultur-Design-Prinzipien erarbeitet, die helfen, sich mit der Denkweise der Permakultur vertraut zu machen. Diese Prinzipien werden wir nun genauer betrachten und mit der Organisationsentwicklung verbinden. Dabei sei darauf hingewiesen, dass es neben den 12 Permakultur-Design-Prinzipien von Holmgren noch weitere gibt – hier findest Du mehr dazu.

Zu jedem Prinzip werde ich konkrete Methoden vorstellen, die für das Verständnis und die Arbeit mit Organisationen hilfreich sein können. Diese Verknüpfung soll zeigen, wie die Prinzipien der Permakultur innovative und nachhaltige Ansätze in der Organisationsentwicklung unterstützen können.

Nachhaltige Organisationsentwicklung und die 12 Permakultur Design Prinzipien

1. Beobachte und interagiere:

Beim ersten Permakultur-Design-Prinzip geht es darum, sich Ruhe und Zeit zu nehmen und zu beobachten, was ist – zunächst ohne Interpretation. Es gilt, Muster zu erkennen und auf kleine Details und Eigenheiten zu achten sowie mit dem, was uns umgibt, zu interagieren. Dabei spielen vor allem Achtsamkeit und Kreativität eine wichtige Rolle.

Die Beobachtung und Interaktion mit der Umwelt offenbart neue und dynamische Aspekte unserer Umgebung und reflektiert unser Glaubenssystem und Verhalten. Dabei sollen alle Sinne angesprochen werden, da diese ein großes Potenzial haben, uns Informationen zu liefern. Es geht somit um deutlich mehr als das rein rationale, analytische Denken. Viel hängt auch von unseren intuitiven und integrativen Fähigkeiten ab. Wir müssen uns bewusst sein (und werden), dass wir nicht alles verstehen oder kontrollieren können.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Die Übertragung der Erkenntnisse auf die Entwicklung sozialer Systeme und damit auch auf die nachhaltige Organisationsentwicklung fällt leicht. Es ist enorm wichtig, die Kultur, Strukturen und Prozesse einer Organisation in der Tiefe (soweit wie möglich) zu verstehen, bevor Veränderungen eingeführt werden. Durch gründliche Beobachtung und Analyse können fundierte Entscheidungen getroffen werden, die besser auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen der Organisation abgestimmt sind.

Zu Beginn und im Verlauf eines OE-Prozesses (Organisationsentwicklung) geht es darum, zu beobachten, zu verstehen, zu spüren und sich in die Organisation einzufühlen. Es gilt, die Interaktionsmuster und die verschiedenen Entscheidungsprämissen (mehr dazu hier) zu erkennen. Diese Phase wird oft als Ist-Analyse bezeichnet und erfolgt durch Methoden der Organisationsdiagnose.

Für eine nachhaltige Organisationsentwicklung ist es essenziell, sich Zeit zu nehmen, um die Organisation und ihre Dynamiken ohne voreilige Interpretation zu beobachten. Diese Beobachtungen sind wichtig, um Muster zu erkennen und die Details sowie Eigenheiten der Organisation aus verschiedenen Perspektiven wohlwollend zu betrachten. Es sollte zunächst mit der Organisation interagiert werden, ohne sofortige Veränderungen durch Gespräche, Workshops oder andere Diagnoseformate zu initiieren. Dabei spielen Achtsamkeit und Kreativität eine wichtige Rolle. Die Interaktionen der Beteiligten untereinander lassen blinde Flecken weniger dunkel erscheinen, offenbaren neue dynamische Aspekte der Organisation und spiegeln das Glaubenssystem sowie das Verhalten der Beteiligten wider.

Ich denke methodisch an die Theory U von Otto Scharmer. Obwohl ich hier nicht in die Tiefe gehen kann, lässt sich die Theory U kurz zusammenfassen: Durch tiefgehende, neugierige Beobachtung und echtes Einfühlen in die Situation, die Menschen und die Organisation können eigene Denkmuster, Haltungen und vorschnelle Lösungsoptionen infrage gestellt werden, wodurch Neues entstehen kann. Wenn es gelingt, sich mit dem „Quellort“ – dem inneren Ort – zu verbinden, von dem aus die „im Entstehen begriffene Zukunft“ wahrnehmbar wird, kann man zukünftige Herausforderungen adäquat und nachhaltig angehen. Dies geschieht durch Praktiken des Prototypings, des Entwickelns und das „ins Leben bringen“ der Optionen, die sich auf der linken Seite des „U-Prozesses“ durch „die Praktiken des Öffnens“ gezeigt haben. Dann geht es darum, die Optionen zu verdichten, um ins Handeln zu kommen, Prototypen des Neuen zu entwickeln und auszuprobieren – das Neue ins Leben zu bringen.

Es wird deutlich, dass OE-Prozesse im Detail nie exakt planbar sind. Überraschungen, Irritationen und Abweichungen vom geplanten Prozess sind immer (!) zu erwarten. Erfolgreicher als starres Festhalten am Plan ist es, wenn OE-Prozesse als hypothesengeleitete Experimente verstanden werden. Dies ermöglicht es, immer wieder innezuhalten, den Fortschritt des „Experiments“ (oder der Experimente) zu betrachten und Anpassungen vorzunehmen.

Die Hypothesen, aus denen Experimente erfolgen, werden jedoch nicht „am grünen Tisch“ erarbeitet, sondern sind das Ergebnis von (teilnehmender) Beobachtung, Gesprächen mit den Beteiligten und der Organisationsdiagnose. Dieses Vorgehen ermöglicht es, die vorab getroffenen Annahmen durch Erfahrungen in den Experimenten zu modifizieren und Anpassungen einzuschließen. Anstatt an die Organisationsmitglieder (oder gar die gesamte Organisation) zu appellieren, wie sie in Zukunft sein sollen, ist das hypothesengeleitete Experimentieren deutlich wirksamer für nachhaltig gelingende Veränderungen.

2. Speichere Energie und verwende Ressourcen effizient

Aus Sicht der Permakultur wandert Energie durch unser natürliches System, die Erde, und wird in verschiedenen Formen gespeichert: in Wasser, Bäumen, Pflanzen, Boden, Samen und mehr.

Das Permakultur-Design zielt darauf ab, natürliche Ressourcen und Energien wiederaufzubauen, indem wir achtsam mit erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Energiequellen umgehen. Dabei ist ein erweiterter Blick auf das Konzept des „Kapitals“ interessant – möglicherweise im Sinne eines „alten Verständnisses“ von Kapital:

Kapital ist nicht nur das, was wir auf der Bank haben, sondern umfasst auch alle natürlichen Ressourcen, die uns umgeben. Wissen, Informationen, Fähigkeiten und Traditionen sind aus dieser Perspektive ebenfalls wertvolles Kapital. Indem wir dieses umfassende Verständnis von Kapital fördern, können wir nachhaltiger und verantwortungsbewusster mit unserer Umwelt umgehen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Die Anwendung dieses Blicks auf Organisationen und deren Entwicklung zeigt – selbstverständlich – dass effiziente Ressourcennutzung grundsätzlich entscheidend ist, ebenso in der nachhaltigen Organisationsentwicklung. „Organisationale Ressourcen“ in Organisationen der Sozialen Arbeit umfassen nicht nur materielle Güter, sondern auch das „Humankapital“ im besten Wortsinn – menschliche Energie – sowie Zeit, Gebäude, Wissen, personelle und organisatorische Kompetenzen und vieles mehr. Effektivität („Tun wir die richtigen Dinge?“) und Effizienz („Tun wir die Dinge richtig?“) spielen hier eine herausragende Rolle. Aus sozialarbeiterischer Perspektive ist es mir besonders wichtig zu betonen, dass OE-Prozesse nicht dazu führen sollten, dass die Organisation von Beraterabhängig wird, sondern vielmehr das Potential der Organisation fördern sollen, um Selbstbestimmung und Autonomie zu stärken.

Methodisch betrachtet rückt der Einsatz von (agilen) (Projekt-)Managementmethoden in den Fokus. Insbesondere Methoden wie Kanban und Scrum fördern eine klare Priorisierung und helfen, Energie zu sparen sowie vorhandene Ressourcen optimal zu nutzen.

Diese agilen Ansätze berücksichtigen auch die hypothesengeleitete Experimentierlogik, die unter Punkt 1 erwähnt wurde. Denn ein zentrales Element agiler Methoden ist das iterative Vorgehen, das durch kurze Zeiteinheiten (Sprints) geprägt ist: Anstatt einen großen Entwurf von Anfang an zu planen, nähert man sich schrittweise und iterativ einem Ziel. Kurz gesagt, man experimentiert, wertet aus und passt an, wobei die Auswertung der erreichten Ergebnisse genauso bedeutend ist wie der Experimentierprozess selbst.

3. Erziele einen Ertrag

Bei der Permakultur geht es nicht nur um reine Naturschutzprojekte. Vielmehr wird klar zwischen Naturschutzprojekten und produktiven Ökosystemen unterschieden. Permakulturen sollten stets mehrere Erträge erzielen, darunter Nahrungsmittel, sauberes Wasser und stabile Gemeinschaften. Ein ökonomischer Ertrag ist ebenfalls ein Ziel der Permakultur. Aus Sicht der Permakultur werden alle Organismen und Lebewesen von ihrer Umgebung versorgt, gemessen an dem, was sie zum Erhalt benötigen.

Dementsprechend sollten unsere Eingriffe und Veränderungen in Systeme sowie die Hinzufügung neuer Elemente produktiv sein. Dies bedeutet jedoch auch, dass diese Veränderungen nicht nur den Menschen dienen sollten, sondern allen Elementen des Systems. Diese Eingriffe sollten in den natürlichen Kreislauf integriert sein, um das Gleichgewicht und die Gesundheit des gesamten Ökosystems zu erhalten.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Der primäre Zweck von Organisationen ist ihr Überleben. Dieses Ziel streben alle sozialen Systeme an, sei es eine Familie, eine Gruppe oder eine Organisation. Die Veränderung einer Organisation durch Organisationsentwicklung zielt daher darauf ab, das Überleben der Organisation langfristig zu sichern. Konkreter geht es dabei um Maßnahmen, die entweder unerwünschte Verhaltensweisen, Muster oder Prozesse, die das Überleben der Organisation gefährden könnten, ablegen oder zukünftig gewünschte Strukturen etablieren sollen, die das Überleben sicherstellen.

Entsprechend mach Organisationsentwicklung aus reinem Selbstzweck keinen Sinn; es bedarf eines Ertrags der Maßnahmen. Dieser Ertrag kann sich in Form erhöhter Produktivität, gesteigerter Mitarbeiterzufriedenheit oder finanzieller Gewinne zeigen.

Ein Perspektivenwechsel, wie er in der Permakultur zu finden ist, verdeutlicht jedoch, dass Veränderungen in einem System nicht nur einem Stakeholder zugutekommen sollten, sondern allen Elementen des Systems. In einer Organisation bedeutet dies, dass die Interessen aller Stakeholder, sowohl intern (wie Eigentümer:innen, Mitarbeitende, Führungskräfte) als auch extern (wie Nutzer:innen, Kostenträger, lokale Gemeinschaften), berücksichtigt werden sollten.

Das St. Galler Management-Modell bietet hierfür eine umfassende Perspektive, die neben Strategien auch Strukturen, Prozesse und weitere Elemente einschließt. Besonders relevant ist dies in Organisationen der Sozialen Arbeit, wo der Ertrag der Organisationsentwicklung auch für Klient:innen, Bewohner:innen oder „Kunden“, sowie für Kostenträger und andere externe Stakeholder, von Bedeutung ist.

Hier wäre ein „open organizational development“ Ansatz denkbar, der ermöglicht, alle Stakeholder im OE-Prozess angemessen zu berücksichtigen. Dies umfasst die Bewertung und Einbeziehung der lokalen Politik, der Nachbarschaft, der Ehrenamtlichen und anderer relevanter Gruppen in den Prozess.

Schlussendlich ist es entscheidend, dass die Maßnahmen im OE-Prozess nachhaltige und messbare Ergebnisse liefern. Dies erfordert die Priorisierung von Hypothesen, klare Zieldefinitionen und regelmäßige Reflexion des Fortschritts durch Retrospektiven.

4. Nutze Selbstregulation und akzeptiere Rückmeldungen

Permakulturen sind komplexe Systeme, da die Natur zahlreiche Verbindungen zwischen Arten schafft, die für uns Menschen kaum zu überblicken sind. Das Ziel des Permakultur Designs besteht darin, Räume zu schaffen, in denen die Natur ihre Komplexität entfalten und selbst regulieren kann. Es gilt, aus den positiven Veränderungen zu lernen, die spontan entstehen. Gleichzeitig bieten negative Veränderungen die Gelegenheit, die Gestaltungsarbeit zu überdenken und notwendige Anpassungen vorzunehmen.

Permakultur Design zielt darauf ab, die Selbstregulation des Systems zu fördern, um nur ein Minimum an Eingriffen und Pflege zu benötigen. Es geht darum, Individuen, Lebensgemeinschaften und lokale Gemeinschaften zu mehr Autarkie und Selbstregulation zu befähigen. Dies stärkt nicht nur die Resilienz des betrachteten Systems, sondern fördert auch dessen autonome Entwicklung.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Für die nachhaltige Organisationsentwicklung ergeben sich hier (mindestens) zwei wichtige Aspekte:

Zum einen gilt es, Organisationen, die ebenfalls als komplexe soziale Systeme zu betrachten sind, in ihrer Selbstregulation zu fördern. Hierzu dienen bspw. die schon angesprochenen regelmäßigen Retrospektiven, Feedback-Schleifen und damit das hypothesenbasierte, iterative Vorgehen in der Organisationsentwicklung. Dabei ist die Offenheit für Rückmeldungen (aus der Umwelt der Organisation, von internen wie externen Stakeholdern usw.) und die Bereitschaft, diese in zukünftige Planungen einzubeziehen, essentiell.

Zum anderen zeigt sich hier die Nähe zum Kern Sozialer Arbeit. Diese will ja nicht ihre „Expertenlösungen“ an die Menschen verkaufen, sondern Menschen und Gruppen in ihrer jeweiligen Lebenswelt auf dem Weg zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung fördern (habe hier im Blog schon öfter das Bild der „Hebamme“ verwendet, die dabei begleitet, das Beste im Menschen auf die Welt zu bringen). Und so ist es (zu Teilen) auch in der Organisationsentwicklung. Denn auch da gilt es, die in der Organisation liegenden Möglichkeiten „auf die Welt“ zu bringen, anstatt zu versuchen, hippe, angeblich neue Management-Moden zu verkaufen. Im Sinne der Komplementärberatung ist es jedoch an der ein oder anderen Stelle auch hilfreich, als Berater:in seine fachlichen Ideen einzubringen – immer im Wissen, dass damit unmittelbar in die Organisation interveniert wird.

Diesen Punkt abschließend noch eine sehr aktuelle Frage, die immer wieder in OE-Prozessen auftaucht: „Wie gelingt lernen in Organisationen?“. Hintergrund sind Herausforderungen einer alternden Belegschaft und die (auch) damit verbundene Gefahr, dass „Wissen“, vor allem aber Kompetenzen, aus der Organisation „abfließen“.

5. Nutze und schätze erneuerbare Ressourcen

Ein einfaches Prinzip – eigentlich: Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen. Anders gesagt dürfen wir nicht mehr von dem „Erden-Konto“ abheben, als wir einzahlen. Entsprechend gilt es in der Permakultur, erneuerbare Ressourcen zu nutzen, die uns die Natur in den meisten Fällen kostenlos zur Verfügung stellt. Das Ziel ist, unseren verschwenderischen Verbrauch und unsere Abhängigkeit von nicht erneuerbaren Ressourcen zu reduzieren.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Insbesondere mit Blick auf Organisationen der Sozialen Arbeit lassen sich die Mitarbeiter
als die wertvollste Ressource definieren. Maschinen gibt es keine, Soziale Arbeit lässt sich kaum standardisieren, und die eigentliche Leistung sozialer Arbeit entsteht erst im direkten Kontakt zwischen „Klient:in“ und Sozialarbeiter:in.

Ein Blick in den AOK-Fehlzeitenreport 2023 zeigt jedoch, dass Berufe des Sozial- und Gesundheitswesens seit Jahren an der Spitze der Statistiken rund um psychische Belastungen rangieren (vgl. AOK Fehlzeitenreport 2023, 492). Weitergehend und branchenübergreifend zeigt der AOK-Fehlzeitenreport 2023 auch, dass die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen seit 2012 um 48 Prozent gestiegen sind.

Kurz: Die Nutzung der wichtigsten Ressourcen unserer Organisationen erfolgt alles andere als nachhaltig. Das hat viele Ursachen. Für die Organisationsentwicklung stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, dass Mitarbeiter:innen trotz aller Anforderungen nicht in den Burnout rutschen. Hier fehlt der Platz, um darauf ausführlich einzugehen, aber beispielsweise werden im Fehlzeitenreport die folgenden sechs Bereiche, die für eine gute und gesunde Arbeit betrachtet werden müssen, hervorgehoben:

  • Arbeitsinhalte und -aufgaben
  • Arbeitsorganisation
  • Arbeitszeit
  • Soziale Beziehungen
  • Arbeitsmittel
  • Arbeitsumgebung

Kurz: Nachhaltige Organisationsentwicklung kann und darf nicht einseitig oder unterkomplex gedacht werden und beispielsweise allein auf Effizienzsteigerung abzielen.

