Kategorie: New Work

Der IdeeQuadrat New Work Canvas 2.0 – (D)ein Tool für die gelingende Organisationsentwicklung

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Hä, was? IdeeQuadrat New Work Canvas? Muss das sein? Braucht wirklich jede:r ein eigenes Canvas? Ja, ich verstehe, aber ich möchte hier so etwas wie meine „Hintergrundfolie“ in Organisationsentwicklungsprozessen mit Dir teilen. Außerdem erfährst Du, wie Du mit dem IdeeQuadrat New Work Canvas in Deinem Team oder Deiner Organisation arbeiten kannst. Vielleicht passt inzwischen auch der Name nicht mehr ganz – New Work – was ist das eigentlich? Denn übergreifend geht es mir darum, gute, funktionale, von mir aus auch „gesunde“ Organisationen zu gestalten – ob New Work oder nicht…

So durfte ich in den letzten Jahren ich immer wieder spannende Einblicke in die unterschiedlichsten Organisationen gewinnen und mit ihnen gemeinsam Strategien entwickeln, Führungskräfte und Teams begleiten, Organisationsstrukturen neu gestalten oder selbstbestimmt agierende Teams auf den Weg bringen und deren Zusammenarbeit weiter entwickeln.

Bei all diesen Themen gibt es für mich im Hintergrund immer ein Bild der gesamten Organisation oder des Teams, mit der bzw. dem ich arbeite. Und dieses Bild, diesen Hintergrund möchte ich hier mit Dir teilen.

Im folgenden findest Du die etwas überarbeitete Version 2.0 der IdeeQuadrat New Work Canvas.

IdeeQuadrat New Work Canvas: Gesamtbild und Methode

Das IdeeQuadrat New Work Canvas dient – wie gesagt – dazu, nicht nur einen begrenzten Ausschnitt der Organisation wahrzunehmen, sondern die Organisation bestmöglich als „soziales System“ und damit – Achtung, Buzzword – ganzheitlich zu betrachten.

Aber hier schon die Einschränkung:

Ein Canvas als Bild und Methode ist immer eine Reduktion von Komplexität und nicht die Realität. Aber genau dazu dient ein Canvas: Die komplexe Wirklichkeit diskutierbar und damit zielgerichtet bearbeitbar zu machen, ohne in endlose und nicht zielführende Diskussionen über „Alles und Nichts“ zu verfallen.

Neben dem Gesamtbild dient das IdeeQuadrat New Work Canvas aber auch als Methode, um gezielt an bestimmten Bausteinen bzw. „Kategorien der Organisation“ zu arbeiten und diese im Sinne des Zwecks der Organisation bzw. des Teams weiterzuentwickeln.

Was ist neu?

Ich habe das Canvas sprachlich angepasst und inhaltlich erweitert. Die inhaltliche Erweiterung bezieht sich vor allem auf die Integration von Fragen zur organisationalen Resilienz. Diese wurde jedoch nicht in einer eigenen Kategorie zusammengefasst, sondern in die bestehenden neun Kategorien integriert.

IdeeQuadrat New Work Canvas ist das Gesamtbild der Organisation

Die Gestaltung der Canvas basiert auf verschiedenen Management-Modellen. Zu nennen ist insbesondere das St. Galler Management-Modell, außerdem das New Work Canvas der Neue Narrative und das „Operating System Canvas“ von the ready.

Durch die Zusammenführung dieser Modelle habe ich versucht, einen Gestaltungsrahmen für Führungskräfte abzubilden, der es ermöglicht, die eigene Organisation ganzheitlich zu betrachten und daraus Probleme und Lösungsoptionen zu identifizieren.

Das IdeeQuadrat New Work Canvas soll zudem genügend Flexibilität bieten, um je nach Herausforderung geeignete Methoden und Lösungsansätze anzuwenden und – bei Erfolg – zu implementieren.

Inhaltlich gliedert sich das Canvas in neun Kategorien, die jedoch nicht „übereinander“ liegen und damit eine unterschiedliche Wertigkeit haben. Vielmehr stehen die Kategorien „gleichberechtigt“ nebeneinander. Sie bilden damit gewissermaßen das „Grundgerüst“ der Organisation.

Und im Canvas sind den Kategorien jeweils Aussagen zugeordnet:

Vision, Zweck und Identität

  • Wir haben eine klare Vision!
  • Wir orientieren unsere Entscheidungen an dieser Vision und an den Bedürfnissen unserer Nutzer*innen!
  • Allen ist klar, wofür wir als Team/Organisation da sind (Purpose)!
  • Der/die Zweck/e unserer Organisation (Mission) und jedes Teams in unserer Organisation sind definiert!
  • Wir kommunizieren den Purpose aktiv nach innen und außen!
  • Unser Purpose hilft uns, Entscheidungen zu treffen!

Sachmittel und Ressourcen

  • Wir sind finanziell gut aufgestellt!
  • Wir investieren Zeit und Geld!
  • Der Zustand der Gebäude und Einrichtungen entspricht den Anforderungen zur Erfüllung unseres Zwecks!
  • Unsere Strategien beeinflussen die Ressourcenallokation sinnvoll!
  • Unsere digitale Infrastruktur ist zeitgemäß!
  • Wir entwickeln unsere Sachmittel und Ressourcen bedarfsgerecht weiter!

Optimierung, Innovation und Exnovation

  • Es ist für alle Mitarbeiter:innen transparent, wie wir lernen und uns weiterentwickeln!
  • Wir haben ein lebendiges Innovationsmanagementsystem implementiert, das festlegt, wer wie Ideen zu Innovationen werden lässt und wer daran beteiligt ist!
  • Die Wahrnehmungen und Ideen der Mitarbeiter:innen werden aktiv in relevante Prozesse einbezogen.
  • Wir beziehen die Nutzer:innen in die Innovationsentwicklung mit ein!
  • Wir haben lebendige Routinen zur Reflexion bestehender Angebote, Dienstleistungen und Prozesse etabliert!
  • Wir gestalten den Austausch mit unseren externen Stakeholdern aktiv und nehmen ihre Perspektiven ernst.
  • Es gilt als sicher und willkommen, bestehendes Wissen und Routinen in Frage zu stellen.

Strukturen

  • Die Aufbauorganisation (Organigramm) ist allen Mitarbeiter:innen bewusst!
  • Wir entwickeln unsere Aufbauorganisation, die Struktur unserer Teams, unsere Regeln und Vorgaben kontinuierlich weiter, um den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen!
  • Wir haben klare und gleichzeitig flexible Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten in unserer Organisation/im Team in Mandaten kompetenzbasiert geregelt!
  • Wir ermöglichen bereichsübergreifende Zusammenarbeit, um komplexe Herausforderungen bewältigen zu können!

Mitarbeiter:innen und Partner

  • Die Kompetenzen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechen unseren heutigen und zukünftigen Anforderungen!
  • Wir gestalten unser Lernen und unsere Personalentwicklung aktiv und zukunftsorientiert!
  • Wir haben gelebte Routinen im Umgang mit internen Konflikten!
  • Wir kennen unsere externen Stakeholder (Politik, Kostenträger, Angehörige…)!
  • Wir arbeiten mit unseren externen Stakeholdern vertrauensvoll zusammen und beziehen sie in Entscheidungen ein!

Prozesse

  • Unsere Kern-, Unterstützungs- und Führungsprozesse sind definiert und bekannt!
  • Unsere Prozesse werden verbindlich gelebt!
  • Wir haben Routinen etabliert, um unsere Prozesse regelmäßig weiterzuentwickeln!
  • Standardisierbare Prozesse sind auf allen Ebenen digitalisiert!
  • Wir haben Routinen etabliert, um den Überblick über unsere Projekte und Aufgaben zu behalten!

Strategien und Konzepte

  • Wir haben klare und sinnvolle strategische Stoßrichtungen für die (nahe) Zukunft definiert!
  • Wir treiben die Umsetzung der Strategien aktiv voran!
  • Unsere Strategien entsprechen unseren Stärken!
  • Wir sind offen für irritierende Impulse aus unserem Umfeld!
  • Wir entwickeln, verfeinern und erneuern unsere Strategien kontinuierlich!
  • Unsere Strategien leiten uns bei unseren täglichen Entscheidungen!

Mandate und Funktionen

  • Wir haben in der Organisation und in den Teams klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten (Mandate) definiert, um selbstbestimmtes Arbeiten zu fördern!
  • Wir fördern eine Führungskultur, die effektives Führungsverhalten auch in Zeiten der Unsicherheit und des Wandels ermöglicht und unterstützt.
  • Die Zuständigkeiten für die Mandate sind definiert und die erforderlichen Kompetenzen bekannt!
  • Wir haben Routinen für die Wahl der Mandate in den Teams etabliert, die sicherstellen, dass die Mandate kompetenzbasiert vergeben werden.
  • Die Mitarbeiter*innen übernehmen die gemeinsam vereinbarten Aufgaben verbindlich!