6. Produziere keinen Abfall

Eng verknüpft mit dem vorherigen Prinzip geht es hier darum, nur Dinge zu produzieren, die langfristig nicht zum Entsorgungsproblem werden. Dies lässt sich durch das englische Permakultur-Motto „Refuse, reduce, reuse, repair, recycle!“ zusammenfassen. Es stellt stets die Frage, ob es wirklich notwendig ist, etwas neu zu produzieren. Sollte dies der Fall sein, muss darüber nachgedacht werden, wie Produkte repariert, getrennt oder recycelt werden können, um so wenig Abfall wie irgend möglich zu produzieren.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Oben habe ich bereits erwähnt, dass das ausschließliche Streben nach Effizienz in Bezug auf Ressourcen keine gute Idee ist. Effizienz kann jedoch auch positiv betrachtet werden, wenn man die Frage „Tun wir die Dinge richtig?“ stellt. In vielen Organisationen, die ich berate, fällt mir immer wieder auf, dass Prozesse sowie finanzielle und personelle Ressourcen nicht effizient genutzt werden. Angesichts des Fachkräftemangels wird deutlich, dass wir so nicht weiterkommen.

Ich habe vor einiger Zeit die Notwendigkeit betont, weniger zu tun, unnötige Bürokratie abzubauen, Prozesse zu optimieren und Ressourcenverschwendung zu vermeiden. Dies habe ich unter dem Begriff „Exnovation“ zusammengefasst, der aus der Nachhaltigkeitsbewegung stammt. Übertragen auf die Organisationsentwicklung bedeutet dies: Von der Auftragsklärung über die OE-Prozessarchitektur und das Design bis hin zu den konkreten Maßnahmen zur Veränderung muss genau überlegt werden, was wirklich notwendig ist und wo Vereinfachungen sinnvoll sind. Die Minimierung von Verschwendung ist ein Schlüssel zur nachhaltigen Organisationsentwicklung und zur effektiven Gestaltung der Organisation selbst.

Methodisch orientiere ich mich an Konzepten des „Lean-Managements“. Lean Management umfasst Denkprinzipien, Methoden und Verfahrensweisen zur effizienten Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette einer Organisation und lässt sich – in angepasster Form – auch auf Organisationen der Sozialen Arbeit übertragen.

Abschließend möchte ich auf Buurtzorg, die berühmte niederländische Pflegeorganisation, hinweisen. Jos de Blok betont immer wieder, dass der Erfolg von Buurtzorg darauf basiert, die Formalstrukturen der Organisation „small and simple“ zu halten. Ich finde, dass dies hervorragend passt.

7. Gestalte vom Muster zum Detail

Ulrike Meißner schreibt, dass die ersten sechs Permakulturprinzipien Systeme aus der inneren Perspektive von Elementen, Organismen und Individuen betrachten. Die folgenden sechs Prinzipien hingegen richten den Blick von außen auf Grundmuster und Beziehungen, die durch Selbstorganisation und Co-Evolution in Systemen entstehen.

Prinzip 7 betont, dass man mit einem Gesamtbild beginnen und sich dann zu den Details vorarbeiten sollte. Es ist notwendig, einen Schritt zurückzutreten, um in Natur und Gesellschaft übergeordnete Muster wahrzunehmen. Diese Muster können dann „zum Rückgrat unserer Entwürfe werden, die wir anschließend Stück für Stück mit Details ausgestalten“ (klick). Anstatt sich von Beginn an in detaillierten Analysen zu verlieren, ermöglicht der Blick auf die Muster eines Systems, übergeordnete Gestaltungsmöglichkeiten zu erkennen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Das Prinzip mag zunächst abstrakt klingen, doch bei genauerer Betrachtung der ersten Schritte eines OE-Prozesses wird klar, dass viele Aspekte übertragbar sind. Der wohl wichtigste Aspekt zu Beginn einer Organisationsentwicklung ist die Auftragsklärung. Diese hilft dabei, innezuhalten und sich ein möglichst gutes Bild der Situation zu machen. Es ist denkbar, dass der vom Auftraggeber vorgeschlagene „Weg“ oder die bereits angedachte Lösung, die in den ersten Gesprächen vorgestellt wird, nicht die einzig mögliche Lösung ist.

Interessant ist auch die Frage, ob das von der Organisation geschilderte Problem nicht eher ein Symptom eines zugrunde liegenden Problems auf einer ganz anderen Ebene ist. Was wäre, wenn alles so bliebe, wie es ist, und wir nichts unternehmen?

Die Auftragsklärung dient dazu, zu Beginn einen Konsens über die bestehende Not, die Treiber der Veränderung und das bestehende Problem zu erreichen, bevor man mögliche Lösungen erarbeitet. Dabei müssen verschiedene Bereiche oder „das große Ganze“ betrachtet werden, um dann schrittweise zu den Details überzugehen.

Das bedeutet auch, dass die Muster der Organisation oder des Bereichs in den Blick genommen werden müssen, um ein klares Verständnis der übergeordneten Ziele und Strategien zu entwickeln. Dies hilft, das Prozessdesign der Organisationsentwicklung passend auszurichten.

8. Integriere anstatt zu trennen

Das achte Prinzip verdeutlicht, dass viele verschiedene Elemente, die zusammenarbeiten, nützlicher sind als einige wenige, die in Konkurrenz zueinander stehen. Stabilität und Resilienz entstehen aus der Verbindung vielfältiger, komplexer Systeme, in denen Beziehungen zwischen den Elementen entstehen. Diese Beziehungen gewährleisten, dass jede lebenswichtige Funktion von vielen Elementen unterstützt wird und jedes Element viele Funktionen erfüllt.

Durch diese enge Zusammenarbeit wird die Resilienz des gesamten Systems gestärkt, da Ausfälle einzelner Elemente leichter kompensiert werden können.

Kurz gesagt: Monokulturen sind anfällig und auf Dauer nicht lebensfähig. Der Blick auf Wälder, Felder und die meisten unserer natürlichen Ökosysteme zeigt genau das. Ich habe in diesem Blog bereits den Vergleich zum vom Borkenkäfer befallenen Sauerländer Wald herangezogen, um die Problematik zu verdeutlichen und mit Organisationen der Sozialen Arbeit zu verknüpfen.

Kooperation und Vielfalt, nicht Konkurrenz und Monokultur, führen zu nachhaltigeren und robusteren Strukturen – sei es im Garten, im Wald, in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Aktuell begleite ich einen OE-Prozess, in dem das Thema Vielfalt groß geschrieben wird. Es wurde beispielsweise eine Vielfaltsvision erarbeitet und Maßnahmen abgeleitet, die die Diversitätssensibilität steigern sollen.

Interessanterweise lautet eine der leitenden Fragen im Prozess: Wie individuell können die einzelnen Arbeitsbereiche und Teams agieren und wo, an welchen Stellen, in welchen Strukturen und Prozessen, bedarf es organisationaler Vorgaben, die für alle gelten?

Unter Berücksichtigung des achten Prinzips ergibt sich organisationale Resilienz und damit Robustheit und Anpassungsfähigkeit dann, wenn verschiedene Abteilungen und Teams eng zusammenarbeiten und ihre individuellen Kompetenzen und Ressourcen bündeln.

Jede wichtige Funktion wird von vielen Elementen unterstützt, und jedes Element erfüllt viele Funktionen, was die Resilienz der Organisation erhöht. Bei Ausfällen oder Veränderungen einzelner Teile der Organisation können diese leichter kompensiert werden.

Kooperation und Diversität innerhalb einer Organisation fördern nicht nur die Innovation, sondern auch die Fähigkeit, sich an neue Herausforderungen anzupassen. Für eine nachhaltige Organisationsentwicklung ist es daher entscheidend, ein Umfeld zu schaffen, das Zusammenarbeit und Vielfalt fördert, um langfristig erfolgreich und stabil zu bleiben.

Ein Blick in die Sozialwirtschaft zeigt, dass Wohlfahrtsverbände ebenso wie große Komplexträger nicht als eine einzige Organisation oder als Konzerne fungieren. Vielmehr lassen sie sich als „Fraktalorganisationen“ definieren.

Eine Fraktalorganisation verbindet entweder mehrere zunächst unabhängige Organisationen, die unter einem gemeinsamen (Primär-)Zweck vereint sind („Nah. Am Nächsten!“), oder mehrere Zweigstellen, Abteilungen oder Projekte innerhalb einer Organisation. Die Einzelorganisationen bzw. unabhängigen Bereiche, Abteilungen oder Zweigstellen nutzen mehrere funktionale Domänen (z.B. Buchhaltung, IT, Produktmanagement oder Entwicklung) gemeinsam. Entscheidungen werden in solchen Fraktalorganisationen nicht ausschließlich an der Spitze getroffen, sondern auch und insbesondere in den Einzelorganisationen (bspw. Erziehungsberatungsstellen oder unabhängigen Wohngruppen).

Deutlich wird hier, dass die oftmals als Problem beschriebenen Strukturen sozialer Organisationen („Die in der Jugendhilfe machen immer ihr eigenes Ding!“) insbesondere in Zeiten, in denen Herausforderungen die Regel sind, als eine der Stärken von Organisationen der Sozialen Arbeit betrachtet werden können. Anstatt Vielfalt einzuschränken, gilt es, trotz der durch Vielfalt entstehenden hohen Komplexität, „rekursive Strukturen“ zu schaffen, die möglichst hohe Orientierung und Sicherheit in der Komplexität bieten.

9. Nutze kleine und langsame Lösungen

Prinzip 9 mag auf den ersten Blick ungewöhnlich klingen – brauchen wir nicht radikalere, also an die Wurzel gehende Lösungen? Doch aus der Permakultur wird klar, dass kleine, kontinuierliche Veränderungen weniger Zeit und Energie benötigen, überschaubarer sind und vor allem langfristig lebensfähiger.

Ein Beispiel aus der Lebensmittelproduktion ist das grausame „Gänsestopfen“. Dabei werden Gänse und Enten zwangsgefüttert, sodass ihre Leber auf das bis zu Zehnfache ihres Normalgewichts anschwillt. Auch die Produktion von billigem Fleisch folgt einem ähnlichen Prinzip: Möglichst schnell, möglichst fett, und oft nur essbar durch den Einsatz massiver Mengen an Antibiotika. Das ist einfach verrückt.

Im Gegensatz dazu geht die Permakultur davon aus, dass kleine und langsame, damit aber natürliche Veränderungen, Systeme langfristig produktiver machen als große Veränderungen, die einen hohen Energie- und Zeitaufwand erfordern.

Kurz gesagt: Indem man die Dinge Schritt für Schritt angeht, behält man die Kontrolle, und die Ergebnisse sind nachhaltiger und stabiler.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Aus meiner Perspektive sind alle Aspekte rund um die „agile Organisationsentwicklung“ besonders hervorzuheben:

Agile Organisationsentwicklung kann als ein dynamischer Ansatz zur Gestaltung und Verbesserung von Unternehmensstrukturen und -prozessen beschrieben werden, der sich an den Prinzipien und Methoden der Agilität orientiert.

Ein zentraler Bestandteil ist dabei die Hypothesenbildung und die darauf basierende iterative bzw. experimentelle Umsetzung dieser Hypothesen. Anstatt die gesamte Organisation auf einmal umzustellen, werden Pilotprojekte in ausgewählten Bereichen gestartet. Diese Projekte bzw. Experimente dienen als Lernfelder, und die gewonnenen Erfahrungen fließen in die weitere Entwicklung ein.

Agile Organisationsentwicklung erfolgt in kurzen Iterationen oder Sprints. In regelmäßigen Abständen werden die Fortschritte der Projekte überprüft und notwendige Anpassungen vorgenommen. Dies ermöglicht eine schnelle Reaktion auf Veränderungen und eine kontinuierliche Verbesserung der jeweils getesteten Hypothesen.

10. Nutze und schätze die Vielfalt

Prinzip 10 der Permakultur-Design-Prinzipien betont die hohe Relevanz von Vielfalt, die wesentlich zur Widerstandsfähigkeit eines Systems beiträgt.

Diese Idee findet sich auch in anderen Bereichen wieder, beispielsweise in der Finanzwelt, wo der Begriff „Diversifikation“ verdeutlicht, dass es riskant ist, „alles auf ein Pferd“ zu setzen. Vielfalt sorgt für Stabilität und Ausfallsicherheit, indem die unterschiedlichen Elemente eines Systems sich gegenseitig unterstützen und absichern.

In der Praxis der Permakultur bedeutet dies, dass bestimmte Pflanzenkombinationen nicht nur den Boden verbessern, sondern sich auch gegenseitig vor Schädlingen und Krankheiten schützen können. Diese Synergien reduzieren den Bedarf an externen Eingriffen und schaffen ein robusteres, nachhaltigeres System.

Ein praktischer Tipp (auch wenn ich ehrlicherweise keine Ahnung habe): Die Kombination von Ringelblumen und Tomaten kann dazu beitragen, Schädlinge fernzuhalten, während Bohnen und Mais zusammen gepflanzt ihre jeweilige Bodenfruchtbarkeit und Stabilität erhöhen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Schon bei Prinzip 8 habe ich dargelegt, dass durch Diversität in Teams und Führungsebenen unterschiedliche Perspektiven und Ideen eingebracht werden, was zu kreativeren und robusteren Lösungen und damit zur Stärkung der organisationalen Resilienz führt. Vielfalt sollte daher aktiv gefördert und wertgeschätzt werden.

Beim Befassen mit Prinzip 10 und dem Begriff Diversifikation kam mir die Entscheidungslogik „Effectuation“ in den Sinn. Das zweite Effectuation-Prinzip, „leistbarer Verlust statt erwarteter Ertrag,“ zeigt, dass erfolgreiche Unternehmer:innen entgegen dem gängigen Klischee nicht durch eine überdurchschnittlich hohe Risikobereitschaft glänzen. Im Gegenteil: Sie riskieren nur das, was sie verschmerzen können, ohne ruiniert zu werden. Sie handeln also anders, als oft angenommen.

Bezogen auf OE-Prozesse bedeutet dies, genau abzuwägen, wo und wie Änderungen vorgenommen werden. Anstatt einen „Big Bang“ zu verfolgen und von heute auf morgen alles auf den Kopf zu stellen, stoße ich immer wieder auf die „Schmerzgrenzen“ in der Veränderungsmöglichkeit sozialer Systeme. Ein Blick in die Sozialwirtschaft zeigt wortwörtlich jahrhundertealte Organisationen, deren Kultur nicht über Nacht entstanden ist. Diese Kultur wird Wege finden, allzu schnelles Vorpreschen, radikale Veränderungen und extreme Vorstellungen einer zukünftigen Organisation zu verhindern.

11. Nutze die Ränder und schätze das Marginale

Prinzip 11 ist für mich das Überraschendste, da ich bisher bewusst noch nicht über diese Perspektive nachgedacht habe. Das Prinzip besagt aus der Sicht der Permakultur, dass an den Grenzen, also dort, wo verschiedene Bedingungen aufeinandertreffen, Übergänge entstehen.

Diese Übergangsbereiche liegen oft nicht im Aufmerksamkeitsbereich, obwohl sie besonders vielfältig und produktiv sind. Anstatt also zu trennen, sollten diese Bereiche als Chance gesehen werden. Ein konkretes Beispiel sind Waldränder, die unglaublich vielfältige Biotope darstellen, da dort verschiedene Bedingungen aufeinandertreffen. Diese Übergangsbereiche sind besonders vielfältig, produktiv und wertvoll. Ebenso sind Grenzstreifen oft wunderbare, unberührte Lebensräume.

Indem wir diese Übergangsbereiche bewusst wahrnehmen und nutzen, können wir von ihrer Vielfalt und Produktivität profitieren und nachhaltigere Systeme schaffen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Mir kommen zu diesem Prinzip die Ausführungen von Groth und Richter (2023) rund um das Thema Führung in den Sinn:

„Wirksame Führung – ob Selbstführung oder Fremdführung (…) – betreibt Grenzmanagement zwischen einer Einheit (von uns häufig und synonym auch »System« genannt) und den relevanten Einheiten ihrer Umwelt. Es geht um Fragen wie: Wie soll eine Einheit reagieren, wenn sich die Umwelt verändert? Kann eine Einheit ihre Position in Relation zur Umwelt verbessern oder absichern? Oder kann die Einheit sogar Impulse in die Umwelt geben, d. h. andere Einheiten in ihrem Sinne beeinflussen? Immer geht es um Grenzziehungs- und Beziehungsfragen und damit um Arbeit an gegenseitigen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten, ohne dass eine Seite die Beziehung dominiert oder eine Seite ganz weggedacht werden kann. Systeme und ihre Umwelten »irritieren« sich gegenseitig und ihr Zusammenspiel, ihre Kopplung, entwickeln ein Eigenleben“ (ebd., 15).

Führung ist demnach „weder allein das, was eine einzelne Einheit tut, noch allein das, was zwischen Einheiten passiert. Führung ist beides, sie sitzt gewissermaßen auf dieser Grenze zwischen einer Einheit und ihrem Außen, beobachtet also ein System und seine Bezugnahme auf die relevanten Umwelten“ (ebd., 16).

Führung (womit hier nicht nur die eine „Führungskraft“ bzw. der:die Vorgesetzte gemeint ist) spielt sich also immer dort ab, wo Systeme aufeinandertreffen. Wenn dazu die Definition von Führung als „erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten“ (Muster, 2020) hinzugezogen wird, wird deutlich, dass es für gelingende Führung notwendig ist, den Blick nicht allein auf das eigene System, sondern zusätzlich immer auch auf das „Dazwischen“ zu richten.