Kommunikation

  • Jede unserer Teambesprechungen hat ein Ziel und eine klare Struktur?
  • Es ist klar, wer an den Besprechungen teilnehmen muss und warum!
  • Die Besprechungen werden moderiert und die Ergebnisse dokumentiert!
  • Wir haben Routinen entwickelt, um nicht zielführende Besprechungen zu verbessern (oder zu streichen)!
  • Unsere Kommunikationswege sind auch außerhalb von Besprechungen sinnvoll!
  • Informationen und Wissen sind transparent verfügbar!

Das IdeeQuadrat New Work Canvas zur Organisationsdiagnose

Die Aussagen zu den einzelnen Kategorien sollen deutlich machen, wo die Gesamt-Organisation bzw. das Team steht.

Dazu reicht eine einfache Bewertungsskala (1 – trifft überhaupt nicht zu … 10 – trifft voll und ganz zu), mit der Du die einzelnen Fragen durchgehen kannst. So bekommst Du einen ersten Überblick, wo Deine Organisation (oder Dein Team) steht und wo es Probleme und Herausforderungen gibt.

Das IdeeQuadrat New Work Canvas kann somit in einem ersten Schritt als Tool zur Ist-Analyse bzw. zur Organisationsdiagnose in Bezug auf die alle Kategorien genutzt werden.

Download: Hier den IdeeQuadrat New Work Canvas 2.0 herunterladen!

Konkrete Veränderung einer Kategorie

Neben dem Überblick über die Gesamtorganisation und der Erarbeitung des Status quo dient das Canvas aber auch als Methode, mit der jederzeit an der Organisation oder auch am Teamdesign gearbeitet werden kann.

Das funktioniert alleine, aber noch besser im Team. Ebenso ist es möglich, das Canvas in Großgruppenveranstaltungen einzusetzen (z.B. als Orientierung in einem Open Space).

Und so geht’s: In einem ersten Schritt ist es notwendig, eine Kategorie auszuwählen, in der Veränderungen angegangen werden sollen (bspw. die Kategorie „Mandate und Funktionen“).

Daran anschließend folgt ihr als Team der Change-Formel (vgl. Seliger, 2022, 54ff), die ich noch ein wenig erweitert habe. Ihr beantwortet die unter dem jeweiligen Punkt der Change-Formel aufgeführten Fragen (die ich hier nicht wiederhole, sie stehen auf der Canvas) zu den fünf Schritten:

  1. Driver
  2. Vision
  3. Ressources
  4. First steps
  5. Reflection

Dazu noch zwei Hinweise:

Bearbeitet die einzelnen Schritte nacheinander und beachtet, dass nur dann, wenn alle Bausteine – D + V + R + F + R – zusammenkommen, sich Veränderungsenergie freisetzt und die Möglichkeit kontinuierlicher Veränderung entsteht. Sobald ein Baustein fehlt, geht die Veränderungsenergie verloren und ihr bleibt stecken.

Außerdem verlaufen Veränderungen sozialer Systeme nie linear, sondern eher in Wellen oder Kreisen („zwei Schritte vor, einer zurück“). So gilt es immer wieder, innezuhalten, zu reflektieren, Zeit zu lassen und einen neuen Anlauf zu wagen.

Schritt für Schritt zur zeitgemäßen, bedarfsgerechten Organisation

Bei der Bearbeitung der Canvas-Fragen wird deutlich, dass es nicht immer sinnvoll ist, die gesamte Organisation komplett umzukrempeln und ein völlig neues „Betriebssystem“ zu installieren oder alles auf den Kopf zu stellen.

Gerade die kleinen Baustellen in den einzelnen Kategorien, die schnell und aktiv, dafür aber ernsthaft und verbindlich angegangen werden, bringen oft die größten Verbesserungen. Denn es sind die kleinen Impulse und Irritationen, die ein System in Bewegung bringen.

Und manchmal muss man gar nicht verändern, sondern mit etwas aufhören, um weiterzukommen.

Und jetzt:

Ladet den IdeeQuadrat New Work Canvas herunter und arbeitet damit oder gebt ihn an interessierte Menschen weiter. Mich würde sehr interessieren, ob und wie ihr mit der Canvas gearbeitet habt. Außerdem würde mich interessieren, wo ihr Entwicklungsmöglichkeiten für die Canvas seht. Hinterlasst doch einfach einen Kommentar dazu oder schreibt mir eine Mail

Ach ja, ich begleite euch natürlich auch gerne bei der Arbeit an eurer Organisation 😉 Dazu könnt ihr hier einfach Kontakt aufnehmen.

How (not) to kill your Company, oder: Die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit und wie Du ihnen begegnen kannst.

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Hier mein Skript zu einer „Keynote“ 😉 meines Impulses, den ich vor wenigen Tagen im neu eröffneten Futurum halten durfte. Das Forum stand unter dem Oberthema „Diakonisches Umfeld im Wandel“ und die Teilnehmer:innen waren aufgefordert, ihren „Haupt-Killerfaktor“ zur Veranstaltung mitzubringen, um im Anschluss an meinen Impuls über diese Faktoren tiefer in den Austausch zu gehen. Ausgehend von dieser Themensetzung habe ich einleitend über die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit gesprochen.

Einschränkend ist zu erwähnen, dass es sich hierbei um die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht handelt – und ich werde meine Meinung dazu in Zukunft sicherlich ändern, weiterentwickeln und anpassen. Das sind also die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt.

Jetzt aber – fast – los. Fast, weil ich einführend meinen Bezugsrahmen skizzieren will:

Mein Bezugsrahmen oder: Wozu existieren Organisationen der Sozialen Arbeit?

Unter dem Bezugsrahmen verstehe ich einleitend die Frage:

Wozu existieren Organisationen der Sozialen Arbeit heute und in Zukunft?

Für mich ist das so etwas wie der „Basic Purpose“, eine (fast) allgemeingültige Orientierung, die hilfreich sein kann.

Und mein Bezugsrahmen, den ich im Folgenden als Hintergrundfolie mitlaufen lasse, ist die „Definition Sozialer Arbeit“, die Du hier finden kannst.

Sie lautet:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.

Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.

Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen.

Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (Hervorhebungen durch d. Verf.).

Für mich ist diese Definition deshalb relevant, um eine – zwar sehr allgemeine, aber – grundlegende Orientierung darüber zu haben, wozu Organisationen der Sozialen Arbeit in all ihren Ausprägungen existieren. Sie liefert damit aus meiner Sicht eine gute Orientierung, warum es sinnvoll und wichtig ist, über das Überleben und die Zukunft von Organisationen der Sozialen Arbeit nachzudenken.

Es ist hervorzuheben, dass „die Sozialwirtschaft“ bzw. vor allem die beim Vortrag anwesenden Vertreter:innen der Komplexträger sich nicht nur in der Sozialwirtschaft, sondern in der „Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ bewegen. So lassen sich z.B. Krankenhäuser, aber auch Pflegeeinrichtungen nicht unmittelbar unter dieser Definition zusammenfassen. Für mich wird damit deutlich, dass die ohnehin schon enorme Komplexität, in der sich die verantwortlichen Vorstände und Geschäftsführer dieser Organisationen bewegen, noch einmal deutlich erhöht wird.

Dennoch glaube ich, dass die Definition der Sozialen Arbeit eine Orientierung für die folgenden fünf Hauptgefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit geben kann.

Die fünf größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit

Jetzt geht’s aber wirklich los… Und ich bin gespannt auf Dein Feedback – gerne hier in den Kommentaren oder per Mail!

Gefahr I: Management-Moden!

Management-Moden lassen sich definieren als „Managementkonzepte, die relativ schnell viel Aufmerksamkeit von Manager:innen auf sich ziehen, ohne dass ihre Relevanz wissenschaftlich oder durch längere praktische Erfahrung belegt ist.“

Sie bieten „ihren Adressaten suggestive, aber vergleichsweise einfache Lösungen und Tools an, ohne situative oder organisationale Komplexität in Rechnung zu stellen“ (Bartel, 2020:4).

Bei näherer Befassung mit Management-Moden lassen sich bekannte Begriffe finden, wie:

  • „agiles Management“
  • „post-bürokratische Organisationen“
  • „Fehlerkultur“
  • „OKR“
  • „Lernende Organisation“
  • „Transformationale Führung“
  • „New Work“

Die Liste ist nicht abschließend und ließe sich verlängern.

Die aus meiner Sicht große Gefahr in der Existenz besteht darin, dass aufgrund der Existenz von Management-Moden organisationale Veränderungen nicht aufgrund echter Herausforderungen angegangen werden, sondern aufgrund normativer Beweggründe:

„Damit wir modern sind, müssen wir jetzt New Work machen!“

In meinem Newsletter vom 28. Juni 2024, den Du hier nachlesen und hier abonnieren kannst, bin ich vertiefend auf Management-Moden eingegangen.

Unter Berücksichtigung der Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit wird die Gefahr noch deutlicher:

So lassen sich Organisationen der Sozialen Arbeit, den Ausführungen von Klaus Grunwald (vgl. Grunwald, 2018:165ff) folgend, als „hybride Organisationen“ definieren.

Damit ist gemeint, dass sie mit verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren (informeller Sektor, Dritter Sektor, Staat und Markt) verbunden sind und von diesen geprägt werden. Diese Sektoren sind jedoch durch jeweils eigene Systemlogiken gekennzeichnet.