Wenn die Entwicklung des jeweiligen Systems (Person, Mitarbeiter, Team, Organisation) als ein Kernaspekt von Führung definiert wird, kann auch die Organisationsentwicklung nie „abgetrennt“ von der Entwicklung der Menschen und Teams innerhalb und anderer sozialer Systeme in der Umwelt und damit außerhalb der Organisation erfolgreich gelingen. In den fraktalen Organisationsmodellen vieler Organisationen der Sozialen Arbeit rücken dann zum einen die anderen Organisationseinheiten in den Blick, aber auch externe Stakeholder wie die Kostenträger, die bei gelingenden OE-Prozessen mitzudenken sind.

Neben all dem findet auch die Entwicklung innovativer Ideen oft an den Rändern bzw. in Bereichen statt, die nicht im Hauptfokus stehen.

12. Reagiere kreativ auf Veränderung

Achtung, Binse: Das einzig Konstante auf der Welt ist der Wandel.

Dieser Gedanke ist zwar logisch und nicht neu, dennoch stellt Prinzip 12 die entscheidende Frage:

Wie gehen wir mit dem Wandel um?

Der Blick in die Zukunft kann entweder verstörend und deprimierend sein oder neue Möglichkeiten eröffnen. Kreativität bedeutet in diesem Kontext beispielsweise, dass klimatische Veränderungen den Anbau neuer Pflanzenarten ermöglichen können. Es geht darum, unvermeidliche Veränderungen positiv zu beeinflussen, indem wir sie aufmerksam beobachten und zum richtigen Zeitpunkt eingreifen. Dadurch entsteht Anpassungsfähigkeit, die durch vorausschauende Planung entscheidend ist, um in einer sich ständig verändernden Welt erfolgreich zu sein.

Ein flexibles System kann langfristig überleben, da es Umweltveränderungen gibt, auf die wir keinen Einfluss haben. Nur diejenigen, die sich anpassen, sichern ihr Fortbestehen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Organisationen insgesamt und die Sozialwirtschaft im Speziellen kennen den Wandel als einzige Konstante. Hier stellt sich immer wieder die Frage, wie wir mit den bevorstehenden und oft unvermeidlichen Veränderungen umgehen und mit welchem Blick wir auf die Herausforderungen schauen. So habe ich beispielsweise in einem Blogbeitrag versucht, den Fachkräftemangel als Chance zu betrachten und zehn Möglichkeiten für die Soziale Arbeit beschrieben, wie dieser „positive Blick“ gelingen kann.

Und auch in Organisationsentwicklungsprozessen sind Veränderungen unvermeidlich. So verlässt in einem OE-Prozess in einer Altenhilfeeinrichtung die Pflegedienstleitung die Einrichtung, in einem anderen Prozess wird die Geschäftsführung aufgrund von Unstimmigkeiten mit dem Vorstand plötzlich entlassen. Zeiten verschieben sich, neue Menschen kommen hinzu oder eine unerwartete Pandemie tritt auf. Immer wieder stellt sich die Frage:

„Wie gehe ich jetzt damit um?“

Ehrlich gesagt, habe ich oft einen „Plan“ im Kopf, eine Prozessarchitektur, die idealerweise mit begrenzten Ressourcen zu signifikanten Veränderungen führt. Ja, es frustriert mich manchmal, wenn der Prozess plötzlich auf wackligen Füßen steht, Anpassungen notwendig sind und ich den Plan über den Haufen werfen muss.

Doch auch hier – wie schon bei Prinzip 10 – lohnt ein Blick in die Entscheidungslogik „Effectuation“. Das dritte Prinzip der Effectuation (Umstände und Zufälle nutzen statt vermeiden) zeigt explizit, dass Veränderungen immer hinzukommen, egal wie gut wir planen. Es macht wenig Sinn, viel Energie darauf zu verwenden, Veränderungen vorzubeugen. Stattdessen sollten wir versuchen, das Unerwartete, Zufälle und sich verändernde Umstände als Chancen und Hebel zu nutzen und in Innovation und Möglichkeiten zu transformieren.

Nachhaltige Organisationsentwicklung, oder: Ein-Mini-Fazit!

Puh, das war ein ganz schön langer Text. Und ehrlich gesagt, könnte man bei jedem einzelnen Prinzip viel tiefer einsteigen.

Bei den meisten Prinzipien habe ich auf Fachliteratur verzichtet. Vielleicht nehme ich mir später die Zeit, die kurzen Ausführungen mit entsprechenden Belegen zu untermauern. Aber für den Moment betrachte ich den Beitrag als „gut genug für jetzt und sicher genug, um es auszuprobieren“.

Klar ist, dass die Prinzipien der Permakultur wertvolle Einsichten bieten, die auf Fragen der nachhaltigen Organisationsentwicklung übertragen werden können.

Indem wir natürliche Systeme als Vorbild nehmen, können wir Strukturen schaffen, die nicht nur effizient und produktiv, sondern auch nachhaltig und harmonisch sind. Durch die Anwendung dieser Prinzipien können Organisationen aller Branchen nachhaltiger, widerstandsfähiger und anpassungsfähiger werden.

Aber was waren die für dich interessantesten Prinzipien? Schreib es doch gerne in die Kommentare oder teile es in den sozialen Medien.

Fachkräftemangel als Chance – 10 Möglichkeiten für die Soziale Arbeit

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Vorab, weil es wichtig ist: Ich will hiermit den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit alles andere als schön reden. Die Auswirkungen heute und in Zukunft sind gravierend und die Analyse, dass dadurch der Sektor „vor dem Kollaps“ steht, wie es Hohendanner, Rocha und Steinke in ihrem gleichnamigen Buch eindrücklich beschreiben, ist bittere Realität. Ich bin jedoch auch davon überzeugt, dass es angesichts des Fachkräftemangels nicht ausreicht, zu jammern, sondern gleichzeitig die Möglichkeiten, die durch die herausfordernde Situation entstehen, in den Blick genommen werden müssen – für Mitarbeitende und Führungskräfte, für Organisationen der Sozialen Arbeit und für die Profession Soziale Arbeit als Ganzes. Entsprechend versucht der Beitrag, den Fachkräftemangel als Chance zu betrachten und 10 Möglichkeiten aufzuzeigen, die mit dem Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit einhergehen.

Ich will damit Mut machen, den Kopf aus dem Sand zu nehmen und sich neu Denken (und Handeln) zu erlauben. Ich will damit ermöglichen, trotz aller Schwierigkeiten immer wieder „proaktiv“ an die heute und in Zukunft mehr als wichtige Soziale Arbeit heranzugehen und eigene Einflussbereiche zu entdecken und zu nutzen.

Außerdem – und dann gehts auch schon los mit den Chancen – bin ich davon überzeugt, dass wir in der Sozialen Arbeit mehr „unternehmerisches Denken“ im besten Sinne brauchen. Und erfolgreiche Unternehmer:innen denken – wie die Forschungen rund um „Effectuation“ zeigen – in Möglichkeiten und fragen immer wieder „Was haben, was können, wen kennen wir, um diese Herausforderung zu lösen?”. Sie denken viel weniger ans Ziel (bspw. „Bewältigung des Fachkräftemangels“), sondern überlegen, was mit den vorhandenen Mitteln, Kompetenzen, Beziehungen… ein nächster Schritt auf dem Weg sein kann.

Und wenn Dir noch mehr Möglichkeiten rund um den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit einfallen, immer her damit.

Ich unterteile im Folgenden die Chancen in drei Ebenen – Chancen für die Menschen, Chancen für die Organisationen und – im Fazit – Chancen des Fachkräftemangels für die Sozialen Arbeit.

Fachkräftemangel als Chance für die Menschen

Mit den individuellen Chancen meine ich die Chancen, die mit dem Fachkräftemangel für die Mitarbeitende in sozialen Organisationen einhergehen. Und Führungskräfte sind auch Menschen 😉

Chance 1: Bessere Arbeitsbedingungen

Logisch, das liegt auf der Hand: Auch wenn es aus Perspektive der Organisation problematisch ist, ermöglicht der Fachkräftemangel für die Mitarbeitenden ganz neue Verhandlungspositionen. Überspitzt formuliert hat sich durch den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit eine Machtverschiebung von der Organisation hin zu den Mitarbeitenden vollzogen. Nicht mehr die Organisation gibt vor, was zu tun ist „und basta“, sondern die Mitarbeitenden können ein gewichtiges Wörtchen mitreden, wie sie sich ihren Arbeitsplatz und damit die Arbeitsbedingungen wünschen.

Jaja, mir ist sehr bewusst, dass mit der Machtverschiebung die Gefahr einhergeht, zu übertreiben:

Da wird schneller gekündigt, als Lucky Luke seinen Colt ziehen kann, da werden die Bedürfnisse des Hamsters über die der Klientel gestellt und vom Arbeitgeber erwartet, für das persönliche Glück Verantwortung zu tragen. Das meine ich mit der Chance auf bessere Arbeitsbedingungen natürlich nicht.

Ich will hier auch explizit darauf hinweisen, dass wir uns in der Sozialen Arbeit befinden. Homeoffice und Streetwork passen genauso wenig zusammen wie „nine to five“ und die stationäre Jugend- oder Eingliederungshilfe. Kinder in Kitas sind heute und werden auch in Zukunft in Kitas zu betreuen sein und in der stationären Altenhilfe riecht nicht jeder Ausfluss nach Lavendel. Soziale Arbeit ist vornehmlich Arbeit – wie eine Haustür kein Haus, sondern erstmal Tür ist.

Aber diese Arbeit kann hinterfragt werden: Warum machen wir das hier so? Gibt es keine Alternativen dazu? Das beginnt bei geteilten Diensten in stationären Kontexten, geht über die Verschlankung von dysfunktionalen Prozessen bis hin zur Ausstattung der Arbeitsplätze.

Anstatt aber die Verantwortung für die Verbesserungen allein „nach oben“ abzugeben, ist es sinnvoll, wenn Mitarbeiter:innen ihren „circle of influence“ – ihren Einflussbereich – betrachten und mit konkreten Vorschlägen an ihre Führungskräfte herantreten. Neben den gesteigerten Partizipationsmöglichkeiten ergeben sich dadurch deutlich passendere Lösungen, als wenn wieder jemand über die Arbeitsbedingungen entscheidet, der:die eigentlich gar nicht wirklich tief drinsteckt.

Chance 2: Arbeitsplatzsicherheit

Könnte auch unter Chance 1, da bin ich mir nicht sicher:

Menschen arbeiten dann gut (und gerne) wenn die im SCARF-Modell (und andere Modelle bestätigen das in ähnlicher Weise) beschriebenen Aspekte am Arbeitsplatz gegeben sind:

  • Anerkennung,
  • Sicherheit,
  • Autonomie,
  • Verbundenheit und
  • Fairness.

Mehr zum SCARF-Modell findest Du hier.

Und es ist wiederum logisch, dass der Fachkräftemangel die Arbeitsplatzsicherheit erhöht. Überspitzt formuliert könnte man fragen, warum Menschen in der Sozialen Arbeit überhaupt noch einen befristeten Job annehmen – es sei denn, sie wollen dies explizit?

Aus Perspektive der Organisationen lässt sich auf diesen Aspekt natürlich wieder mit einer anderen Brille schauen:

Manchmal wäre die Möglichkeit, die Mitgliedschaft eines:einer Mitarbeitenden einfacher zu beenden, wünschenswert. Hier – dazu später vielleicht mehr – plädiere ich aber dazu, dass die Organisationen weniger „ängstlich“ agieren sollten, als sie das meiner Wahrnehmung nach tun. Erfolgreiches „Employer Branding“ bedeutet aus meiner Perspektive nicht, dass zu tun, was die Mitarbeitenden wollen, sondern Strukturen und Bedingungen zu schaffen, um den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen. Dazu ist dann an der ein oder anderen Stelle vielleicht auch die Trennung von Mitarbeitenden notwendig.

Aber auch das gibt wiederum Klarheit, Sicherheit und Orientierung für alle Beteiligten. Meiner Erfahrung nach spricht diese Klarheit eher für als gegen einen Arbeitgeber, was mittelfristig zu mehr Bewerber:innen, vor allem aber zu einer gewünschten Organisationskultur führen kann.

Chance 3: Individuelles Lernen

Fritz B. Simon (vgl. 2019, 42f) beschreibt Lernen als Möglichkeit, interne Strukturen autopoietischer Systeme zu verändern, wenn diese „mit ihren etablierten Verhaltensweisen nicht erfolgreich sind“ (ebd., 42).

Der Blick auf die Arbeitsweisen der Professionellen in der Sozialen Arbeit zeigt, dass das „erfolgreiche“ Agieren zunehmend an Grenzen kommt. Als Beispiel steigen seit Jahren (und in den letzten Jahren verstärkt) die Burnout-Raten in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Ja, ich komme später noch zur Notwendigkeit des organisationalen Lernens, da ich der Überzeugung bin, dass es nicht ausreicht, die systemischen Probleme auf die Individuen zu verlagern, aber trotzdem:

Es besteht die Chance, die eigenen, ganz individuellen Arbeitsweisen zu hinterfragen und neu zu lernen. Angefangen von Zeit- und Selbstmanagement über den Umgang mit Stress und die Entwicklung „individueller Resilienz“ bis hin zur Auseinandersetzung mit fachlich-inhaltlichen und methodischen Fragen gelingender Sozialer Arbeit besteht durch den Fachkräftemangel die (leider nicht ganz freiwillige) Möglichkeit, neu zu lernen, wie „soziale Arbeit“ in der Sozialen Arbeit gelingt.

Der Blick in die Fachliteratur, in die Veröffentlichungen rund um Methoden Sozialer Arbeit, der Blick auf Studien und die gesamte Disziplin Sozialer Arbeit zeigt, dass wir enorm viel haben, was hilfreich sein kann – allein es fehlt das Wissen (und die Anwendung des Wissens) bei den Fachkräften. Anders gesagt:

Wenn es gelänge, in Studium ebenso wie in Aus-, Fort- und Weiterbildung verstärkt auf Kompetenzen für „gute“ Arbeit in der Sozialen Arbeit zu setzen und die Bewältigung der Herausforderungen des Fachkräftemangels immer (mindestens im Hintergrund) mitschwingen zu lassen, wäre das Lernen anderer Herangehensweisen möglich. Konkret:

Führungskompetenzen – als ein Beispiel – gewinnen auch für Fachkräfte Sozialer Arbeit an Bedeutung. Hintergrund ist die Notwendigkeit, in vielen Arbeitsfeldern nicht nur mit Fach-, sondern auch mit nicht ausgebildeten Hilfskräften zu arbeiten. Und diese müssen fachlich-inhaltlich (auch) durch die Fachkräfte geführt werden. Und Führung bezieht sich neben der Team- und der Organisationsführung eben auch auf die Selbstführung (vgl. bspw. Richter, Groth, 2023).

Chance 4: Lebensphasenorientierte Personalentwicklung

Der folgende Gedanke steht zwischen dem Individuum und der Organisation:

Angesichts der Notwendigkeit, aufgrund des demographischen Wandels neu über die Sicherstellung der Angebote bzw. das Funktionieren der Organisationen der Sozialen Arbeit insgesamt nachzudenken, wird es zunehmend relevant, die Beschäftigungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Lebensphasen der Beschäftigten und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit zunächst überhaupt in den Blick zu nehmen: Wer arbeitet wie lange (noch) in der eigenen Organisation? Wer befindet sich in welcher Lebensphase? Diese Betrachtung ermöglicht es dann, die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern, um so Lebens- und Berufsphasen besser miteinander zu vereinbaren.

Neben dem, dass daraus individuelle Chancen erwachsen, ergeben sich auch für die Organisation enorme Vorteile. So kann über die Betrachtung der Lebensphasen auch eine deutliche „Ausweitung der Arbeitsmarktpartizipation“ erreicht werden, denn: Warum sollen Menschen, die Lust haben (oder finanziell darauf angewiesen) und in der Lage dazu sind, auch nach dem Erreichen des Rentenalters noch weiter zu arbeiten, daran gehindert werden?

Dazu jedoch bedarf es flexibler Möglichkeiten der Integration der Mitarbeitenden in die Organisation. Zu denken ist unter anderem an Projekte, in denen Menschen mit langjähriger Erfahrung mit ihrer Expertise eingebunden werden oder die Teilzeitbeschäftigung zum „Abpuffern“ von Ausfallzeiten.

Über diese Möglichkeiten ergeben sich ggf. auch für Mitarbeitende im „Regelbetrieb“ neue Möglichkeiten und Chancen, ihren Arbeitsalltag besser und angepasst an ihre jeweiligen Lebensphasen zu gestalten.

Fachkräftemangel als Chance für Organisationen der Sozialen Arbeit

Meine Perspektive in meiner Arbeit sind ja weniger die Menschen in den Organisationen als die Strukturen der Organisationen der Sozialen Arbeit als soziale Systeme. Deswegen sind die „individuellen Chancen“, die mit dem Fachkräftemangel einhergehen, alles andere als abschließend beschrieben. Falls Du zum vorhergehenden Punkt also Ergänzungen hast, immer her damit. Jetzt aber zu den Chancen, die mit dem Fachkräftemangel für Organisationen der Sozialen Arbeit einhergehen.

Chance 5: Lernen von Ambidextrie

Ich bleibe beim Lernen und übertrage die Gedanken der Chance 3 auf das soziale System „Organisation der Sozialen Arbeit“. Denn genau wie Menschen als psychische Systeme sind Organisationen autopoietische Systeme, die dann in der Lage sind zu lernen, wenn sie mit ihren etablierten Verhaltensweisen nicht erfolgreich sind.

Und wiederum sehr naheliegend und an vielen Stellen mehr als sichtbar ist, dass der Fachkräftemangel die etablierten Verhaltensweisen der Organisationen infrage stellt. Prominente Beispiele sind aufgrund des Fachkräftemangels in finanzielle Schieflage geratene Wohlfahrtsverbände.