Organisationen der Sozialen Arbeit sind dementsprechend gefordert, unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Handlungslogiken zu integrieren, unterschiedliche Zielsetzungen zu einem eigenen Zielbündel zusammenzufügen, unterschiedliche und wiederum zum Teil widersprüchliche Einfluss- und Entscheidungsstrukturen zu berücksichtigen und zu kombinieren sowie aus unterschiedlichen Identitätsangeboten eine eigene Identität zu formen.

Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, auch intern Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass sie den „hybriden Anforderungen“ gerecht werden und eine Vielzahl von Zweck- und Sinnbestimmungen zulassen und gleichzeitig identitätsstiftend sind.

Konkret müssen Organisationen der Sozialen Arbeit einerseits den Systemlogiken der Kostenträger folgen und gesetzeskonform handeln, um ihre Leistungen refinanziert zu bekommen. Gleichzeitig sind sie gefordert, auf einem Markt zu agieren, der dem binären Code Bezahlen/Nicht-Bezahlen folgt. Hinzu kommt, dass die Leistungen von Organisationen der Sozialen Arbeit in einem normativ aufgeladenen Umfeld agieren: Die Schließung von Angeboten aufgrund rein ökonomischer Notwendigkeiten stößt auf massiven gesellschaftlichen Widerstand.

Zusammenfassend besteht die Notwendigkeit, „hybride Anforderungen“ in eine Organisation zu integrieren, d.h. die Funktionslogiken unterschiedlicher Organisationseinheiten den hybriden Anforderungen anzupassen. Kurz:

One Management-Mode does not fit all Anforderungen.

Anstatt also der nächsten Management-Mode hinterherzurennen, sollte bei jeder Anpassung, Entwicklung und Veränderung die Frage in den Vordergrund rücken:

Was ist funktional für unseren Zweck?

Gefahr II: Die Mitarbeiter:innen im Mittelpunkt!

Diesen Aspekt habe ich bereits mehrfach angesprochen: Durch den Fachkräftemangel wird auf der Seite der Mitarbeiter:innen die Illusion genährt, dass sich die Organisation um ihre eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickeln müsse.

Wenn aber die Organisation in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeiter:innen gestellt wird und damit die Personenorientierung die Oberhand gewinnt, hat dies „katastrophale Folgen für die Organisation“ (Wimmer, 2019).

Mit Blick auf die Geschichte vieler Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt sich die Personenorientierung (im Gegensatz zur Aufgabenorientierung) auch ohne Fachkräftemangel an vielen Stellen sehr deutlich – von der Gründung sozialer Organisationen auf der Basis individueller Schicksale der Gründer:innen über die auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesenen Rechtsformen sozialer Organisationen bis hin zur auf intrinsische Motivation setzenden professionellen Identität der in sozialen Berufen Tätigen. Dies führt dazu, dass das für Organisationen konstitutive Element der Trennung von Person und Rolle in Organisationen der Sozialen Arbeit wenig ausgeprägt ist (vgl. näher hier).

Das primäre Ziel jeder Organisation ist jedoch ihr Überleben, das sekundäre Ziel ist die Erfüllung des Organisationszwecks.

Es ist unstrittig, dass dazu insbesondere in sozialen Organisationen Menschen notwendig sind, die aber bestimmte Rollen einnehmen. Aufgrund des Fachkräftemangels in der Sozialwirtschaft können wir aber nicht mehr davon ausgehen, dass die Rollen aufgrund der „Haltung“ der Personen (vor allem bei Nicht-Fachkräften) „adäquat“ ausgefüllt werden.

Statt also die (sehr unterschiedlichen) Bedürfnisse der Personen in den Vordergrund zu stellen, gilt es, die formalen Rollenerwartungen (viel) expliziter zu machen und Prozesse, Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar(er) zu definieren.

Hier habe ich die Methode „Marktplatz der Erwartungen“ beschrieben, die hilft, ein klares Verständnis über und klare Erwartungen an die Rollen, Mandate bzw. Verantwortungsbereiche in der Organisation und damit (möglichst) klare Zuständigkeiten zu definieren.

Gefahr III: Alles gleichzeitig!

Vor dem Impuls habe ich mein digitales Netzwerk nach den aus ihrer Perspektive größten Gefahren befragt. Insbesondere bei LinkedIn gab es viele, sehr tiefgehende Rückmeldungen dazu, du Du hier nachlesen kannst.

Ein Aspekt, der mir in diesem Zusammenhang besonders auffiel, war der immer wieder vorgebrachte Hinweis auf den fehlenden Fokus bzw. die fehlende Strategie in und von Organisationen der Sozialen Arbeit, die tatsächlich angegangen wird.

Dies ist einerseits verständlich, wenn man die oben skizzierten hybriden Herausforderungen von Organisationen der Sozialen Arbeit in den Blick nimmt:

Wenn sich Organisationen der Sozialen Arbeit an unterschiedlichen Systemlogiken orientieren müssen, fällt es schwer, „den einen Weg“ zu gehen bzw. die eine Strategie umzusetzen. Hinzu kommt zum anderen, dass globale, gesellschaftliche, politische wie auch technologische Entwicklungen immer auch unmittelbare Auswirkungen auf Organisationen der Sozialen Arbeit haben. Nur zwei Beispiele:

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine führt nicht nur (wie bei allen Unternehmen) zu enorm steigenden Energiekosten, sondern gleichzeitig zu der Notwendigkeit, Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, zu unterstützen. Ebenso reicht es nicht aus, sich mit digitalen Möglichkeiten zur Optimierung der eigenen Organisation zu beschäftigen, denn die Nutzbarkeit digitaler Tools und Technologien muss unter dem Begriff der Ermöglichung von Teilhabe immer auch aus der Perspektive der Klient:innen sozialer Organisationen betrachtet werden.

Kurz: Die Allzuständigkeit der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen zeigt sich auch in einer Allüberforderung der Organisationen der Sozialen Arbeit, die sich allen Themen gleichzeitig widmen sollten/könnten/müssten.

Gleichzeitig wird natürlich auch der Fachkräftemangel von den anwesenden Teilnehmer:innen als ein, wenn nicht aktuell als das größte Problem von Organisationen der Sozialen Arbeit gesehen. Anders gesagt:

Organisationen der Sozialen Arbeit werden – mit Blick nach außen – nicht umhin kommen, deutlich stärker zu fokussieren, abzuwägen und zu priorisieren, was in und von Organisationen der Sozialen Arbeit zukünftig noch angeboten werden kann bzw. neu angeboten werden sollte.

Gleichzeitig muss mit Blick nach innen hinterfragt werden, welche internen Prozesse, Abläufe, Hierarchien, Abteilungen usw. (formale Organisationsstruktur) funktional sind (siehe Gefahr I) und welche weggelassen werden können.

Peter Drucker bringt es auf den Punkt, wenn er sagt:

„Wenn man etwas Neues will, muss man aufhören, etwas Altes zu tun“.

Es gilt also, adaptive Strategien zu entwickeln und umzusetzen, denn:

„Es gibt vielleicht nur ein einziges unausweichliches Ordnungsgesetz [in Organisationen]: daß nicht alles auf einmal geändert werden kann“ (Luhmann 1976:140 und Danke Stefan, für das schöne Zitat 😉

Ganz kurz zusammengefasst sind damit Strategien gemeint, die den Strategieprozess aus zwei Perspektiven denken:

  • a) für strategische Ziele müssen geeignete Wege gesucht werden (klassische Strategiearbeit) und
  • b) müssen Organisationen gleichzeitig offen bleiben für die Suche nach geeigneten Zielen, Problemen und Einsatzmöglichkeiten für die in den Organisationen vorhandenen Mittel, Problemlösungen und vorhandenen Ressourcen.

Details zur Gestaltung adaptiver Strategien findest Du hier.

Gefahr IV: Immer aus dem Bauch heraus!

Organisationen können definiert werden als „ein Netzwerk fortlaufender Entscheidungen“ (Richter, Groth, 2023, 125) – Entscheidungen, die sich in den formellen und informellen Strukturen der Organisation manifestieren (teils schriftlich, teils mündlich). So ist bereits die Gründung einer Organisation eine Entscheidung. Weitere Entscheidungen folgen (z.B. die Entscheidung, Personal einzustellen; die Entscheidung über den Zweck der Organisation; die Entscheidung über die Regeln, die in der Organisation gelten). Mit den ersten Entscheidungen wird ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt. „Jede Entscheidung impliziert weiteren Klärungs- und Handlungsbedarf, die entstehende Geschichte bereits getroffener Entscheidungen fordert und begrenzt weitere Entscheidungen“ (ebd., 126).

Soweit so einfach.

Fraglich ist jedoch, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden – vor allem, wenn es sich um einschneidende Entscheidungen handelt (z.B. die Einstellung von Angeboten, siehe Gefahr III).

Entscheidungen können einmal „aus dem Bauch heraus“ und damit intuitiv getroffen werden. Dagegen ist auch wenig einzuwenden, sofern die Intuition auf langjährigen Erfahrungen beruht. Aber gerade bei Entscheidungen, die finanzielle und ggf. existenzielle Auswirkungen haben, ist das Bauchgefühl nicht immer der beste Ratgeber.