Problematisch am o.g. Zitat von Simon ist, dass es aus meiner Sicht reaktiv ist: Dann, wenn es nicht mehr geht, wird gelernt. Fraglich ist, wie „proaktives Lernen“ gelingen kann? Wie können aufziehende, aber noch nicht akute Probleme – verstanden als „Situationen und Begebenheiten, die von Beobachtern und Beobachterinnen als Differenz zwischen Soll und Ist erlebt und negativ bewertet werden (Seliger, 2022, 63) – antizipiert und dann daraus bereits gelernt werden?

Das ist für Organisationen nicht leicht, da das Aufrechterhalten des Alltagsgeschäfts und das gleichzeitige Beobachten und Antizipieren zukünftiger Entwicklungen „Beidhändigkeit“ braucht. Im organisationalen Kontext ist hier das Modell der Ambidextrie entscheidend.

Unter Ambidextrie ist „das Nebeneinander von Exploit-Modus (Bewährtes erhalten und optimieren) und Explore-Modus (Innovationen verfolgen) [zu verstehen]. Die beiden Modi sind wie zwei ‚Betriebssysteme‘ für Unternehmen, die sich gleichzeitig widersprechen und ergänzen und die beide absolut kritisch für langfristigen Erfolg sind“ (Thinktank Ambidextrie).

Ambidextrie zu lernen erfordert für Organisationen jedoch, Möglichkeiten zu schaffen, neben dem rein operativen Geschäft und der schrittweisen Optimierung von bestehenden Strukturen, Prozessen, Angeboten und Geschäftsmodellen gedanklich herauszutreten, neue Wege zu gehen und innovative Entwicklungen und Angebote schnell und agil voranzutreiben (vgl. hier).

Das ist einfacher gesagt als getan, denn explizit für Organisationen der Sozialen Arbeit ergeben sich neben der Herausforderung, das Alltagsgeschäft zu unterbrechen, echte Herausforderungen, die ich hier beschrieben habe. Sehr kurz zusammengefasst:

Aufgrund der externen Finanzierung sozialer Arbeit durch Leistungsträger sind die Möglichkeiten der innovativen Gestaltung neuer Angebote und Dienstleistungen, aber auch der Organisationsentwicklung begrenzt.

Hinzu kommt, dass die „zwei sich widersprechenden und gleichzeitig ergänzenden Betriebssysteme“ unterschiedliche Herangehensweisen brauchen, die – verkürzt – als „Management“ auf der einen (Aufrechterhaltung des Bestehenden) und „Unternehmertum“ auf der anderen Seite (Neuentwicklung und Umsetzung) gedacht werden können.

Für Führungskräfte in Organisationen der Sozialen Arbeit gilt es entsprechend, beide Perspektiven „in sich“ zu vereinen oder aber – eine echte Chance, aus meiner Sicht – Modelle des „Shared Leadership“ (geteilter Führung) zu testen. Oder warum sollte es sinnvoll sein, wenn angesichts der Herausforderungen nur eine Person den Hut für die Organisation, den Bereich, die Abteilung oder das Team aufhat?

Chance 6: Exnovation

Ambidextrie und organisationales Lernen sind ja eher die übergreifenden Gedanken. Wie können die Chancen aber im Konkreten aussehen?

Da ist natürlich die Chance der Exnovation hervorzuheben. Dazu findest Du hier ausführlichere Gedanken.

Zusammenfassend ist Exnovation die Abschaffung oder das Zurücknehmen von Angeboten, Prozessen, Praktiken oder Technologien, die erfolgreich waren, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen. Damit wird schon deutlich, dass Exnovation intern wie extern betrachtet werden kann:

Intern geht es um die Frage, wie wirksam interne Zwecke, Organisationsstrukturen im Sinne von Hierarchien oder Prozesse angesichts der Herausforderung Fachkräftemangel (noch) sind. So neigen (Menschen wie) Organisationen dazu, immer in einem „mehr“ zu denken – mehr Regeln, mehr Angebote, mehr Wachstum, mehr von allem. Daraus resultieren interne Regelwerke, QM- oder Prozesshandbücher, die nicht mehr zu überblicken geschweige denn lebendig zu halten sind. Hier besteht die Chance, wegzukommen von der Beschäftigung mit sich selbst und aufzuräumen, um wieder Luft zum Atmen bzw. für echte Arbeit zu bekommen. Konkret hilft es, regelmäßig die Regeln und Vorgaben der Organisation zu beleuchten und – im Sinne der Methode „Kill a stupid rule“ – nicht (mehr) wirksame Regeln zu streichen bzw. durch wirksame Regeln zu ersetzen. Der zweite Punkt – das Ersetzen – ist wichtig:

Ich bin kein Freund von „Selbstorganisation“ im falschen Verständnis eines „anything goes“. Im Gegenteil: Ich bin aufgrund der „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ davon überzeugt, dass es gerade in unseren Organisationen mehr Regeln und Vorgaben braucht – aber eben „funktionale Regeln“, die dazu dienen, das „Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit zu gestalten. Im letzten Beitrag zum „Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft“ habe ich dazu geschrieben, dass es darum gehen muss, funktionale formale Vorgaben zu gestalten, die Sicherheit und Orientierung für Mitarbeiter:innen – unabhängig von ihren fachlichen Qualifikationen – ebenso wie Sicherheit für die Adressat*innen Sozialer Arbeit bzgl. der zu erwartenden Leistungen im komplexen Alltag bieten (siehe auch das SCARF-Modell oben).

Exnovation heißt übrigens nicht die Abkehr von Innovation. Exnovation geht mit Innovation einher und so lässt sich auch aus interner Perspektive darauf schauen, wie interne Prozesse zukünftig anders gestaltet werden können. Spätestens hier rückt – wie Jan Meine hier auf meine kleine Frage bei LinkedIn schreibt – „auch der Einsatz von neuen Ressourcen, wie KI“ in den Blick, die wiederum zur Reduzierung von zeitbindenden, aber wenig wirksamen Aufgaben führen können. So sind – das ist auch hier zu berücksichtigen – Organisationen der Sozialen Arbeit nicht im luftleeren Raum unterwegs, sondern haben (teilweise absurde), durch die Leistungsträger vorgegebene Anforderungen zu erfüllen, die nicht mal eben „exnoviert“ werden können.

„Externe Exnovation“ bezieht sich dann natürlich auf die Angebote und Leistungen von Organisationen der Sozialen Arbeit. Wir werden zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr alle Angebote und Dienstleistungen aufrecht erhalten können. Wir werden Angebote einstellen müssen. Das wird auch dazu führen, dass Mitarbeiter:innen das, was sie bislang getan haben, nicht mehr tun können. Und es wird auch dazu führen, dass Adressat:innen bislang vorgehaltene Angebote nicht mehr wahrnehmen können.

Es gilt, Abschied zu nehmen – auch wenn dies schmerzt.

Die Chance im Abschiednehmen sehe ich im Blick auf die Qualität und damit die Wirksamkeit der Angebote der Sozialen Arbeit. So sind, wie von Hohendanner, Rocha und Steinke (2024, 16ff) dargelegt, über die letzten Jahre „ausnahmslos alle Bereiche des sozialen Sektors in absoluten Beschäftigtenzahlen gewachsen“. Sie schreiben weiter, dass „angesichts der steigenden Bedarfe (…) anzunehmen [ist], dass das Beschäftigungswachstum in allen Bereichen des sozialen Sektors bei ausreichend verfügbarem Personal noch deutlich höher ausgefallen wäre“ (ebd.).

Quantität allein ist aber kein Kriterium für Qualität. So besteht jetzt die Chance, das Angebotsportfolio der eigenen Organisation kritisch in den Blick zu nehmen und genau abzuwägen, ob die Leistungen in der bereitgestellten Art und Weise wirksam sind und weiterhin angeboten werden sollten bzw. müssen.

Die Entscheidung darüber kann und darf in Organisationen der Sozialen Arbeit aber nicht allein an monetären Kennzahlen festgemacht werden. Soziale Organisationen sind – sofern sie ihren Auftrag ernst nehmen – weit mehr als ausschließlich auf Profit ausgerichtete Unternehmen.

Wenn es gelingt, Angebote von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu reflektieren, erwächst daraus auch die Chance der Steigerung der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden.

So ist es eine Binsenweisheit, dass die Arbeitszufriedenheit nicht durch Obstkorb und Kickertische, sondern deutlich stärker durch das Selbstwirksamkeit wächst. Anders gesagt besteht die Chance, weniger die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeitenden in den Mittelpunkt zu stellen, als wirksame Soziale Arbeit zu leisten, die dann zu langfristiger Zufriedenheit aller Beteiligten – Mitarbeitenden wie Adressat:innen – führt.

Chance 7: Kooperation

Florian Acker (Grüße und Danke an der Stelle) bringt über LinkedIn einen spannenden Gedanken ein:

„Durch den Fachkräftemangel wird die soziale Infrastruktur ja nicht mehr in dem Maße bedient werden können, wie wir es bisher erlebt haben. Das bietet insofern die Chance, dass wir uns mit neuen Angebotsformen und neuen Arbeitsweisen auseinandersetzen müssen. Das meint nicht nur, dass wir in Zukunft vermutlich viel stärker auf Kooperationen (mit anderen Leistungserbringern) setzen müssen, sondern wir eben auch zu veränderten Arbeitsweisen mit den Adressaten Sozialer Arbeit kommen müssen. An der einen oder anderen Stelle wird dabei sicherlich auch die positive Erkenntnis entstehen, dass die (erzwungene] Abkehr von paternalistischen Strukturen durchaus sinnvoll sein kann ;-)“

Na gut, das ist mehr als ein Gedanke 😉 Neben der wichtigen Abkehr von paternalistischen Strukturen sozialer Arbeit und den veränderten Arbeitsweisen mit den Adressat:innen will ich hier den Kooperationsgedanken hervorheben:

Die Vorstellung, komplexe Probleme – individuell, organisational, gesellschaftlich und global – mit „der einen“ Lösung in den Griff kriegen zu können, ist absurd (und vielfach widerlegt). Wir brauchen Kooperation, Inter- oder Multidisziplinarität, Zusammenarbeit und KoKreation auf allen Ebenen und damit auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. In die Auswirkungen des Fachkräftemangels sind komplex.

Neben den von Florian dargestellten Kooperationsnotwendigkeiten mit anderen Leistungserbringern (dazu hilfreich das Konzept der „Koopkurrenz in der Sozialwirtschaft“ – vgl. Schönig, 2015) sehe ich zusätzlich eine Chance in der Kooperation mit wirklich externen Stakeholdern. Darunter verstehe ich Unternehmen, Anbieter, Netzwerke, Initiativen usw., die nicht genuin der Sozialwirtschaft zuzuordnen sind. Kooperationen mit Wirtschaftsunternehmen vor Ort sind nur ein Beispiel, von dem beide Partner profitieren können. Aber auch die verstärkte Kooperation von Schulen und Hochschulen mit Organisationen der Sozialen Arbeit sind – wie vieles andere – denkbar.

Wiederum gilt es, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und im Sinne einer „open organization“ zunehmend die Systemgrenzen der eigenen Organisation zu öffnen. Das bedarf wiederum der schon angesprochenen Ambidextrie im Denken und Handeln.

Chance 8: Innovation

Klar, wenn einerseits geprüft werden muss, welche internen wie externen Angebote, Prozesse, Arbeitsweisen usw. noch sinnvoll sind, ergibt sich andererseits die Chance durch den Fachkräftemangel, neue Ideen ins Leben zu bringen und damit echte Innovation zu ermöglichen.

Unter Innovation verstehe ich die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen, die darauf ausgerichtet sind, den:die Zweck:e der Organisation auf eine neuartige Weise zu erreichen.

Aktuell viel diskutierte Innovationen beziehen sich auf die Nutzung digitaler Möglichkeiten in der und für die Soziale Arbeit. Da ist mit Sicherheit enormes Potential, auch wenn berücksichtigt werden muss, dass die Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit besondere Herausforderungen mit sich bringt.

Ebenso interessant sind aber „soziale Innovationen“, die ein neues Miteinander ermöglichen. Ich denke hier an die Stärkung von „caring communities“ oder – im Bereich der stationären Altenhilfe an Konzepte wie die „stambulante Pflege“ und damit die Kombination aus stationärer Versorgung mit betreutem Wohnen, bei dem die ambulante Pflege durch die Personen durchgeführt wird, die auch die stationäre Versorgung anbieten.

Auch hier wieder ein Plädoyer für die Unternehmer:innen in der Sozialen Arbeit. Das sind nicht nur die Menschen, die etwas gründen und sich „selbständig machen“, sondern auch die „Intrapreneur:innen„, die in den Organisationen für neue Gedanken, neue Herangehensweisen und damit auch neue Angebote sorgen.

Chance 9: Echte Diversität leben

Laut einer Studie der Boston Consulting Group (vgl. näher hier) gibt es eine eindeutige Korrelation zwischen Diversität und Innovationsleistung von Unternehmen. Diversität in Unternehmen lässt sich bspw. anhand des Modells der „4 Layers of Diversity“ nach Gardenswartz und Rowe (1998) darstellen, das auch von der Charta der Vielfalt e. V. genutzt wird.

Wenn man jetzt neben der Korrelation von Vielfalt und Innovation berücksichtigt, dass – um dem Fachkräftemangel zu begegnen – Deutschland eine Nettoeinwanderung von 400.000 Personen pro Jahr benötigt und wir einmal von der Utopie ausgehen, dass wir zumindest annähernd in diese Richtung steuern würden, wird deutlich, dass Vielfalt und damit das Thema „Diversity & Inclusion“ auch in Organisationen der Sozialen Arbeit an Relevanz gewinnen wird.

Ja, auch das Thema „Diversity & Inclusion“ führt zur Notwendigkeit ganzheitlicher Veränderungsprozessen, die in Organisationen der Sozialen Arbeit anstehen. Denn eine genaue Vielfaltsanalyse führt nicht in allen sozialen Organisationen zu einem super Ergebnis, „weil wir doch so sozial sind“. Allein der Blick auf die Herausforderungen der konfessionellen Träger bzgl. der verschiedenen Vielfaltsdimensionen reicht aus, um die Notwendigkeiten in diesem Themenfeld zu unterstreichen.

Aber – und darauf will ich hinaus – in dem Thema Diversity liegen eben auch enorme Chancen, die aufgrund des Fachkräftemangels herausgearbeitet werden können.

Chance 10: Techniknutzung in der Sozialen Arbeit

Oben habe ich bereits einmal verlinkt, warum das mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit ein Problem darstellt. Kurz: Digitalisierung führt immer zur Formalisierung der Organisation. Aufgrund u.a. der beruflichen Identität der Professionellen in unserem Sektor („Helfen wollen!“) und der damit nachvollziehbaren Abneigung gegen durch die von der Organisation vorgegebenen Regeln und Vorgaben haben es digitale Anwendungen nicht leicht. Hier geht’s noch einmal zu dem Beitrag.

Jedoch besteht die Möglichkeit (und damit auch die Chance), dass zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels die reine Notwendigkeit besteht, digitale bzw. überhaupt technische Tools stärker nutzen zu müssen, um die Arbeit bewältigen zu können.

Neben den Möglichkeiten der Verschlankung von zeitfressenden Prozessen durch (funktionale) digitale Anwendungen ist vor allem der Blick interessant, wie die Technik den Adressat:innen Sozialer Arbeit zugute kommt. Florian spricht in seinem Kommentar auf LinkedIn ja auch die Möglichkeit an, „dass Themen wie ‚Ambient Assisted Living‘ an Bedeutung gewinnen werden.“

Darunter sind technische Assistenzsysteme zu verstehen, die das Umfeld der Adressat:innen Sozialer Arbeit mit Technologien verknüpfen, um den Menschen mit Unterstützungsbedarf mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen. Und wenn das Ziel Sozialer Arbeit die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen ist (vgl. Definition Sozialer Arbeit) kann ja nichts dagegen sprechen.

Vielmehr könnte man die These aufstellen, dass bei deutlicher Verbesserung der digitalen und technischen Möglichkeiten die Notwendigkeit sinkt, professionelle Soziale Arbeit wahrnehmen zu müssen, was eine echte Chance im Blick auf den Fachkräftemangel wäre. Ja, logo, das kommt massiv an seine Grenzen wenn man in Betreuungssettings (Kita, stationäre Arbeit usw.) denkt. Aber in Beratungssettings sind die Entwicklungen interessant:

Die neueste Version von ChatGPT – 4o – wirft (zumindest aus meiner in dem Kontext nicht professionellen Brille) die Möglichkeit auf, nicht mehr zum:zur Berater:in zu müssen, sondern Familien-, Paar- und Einzelberatung digital abbilden zu können. Ehrlich gesagt ist das nicht sooooo futuristisch, wie es vielleicht auf den ersten Blick klingt. Mara Stieler zeigt Möglichkeiten hier für die Caritas auf und Emily Engelhardt befasst sich damit sowieso schon lange – deswegen die klare Empfehlung für ihren Blog 😉

Fazit, oder: Fachkräftemangel als Chance für die Soziale Arbeit

Längeres Nachdenken über den Fachkräftemangel als Chance führt auch hier vielleicht zu noch mehr Ideen. Wenn Dir also noch mehr einfallen, lass es mich gerne wissen, dann ergänze und aktualisiere ich den Beitrag.

Deutlich wird aber schon so, dass der Fachkräftemangel bei Änderung der Perspektive und durch das Denken in Möglichkeiten nicht nur die allseits bekannten Herausforderungen, sondern auch Chancen birgt.

Für die Professionellen, für die Menschen in Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt sich der Fachkräftemangel als Chance vor allem in der Möglichkeit der Beeinflussung und aktiven Gestaltung von Arbeitsbedingungen.