Sicherlich ist es schwierig, Entscheidungen über Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit immer und an allen Stellen datenbasiert zu treffen. So stellen sich z.B. Fragen wie:

  • Wie lässt sich empirisch nachweisen, dass explizit das Angebot für die Veränderungen bei den Klient:innen verantwortlich ist (und nicht bspw. das familiäre Umfeld)
  • Wie können einheitliche Indikatoren erstellt werden, die die Spezifika der Institution abbilden und gleichzeitig allgemeingültig sind?

Gleichzeitig verfügen soziale Organisationen jedoch über enorm viele Daten (Daten über die Nutzer:innen der Dienstleistungen, über die Mitarbeiter:innen, über die Verweildauer von Klient:innen in Maßnahmen, Finanzdaten und und und…). Durch die Analyse der in der Organisation vorhandenen Daten können Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, wie gut bestimmte Dienstleistungen funktionieren und wo möglicherweise Optimierungspotenzial besteht.

Die Gefahr, die ich in diesem Zusammenhang sehe, ist, dass in dem Moment, in dem andere Akteure die Wirkung von Angeboten datenbasiert nachweisen, diese bei allen Entgeltverhandlungen gewinnen. Und die Nutzung und Auswertung von Daten wird – auch durch die rasante Entwicklung von KI-Lösungen – immer einfacher.

Entsprechend ist es aus organisatorischer Sicht hoch relevant, systematisch bereitgestellte und ausgewertete Daten für die interne Entscheidungsfindung in einer Organisation zu nutzen. Wie bereits erwähnt, basiert diese derzeit noch zu oft auf Intuition und dem berühmten Bauchgefühl, das zwar sehr wichtig ist, aber in Zukunft nicht mehr ausreichen wird.

Es ist aber notwendig, die Datenkompetenz in der Sozialen Arbeit jetzt und in Zukunft deutlich auszubauen, um (nicht nur digitale) Daten für Entscheidungen nutzen zu können.

Gefahr V: Systemüberlastung!

Gelingende Veränderung braucht Ressourcen – Zeit, Geld, Personal, Menschen, die Lust haben, Netzwerke… Hinzu kommt, dass bei Veränderung die „Leistungsfähigkeit“ (von Teams und/oder Organisationen) zunächst sogar abnimmt, da – zumindest bei echten Veränderungen – das „neue“ Arbeiten erst gelernt werden muss.

Der Blick in Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt jedoch an vielen Stellen, dass die Organisationen zu 100% und mehr ausgelastet sind. Logo, auch hier kann der Fachkräftemangel angeführt werden. Hinzu kommen aber aus meiner Sicht an vielen Stellen auch hochgradig ineffiziente Prozesse und insgesamt wenig funktionale formale Strukturen der Organisationen.

Ständiges Arbeiten an und über der Belastungsgrenze führt jedoch zu organisationalem Burnout. Darunter ist zu verstehen, dass sich eine Organisation „in einem Zustand der Erschöpfung und Lähmung befindet und diesen als unerwünscht erkannten Zustand aus eigener Kraft nicht mehr positiv verändern kann“ (mehr hier).

Ursachen für organisationalen Burnout sind (vgl. ebd.)

  • externer Systemstress (Strukturwandel, Wettbewerbsdruck, Finanzmarktrisiken, veränderter Rechtsrahmen…);
  • interner Ressourcenstress (Erfolgsarroganz, Kompentenzdefizite, nachhaltiger Ressourcenmangel, übertriebener Ergebnisdruck);
  • endogener Identitätsstress (ständige Strategiewechsel, wiederholte Reorganisationsprogramme, Verlustängste des Managements, übertolerante Fehlerkultur).

Der Blick auf die Ursachen aus Sicht der Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt einige neuralgische Punkte (z.B. veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen wie das BTHG oder das KJSG, dauerhafte Ressourcenknappheit, Kompetenzdefizite auf der Leitungsebene).

Zusätzliche Belastungen und Krisen in Organisationen, die sich bereits im organisationalen Burnout befinden, führen zum Zusammenbruch des Systems.

Wie aber kann es gelingen, organisationalem Burnout und damit Systemüberlastung – insbesondere unter den herausfordernden Bedingungen von Organisationen der Sozialen Arbeit – zu begegnen?

Für mich ist hier die Auseinandersetzung mit organisationaler Resilienz von zentraler Bedeutung. Ja, man könnte Organisationale Resilienz auch als Managementmodus definieren. Aber die Ausführungen und Ideen hinter dem Konzept liefern viele hilfreiche Ansätze, die – wie in Deutschland üblich – in einer ISO-Norm (ISO 22316) beschrieben sind. Demnach verfügen „Resiliente Organisationen“ über folgende 9 Elemente:

  1. Gemeinsame Vision und Klarheit über den Zweck: Eine resiliente Organisation zeichnet sich durch die gemeinsame Vision, klare Ziele und gemeinsame Werte aus. Dies wird auf allen Hierarchieebenen geteilt.
  2. Verständnis des internen und externen Umfelds und Einflussnahme: Eine resiliente Organisation verfügt über ein tiefes Verständnis der internen und externen Systeme, in denen sie agiert. Dies ermöglicht der Organisation, aktiv Einfluss zu nehmen und Möglichkeiten zur Anpassung zu schaffen.
  3. Führung, die Unsicherheit und Scheitern akzeptiert und ermutigt: In einer resilienten Organisation herrscht eine Führungskultur, die es den Mitarbeitenden erlaubt, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
  4. Festlegung von relevanten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen: Eine resiliente Organisation verankert gemeinsame Überzeugungen und Werte, positive Einstellungen und Verhaltensweisen fest in der Kultur, die für jeden Einzelnen von Bedeutung sind.
  5. Teilen von Informationen und Wissen: Die Mitglieder einer resilienten Organisation teilen aktiv Informationen und Wissen. Das Lernen aus Erfahrungen, einschließlich Fehlern, wird unterstützt und gefördert.
  6. Verfügbarkeit von Ressourcen: Eine resiliente Organisation verfügt über Ressourcen wie qualifizierte Mitarbeitende, finanzielle Mittel, Gebäude, Informationen und Technologie, um die anfälligen Bereiche der Organisation abzusichern und eine schnelle Anpassung an sich ändernde Umstände zu ermöglichen.
  7. Entwicklung und Koordination der Unternehmensbereiche: In einer resilienten Organisation werden die verschiedenen Unternehmensbereiche (bspw. Personalwesen, Qualitätsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Krisenmanagement und Informationstechnologie), definiert, entwickelt und koordiniert. Dies geschieht im Einklang mit den strategischen Zielen der Organisation.
  8. Evaluierung und Unterstützung kontinuierlicher Verbesserung: Eine resiliente Organisation bewertet ihre Ergebnisse und lernt aus Erfahrungen, um Chancen für kontinuierliche Verbesserung zu identifizieren.
  9. Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren und zu managen: Eine resiliente Organisation erkennt frühzeitig zukünftige Veränderungen, kann angemessen darauf reagieren und diese erfolgreich bewältigen.

Auch hier lassen sich wiederum für Organisationen der Sozialen Arbeit spezifische Aspekte finden, die berücksichtigt werden müssen. Ich habe diese hier beschrieben.

Wichtig ist jedoch, dass Organisationen nicht in der Krise resilient werden, sondern im Training vor der Krise. Nur vor der Krise können Organisationen resilient gemacht werden.

In der Krise gilt der Krisenmodus. Das ist wie beim Fußball – auch da kann man vorher trainieren, aber nicht im Spiel.

Angesichts der gesellschaftlichen Spaltungen, der massiven Auswirkungen des Klimawandels, der unglaublich schnellen technologischen Entwicklungen und, und, und, ist eines aber sicher:

Krisen werden zunehmend zur Normalität – auch in und für soziale Organisationen.

Und dann gilt – optimistisch gesehen:

„If you‘re old, you‘re not dead!“ 😉

Gemeint ist damit, dass wir es in der Sozialen Arbeit nicht mit hippen Start-Ups zu tun haben, sondern mit Organisationen, die es geschafft haben, über Jahre, Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte zu existieren. Mit anderen Worten:

Wir können Krisen und wir haben Ressourcen, um mit Krisen umzugehen. Und vielleicht sind gerade Organisationen der Sozialen Arbeit aufgrund ihrer Besonderheiten besonders resilient.


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Hier geht’s zum Fachcamp Soziale Arbeit!


Fazit, oder: Heuristiken* zum Umgang mit den größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit

Zur Wiederholung noch einmal der Blick auf den eingangs eröffneten Bezugsrahmen:

Ziel muss es sein, Organisationen der Sozialen Arbeit zu entwickeln und zu gestalten, die heute und in Zukunft in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt zu fördern sowie die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen zu stärken!

Das treibt mich in meiner Arbeit an und das sollte – zumindest aus meiner Sicht – auch Motivation genug sein, trotz aller Herausforderungen und „Gefahren“ weiterzumachen und zu versuchen, an, mit und in Organisationen der Sozialen Arbeit zu arbeiten.

Einschränkend und abschließend möchte ich jedoch betonen, dass es an vielen Stellen nicht um ein „statt“ geht. Man könnte z.B. meinen, ich plädiere – um nur ein Beispiel herauszugreifen – dafür, „statt intuitiv zu entscheiden“ nur noch datenbasiert zu entscheiden. Das ist zu kurz gegriffen.

Vielmehr können Heuristiken helfen. Darunter versteht man Methoden, um mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen.

Heuristiken kennen wir z.B. aus dem agilen Manifest, in dem es heißt „Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen“, „Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor umfassender Dokumentation“, „Zusammenarbeit mit den Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen“ und „Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung“ (hier mehr).

Wichtig ist die Betonung von „haben Vorrang vor“. Dies bedeutet nicht, dass Pläne nicht mehr verfolgt werden sollen, sondern dass die Reaktion auf Veränderungen Vorrang vor der strikten Verfolgung von Plänen hat. Die Planverfolgung bleibt also relevant.

Überträgt man nun diese Denklogik auf die obigen Ausführungen zu den größten Gefahren für Organisationen der Sozialen Arbeit, so lassen sich folgende Heuristiken formulieren:

  • Funktionale Veränderungen vornehmen hat Vorrang vor dem Verfolgen von Management-Moden!
  • Formale Erwartungen an Rollen definieren hat Vorrang vor der Personenorientierung!
  • Adaptive Strategien entwickeln und umsetzen hat Vorrang vor der kurzfristigen Reaktionen!
  • Datenkompetenz entwickeln und Wirkung messen hat Vorrang vor Bauchentscheidungen!
  • Organisationale Resilienz trainieren hat Vorrang vor dem Arbeiten über der Überlastungsgrenze!

Damit wird – hoffentlich – deutlich, dass auch die andere Seite kurzfristig relevant sein kann. Bauchentscheidungen z.B. sind ebenso relevant wie die kurzfristige Notwendigkeit, an und (wirklich nur kurz) über der Belastungsgrenze zu arbeiten. Und selbst Managementmoden haben ihre Berechtigung.

Nachhaltige Organisationsentwicklung, oder: Wie Du die Permakultur Design Prinzipien mit Deiner Organisation verbinden kannst

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Nachhaltigkeit steht derzeit – glücklicherweise – hoch im Kurs. Häufig bezieht sich der Begriff auf ökologische Nachhaltigkeit, die zusammen mit sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit die sogenannte „triple bottom line“ bildet. Und die Beschäftigung mit ökologischer Nachhaltigkeit führt oft zur Permakultur.

Vielleicht sagt Dir der Begriff etwas? Kurz gesagt, handelt es sich bei der Permakultur um ein Konzept für Landwirtschaft und Gartenbau, das darauf basiert, Ökosysteme und Kreisläufe in der Natur zu beobachten und nachzuahmen. In den 1970er Jahren wurde das Konzept von dem Australier Bill Mollison und seinem Schüler David Holmgren entwickelt. Laut Wikipedia hat sich die Permakultur seitdem von einer landwirtschaftlichen Gestaltungsmethode zu einer ökologischen Lebensphilosophie und einer weltweiten Graswurzelbewegung entwickelt. Dabei geht es um eine Kultur der nachhaltigen Lebensweise und Landnutzung.

Vor Kurzem hörte ich in einem Podcast zum ersten Mal vom „Permakultur-Design“. Das brachte mich auf die Idee, zu überlegen, ob und wie die Prinzipien des Permakultur-Designs auf aktuelle Ansätze der Organisationsentwicklung übertragen werden können, um damit auch eine „nachhaltige Organisationsentwicklung“ zu ermöglichen.

Vielleicht können die Überlegungen Organisationen helfen, nachhaltiger und resilienzfähiger zu werden, indem sie die Prinzipien der Permakultur auf ihre Strukturen und Prozesse anwenden. Die Natur bietet zahlreiche Vorbilder für Effizienz, Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Entwicklung, die sich auch in der Organisationsentwicklung als wertvoll erweisen könnten.

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Was ist Permakultur Design?

Permakultur-Design lässt sich definieren als „das bewusste Gestalten und Erhalten von landwirtschaftlich produktiven Systemen, die die Diversität, Stabilität und Resilienz von natürlichen Ökosystemen enthalten. Es ist die harmonische Verbindung der Landschaft mit den Menschen, die davon ihre Nahrungsmittel, Energie, Unterkunft und andere materielle und nicht-materielle Bedürfnisse auf nachhaltige Weise beziehen“ (Bill Mollison, „Vater der Permakultur“).

Permakultur-Design strebt also danach, landwirtschaftliche Systeme zu schaffen, die nicht nur produktiv, sondern auch ökologisch nachhaltig sind. Dabei werden die Prinzipien und Eigenschaften natürlicher Ökosysteme nachgeahmt, um eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Natur zu fördern. Dies führt zu stabilen und widerstandsfähigen Systemen, die langfristig Bestand haben und die Bedürfnisse der Menschen auf eine umweltfreundliche Weise erfüllen.

Bill Mollison legt in seinem Konzept der Permakultur-Designs besonderen Fokus auf Gartenbau und Landwirtschaft. Entscheidend ist dabei die Bedeutung des bewussten Gestaltens und Erhaltens, das uns auffordert, unseren gesunden Menschenverstand zu nutzen. Mollison betont die Wichtigkeit der Beobachtung – beispielsweise von Sonne, Wind und Wasser – um unsere Landschaft besser zu verstehen. Nur durch sorgfältige Beobachtung können wir effektive Planungen vornehmen.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt seiner Definition sind die landwirtschaftlich produktiven Systeme. Permakultur-Design zielt nicht nur darauf ab, die Natur zu schützen, sondern auch darauf, die Landschaft optimal zu nutzen. Dadurch kann die Produktivität erheblich gesteigert werden, ohne die Natur zu schädigen. Vielmehr schafft Permakultur Systeme, die den natürlichen Ökosystemen ähneln. Diese natürlichen Ökosysteme zeichnen sich durch eine hohe Artenvielfalt aus, können sich in begrenztem Maße an Veränderungen anpassen und erfüllen damit wichtige Funktionen auf der Erde.

Weitere Informationen und vertiefende Literatur zu diesem Thema findest Du hier. Und hier findest Du eine Übersicht von Büchern rund ums Thema.

Zusammenfassend geht es beim Permakultur-Design um die Schaffung und Gestaltung vollständiger und produktiver Ökosysteme, im Gegensatz zu Monokulturen. Permakultur ist weit mehr als nur eine Form nachhaltiger Landwirtschaft. Sie stellt eine grundsätzliche Herangehensweise dar, die die Dynamiken natürlicher Prozesse vom Design bis zur technischen Umsetzung konstruktiv nutzt. Permakultur ist zugleich eine Philosophie und eine Reihe sozialer Praktiken, Techniken und ethischer Normen. Ihr Ziel ist es, sicherzustellen, dass alle lebenden Systeme gesund bleiben und gedeihen können (Holmgren, 2015, 124).

Spannend wird es insbesondere bei der Betrachtung „lebender Systeme“, wenn man an Organisationen als „soziale Systeme“ denkt. Hier können die Prinzipien der Permakultur innovative Ansätze für die Organisationsentwicklung bieten, indem sie nachhaltige und resiliente Strukturen fördern.

David Holmgren hat 12 Permakultur-Design-Prinzipien erarbeitet, die helfen, sich mit der Denkweise der Permakultur vertraut zu machen. Diese Prinzipien werden wir nun genauer betrachten und mit der Organisationsentwicklung verbinden. Dabei sei darauf hingewiesen, dass es neben den 12 Permakultur-Design-Prinzipien von Holmgren noch weitere gibt – hier findest Du mehr dazu.

Zu jedem Prinzip werde ich konkrete Methoden vorstellen, die für das Verständnis und die Arbeit mit Organisationen hilfreich sein können. Diese Verknüpfung soll zeigen, wie die Prinzipien der Permakultur innovative und nachhaltige Ansätze in der Organisationsentwicklung unterstützen können.

Nachhaltige Organisationsentwicklung und die 12 Permakultur Design Prinzipien

1. Beobachte und interagiere:

Beim ersten Permakultur-Design-Prinzip geht es darum, sich Ruhe und Zeit zu nehmen und zu beobachten, was ist – zunächst ohne Interpretation. Es gilt, Muster zu erkennen und auf kleine Details und Eigenheiten zu achten sowie mit dem, was uns umgibt, zu interagieren. Dabei spielen vor allem Achtsamkeit und Kreativität eine wichtige Rolle.

Die Beobachtung und Interaktion mit der Umwelt offenbart neue und dynamische Aspekte unserer Umgebung und reflektiert unser Glaubenssystem und Verhalten. Dabei sollen alle Sinne angesprochen werden, da diese ein großes Potenzial haben, uns Informationen zu liefern. Es geht somit um deutlich mehr als das rein rationale, analytische Denken. Viel hängt auch von unseren intuitiven und integrativen Fähigkeiten ab. Wir müssen uns bewusst sein (und werden), dass wir nicht alles verstehen oder kontrollieren können.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Die Übertragung der Erkenntnisse auf die Entwicklung sozialer Systeme und damit auch auf die nachhaltige Organisationsentwicklung fällt leicht. Es ist enorm wichtig, die Kultur, Strukturen und Prozesse einer Organisation in der Tiefe (soweit wie möglich) zu verstehen, bevor Veränderungen eingeführt werden. Durch gründliche Beobachtung und Analyse können fundierte Entscheidungen getroffen werden, die besser auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen der Organisation abgestimmt sind.