Die Betrachtung des Fachkräftemangels als Chance aus organisationaler Perspektive zeigt Möglichkeiten, Organisationen der Sozialen Arbeit zu professionalisieren, also Organisationsstrukturen ebenso wie Angebote zu überdenken und neu zu gestalten.

Und für die Soziale Arbeit, den Sektor und die Profession insgesamt kann die Betrachtung des Fachkräftemangels als Chance darin bestehen, der ihr schon in der Corona-Pandemie attestierten „Systemrelevanz“ echte Bedeutung zu verleihen.

Über diese Bedeutung kann dann – hoffentlich – die Möglichkeit bestehen, politische Lobbyarbeit im besten Sinne – für die Menschen – zu betreiben und Forderungen zu stellen. Hohendanner, Rocha und Steinke bringen dies auf den Punkt, wenn sie in ihren „elf Punkten gegen den Kollaps des Sozialen“ (vgl. 2024, 65ff) unter Punkt 11 (ebd., 74) fragen:

„Was ist der soziale Sektor der Gesellschaft wert?“

Was sind Organisationen – eine Einführung

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Was sind Organisationen? Eine seltsame Frage, oder? Schließlich bewegen wir uns alle „von der Wiege bis zur Bahre“ in Organisationen. Von der Geburt bis zum Tod wird unser Leben von Organisationen bestimmt – von Verwaltungen, Krankenhäusern, Kirchen, Schulen, Universitäten, Unternehmen, Parteien und vielfach auch von Wohlfahrtsverbänden, Kindertagesstätten, Altenhilfeeinrichtungen. Wir nehmen das als selbstverständlich hin. Aber eine Vorstellung davon, was Organisationen sind und wie sie funktionieren, wie man sich in ihnen bewegt und was man in Organisationen verändern und gestalten kann, ist kaum vorhanden.

„Und selbst in Studienfächern wie Soziologie, Betriebswirtschaftslehre oder Psychologie wird man häufig nur in den jeweiligen Spezialisierungskursen darüber informiert, wie Organisationen eigentlich funktionieren. So lernen wir häufig lediglich nebenbei, wie Organisationen wirken und wie man sich in ihnen zu verhalten hat“ (Kühl, 2020, 1).

Herausfordernd an der Frage, was Organisationen nun eigentlich sind, sind verschiedene Aspekte, die auch und gerade für Beschäftigte in Organisationen der Sozialen Arbeit bedeutsam sind. Denn, wie Gesmann und Merchel (2019, 14) passend ausführen, wird „schnell erkennbar, dass der Begriff der Organisation eine gewisse Unschärfe aufweist. Arbeiten die Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) eines Jugendamtes nun in der Organisation ASD oder in der Organisation Jugendamt? Kann ein Arbeitskreis, der sich rund um das Thema unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Bezirk gebildet hat, als Organisation bezeichnet werden? Was ist mit Einrichtungen, die sich einem Wohlfahrtsverband angeschlossen haben: Sind diese nun Organisationen, oder ist nur der Wohlfahrtsverband eine Organisation? Und ist eine Selbsthilfegruppe eine Organisation?“ Und wenn dann noch die Organisation der eigenen Hochzeit mit der Organisation Jugendamt in Verbindung gebracht wird, wird’s völlig wirr.

Ich will hier nicht die gesamte (und komplexe) Theorie, die es zur Differenzierung der verschiedenen Sichtweisen auf Organisationen gibt, um die Ohren hauen, sondern um die Komplexität zu reduzieren, den Begriff „Organisation“ auf „das soziale System Organisation“ einschränken. Damit wird die Perspektive deutlich, aus der ich Organisationen betrachte und aus der auch die Ausführungen konzipiert sind: Es ist die systemtheoretische Perspektive.

Aus dieser Perspektive weisen Organisationen vier spezifische Merkmale auf, die sie von z.B. Familien oder Cliquen unterscheiden, die ebenfalls als soziale Systeme definiert werden können. Wir werden dann sehen, warum es gut ist, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen und welche drei Seiten von Organisationen es wert sind, betrachtet zu werden. Abschließend werden vier Typen von Organisationsstrukturen vorgestellt – denn hier kann Organisationsentwicklung sinnvoll ansetzen.


P.S.: Dieser Beitrag ist entstanden, weil ich in Workshops und Fort- und Weiterbildungen immer wieder ähnliche Ausführungen mache und es sich – vielleicht – lohnt, sie hier zum Nachlesen zu hinterlassen. Wahrscheinlich werde ich perspektivisch weitere Auszüge aus Workshops und Fortbildungen (z.B. zu den Besonderheiten sozialer Organisationen) hier niederschreiben.


Die vier spezifische Merkmale von Organisationen

Den Ausführungen von Gesmann und Merchel folgend (vgl. ebd., 14ff) lassen sich Organisationen anhand der folgenden vier grundlegenden Merkmale von anderen sozialen Systemen unterscheiden:

Organisationen weisen

  • eine spezifische Zweckorientierung,
  • eine geregelte Arbeitsteilung,
  • Mitgliedschaftsbedingungen und
  • eine Beständigkeit der Organisationsgrenzen auf.

Bei der spezifischen Zweckorientierung geht es darum, dass Organisationen einen oder mehrere spezifische Zwecke verfolgen. So lässt sich der Zweck von Organisationen der Sozialen Arbeit bspw. reduzieren auf „das Erbringen von personenbezogenen Dienstleistungen“, wobei diese Reduktion des „einen Zwecks“ spätestens beim Blick auf einen Wohlfahrtsverband ins Wanken gerät und mehrere Zwecke (bspw. untergliedert nach den jeweiligen Arbeitsfeldern, in denen Wohlfahrtsverbände Leistungen anbieten) zu berücksichtigen sind.

Die geregelte Arbeitsteilung als Merkmal von Organisationen wird in der Organisationsstruktur deutlich. Die Organisationsstruktur zeigt, „wer was wann und wie macht bzw. machen sollte“ (ebd., 15). Die Organisationsstruktur lässt sich als Regelwerk der Organisation definieren, die sich bspw. durch Prozessbeschreibungen im QM-System, durch das Organigramm oder auch Stellenbeschreibungen, Rollendefinitionen und die Ausführungen in den Arbeitsverträgen zeigt. Das ist die „Formalstruktur“ der Organisation. Besonders spannend ist, dass die Ausbildung formaler Strukturen immer auch die Ausbildung informaler Strukturen bedingt. Dazu gleich mehr.

Im Gegensatz zu bspw. Familien kannst Du in Organisationen Mitglied werden, indem Du – das dritte Merkmal – die Mitgliedschaftsbedingungen der Organisation (abgebildet in der Formalstruktur) erfüllst. Dafür, dass Du die Bedingungen erfüllst, erbringt die Organisation in der Regel die Gegenleistung „Gehalt“. Gleichzeitig kann die Organisation Deine Mitgliedschaft auch beenden, sofern Du die formalen Mitgliedschaftsbedingungen nicht erfüllst. Diese für Organisationen wesentliche, da überlebenswichtige Möglichkeit ist jedoch in Zeiten des Fachkräftemangels gesondert zu betrachten.

Das vierte Merkmal, die Existenz von und die Beständigkeit der Organisationsgrenzen, verdeutlicht, dass es ein „Innen“ und ein „Außen“ von Organisation gibt. Dieses „Innen“ und das „Außen“ zeigt sich bspw. dann, wenn Du Dir vorstellst, dass irgendjemand in Deiner Organisation vorbeikommen würde und heute mal gerne mitarbeiten würde. Selbst in Zeiten massiven Fachkräftemangels ist dies nicht (so einfach) möglich. Ebenso absurd ist die Vorstellung, dass die Hochschule ihre Organisationsgrenzen mal eben so verlässt und neben der Lehr- und Forschungstätigkeit eine Bäckerei eröffnet.

Warum es gut ist, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen

Dass Organisationen sich durch eine Abgrenzung zur Umwelt definieren, einen oder mehrere Zwecke verfolgen, im Gegensatz zu z.B. Familien eine formale Struktur haben und Mitgliedschaftsbedingungen formuliert sind, ist vielleicht nicht überraschend.

Überraschender ist die Feststellung, dass das soziale System Organisation aus systemtheoretischer Sicht nicht „aus Menschen“ besteht, sondern besser als Netzwerk fortlaufender Entscheidungen verstanden werden kann (vgl. Richter, Groth, 2023, 125). Oder kurz:

Organisationen bestehen aus Entscheidungen, die sich in den formalen und informalen Strukturen der Organisation manifestieren (teils schriftlich, teils mündlich). So ist bereits die Gründung einer Organisation eine Entscheidung. Weitere Entscheidungen folgen (z.B. die Entscheidung, Personal einzustellen; die Entscheidung über den Zweck der Organisation; die Entscheidung über die Regeln, die in der Organisation gelten). Mit den ersten Entscheidungen wird ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt. Jede Entscheidung impliziert weiteren Klärungs- und Handlungsbedarf, die entstehende Historie bereits getroffener Entscheidungen erfordert und begrenzt weitere Entscheidungen (vgl. ebd., 126).

Dass Organisationen nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen bestehen, erscheint auf den ersten Blick „unmenschlich“. Wenn man aber versucht, den Menschen (im Sinne der Mitarbeiter:innen) „aus dem Mittelpunkt“ der Organisation zu nehmen, ergeben sich enorme Vorteile für das Be- und Verstehen von Organisationen ebenso wie für das Menschliche.

Die Vorteile für Organisationen werden deutlich, wenn man sich eine Organisation vorstellt, in der die Mitarbeiter:innen in ihrer Gesamtheit wirklich im Mittelpunkt stehen:

Jedes Mal, wenn Menschen die Organisation verlassen – durch Kündigung oder aus Altersgründen – würden Lücken entstehen, die niemals durch andere Menschen gefüllt werden könnten, denn Menschen sind in ihrer Ganzheit sehr unterschiedlich, individuell und daher nicht ersetzbar. Mehr noch:

Wenn Organisationen um einzelne Menschen herum gebaut werden (was z.B. bezogen auf Gründer:innen von Start-Ups zu beobachten ist), „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (Wimmer, 2019).

Katastrophal wird es für die Organisation vor allem dann, wenn nach dem Ausscheiden einer oder mehrerer Personen das Überleben der Organisation gefährdet ist. Statt also als „ganze Person“ Teil der Organisation zu werden, übernehmen Menschen Rollen in der Organisation. Sehr einfach ausgedrückt: Man wird nicht als „Klaus“ oder „Claudia“ eingestellt, sondern – hoffentlich unabhängig vom Geschlecht – in der Rolle z.B. als „Sozialarbeiter:in“.

Die Vorteile der Trennung von Mensch und Rolle für die Mitarbeitenden ist nicht ganz so offensichtlich. Bei genauerem Hinsehen ermöglicht die Möglichkeit der Trennung von Mensch und Rolle jedoch, einerseits die in der Rolle formal formulierten und damit zu erfüllenden Anforderungen und andererseits – getrennt von der Rolle – den Menschen in den Blick zu nehmen.

So kann man als Teamleitung gemeinsam mit dem:der Mitarbeiter:in – z.B. in einem Mitarbeitergespräch – überlegen, ob und wie es gelingen kann, trotz der Herausforderungen, die sich z.B. durch die Betreuung der eigenen Kinder ergeben (Personenperspektive), mit den Anforderungen der Arbeit (Rollenperspektive) in Einklang zu kommen. Denkbar wäre, dass die in der Rolle formulierten Aufgaben gemeinsam an die Anforderungen angepasst werden, die der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin erfüllen kann. Denkbar wäre auch, für den:die Mitarbeiter:in eine andere Rolle im Team oder in der Organisation zu finden. Dabei wird nicht die Person als Ganzes in Frage gestellt, sondern es wird versucht, die Anforderungen der Rolle an die Möglichkeiten des:der Mitarbeitenden anzupassen.

Diese eher nüchterne Sicht der Trennung von Person und Rolle ist ein Gegenentwurf zur Ganzheitlichkeit und der oft gehörten Forderung, dass doch der „ganze Mensch“ in die Organisation integriert werden müsse.

Und selbst Frederic Laloux (Autor von Reinventing Organizations) räumt ein, dass „it is a challenge for any organization to create an environment where people feel safe to show up whole“ (Laloux, 2014, 151).

Die drei Seiten einer Organisation

In den Ausführungen oben ist einmal das Wort Informalität gefallen. Was ist denn darunter zu verstehen? Das wird bei den drei Seiten einer Organisation deutlich.

So lässt sich jede Organisation – wenn man den Ausführungen von Kühl und Muster (2015, 17ff) folgt – anhand der Schauseite, der informalen und der formalen Seite beschreiben.

Die Schauseite

Die Schauseite meint die auch von außen sichtbaren Fassaden, die die Organisation öffentlich sichtbar darstellen will. Das sind zum Beispiel der Internetauftritt, die Veröffentlichung von Jahresberichten, von im Netz zugänglichen Leitbildern, aber auch die von außen sichtbaren Gebäude und öffentlich zugänglichen Bereiche einer Organisation. Da ich diese Zeilen gerade in einem Hotel schreibe: Der Blick in das oftmals kaum einsehbare Büro hinter den Hotelrezeptionen dieser Welt (fast jedes Hotel hat hinter der Rezeption ein Büro) zeigt, dass der erste Eindruck, den die Rezeptionen (Schauseite) vermitteln sollen, nicht mit den organisationalen Realitäten der Hotels übereinstimmen. Und vielleicht zeigt sich gerade in Hotels, dass die „Fassaden (…) eine Schutzfunktion [haben]: Sie dienen dazu, den Außenstehenden den Einblick zu verwehren, um in Ruhe Entscheidungen vorbereiten zu können, mögliche Konflikte vor der Außenwelt zu verbergen oder Fehler und Peinlichkeiten zu verheimlichen“ (ebd.). Für den Beitrag hier ist die Schauseite irrelevant, obwohl sie auch in sozialen Organisationen eine große Bedeutung hat.

Die formale Seite

Die formale Seite der Organisation oder kürzer: die Formalstruktur meint dann all das, was in der Organisation als „Mitgliedschaftsbedingungen“ offiziell entschieden wurde. Darunter fallen bspw. Anwesenheitszeiten, die zu erledigenden Aufgaben, die einzuhaltenden Prozesse, wer einem was sagen darf und wer nicht und so weiter. Formalstrukturen sind also all jene Entscheidungen, die in der Organisation entscheidbar sind und entschieden wurden und damit weitere Entscheidungen nach sich ziehen. In vielen Fällen sind diese Entscheidungsprämissen schriftlich niedergelegt, es reicht aber auch, wenn der:die Vorgesetzte eine Anweisung mündlich erteilt.

Die informale Seite

Anzunehmen, dass man eine Organisation einfach bis ins Kleinste „durchregeln“ könnte, wäre jedoch naiv (auch wenn das bspw. in Organisationskonzepten wie Holocracy versucht wird). Denn „das Leben in der Organisation ist viel wilder, als es im schriftlich niedergelegten Regelwerk und den mündlich kommunizierten Anweisungen von Vorgesetzten zum Ausdruck kommt“ (Kühl, 2020, 25). Und damit sind wir bei der informalen Seite der Organisation. Mit der informalen Seite bzw. der Informalität der Organisation ist all das gemeint, worüber keine Entscheidung getroffen wurde – die nicht entschiedenen, aber entscheidbaren sowie die nicht entscheidbaren Entscheidungsprämissen. Informalität als Teil der Organisationsstruktur sind somit die nicht formal entschiedenen Handlungen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten. „Erst wenn ein Deutungsmuster sich nicht nur bei einem einzigen Mitglied findet, sondern sich in Teilen der Organisation als erwartbar eingeschlichen hat, hat es den Status einer informalen Erwartung. Erst wenn die kurzfristige Abstimmung mit der Kollegin in der Nachbarabteilung nicht ausnahmsweise vorgenommen wird, sondern wiederkehrend als ‚kurzer Dienstweg‘ zur Abstimmung genutzt wird, hat man es mit einer informalen Struktur zu tun“ (ebd.). Diese Routinen und Gewohnheiten werden oft und etwas verkürzt als Organisationskultur definiert: „So machen wir das hier eben, damit es funktioniert“ oder auch „Das machen wir schon immer so!“

Nicht entschieden, aber entscheidbar ist häufig bspw. der Umgang mit Arbeitszeit in der Raucherpause. Hier wäre eine Entscheidung möglich, die aber nicht getroffen ist, wodurch es einerseits zu Unstimmigkeiten zwischen den Raucher:innen und den Nichtraucher:innen kommen kann. Hier wäre eine Festschreibung einfach möglich. Andererseits kann es durch die Regelung, dass Raucherpausen von der Arbeitszeit abgezogen werden, zu Folgeproblemen kommen: Wichtige Zeiten für informelle Absprachen gehen verloren. Deutlich wird, dass nicht alles Entscheidbare auch entschieden werden muss – im Gegenteil: Oftmals sind die nicht geregelten Freiräume hochgradig wichtig für das gute Funktionieren einer Organisation.

Und genauso wenig funktional ist es, jede Regelabweichung in einer Organisation automatisch zu sanktionieren. Denn viele (nicht alle!) Regelabweichungen sind für Organisationen hoch brauchbar (vgl. dazu näher Kühl, 2020a). Das gilt auch und insbesondere für Organisationen der Sozialen Arbeit.