Zu Beginn und im Verlauf eines OE-Prozesses (Organisationsentwicklung) geht es darum, zu beobachten, zu verstehen, zu spüren und sich in die Organisation einzufühlen. Es gilt, die Interaktionsmuster und die verschiedenen Entscheidungsprämissen (mehr dazu hier) zu erkennen. Diese Phase wird oft als Ist-Analyse bezeichnet und erfolgt durch Methoden der Organisationsdiagnose.

Für eine nachhaltige Organisationsentwicklung ist es essenziell, sich Zeit zu nehmen, um die Organisation und ihre Dynamiken ohne voreilige Interpretation zu beobachten. Diese Beobachtungen sind wichtig, um Muster zu erkennen und die Details sowie Eigenheiten der Organisation aus verschiedenen Perspektiven wohlwollend zu betrachten. Es sollte zunächst mit der Organisation interagiert werden, ohne sofortige Veränderungen durch Gespräche, Workshops oder andere Diagnoseformate zu initiieren. Dabei spielen Achtsamkeit und Kreativität eine wichtige Rolle. Die Interaktionen der Beteiligten untereinander lassen blinde Flecken weniger dunkel erscheinen, offenbaren neue dynamische Aspekte der Organisation und spiegeln das Glaubenssystem sowie das Verhalten der Beteiligten wider.

Ich denke methodisch an die Theory U von Otto Scharmer. Obwohl ich hier nicht in die Tiefe gehen kann, lässt sich die Theory U kurz zusammenfassen: Durch tiefgehende, neugierige Beobachtung und echtes Einfühlen in die Situation, die Menschen und die Organisation können eigene Denkmuster, Haltungen und vorschnelle Lösungsoptionen infrage gestellt werden, wodurch Neues entstehen kann. Wenn es gelingt, sich mit dem „Quellort“ – dem inneren Ort – zu verbinden, von dem aus die „im Entstehen begriffene Zukunft“ wahrnehmbar wird, kann man zukünftige Herausforderungen adäquat und nachhaltig angehen. Dies geschieht durch Praktiken des Prototypings, des Entwickelns und das „ins Leben bringen“ der Optionen, die sich auf der linken Seite des „U-Prozesses“ durch „die Praktiken des Öffnens“ gezeigt haben. Dann geht es darum, die Optionen zu verdichten, um ins Handeln zu kommen, Prototypen des Neuen zu entwickeln und auszuprobieren – das Neue ins Leben zu bringen.

Es wird deutlich, dass OE-Prozesse im Detail nie exakt planbar sind. Überraschungen, Irritationen und Abweichungen vom geplanten Prozess sind immer (!) zu erwarten. Erfolgreicher als starres Festhalten am Plan ist es, wenn OE-Prozesse als hypothesengeleitete Experimente verstanden werden. Dies ermöglicht es, immer wieder innezuhalten, den Fortschritt des „Experiments“ (oder der Experimente) zu betrachten und Anpassungen vorzunehmen.

Die Hypothesen, aus denen Experimente erfolgen, werden jedoch nicht „am grünen Tisch“ erarbeitet, sondern sind das Ergebnis von (teilnehmender) Beobachtung, Gesprächen mit den Beteiligten und der Organisationsdiagnose. Dieses Vorgehen ermöglicht es, die vorab getroffenen Annahmen durch Erfahrungen in den Experimenten zu modifizieren und Anpassungen einzuschließen. Anstatt an die Organisationsmitglieder (oder gar die gesamte Organisation) zu appellieren, wie sie in Zukunft sein sollen, ist das hypothesengeleitete Experimentieren deutlich wirksamer für nachhaltig gelingende Veränderungen.

2. Speichere Energie und verwende Ressourcen effizient

Aus Sicht der Permakultur wandert Energie durch unser natürliches System, die Erde, und wird in verschiedenen Formen gespeichert: in Wasser, Bäumen, Pflanzen, Boden, Samen und mehr.

Das Permakultur-Design zielt darauf ab, natürliche Ressourcen und Energien wiederaufzubauen, indem wir achtsam mit erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Energiequellen umgehen. Dabei ist ein erweiterter Blick auf das Konzept des „Kapitals“ interessant – möglicherweise im Sinne eines „alten Verständnisses“ von Kapital:

Kapital ist nicht nur das, was wir auf der Bank haben, sondern umfasst auch alle natürlichen Ressourcen, die uns umgeben. Wissen, Informationen, Fähigkeiten und Traditionen sind aus dieser Perspektive ebenfalls wertvolles Kapital. Indem wir dieses umfassende Verständnis von Kapital fördern, können wir nachhaltiger und verantwortungsbewusster mit unserer Umwelt umgehen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Die Anwendung dieses Blicks auf Organisationen und deren Entwicklung zeigt – selbstverständlich – dass effiziente Ressourcennutzung grundsätzlich entscheidend ist, ebenso in der nachhaltigen Organisationsentwicklung. „Organisationale Ressourcen“ in Organisationen der Sozialen Arbeit umfassen nicht nur materielle Güter, sondern auch das „Humankapital“ im besten Wortsinn – menschliche Energie – sowie Zeit, Gebäude, Wissen, personelle und organisatorische Kompetenzen und vieles mehr. Effektivität („Tun wir die richtigen Dinge?“) und Effizienz („Tun wir die Dinge richtig?“) spielen hier eine herausragende Rolle. Aus sozialarbeiterischer Perspektive ist es mir besonders wichtig zu betonen, dass OE-Prozesse nicht dazu führen sollten, dass die Organisation von Beraterabhängig wird, sondern vielmehr das Potential der Organisation fördern sollen, um Selbstbestimmung und Autonomie zu stärken.

Methodisch betrachtet rückt der Einsatz von (agilen) (Projekt-)Managementmethoden in den Fokus. Insbesondere Methoden wie Kanban und Scrum fördern eine klare Priorisierung und helfen, Energie zu sparen sowie vorhandene Ressourcen optimal zu nutzen.

Diese agilen Ansätze berücksichtigen auch die hypothesengeleitete Experimentierlogik, die unter Punkt 1 erwähnt wurde. Denn ein zentrales Element agiler Methoden ist das iterative Vorgehen, das durch kurze Zeiteinheiten (Sprints) geprägt ist: Anstatt einen großen Entwurf von Anfang an zu planen, nähert man sich schrittweise und iterativ einem Ziel. Kurz gesagt, man experimentiert, wertet aus und passt an, wobei die Auswertung der erreichten Ergebnisse genauso bedeutend ist wie der Experimentierprozess selbst.

3. Erziele einen Ertrag

Bei der Permakultur geht es nicht nur um reine Naturschutzprojekte. Vielmehr wird klar zwischen Naturschutzprojekten und produktiven Ökosystemen unterschieden. Permakulturen sollten stets mehrere Erträge erzielen, darunter Nahrungsmittel, sauberes Wasser und stabile Gemeinschaften. Ein ökonomischer Ertrag ist ebenfalls ein Ziel der Permakultur. Aus Sicht der Permakultur werden alle Organismen und Lebewesen von ihrer Umgebung versorgt, gemessen an dem, was sie zum Erhalt benötigen.

Dementsprechend sollten unsere Eingriffe und Veränderungen in Systeme sowie die Hinzufügung neuer Elemente produktiv sein. Dies bedeutet jedoch auch, dass diese Veränderungen nicht nur den Menschen dienen sollten, sondern allen Elementen des Systems. Diese Eingriffe sollten in den natürlichen Kreislauf integriert sein, um das Gleichgewicht und die Gesundheit des gesamten Ökosystems zu erhalten.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Der primäre Zweck von Organisationen ist ihr Überleben. Dieses Ziel streben alle sozialen Systeme an, sei es eine Familie, eine Gruppe oder eine Organisation. Die Veränderung einer Organisation durch Organisationsentwicklung zielt daher darauf ab, das Überleben der Organisation langfristig zu sichern. Konkreter geht es dabei um Maßnahmen, die entweder unerwünschte Verhaltensweisen, Muster oder Prozesse, die das Überleben der Organisation gefährden könnten, ablegen oder zukünftig gewünschte Strukturen etablieren sollen, die das Überleben sicherstellen.

Entsprechend mach Organisationsentwicklung aus reinem Selbstzweck keinen Sinn; es bedarf eines Ertrags der Maßnahmen. Dieser Ertrag kann sich in Form erhöhter Produktivität, gesteigerter Mitarbeiterzufriedenheit oder finanzieller Gewinne zeigen.