Vier verschiedene Typen formaler Organisationsstrukturen

Wichtig ist, dass in Organisationen alle drei beschriebenen Seiten immer zusammenspielen. So hat eine Änderung der Schauseite (bspw. neue Website) ebenso Auswirkungen auf die informale Seite der Organisation wie die Zusammenlegung von Abteilungen. Einzig die „informale Seite“ selbst ist nicht unmittelbar entscheidbar. Vielmehr folgen die informalen Auswirkungen „wie ein Schatten“ den Entscheidungen auf den beiden anderen Seiten bzw. insbesondere den auf der formalen Seite getroffenen Entscheidungen. So hat zwar die Veröffentlichung von einem Leitbild Auswirkungen auf das Verhalten von Mitarbeiter:innen. Diese Auswirkungen werden aber viel weniger unmittelbar sein, als die Auswirkungen auf das Verhalten durch eine von der Vorgesetzten getroffenen Dienstanweisung zur ausschließlichen Nutzung der neuen Präsentationsvorlage – auch wenn diese von nicht allen Mitarbeiter:innen als „schön“ bewertet würde.

Zur Reduktion der Komplexität messe ich den auf der Schauseite möglichen Entscheidungen weniger Bedeutung bei. Wichtig ist aber, dass auch die Entscheidungen auf der Schauseite in der Regel durch Entscheidungen auf der formalen Seite beeinflusst werden. So ist bspw. die Entscheidung, ein neues Leitbild zu erstellen, zunächst eine formale Entscheidung, die dann Auswirkungen auf die Schauseite der Organisation hat. Aber etwas strukturierter:

Wenn man den Ausführungen von Kühl und Muster folgt (vgl. 2016) können Organisationen über drei „grundlegend verschiedene Typen von Organisationsstrukturen entscheiden – oder systemtheoretisch ausgedrückt von „Entscheidungsprämissen“:

  • Programme,
  • Entscheidungswege und
  • Personal.

Programme:

Programme legen fest, „was man in einer Organisation tun darf und was nicht“ (ebd.). Sie lassen sich untergliedern in a) Konditionalprogramme und b) Zweckprogramme.

Konditionalprogramme legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird“ (ebd.). Kurz kann man auch sagen: Alle vorgegebenen und verschriftlichten Prozesse (‚Wenn X passiert, ist Y zu tun!‘) sind Konditionalprogramme.

Zweckprogramme legen demgegenüber fest, „welche Ziele oder Zwecke erreicht werden sollen“ (ebd.). Hier geht es darum, was erreicht werden soll. Das kann auf Ebene der Gesamtorganisation entschieden werden. Wichtig ist aber auch, den Zweck bzw. die Zwecke der einzelnen Einheiten, Teams und Bereiche einer Organisation in den Blick zu nehmen unter der Frage: „Wozu sind wir da?“ Die Mittel und genauen Wege jedoch, wie der Zweck erreicht werden soll, werden in den Zweckprogrammen nicht näher definiert. Es werden damit keine Prozesse beschrieben, wie genau das Ziel bzw. der Zweck zu erreichen ist.

Entscheidungswege:

Entscheidungswege zeigen sich in den Organigrammen der Organisation und sagen aus, wer wem etwas sagen bzw. entscheiden kann, ohne dass dies angezweifelt wird. Hierarchien, Mitzeichnungsrechte oder auch die Kommunikationswege in Projekten, die sich temporär ausbilden, lassen sich als Beispiele für Entscheidungswege anbringen.

Personal:

Organisationen können darüber entscheiden, wen sie einstellen und wen nicht bzw. wen sie entlassen und wen nicht. „Jeder Beobachter kann feststellen, dass in Organisationen nicht nur über Personal entschieden wird, sondern dass Personalentscheidungen wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen in der Organisation sind. Es macht für künftige Entscheidungen einen Unterschied, welche Person die für die Entscheidung zuständige Stelle besetzt“ (ebd.)

Hier kommt dann auch die Haltung, das Mindset, die Persönlichkeit der Menschen wieder ins Spiel – wenn, ja wenn Auswahlmöglichkeiten für die Besetzung einer Stelle zur Verfügung stehen. Da dies jedoch zunehmend weniger der Fall ist, gewinnt eine sinnvolle und damit funktionale Gestaltung insbesondere der Konditionalprogramme eine zunehmend wichtige Bedeutung.

Zusammenfassend lassen sich „Programme, Kommunikationswege und Personal (…) als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen“ (Gesmann, Merchel, 2021, 37)

Über alles weitere, über die Strukturtypen Programme, Entscheidungswege und Personal hinausgehende und damit auch über die Informalität kann nicht formal entschieden bzw. aktiv gestaltet werden. Kurze Dienstwege oder neue Ideen können nicht angeordnet oder strukturell verankert werden ebensowenig wie der regelmäßige Besuch der Currywurstbude zur Mittagspause oder das „agile Mindset“ der vorhandenen Mitarbeiter:innen.

Was sind Organisationen – Zusammenfassung

Auch wenn mir bewusst ist, dass für eine Betrachtung von Organisationen als soziale Systeme noch viel mehr Aspekte zu berücksichtigen sind, um sie in ihrer Ganzheit zu verstehen, hoffe ich, hiermit so etwas wie die Basics zusammengeführt zu haben. Der Beitrag dient damit zum einen dazu, Grundideen dessen, was ich immer wieder in Fort- und Weiterbildungen rund um Fragen der Organisationsentwicklung vermittle, zusammen zu fassen. Zum anderen hoffe ich, damit auch einen Beitrag zur Steigerung des nicht unbedingt ausgeprägten Organisationsbewusstseins für Menschen im Gesundheits- und Sozialwesen zu leisten. Dieses Organisationsbewusstsein wird aufgrund der spezifischen Herausforderungen und der Besonderheiten, die Organisationen der Sozialen Arbeit aufweisen, in der heutigen Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen. Hier reicht allein der Gedanke an den Fachkräftemangel und die damit einhergehenden Notwendigkeiten der Neu- und Umgestaltung der formalen Strukturen der Organisation.

Und jetzt freue ich mich, von Dir zu hören und zu lesen, welche weiteren Aspekte beim Blick auf Organisationen zu berücksichtigen sind. Schreib‘ dazu doch gerne hier in die Kommentare, per Mail oder in den sozialen Medien. Freu mich drauf und Danke schon jetzt!

Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet/. Download am 15.11.2023.
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Göpel, M. (2022): Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein.
  • Kühl, S., Muster, J. (2016): Organisationen gestalten: eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Management kompakt. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kühl, S. (2020): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kühl, S. (2020a): Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen. Working Paper 4/2020. URL: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/soziologie/fakultaet/personen/kuehl/pdf/Kuhl-Stefan;-Working-Paper-4-2020-Brauchbare-Illegalitat-Weswegen-sich-Regelbruche-nicht-vermeiden-lassen.pdf. Download am 05.09.2023.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brüssel: Nelson Parker.
  • Spiegel, Hiltrud von (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München.
  • Richter, T., Groth, T. (2023): Wirksam Führen Mit Systemtheorie : Kernideen Für Die Praxis. Erste Auflage. Carl-Auer Verlag; 2023.
  • Wimmer, R. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft: Maßnahmen der Organisationsentwicklung

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Mit Blick auf meine Beratungsaufträge der letzten Monate ist es spannend zu sehen, dass immer mehr soziale Organisationen der Sozialwirtschaft, Vereine und Verbände, die soziale, personenbezogene Dienstleistungen erbringen, Unterstützung bei der Frage suchen, wie ein guter Generationswechsel gelingen kann bzw. wie die Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Interessant ist, dass zwar in jedem Verein und in jeder Organisation der Zeitpunkt kommt, an dem die bisherigen Vorstandsmitglieder oder die Geschäftsführung ausscheiden. Eine Besonderheit von Organisationen und Verbänden der Sozialwirtschaft liegt aus meiner Sicht aber (unter anderem) in der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit insgesamt.

Im Folgenden werde ich einleitend auf diese historischen Entwicklungen eingehen, um darauf aufbauend die Ziele der Nachfolgeplanung zu beschreiben. Anschließend skizziere ich konkrete Maßnahmen der Organisationsentwicklung, die aus meiner Sicht grundlegend sind, um Nachfolgeplanung gelingen zu lassen.

Historischer Blick auf die Entwicklung von Organisationen der Sozialwirtschaft

Nein, ich werde hier nicht die Gesamtentwicklung der Sozialen Arbeit darlegen. Hier zum Beispiel kann man dies viel besser nachlesen.

Mich interessiert hier die historische Entwicklung der Sozialen Arbeit in den 1970/1980er Jahren.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass die deutschen Fachhochschulen, die heute teilweise als Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bezeichnet werden, in den 1970er Jahren aus verschiedenen Bildungseinrichtungen wie Ingenieurschulen, Akademien und Höheren Fachschulen für Gestaltung, Sozialarbeit oder Wirtschaft hervorgegangen sind.

Die Einrichtung dieses eigenständigen Hochschultyps wurde durch eine Grundsatzerklärung der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1968 beschlossen. Am 31. Oktober 1968 wurde das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Fachhochschulwesens“ verabschiedet und damit der Grundstein für den Aufbau der Fachhochschulen gelegt. Es folgten entsprechende Vereinbarungen in den einzelnen Bundesländern (vgl. näher hier).

Für die Soziale Arbeit erfolgte damit „ein wichtiger Schritt zur Akademisierung und Verwissenschaftlichung, der getragen war von einem zunehmenden Professionalisierungsbedürfnis innerhalb der Sozialen Arbeit und begünstigt vom fortschrittsorientierten bildungspolitischen Klima der Zeit“ (Kruse, 2008, 42).

Diese Entwicklungen in Verbindung mit Sparmaßnahmen (z.B. aufgrund der Ölkrise) und der demographischen Entwicklung („Baby Boomer“), die sich auf den Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit auswirkten, führten dazu, dass ab Mitte/Ende der 70er Jahre Absolventinnen und Absolventen begannen, in Eigeninitiative erfolgreich soziale Organisationen aufzubauen.

Ausgehend von einem rund 40-jährigen Berufsleben wird deutlich, dass die Menschen, die damals die heute zum Teil großen Organisationen und Verbände auf den Weg gebracht haben, kurz vor oder bereits im Ruhestand sind.

Die Notwendigkeit, Nachfolgeregelungen aktiv anzugehen, wird daher seit einigen Jahren deutlich. Oder, wie Hamm et al. (2021, V) in ihrem Vorwort betonen:

„Eine Gründergeneration, die den sozialen und Bildungsbereich in seinen feinsten Unterscheidungen aufgebaut und geprägt hat, geht in den Ruhestand. Wir wissen es schon lange und die Zeit zum Handeln ist gekommen.“

Klar ist aber auch, dass die Nachfolgeplanung in eine Zeit fällt, die diese Nachfolge alles andere als einfach macht. Denn nicht nur die „Gründer:innen“ von damals gehen in den Ruhestand und suchen Nachfolger:innen. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft gerade am Anfang steht und enorme Auswirkungen haben wird.

Daraus wiederum folgt, dass ein einfaches „Weiter so!“ oder auch ein „business as usual“ aufgrund fehlender Fachkräfte und deren geänderten Anforderungen an die Übernahme von Verantwortung insbesondere in kleinen und mittleren sozialen Organisationen und Vereinen nicht funktionieren kann. Es ist schon jetzt und wird auch in Zukunft nicht möglich sein, „einfach“ die Nachfolger:innen zu bestimmen und erwarten zu können, dass der Verein oder die Organisation weiterhin „funktioniert“.

Vielmehr gilt es, die Ziele der Nachfolgeplanung für die eigene Organisation zu definieren und darauf aufbauend Maßnahmen der Organisationsentwicklung abzuleiten, damit diese Ziele erreicht werden können und das Überleben der Organisation nachhaltig gesichert werden kann.

Was aber sind die Ziele der Nachfolgeplanung in Verbänden und Organisationen der Sozialwirtschaft?

Ziele der Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft

Die Ziele der Nachfolgeplanung lassen sich übergreifend wie folgt zusammenfassen:

Kontinuität sichern: Wesentlich ist natürlich die Gewährleistung einer nahtlosen Fortführung der Aktivitäten des Vereins bzw. der Organisation bei Änderungen im Vorstand und Geschäftsführung. Das gilt zwar immer, wird aber insbesondere dann, wenn der Verein bzw. die Organisation bislang im Wesentlichen durch die Gründungspersönlichkeit geprägt wurde, zu einem Kernaspekt der Nachfolgeplanung.

Talententwicklung fördern: Um die Kontinuität sicherstellen zu können, ist es unabdingbar, frühzeitig in die Identifizierung, Entwicklung und Förderung von talentierten Mitarbeiter:innen zu investieren, um sicherzustellen, dass qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen bereitstehen.

Wissenstransfer sicherstellen: Der Wissenstransfer umfasst die Übertragung von spezifischem Fachwissen, Erfahrungen und dem Wissen über Netzwerke von erfahrenen Führungskräften auf die nächste Generation.

Risikominderung: Die Reduzierung der Risiken, die mit erwarteten und unerwarteten Abgängen von Schlüsselpersonen verbunden sind, sichert wiederum die Kontinuität. Dies kann zum einen durch den Aufbau einer „Pipeline von qualifizierten Nachfolger:innen“ geschehen. Zum anderen ist aber der Aufbau eines funktionalen Prozessmanagements hilfreich, über das sichergestellt wird, dass die Arbeit schnell und reibungslos fortgeführt wird.

Unternehmenskultur bewahren: Hier bin ich zweigespalten. So kann die Sicherstellung, dass Werte und Kultur auch während des Übergangs aufrechterhalten werden, wichtig sein, um die Verunsicherung durch den Wechsel nicht zu groß werden zu lassen, hoch relevant sein. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, gerade den Neubeginn und die sich damit verändernde Kultur zu befördern.

Steigerung der Mitarbeiterbindung: In Phasen des Übergangs gilt es, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für Mitarbeiter:innen zu schaffen, um ihre Bindung an die Organisation zu fördern. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels ist dies effizienter und effektiver, als auf neue Mitarbeiter:innen zu hoffen, die komplett neu eingearbeitet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Weggang von Mitarbeiter:innen immer auch mit einem Weggang von Erfahrungswissen und Kompetenzen verbunden ist.

Strategische Orientierung unterstützen: Auch in Übergangsphasen ist darauf zu achten, dass die Nachfolgeplanung im Einklang mit den strategischen Zielen des Verbandes bzw. der Organisation steht und die langfristige Entwicklung unterstützt.

Transparenz und Fairness gewährleisten: Bei dem oben erwähnten Aufbau von Nachfolger:innen ist es relevant, transparente und faire Prozesse für die Auswahl der Personen zu entwickeln, um das Vertrauen aller Mitarbeiter:innen zu stärken und mögliche Konflikte zu minimieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das SCARF-Modell, in dem Fairness explizit als Grundlage für die Aufrechterhaltung der Motivation der Mitarbeiter:innen betont wird.

Sicherstellung der Compliance: Es ist selbstverständlich, dass auch bei der Nachfolge sichergestellt werden muss, dass gesetzliche Anforderungen und Governance-Standards in Bezug auf die Planung und Dokumentation des Nachfolgeprozesses eingehalten werden.

Diese Ziele können je nach Tätigkeitsfeld, Größe und Ausrichtung der Organisation bzw. des Verbandes sowie aufgrund individueller Gegebenheiten variieren. Unabhängig davon ist eine effektive Nachfolgeplanung jedoch unerlässlich, um die Stabilität, Kontinuität und Entwicklungsfähigkeit der eigenen Organisation bzw. des eigenen Verbandes sicherzustellen.

Auch wenn oben bereits einige Aspekte angesprochen wurden, möchte ich im Folgenden explizit Maßnahmen der Organisationsentwicklung beschreiben, die für die Nachfolgeplanung im Verein bzw. in der Organisation angegangen werden können.

Maßnahmen der Organisationsentwicklung bei der Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft

Jede Organisation, jeder Verein, jeder Verband ist anders. Dies ist zwar eine Binsenweisheit, führt aber dazu, dass pauschale Antworten auf die Frage, wie eine erfolgreiche Nachfolgeplanung aussehen kann, nicht verallgemeinert werden können.

Entsprechend folgt auch die Organisationsentwicklung zur Gestaltung der Nachfolge dem „allgemeinen Vorgehen“ der Organisationsentwicklung. Am Anfang steht eine mehr oder weniger intensive Organisationsanalyse, um die Problemstellung („Was ist das Anliegen/Problem?“) zu verstehen. Damit einher geht die Zielklärung („Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?“).

Aufbauend auf der Analyse der Ausgangssituation erfolgt die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung („Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen? Welche Maßnahme(n) wählen Sie?“). Dies wiederum ist verbunden mit der zeitlichen, personellen und finanziellen Planung der Umsetzung („Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?“).

Danach erfolgt die Umsetzung der Maßnahmen sowie die Kontrolle der Umsetzung („Sind festgestellte Abweichungen zwischen dem ursprünglichen Plan und dem aktuellen Stand Anlass für Korrekturen?“).

Den Abschluss bilden die Evaluation, die Reflexion und der Transfer der Ergebnisse („Nach welchen Kriterien ist der Prozess erfolgreich? Haben wir das Ziel erreicht? Was haben wir individuell und kollektiv aus dem Prozess gelernt? Auf welche anderen Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen anwendbar/übertragbar?“) nicht vernachlässigt werden. Aus der Evaluation werden dann die nächsten Schritte abgeleitet.

Hier habe ich diese „allgemeinen Schritte“ gelingender Organisationsentwicklung in einem fünfstufigen Modell beschrieben.

Spezifisch bezogen auf die Möglichkeiten der Nachfolgeplanung zeigen sich übergreifend folgende Maßnahmen als wirksam:

Definition von Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen

Auch wenn dies als Grundlage für funktionierende Organisationen angesehen werden kann, ist es zunächst wichtig, sich mit den Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen der Organisation bzw. des Verbandes auseinanderzusetzen und diese so zu gestalten, dass allen Beteiligten klar ist, was der Zweck des Verbandes ist, wer wofür verantwortlich ist und welche Regeln, Prozesse und Routinen eingehalten werden müssen.

Hier findest Du einen Beitrag zum GRPI-Modell, das die Bedeutung von Zielen, Zuständigkeiten, Prozessen und der Kommunikation in Teams und Organisationen hervorhebt und eine einfache, aber gute Orientierung für die Gestaltung gelingender Teams und Organisationen bietet.

Besonderes Augenmerk ist in diesem Schritt auf die Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Vorstand und Geschäftsführung zu legen. Erst darüber wird transparent, welche Anforderungen an die Nachfolger:innen gestellt werden. Gerade in über Jahrzehnte gewachsenen und von Gründungspersönlichkeiten getragenen Organisationsstrukturen werden viele Aspekte implizit gelebt und nicht mehr explizit ausformuliert, was zu echten Herausforderungen für Nachfolger:innen führt.

Übergreifend geht es bei diesem Aspekt um die Gestaltung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsstrukturen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fördern, um den Zweck der Organisation bzw. des Vereins auch in Zukunft angemessen verfolgen zu können.

Entwicklung von Kompetenzprofilen

Gerade dann, wenn es um die Nachfolge von komplexen Führungspositionen geht, kann es sehr sinnvoll sein, basierend auf den definierten Zielen, Prozessen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten Kompetenzprofile für die potentiellen Nachfolger:innen zu entwickeln. Auch wenn es niemals möglich sein wird, die eierlegende Wollmilchsau aka neue Führungskraft zu finden, kann das Kompetenzprofil die fachlichen, sozialen und persönlichen „Mindest-Kompetenzen“ der Nachfolger:innen beschreiben.

Aufbau eines Talentpools

Auch wenn es sich hierbei eigentlich um eine Binsenweisheit handelt, sei darauf hingewiesen, dass es für eine gute Auswahl an potenziellen Nachfolgekandidaten wichtig ist, sich frühzeitig mit dem Thema Nachfolge auseinanderzusetzen und einen Talentpool aufzubauen. In diesem Talentpool können Mitarbeiter:innen der Organisation bzw. des Vereins, die für eine Nachfolge in Frage kommen, erfasst und entsprechend auf die kommende(n) Führungsposition(en) vorbereitet werden.

Förderung der Nachwuchsarbeit

Zum vorherigen Aspekt gehört zwangsläufig die Förderung der Nachwuchsarbeit im Verein bzw. der Organisation. Dies kann durch Angebote wie Mentoring-Programme oder (sinnvolle) Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen. Bezüglich der Weiterbildungsmaßnahmen macht es Sinn, sich mit dem „New Learning“ zu beschäftigen: Es geht darum, die Herausforderungen des Wandels von Organisationen und die Prinzipien einer zeitgemäßen und bedarfsgerechten Organisationsgestaltung mit der Frage zu verbinden, wie wir als Individuen und als Organisationen heute und in Zukunft sinnvoll lernen.

Dabei geht es insbesondere um den Wandel von tayloristisch geprägten, top-down organisierten und vorgegebenen Lernsettings hin zu bedarfsorientierten, dynamik- und komplexitätsrobusten, kollaborativen Lernökosystemen. Lernen und Weiterbildung wird damit zu einem möglichst selbstbestimmten und sozialen Prozess, der bedürfnis- bzw. problemorientiert an realen Herausforderungen anknüpft (vgl. Foelsing, Schmitz, 2021, 107).

Bei der Nachwuchsarbeit ist auch an Mentoring-Programme zu denken, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen von erfahrenen Führungskräften lernen. Die technologischen Möglichkeiten (z.B. virtuelle Plattformen, Kollaborationstools und künstliche Intelligenz) bieten hier neue Chancen, um den Wissenstransfer zu fördern. Genauso können aber auch Reverse-Mentoring-Programme implementiert werden, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen erfahrene Führungskräfte in Bezug auf aktuelle Technologien, Trends und Perspektiven schulen.

Erstellung eines Nachfolgeplans

Auf Grundlage der oben genannten Maßnahmen kann ein Nachfolgeplan erstellt werden. Dieser Nachfolgeplan sollte einen Zeitplan für die Nachfolgeregelung sowie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Nachfolger:innen enthalten.

Fazit zur Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft

Hamm et al. (2021, 354) bringen es auf den Punkt:

„Die Führungsebene in sozialen Organisationen besteht in ihrer Konstellation teilweise seit Jahrzehnten und ist aufeinander abgestimmt. Die Nachfolgeplanung in solchen Settings ist nur schwer denkbar ohne:

  • Anpassungen in den organisationalen und
  • personellen Strukturen.“

Bei der Anpassung der organisationalen (und der in diesem Beitrag weniger beleuchteten personellen) Strukturen ist jedoch nochmals zu betonen, dass es notwendig ist, die Individualität der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Verbandes in den Blick zu nehmen.

Ausgehend von den jeweils individuellen personellen und finanziellen Möglichkeiten und gegebenen Strukturen sowie ausgehend vom jeweiligen Arbeitsfeld mit seinen rechtlichen Rahmenbedingungen ist zu analysieren, wo die Organisation steht (Organisationsdiagnose zur Ist-Analyse). Darauf aufbauend können dann hypothesengeleitet funktionale Anpassungen und Weiterentwicklungen erprobt und umgesetzt werden.

Die skizzierten und sicherlich nicht abschließenden Maßnahmen zur Organisationsentwicklung im Rahmen der Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft – in Vereinen, Verbänden und Organisationen der Sozialen Arbeit – sind dementsprechend als Anregungen zu verstehen, welche wesentlichen Optionen ergriffen werden sollten, um die eigene Organisation, den Verband bzw. den eigenen Verein auch nach dem Ausscheiden der Gründerpersönlichkeiten zukunftsfähig und organisational resilient zu gestalten.

P.S.: Steht Deine Organisation ebenfalls vor der Frage der Nachfolgeplanung? Dann lass uns dazu sprechen, ob ich Dich und Deine Organisation dabei unterstützen kann. Dazu einfach hier ein kostenloses und unverbindliches Gespräch terminieren.

Quellen:

  • Foelsing, J., Schmitz, A. (2021): „New Work braucht New Learning – Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten“. Wiesbaden: Springer.
  • Hamm, M., Heider-Winter, C., Leu, N.-A. (Hrsg., 2021): Strategische Nachfolgeplanung in Non-Profit-Organisationen. Fit für den Generationswechsel im Gemeinnützigkeitsbereich. Berlin: Springer Gabler.
  • Kruse, E. (2008): Das Studium der Sozialen Arbeit. Sozial Extra 32, 39–43.

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048, oder: Die Problemlösungen von heute sind die Lösungsprobleme von morgen!

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Vor Kurzem wurde ich angefragt, einen Beitrag für die Zeitschrift „FORUM sozial – Die Fachzeitschrift des DBSH“ zu verfassen. Dabei sollte es um die Frage gehen, wie ich mir soziale Organisationen im Jahr 2048 vorstelle. Zentral dabei sollte die Frage sein, wie sich Organisationen der Sozialen Arbeit entwickeln müssen, um die Herausforderungen im Jahr 2048 bewältigen zu können. 2048 – das ist ein Blick 25 Jahre in die Zukunft. Diese ist aber, wenig verwunderlich, zukünftig. Ich aber denke aus der Gegenwart, basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit und den absehbaren, kurzfristigen Herausforderungen. Und trotzdem habe ich versucht, meine Sicht auf „utopische Organisationen der Sozialen Arbeit“ zu werfen.

Der Beitrag ist dann aber etwas lang geworden, so dass ich noch einmal in die Überarbeitung gehen musste. Entsprechend findest Du hier die „long version“ und im Frühjahr 2024 dann den Beitrag in der Zeitschrift „FORUM sozial“. Jetzt aber los:


„Könnten wir eine kraftvollere, gefühlvollere und sinnvollere Art der Zusammenarbeit erfinden, wenn wir nur unser Glaubenssystem ändern?“

Laloux, F., 2014

Die Ausführungen von Frederic Laloux in seinem 2014 erschienenen Buch „Reinventing Organizations“ haben mich fasziniert. Im Kontext „sozialer Organisationen“ ist da vor allem Buurtzorg  als Vorreiterorganisation zu nennen. Buurtzorg ist eine niederländische Organisation im Arbeitsfeld der ambulanten Pflege mit mehr als 10.000 Mitarbeiter:innen, die in selbstorganisierten Teams zusammenarbeiten.

Das klingt doch schon sehr utopisch, oder?

Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der evolutionäre Zweck der Organisation

Laloux beschrieb 2014 drei wesentliche Durchbrüche (vgl. Laloux, 2014, 55ff) „neuer“ Organisationen:

  • – Selbstorganisation,
  • – Ganzheitlichkeit und
  • – die Orientierung am evolutionären Zweck der Organisation.

Für mich waren die Ausführungen von Laloux mehr als Utopie:

Sie passten – aus meiner damaligen Sicht – vielmehr „wie die Faust auf’s Auge“ oder besser: auf die von mir gesehenen Herausforderungen sozialer Organisationen.

Herausforderungen bestanden darin, so meine damalige Annahme, dass soziale Organisationen zu hierarchisch, zu langsam, zu wenig innovativ, zu reguliert, zu starr, zu you name it… wären, um die Dynamik und Komplexität der unterschiedlichen Arbeitsfelder in einer Welt im Wandel bewältigen zu können. Hier wäre die von Laloux beschriebene Selbstorganisation doch „der Hammer“?! Menschen entscheiden selbst, vor Ort, an der Basis, was zu tun ist?!

Meine Annahme bestand außerdem darin, dass die seit Jahren hohen Burnout-Raten der Mitarbeiter:innen daraus resultierten, dass es ihnen nicht möglich ist, ihre in der Organisation nicht gewünschten, aber in ihnen verborgenen Kompetenzen und Fähigkeiten zu zeigen. Wenn aber die empfundene Dissonanz zwischen dem, was tagtäglich getan werden muss und dem, was aus der Professionalität der individuellen Organisationsmitglieder fachlich als sinnvoll erachtet wird, permanent zu groß ist, ist Burnout doch vorprogrammiert, oder? Hier wäre die von Laloux beschriebene Einbeziehung des „ganzen Menschen“ doch der perfekte Lösungsansatz, oder? Und dies vor allem in Organisationen, in denen „der Mensch im Mittelpunkt“ steht?

Und ferner bestand meine Annahme darin, dass die Bedarfe der Klient:innen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt würden. Wenn es gelänge, soziale Organisationen zu gestalten, die ihren „evolutionären Zweck“ verfolgten, dann müsste es gelingen, diese Herausforderung zu bewältigen und wirklich soziale Probleme zu lösen, oder?

Kurz: Meine Utopie bestand aus sozialen Organisationen, in denen Menschen ganzheitlich und vertrauensvoll zusammenarbeiten, um darüber dem Zweck der Organisationen zu dienen, denn, so Laloux (ebd., 83), “when organizations are built not on implicit mechanisms of fear but on structures and practices that breed trust and responsibility, extraordinary and unexpected things start to happen.

Warum sich meine Sicht auf soziale Organisationen gewandelt hat

Inzwischen, fast 10 Jahre nach dem Erscheinen von „Reinventing Organizations“ und der Befassung mit der Frage der theoretischen und praktischen Gestaltung von Organisationen in Verbindung mit den Besonderheiten von Organisationen der sozialen Arbeit, hat sich meine Sicht zu Teilen radikal gewandelt.

Der Wandel basierte insbesondere auf der Auseinandersetzung mit der Frage, was Organisationen eigentlich sind und wie sie sich verändern lassen. Und, wenig überraschend:

Diese Fragen hatten sich schon (viele) Menschen vor mir – und vor Laloux – gestellt.

Mich faszinierten und faszinieren in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen rund um die Systemtheorie. Wenn hier noch die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit hinzugezogen werden, wird es zwar komplex, aber ebenso Augen öffnend (vgl. für einen sehr guten Überblick bspw. Gesmann, Merchel, 2019).

Entsprechend folgt hier eine Skizze dessen, was Organisationen sind, wie diese zu verändern sind und an der einen oder anderen Stelle auch der Blick auf die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit.

Am Ende gibt es dann aber doch noch einen kleinen, vielleicht ernüchternden, hoffentlich aber ermutigenden Blick auf meine Vorstellung utopischer Organisationen der Sozialen Arbeit.

Nehmt den Menschen aus dem Mittelpunkt, oder: Was sind Organisationen?

Ganz grundlegend (und verkürzt) lassen sich Organisationen (aus Perspektive der Systemthorie – vgl. bspw. Kühl, 2016, 18) als „soziale Systeme“ verstehen, die sich darüber definieren, dass sie sich zur Umwelt abgrenzen, einen oder mehrere Zwecke verfolgen, im Gegensatz zu bspw. Familien eine formale Struktur aufweisen und Mitgliedschaftsbedingungen formuliert sind. Das ist wenig überraschend.

Überraschender ist da schon die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen. Organisationen bestehen aus Entscheidungen, die in den formalen und informalen Strukturen der Organisation (teilweise schriftlich, teilweise mündlich) manifestiert sind.

Das wirkt auf den ersten Blick „unmenschlich“. Aber wenn man versucht, den Menschen „aus dem Mittelpunkt“ der Organisation zu nehmen, ergeben sich enorme Vorteile für das Be- und Verstehen von Organisationen, denn:

Wenn eine Organisation aus Menschen bestünde, ergäben sich bei jedem Weggang von Menschen aus der Organisation Lücken, die niemals von anderen Menschen gefüllt werden könnten, da Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit nun mal sehr verschieden sind. Mehr noch:

Wenn Organisationen um einzelne Menschen herum gebaut werden (was dann und wann bspw. bezogen auf Gründer:innen zu beobachten ist), „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (Wimmer, 2019). Katastrophal wird es für die Organisation vor allem dann, wenn nach Weggang einer oder mehrerer Personen ihr Überleben gefährdet ist.

Anstatt also als „ganzer Mensch“ Teil der Organisation zu werden, übernehmen Menschen Rollen in der Organisation. Sehr einfach ausgedrückt wird man nicht als „Klaus“ oder „Claudia“ eingestellt, sondern – hoffentlich unabhängig vom Geschlecht – in der Rolle als „Sozialarbeiter:in“.

Das ist zum einen ein Gegenentwurf zu Laloux’s Ganzheitlichkeit, wobei er zumindest sieht, dass seine Idee eine echte Herausforderung ist:

„It is a challenge for any organization to create an environment where people feel safe to show up whole.“

Laloux, 2014, 151

Zum anderen zeigt der Blick auf die Spezifika sozialer Organisationen, dass wir mit dem „Herausnehmen des Menschen aus dem Mittelpunkt“ echte Probleme haben.

So erfüllen Sozialarbeiter:innen zwar als Mitglieder der Organisation die in der Stellenbeschreibung (oft diffus) formulierten Anforderungen. Gleichzeitig aber dient in der Sozialen Arbeit „die Person als Werkzeug“ (vgl. bspw. Spiegel 2008, S. 101 f.), wodurch eine Trennung von Person und Rolle erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Daraus resultiert eine auf Seiten der Mitarbeitenden schwer auszuhaltende Konfusion zwischen den Anforderungen der Organisation, den Bedarfen der Klientel und den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen. Auf Seiten der Organisation entsteht eine „dominierende Informalität“ (vgl. näher dazu Epe, 2022). D.h., dass die Einhaltung der von der Organisation entschiedenen Regeln, Vorgaben und verbindlichen Absprachen als nachrangig bzw. unwichtiger gesehen wird als das individuelle, teilweise sehr spontane und damit wenig planbare „Helfen wollen“ im Sinne der Klientel.

Im Übrigen sind die Rolle bzw. Stelle selbst, aber auch die in der Stellenbeschreibung festgehaltenen „formalen Erwartungen“ Beispiele für die Entscheidungen, aus denen Organisationen bestehen.

Wie können Organisationen verändert werden?

Auch wenn die Ausführungen sehr verkürzt waren, zeigt die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen bestehen, den Ansatzpunkt für die Veränderung und Entwicklung von Organisationen.

Das klingt wiederum zunächst trivial: Wenn in der Organisation entschieden wird, „anders“ zu sein, dann funktioniert das auch. So könnte die Entscheidung getroffen werden, zukünftig anders, agil, innovativ, selbstorganisiert, vielleicht sogar „ganzheitlich“ zu arbeiten – und dann wird das so gemacht, fertig.

Die Realität in Organisationen wiederum zeigt jedoch, dass es so leicht eben nicht ist. Das resultiert daraus, dass zwischen mehreren sog. „Entscheidungsprämissen“ unterschieden werden muss, die den Spielraum für konkrete Entscheidungsmöglichkeiten festlegen. Zu unterscheiden sind zunächst a) prinzipiell unentscheidbare Entscheidungsprämissen und b) prinzipiell entscheidbare Entscheidungsprämissen. Das klingt holprig, das Gemeinte wird aber an folgendem Beispiel deutlich:

Als Führungskraft möchte man entscheiden, dass ab morgen alle Mitarbeitenden innovativ sind. Jedoch ist das Generieren neuer Ideen a) prinzipiell nicht entscheidbar, auch wenn dies schön wäre. Genauso wenig kann über die Haltung oder das „Mindset“ der Mitarbeiter:innen entschieden werden wie darüber, dass sie „nett“ miteinander umgehen, oder dass sich die vorhandene Organisationskultur gefälligst in eine vorab festgelegte Richtung zu ändern hat.