Ein Perspektivenwechsel, wie er in der Permakultur zu finden ist, verdeutlicht jedoch, dass Veränderungen in einem System nicht nur einem Stakeholder zugutekommen sollten, sondern allen Elementen des Systems. In einer Organisation bedeutet dies, dass die Interessen aller Stakeholder, sowohl intern (wie Eigentümer:innen, Mitarbeitende, Führungskräfte) als auch extern (wie Nutzer:innen, Kostenträger, lokale Gemeinschaften), berücksichtigt werden sollten.

Das St. Galler Management-Modell bietet hierfür eine umfassende Perspektive, die neben Strategien auch Strukturen, Prozesse und weitere Elemente einschließt. Besonders relevant ist dies in Organisationen der Sozialen Arbeit, wo der Ertrag der Organisationsentwicklung auch für Klient:innen, Bewohner:innen oder „Kunden“, sowie für Kostenträger und andere externe Stakeholder, von Bedeutung ist.

Hier wäre ein „open organizational development“ Ansatz denkbar, der ermöglicht, alle Stakeholder im OE-Prozess angemessen zu berücksichtigen. Dies umfasst die Bewertung und Einbeziehung der lokalen Politik, der Nachbarschaft, der Ehrenamtlichen und anderer relevanter Gruppen in den Prozess.

Schlussendlich ist es entscheidend, dass die Maßnahmen im OE-Prozess nachhaltige und messbare Ergebnisse liefern. Dies erfordert die Priorisierung von Hypothesen, klare Zieldefinitionen und regelmäßige Reflexion des Fortschritts durch Retrospektiven.

4. Nutze Selbstregulation und akzeptiere Rückmeldungen

Permakulturen sind komplexe Systeme, da die Natur zahlreiche Verbindungen zwischen Arten schafft, die für uns Menschen kaum zu überblicken sind. Das Ziel des Permakultur Designs besteht darin, Räume zu schaffen, in denen die Natur ihre Komplexität entfalten und selbst regulieren kann. Es gilt, aus den positiven Veränderungen zu lernen, die spontan entstehen. Gleichzeitig bieten negative Veränderungen die Gelegenheit, die Gestaltungsarbeit zu überdenken und notwendige Anpassungen vorzunehmen.

Permakultur Design zielt darauf ab, die Selbstregulation des Systems zu fördern, um nur ein Minimum an Eingriffen und Pflege zu benötigen. Es geht darum, Individuen, Lebensgemeinschaften und lokale Gemeinschaften zu mehr Autarkie und Selbstregulation zu befähigen. Dies stärkt nicht nur die Resilienz des betrachteten Systems, sondern fördert auch dessen autonome Entwicklung.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Für die nachhaltige Organisationsentwicklung ergeben sich hier (mindestens) zwei wichtige Aspekte:

Zum einen gilt es, Organisationen, die ebenfalls als komplexe soziale Systeme zu betrachten sind, in ihrer Selbstregulation zu fördern. Hierzu dienen bspw. die schon angesprochenen regelmäßigen Retrospektiven, Feedback-Schleifen und damit das hypothesenbasierte, iterative Vorgehen in der Organisationsentwicklung. Dabei ist die Offenheit für Rückmeldungen (aus der Umwelt der Organisation, von internen wie externen Stakeholdern usw.) und die Bereitschaft, diese in zukünftige Planungen einzubeziehen, essentiell.

Zum anderen zeigt sich hier die Nähe zum Kern Sozialer Arbeit. Diese will ja nicht ihre „Expertenlösungen“ an die Menschen verkaufen, sondern Menschen und Gruppen in ihrer jeweiligen Lebenswelt auf dem Weg zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung fördern (habe hier im Blog schon öfter das Bild der „Hebamme“ verwendet, die dabei begleitet, das Beste im Menschen auf die Welt zu bringen). Und so ist es (zu Teilen) auch in der Organisationsentwicklung. Denn auch da gilt es, die in der Organisation liegenden Möglichkeiten „auf die Welt“ zu bringen, anstatt zu versuchen, hippe, angeblich neue Management-Moden zu verkaufen. Im Sinne der Komplementärberatung ist es jedoch an der ein oder anderen Stelle auch hilfreich, als Berater:in seine fachlichen Ideen einzubringen – immer im Wissen, dass damit unmittelbar in die Organisation interveniert wird.

Diesen Punkt abschließend noch eine sehr aktuelle Frage, die immer wieder in OE-Prozessen auftaucht: „Wie gelingt lernen in Organisationen?“. Hintergrund sind Herausforderungen einer alternden Belegschaft und die (auch) damit verbundene Gefahr, dass „Wissen“, vor allem aber Kompetenzen, aus der Organisation „abfließen“.

5. Nutze und schätze erneuerbare Ressourcen

Ein einfaches Prinzip – eigentlich: Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen. Anders gesagt dürfen wir nicht mehr von dem „Erden-Konto“ abheben, als wir einzahlen. Entsprechend gilt es in der Permakultur, erneuerbare Ressourcen zu nutzen, die uns die Natur in den meisten Fällen kostenlos zur Verfügung stellt. Das Ziel ist, unseren verschwenderischen Verbrauch und unsere Abhängigkeit von nicht erneuerbaren Ressourcen zu reduzieren.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Insbesondere mit Blick auf Organisationen der Sozialen Arbeit lassen sich die Mitarbeiter
als die wertvollste Ressource definieren. Maschinen gibt es keine, Soziale Arbeit lässt sich kaum standardisieren, und die eigentliche Leistung sozialer Arbeit entsteht erst im direkten Kontakt zwischen „Klient:in“ und Sozialarbeiter:in.

Ein Blick in den AOK-Fehlzeitenreport 2023 zeigt jedoch, dass Berufe des Sozial- und Gesundheitswesens seit Jahren an der Spitze der Statistiken rund um psychische Belastungen rangieren (vgl. AOK Fehlzeitenreport 2023, 492). Weitergehend und branchenübergreifend zeigt der AOK-Fehlzeitenreport 2023 auch, dass die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen seit 2012 um 48 Prozent gestiegen sind.

Kurz: Die Nutzung der wichtigsten Ressourcen unserer Organisationen erfolgt alles andere als nachhaltig. Das hat viele Ursachen. Für die Organisationsentwicklung stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, dass Mitarbeiter:innen trotz aller Anforderungen nicht in den Burnout rutschen. Hier fehlt der Platz, um darauf ausführlich einzugehen, aber beispielsweise werden im Fehlzeitenreport die folgenden sechs Bereiche, die für eine gute und gesunde Arbeit betrachtet werden müssen, hervorgehoben:

  • Arbeitsinhalte und -aufgaben
  • Arbeitsorganisation
  • Arbeitszeit
  • Soziale Beziehungen
  • Arbeitsmittel
  • Arbeitsumgebung

Kurz: Nachhaltige Organisationsentwicklung kann und darf nicht einseitig oder unterkomplex gedacht werden und beispielsweise allein auf Effizienzsteigerung abzielen.

6. Produziere keinen Abfall

Eng verknüpft mit dem vorherigen Prinzip geht es hier darum, nur Dinge zu produzieren, die langfristig nicht zum Entsorgungsproblem werden. Dies lässt sich durch das englische Permakultur-Motto „Refuse, reduce, reuse, repair, recycle!“ zusammenfassen. Es stellt stets die Frage, ob es wirklich notwendig ist, etwas neu zu produzieren. Sollte dies der Fall sein, muss darüber nachgedacht werden, wie Produkte repariert, getrennt oder recycelt werden können, um so wenig Abfall wie irgend möglich zu produzieren.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Oben habe ich bereits erwähnt, dass das ausschließliche Streben nach Effizienz in Bezug auf Ressourcen keine gute Idee ist. Effizienz kann jedoch auch positiv betrachtet werden, wenn man die Frage „Tun wir die Dinge richtig?“ stellt. In vielen Organisationen, die ich berate, fällt mir immer wieder auf, dass Prozesse sowie finanzielle und personelle Ressourcen nicht effizient genutzt werden. Angesichts des Fachkräftemangels wird deutlich, dass wir so nicht weiterkommen.

Ich habe vor einiger Zeit die Notwendigkeit betont, weniger zu tun, unnötige Bürokratie abzubauen, Prozesse zu optimieren und Ressourcenverschwendung zu vermeiden. Dies habe ich unter dem Begriff „Exnovation“ zusammengefasst, der aus der Nachhaltigkeitsbewegung stammt. Übertragen auf die Organisationsentwicklung bedeutet dies: Von der Auftragsklärung über die OE-Prozessarchitektur und das Design bis hin zu den konkreten Maßnahmen zur Veränderung muss genau überlegt werden, was wirklich notwendig ist und wo Vereinfachungen sinnvoll sind. Die Minimierung von Verschwendung ist ein Schlüssel zur nachhaltigen Organisationsentwicklung und zur effektiven Gestaltung der Organisation selbst.

Methodisch orientiere ich mich an Konzepten des „Lean-Managements“. Lean Management umfasst Denkprinzipien, Methoden und Verfahrensweisen zur effizienten Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette einer Organisation und lässt sich – in angepasster Form – auch auf Organisationen der Sozialen Arbeit übertragen.

Abschließend möchte ich auf Buurtzorg, die berühmte niederländische Pflegeorganisation, hinweisen. Jos de Blok betont immer wieder, dass der Erfolg von Buurtzorg darauf basiert, die Formalstrukturen der Organisation „small and simple“ zu halten. Ich finde, dass dies hervorragend passt.