Die b) prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen in Organisationen sind wiederum zu unterteilen in i) prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämissen sowie in ii) prinzipiell entscheidbare, jedoch nicht entschiedene Entscheidungsprämissen. Hier sind wiederum viele Beispiele denkbar:

Die schon angesprochene Beschreibung der Stelle der Sozialarbeiter:in ist eine prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämisse wohingegen oftmals nicht offiziell entschieden wurde, dass Raucherpausen als Arbeitszeit geduldet und nicht von den Pausenzeiten abgezogen werden. Diese Entscheidung kann auch anders getroffen werden – sie ist damit prinzipiell entscheidbar, hier jedoch nicht entschieden.

Das klingt an dieser Stelle noch sehr theoretisch, eröffnet aber den Blick auf das, was zur Entwicklung von Organisationen entschieden werden kann. Das lässt sich kurz zusammenfassen:

Alle Entscheidungen, die den prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zugeordnet werden können, tragen zur Entwicklung und Veränderung von Organisationen bei. Insbesondere lassen sich die folgenden vier prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen unterscheiden:

  1. Zweckprogramme: Hier wird entschieden, welche Ziele oder Zwecke in der Organisation erreicht werden sollen.
  2. Konditionalprogramme: Vorgaben, Regeln und Prozesse der Organisation. Sie legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird.
  3. Entscheidungswege: Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Hierarchien, Mitzeichnungsrechte und damit, verkürzt, das Organigramm.
  4. Personal: Hier kommt „der Mensch“ wieder ins Spiel, denn es macht für Organisationen einen großen Unterschied, wer welche Stelle wie ausfüllt. Unter den Bedingungen des Fachkräftemangels ergeben sich hier jedoch Probleme, wenn nicht mehr ausgewählt werden kann, sondern Menschen bspw. aufgrund von Fachkraftquoten eingestellt werden müssen.

Fraglich bleibt leider, was wie entschieden und damit formalisiert werden sollte und welche prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen besser nicht entschieden werden.

Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen!

So gibt es bezogen auf Zweck- und Konditionalprogramme, auf Entscheidungswege und das Personal leider nicht die eine „richtige Entscheidung“, da fraglich ist, was für die jeweils sehr individuelle Organisation unter ihren je spezifischen Bedingungen richtig ist. Das ist interessant, wenn man auf die aktuell sehr populären „Management-Moden“ schaut:

Agiles Management und agile Organisationen, „teal organizations“ (vgl. Laloux, 2014, 43ff), demokratische Organisationen, Holocracy, „irgendwas mit New Work“ und Vieles mehr wollen oftmals Lösungen sein für in der eigenen Organisation vielleicht gar nicht existierende Probleme. Aber wenn doch selbst die Apotheken-Umschau (im November 2022) ihren Titel mit „New Work“ schmückt – dann muss an dem New Work doch was dran sein, oder etwa nicht?

Nein, denn der Blick auf die oben skizzierten, in Organisationen prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zeigt, dass dort ein „richtig“ nicht propagiert wird. Vielmehr geht es darum, für die jeweilige Organisation zu analysieren, zu bewerten und dann zu entscheiden, was funktional sein könnte. Daraus folgt, dass es OK ist, wenn Entscheidungswege steil oder flach sind und es ebenso OK ist, wenn in der einen Organisation viele, in der anderen hingegen wenige Regeln, Vorgaben und definierte Prozesse existieren. Es kann auch Organisationen geben, die nur einen Zweck verfolgen und Organisationen, die mehrere Zwecke in unterschiedlichen Bereichen verfolgen.

Man kann sich Organisationsentwicklung somit vorstellen wie das, was ein DJ an einem Mischpult betreibt: Es kann der Regler „Zwecke“, der Regler „Entscheidungswege“, der Regler „Konditionalprogramme“ oder auch der Regler „Personal“ bewegt / verändert werden.

Wichtig ist, dass die Veränderungen eines Reglers Auswirkungen auf die anderen Regler hat oder, anders formuliert: „Jede Veränderung eines Strukturaspekts hat (…) mehr oder minder starke Auswirkungen auf die anderen Strukturaspekte“ (Kühl, 2016, 29) – es bleibt jedoch unklar, welche Auswirkungen genau dies sein werden. Anders formuliert folgt daraus, dass „es ’normal‘ ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden“ (Göpel, 2022, 33).

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

Anstatt „Management-Moden“ und utopische Vorstellungen von Organisationen zu verfolgen, ist die zu beantwortende Frage gelingender Organisationsentwicklung:

Passen die Konditionalprogramme, Entscheidungswege und das Personal zu den von der Organisation verfolgten Zwecken oder (wo) sind Veränderungen vorzunehmen?

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit

Aber was heißt das jetzt für meine Vorstellung „utopischer“ sozialer Organisationen? Habe ich kein zukünftiges Wunschbild sozialer Organisationen, das zwar – wie für Utopien üblich – wahrscheinlich nicht realisiert werden kann, aber als Orientierung gebender „Nordstern“ dienen könnte?

Doch, das habe ich, aber es ist deutlich nüchterner, als vielleicht erwartet:

Meine Utopie von Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048 sind Organisationen, die dazu beitragen, dass soziale Entwicklungen und der soziale Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen wirklich gefördert werden. Als Orientierung für die Organisationen dienen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt.

Ob diese Organisationen nun klassisch hierarchisch strukturiert sind, agile Strukturen aufweisen, wenige oder viele Regelungen und Vorgaben von den Mitarbeiter:innen abverlangen, irgendwas mit New Work zu tun haben oder nicht, ist zweitrangig.

Zum einen ist es viel wichtiger, ein „Organisationsbewusstsein“ für soziale Organisationen zu entwickeln: Es ist und bleibt auch in Zukunft auf allen Ebenen sozialer Organisationen, insbesondere aber für Führungskräfte, relevant zu verstehen, was eine Organisation ist und wie „die Einstellungen des Mischpults“ verändert werden können / sollten / müssten.

Zum anderen ist mir wichtig, dass es den Menschen, die für die Führung und Gestaltung sozialer Organisationen Verantwortung tragen (und damit eigentlich allen Mitarbeiter:innen), gelingt, Motivation, Kraft, Mut und Optimismus aufrechtzuerhalten. Denn nur damit ist die kontinuierliche Arbeit an der zeitgemäßen und bedarfsgerechten Gestaltung sozialer Organisationen unter den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Sozialwirtschaft zu bewältigen.

Nebenbei bemerkt: Meine Utopie sozialer Organisationen ist nur eine kleine Abwandlung der deutschsprachigen Definition Sozialer Arbeit, die in meinen Augen als zeitlose Orientierung für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit dienen und ebenso wunderbar als Orientierung für Entscheidungen in sozialen Organisationen herangezogen werden kann.


Wie aber sieht Deine Utopie sozialer Organisationen aus? Freue mich auf deinen Kommentar dazu…


Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet/. Download am 15.11.2023.
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Göpel, M. (2022): Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brüssel: Nelson Parker.
  • Spiegel, Hiltrud von (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München.
  • Wimmer, R. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Sieben Gründe, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

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Barcamps sind nichts Neues. Den Ausführungen von Simon Dückert folgend lassen sich erste Ideen dazu bis ins Jahr 1998 zurückverfolgen. Wir waren etwas später dran, aber Sabine und ich haben immerhin im Jahr 2016 das erste #Sozialcamp (unter dem Link mein Review aus 2016) ins Leben gerufen. Und ich bin immer wieder geflasht von der Kraft des Formats Barcamp. Deswegen will ich Dir hier – angelehnt an die Ausführungen in meinem letzten Newsletter – darlegen, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind.

Aktuell denke ich übrigens wieder darüber nach, ein offenes Barcamp-Format für die Soziale Arbeit ins Leben zu rufen (da das Sozialcamp leider durch Corona ziemlich gelitten hat ;-( Außerdem war ich gerade unterwegs in einer „Barcamp-Woche“. Konkret durfte ich in den letzten Tagen zwei Barcamps moderieren.

Das erste Barcamp der letzten Woche war ein „Semi-Barcamp“ rund um das Thema „Fachkräftemangel“ des Paritätischen Baden-Württemberg, bei dem im ersten Teil am Vormittag ein „klassisches Konzept“ gefahren wurde: Grußworte, Vorstellung eines Best Practice Modells und ein Impuls (den ich zum Thema Fachkräftemangel halten durfte). Der Nachmittag war dann als Barcamp-Format rund um das Thema „Fachkräfte“ konzipiert.

Das zweite Barcamp war ein „reines Barcamp“ ohne explizit vorgegebenes Thema. Es ging um Projektverzahnung, Vernetzung, die Generierung neuer Ideen und Ansätze usw., initiiert vom Verband der Privaten Krankenversicherungen.  

Warum Barcamps nicht „auch“ in der Sozialwirtschaft ankommen sollten…

Barcamps sind in den letzten Jahren auch in unseren „eher klassischen Branchen“ angekommen sind. Hier bspw. beim DRK, hier bei der Caritas in Freiburg oder hier als digitales Barcamp bei der Diakonie. Das sind nur einige Beispiele, es gibt viel mehr.

Aber aus meiner Sicht macht dieses „auch“ eigentlich keinen Sinn, denn: 

Barcamps und ähnliche Formate wie bspw. „Open Space“ sollten nicht „auch in der Sozialwirtschaft“ ankommen. 

Wir sollten uns vielmehr darüber wundern, dass es in unseren Kontexten überhaupt noch „klassische Konferenzformate“ gibt! 

Ja, diese klassischen Formate haben auch (noch) ihre Berechtigung, aber wenn man sich ein paar der Vorteile von offenen Konferenz- oder Barcamp-Formaten anschaut, wird es sehr deutlich.

Dazu macht es Sinn, sich die Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft vor Augen zu führen.

Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft  

1. Partizipation und Mitgestaltung: 

Barcamps zeichnen sich durch ihre offene Struktur aus, bei der die Teilnehmer:innen zu Teilgeber:innen werden und damit aktiv an der Gestaltung des Programms teilnehmen. Statt vordefinierter Vorträge und Workshops können die Teilgeber:innen selbst Themen, Fragen, Ideen… einbringen. Und wo, wenn nicht in sozialen Organisationen, wird Partizipation besonders groß geschrieben? Das gilt übrigens nicht nur für die Partizipation(swünsche) der Mitarbeiter:innen. Vielmehr wird auch von den Klient:innen aktive Beteiligung und Eigenverantwortung erwartet, da Soziale Arbeit ja genau darauf abzielt: Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung. Autonomie und Selbstbestimmung aber findet in klassischen Settings kaum statt.

2. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: 

Herkömmliche Veranstaltungen haben oft ein sehr starr vorgegebenes Programm. Barcamps hingegen haben zwar auch einen Zeitplan (45 minütige Sessions). Sie sind aber inhaltlich flexibel und können sich damit an aktuelle Themen, Bedürfnisse und Interessen der Teilgeber:innen anpassen. Und gerade in der Arbeit mit Menschen ist Flexibilität und die Notwendigkeit, schnell auf Veränderungen zu (re-)agieren, im Alltag Standard. Warum nicht auch in Veranstaltungsformaten? 

3. Vielfalt an Themen und Perspektiven: 

Da bei Barcamps die Teilgeber:innen die Themen bestimmen, sind die Veranstaltungen inhaltlich enorm divers. Dies fördert den interdisziplinären Austausch und ermöglicht den Teilgeber:innen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und wo, wenn nicht in der Sozialwirtschaft, ist Diversität – themenbezogen, aber noch vielmehr bezogen auf die Menschen – hoch relevant? 

4. Netzwerken und Beziehungen: 

Barcamps bieten viel Gelegenheit zum Netzwerken. Die informelle Atmosphäre, das „Barcamp-Du“ und die Möglichkeit, sich aktiv in Diskussionen einzubringen, erleichtern es, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende Beziehungen zu vertiefen. Netzwerk-, vor allem aber Beziehungsgestaltung...muss ich nicht vertiefen, oder? 

5. Geringe Kosten:

Barcamps sind oft kostengünstiger als herkömmliche Konferenzen. Man muss keine Referent:innen bezahlen (auch wenn eine Moderation von außen hilfreich ist, you can call me ;-), Man muss die Räume nicht wahnsinnig technisch ausstatten usw. Vielmehr leben Barcamps zum einen von der Partizipation der Teilgeber:innen (s.o.) und zum anderen vom „Werkstattcharakter“, dem „Unfertigen“, dem Gestaltbaren. Und weniger Kosten…muss ich nicht vertiefen, oder?

6. Informelle Atmosphäre: 

Herkömmliche Veranstaltungen sind oft sehr „förmlich“, während Barcamps eine entspannte, „informellere“ Atmosphäre bieten. Und falls Du an der Stelle Lust hast, kannst Du meinen Beitrag zur „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ lesen. Hier, in Barcamps, ist die Informalität hochgradig funktional (was bei dominierender Informalität in der Gestaltung der Zusammenarbeit nicht immer der Fall ist). 

7. Wissensaustausch und Lernen: 

Die offene Natur von Barcamps fördert den Wissensaustausch und das gemeinsame, selbstbestimmte Lernen. Die Teilgeber:innen profitieren von den Ideen und Erfahrungen der anderen und in kurzer Zeit entsteht Verbindung, Verbundenheit und persönliche ebenso wie inhaltliche Netzwerke. Und das (neues) Lernen für Menschen in und soziale Organisationen insgesamt wichtig ist, kannst Du bspw. hier nachlesen. 

Warum Barcamps die Möglichkeit zum Umgang mit der VUCA-Welt sind

Was mich aber über all diese Punkte hinaus am Meisten fasziniert, ist die Möglichkeit, wie es in Barcamps gelingt, mit der uns alle beschäftigenden Komplexität umzugehen

Durch all die oben genannten Aspekte und Vorteile wird es möglich, komplexe Fragen so anzugehen, dass nicht unterkomplexe Antworten gegeben, sondern die Welle der Komplexität gemeinsam gesurft wird. Denn: 

Für fast alle Fragen, die Soziale Organisationen, Bildungseinrichtungen, Verwaltungen… aktuell bewegen (Fachkräftemangel, KI, Klima, Krieg, Einsparungen und Co.) gibt es nicht die eine richtige Antwort.  

Vielmehr sind diese Fragen nur gemeinsam, interdisziplinär und sektoren- bzw. innerhalb von Organisationen bereichsübergreifend anzugehen.

Komplexität zu bewältigen braucht Tests und Experimente.

Es ist auszuprobieren, es ist gemeinsam zu experimentierenwie eine bessere Zukunft gestaltet werden kann. 

Und aus den Ergebnissen, die in den Sessions der Barcamps entstehen, lassen sich genau diese „Experimente“ gestalten:

  • Es können sich neue Netzwerke ergeben – bspw. zum Thema „Nutzung von KI in der eigenen Organisation“.
  • Es können konkrete Lösungen erarbeitet werden – bspw. für spezifische Fragen.
  • Es kann aber auch ganz einfach Austausch stattfinden, der – vielleicht – im Sinne der Serendipität – zu neuen, bislang nicht gedachten Ideen und Lösungen führt.

Organisationsinterne Barcamps

Barcamps werden in den meisten Fällen entweder ganz offen angeboten (bspw. das Sozialcamp von damals…) oder häufig durch Verbände initiiert, die ihre Mitgliedseinrichtungen zu bestimmten Themen zusammenbringen wollen (siehe die Beispiele oben).

Es ist aber nicht nur möglich, sondern auch hochgradig sinnvoll, ein Barcamp innerhalb der eigenen Organisation – bspw. als Alternative zu einer klassischen Klausur – zu organisieren. Hilfreich dazu ist es, ein paar Schritte zu beachten:

  • Interesse wecken: Mitarbeiter:innen über die Idee und Grundanliegen eines Barcamps informieren um ihr Interesse zu wecken.
  • Organisationsteam bilden: Ein Team zusammenstellen, das die Veranstaltung planen und koordinieren kann.
  • Rahmenbedingungen schaffen: Einen geeigneten Ort und Zeitpunkt festlegen sowie die notwendige technische Ausstattung sicherstellen.
  • Teilnehmer einbinden: Die Mitarbeiter:innen dazu ermutigen, Themen für das Barcamp vorzuschlagen und abzustimmen, um eine relevante Agenda zu erstellen.
  • Kommunikation fördern: Die Teilgeber:innen aktiv dazu ermutigen, ihre Ideen und Meinungen während der Veranstaltung zu teilen.
  • Dokumentation: Alle Ergebnisse dokumentieren (und im Nachgang aufbereiten).
  • Feedback sammeln: Nach dem Barcamp Rückmeldungen sammeln, um Verbesserungen für zukünftige Veranstaltungen zu identifizieren.

Eine richtig gute Anleitung zur Organisation von einem Barcamp findet sich übrigens im lernOS Barcamp Leitfaden. Das lohnt sich wirklich.

Zukunft ermöglichen, oder: Warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

Auch wenn die Ausführungen für viele wahrscheinlich nicht besonders neu waren oder manche von Euch vielleicht schon Barcamps besucht haben, finde ich es relevant, immer mal wieder darauf zu verweisen, dass es Wege gibt, anders an übergreifende oder auch organisationsinterne Herausforderungen heranzugehen.

Und die Herausforderungen, die es heute und in Zukunft zu bewältigen gilt, sind enorm. Entsprechend plädiere ich hier, als eine Option, für die Barcamp-Methode.

Barcamps aber sollten keine exotischen „Experimente“ sein, sondern vielmehr zum Standardformat für Veranstaltungen werden, die zur Ermöglichung der Zukunft anregen

Ach ja, im Kleinen, im Team oder auch in organisationsinternen Netzwerken, lohnt sich auch ein Blick auf die Methode des „Lean Coffee“, um gemeinsam an neuen Ideen und der Entwicklung der Organisation zu arbeiten.