7. Gestalte vom Muster zum Detail

Ulrike Meißner schreibt, dass die ersten sechs Permakulturprinzipien Systeme aus der inneren Perspektive von Elementen, Organismen und Individuen betrachten. Die folgenden sechs Prinzipien hingegen richten den Blick von außen auf Grundmuster und Beziehungen, die durch Selbstorganisation und Co-Evolution in Systemen entstehen.

Prinzip 7 betont, dass man mit einem Gesamtbild beginnen und sich dann zu den Details vorarbeiten sollte. Es ist notwendig, einen Schritt zurückzutreten, um in Natur und Gesellschaft übergeordnete Muster wahrzunehmen. Diese Muster können dann „zum Rückgrat unserer Entwürfe werden, die wir anschließend Stück für Stück mit Details ausgestalten“ (klick). Anstatt sich von Beginn an in detaillierten Analysen zu verlieren, ermöglicht der Blick auf die Muster eines Systems, übergeordnete Gestaltungsmöglichkeiten zu erkennen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Das Prinzip mag zunächst abstrakt klingen, doch bei genauerer Betrachtung der ersten Schritte eines OE-Prozesses wird klar, dass viele Aspekte übertragbar sind. Der wohl wichtigste Aspekt zu Beginn einer Organisationsentwicklung ist die Auftragsklärung. Diese hilft dabei, innezuhalten und sich ein möglichst gutes Bild der Situation zu machen. Es ist denkbar, dass der vom Auftraggeber vorgeschlagene „Weg“ oder die bereits angedachte Lösung, die in den ersten Gesprächen vorgestellt wird, nicht die einzig mögliche Lösung ist.

Interessant ist auch die Frage, ob das von der Organisation geschilderte Problem nicht eher ein Symptom eines zugrunde liegenden Problems auf einer ganz anderen Ebene ist. Was wäre, wenn alles so bliebe, wie es ist, und wir nichts unternehmen?

Die Auftragsklärung dient dazu, zu Beginn einen Konsens über die bestehende Not, die Treiber der Veränderung und das bestehende Problem zu erreichen, bevor man mögliche Lösungen erarbeitet. Dabei müssen verschiedene Bereiche oder „das große Ganze“ betrachtet werden, um dann schrittweise zu den Details überzugehen.

Das bedeutet auch, dass die Muster der Organisation oder des Bereichs in den Blick genommen werden müssen, um ein klares Verständnis der übergeordneten Ziele und Strategien zu entwickeln. Dies hilft, das Prozessdesign der Organisationsentwicklung passend auszurichten.

8. Integriere anstatt zu trennen

Das achte Prinzip verdeutlicht, dass viele verschiedene Elemente, die zusammenarbeiten, nützlicher sind als einige wenige, die in Konkurrenz zueinander stehen. Stabilität und Resilienz entstehen aus der Verbindung vielfältiger, komplexer Systeme, in denen Beziehungen zwischen den Elementen entstehen. Diese Beziehungen gewährleisten, dass jede lebenswichtige Funktion von vielen Elementen unterstützt wird und jedes Element viele Funktionen erfüllt.

Durch diese enge Zusammenarbeit wird die Resilienz des gesamten Systems gestärkt, da Ausfälle einzelner Elemente leichter kompensiert werden können.

Kurz gesagt: Monokulturen sind anfällig und auf Dauer nicht lebensfähig. Der Blick auf Wälder, Felder und die meisten unserer natürlichen Ökosysteme zeigt genau das. Ich habe in diesem Blog bereits den Vergleich zum vom Borkenkäfer befallenen Sauerländer Wald herangezogen, um die Problematik zu verdeutlichen und mit Organisationen der Sozialen Arbeit zu verknüpfen.

Kooperation und Vielfalt, nicht Konkurrenz und Monokultur, führen zu nachhaltigeren und robusteren Strukturen – sei es im Garten, im Wald, in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Aktuell begleite ich einen OE-Prozess, in dem das Thema Vielfalt groß geschrieben wird. Es wurde beispielsweise eine Vielfaltsvision erarbeitet und Maßnahmen abgeleitet, die die Diversitätssensibilität steigern sollen.

Interessanterweise lautet eine der leitenden Fragen im Prozess: Wie individuell können die einzelnen Arbeitsbereiche und Teams agieren und wo, an welchen Stellen, in welchen Strukturen und Prozessen, bedarf es organisationaler Vorgaben, die für alle gelten?

Unter Berücksichtigung des achten Prinzips ergibt sich organisationale Resilienz und damit Robustheit und Anpassungsfähigkeit dann, wenn verschiedene Abteilungen und Teams eng zusammenarbeiten und ihre individuellen Kompetenzen und Ressourcen bündeln.

Jede wichtige Funktion wird von vielen Elementen unterstützt, und jedes Element erfüllt viele Funktionen, was die Resilienz der Organisation erhöht. Bei Ausfällen oder Veränderungen einzelner Teile der Organisation können diese leichter kompensiert werden.

Kooperation und Diversität innerhalb einer Organisation fördern nicht nur die Innovation, sondern auch die Fähigkeit, sich an neue Herausforderungen anzupassen. Für eine nachhaltige Organisationsentwicklung ist es daher entscheidend, ein Umfeld zu schaffen, das Zusammenarbeit und Vielfalt fördert, um langfristig erfolgreich und stabil zu bleiben.

Ein Blick in die Sozialwirtschaft zeigt, dass Wohlfahrtsverbände ebenso wie große Komplexträger nicht als eine einzige Organisation oder als Konzerne fungieren. Vielmehr lassen sie sich als „Fraktalorganisationen“ definieren.

Eine Fraktalorganisation verbindet entweder mehrere zunächst unabhängige Organisationen, die unter einem gemeinsamen (Primär-)Zweck vereint sind („Nah. Am Nächsten!“), oder mehrere Zweigstellen, Abteilungen oder Projekte innerhalb einer Organisation. Die Einzelorganisationen bzw. unabhängigen Bereiche, Abteilungen oder Zweigstellen nutzen mehrere funktionale Domänen (z.B. Buchhaltung, IT, Produktmanagement oder Entwicklung) gemeinsam. Entscheidungen werden in solchen Fraktalorganisationen nicht ausschließlich an der Spitze getroffen, sondern auch und insbesondere in den Einzelorganisationen (bspw. Erziehungsberatungsstellen oder unabhängigen Wohngruppen).

Deutlich wird hier, dass die oftmals als Problem beschriebenen Strukturen sozialer Organisationen („Die in der Jugendhilfe machen immer ihr eigenes Ding!“) insbesondere in Zeiten, in denen Herausforderungen die Regel sind, als eine der Stärken von Organisationen der Sozialen Arbeit betrachtet werden können. Anstatt Vielfalt einzuschränken, gilt es, trotz der durch Vielfalt entstehenden hohen Komplexität, „rekursive Strukturen“ zu schaffen, die möglichst hohe Orientierung und Sicherheit in der Komplexität bieten.

9. Nutze kleine und langsame Lösungen

Prinzip 9 mag auf den ersten Blick ungewöhnlich klingen – brauchen wir nicht radikalere, also an die Wurzel gehende Lösungen? Doch aus der Permakultur wird klar, dass kleine, kontinuierliche Veränderungen weniger Zeit und Energie benötigen, überschaubarer sind und vor allem langfristig lebensfähiger.

Ein Beispiel aus der Lebensmittelproduktion ist das grausame „Gänsestopfen“. Dabei werden Gänse und Enten zwangsgefüttert, sodass ihre Leber auf das bis zu Zehnfache ihres Normalgewichts anschwillt. Auch die Produktion von billigem Fleisch folgt einem ähnlichen Prinzip: Möglichst schnell, möglichst fett, und oft nur essbar durch den Einsatz massiver Mengen an Antibiotika. Das ist einfach verrückt.

Im Gegensatz dazu geht die Permakultur davon aus, dass kleine und langsame, damit aber natürliche Veränderungen, Systeme langfristig produktiver machen als große Veränderungen, die einen hohen Energie- und Zeitaufwand erfordern.

Kurz gesagt: Indem man die Dinge Schritt für Schritt angeht, behält man die Kontrolle, und die Ergebnisse sind nachhaltiger und stabiler.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Aus meiner Perspektive sind alle Aspekte rund um die „agile Organisationsentwicklung“ besonders hervorzuheben:

Agile Organisationsentwicklung kann als ein dynamischer Ansatz zur Gestaltung und Verbesserung von Unternehmensstrukturen und -prozessen beschrieben werden, der sich an den Prinzipien und Methoden der Agilität orientiert.

Ein zentraler Bestandteil ist dabei die Hypothesenbildung und die darauf basierende iterative bzw. experimentelle Umsetzung dieser Hypothesen. Anstatt die gesamte Organisation auf einmal umzustellen, werden Pilotprojekte in ausgewählten Bereichen gestartet. Diese Projekte bzw. Experimente dienen als Lernfelder, und die gewonnenen Erfahrungen fließen in die weitere Entwicklung ein.

Agile Organisationsentwicklung erfolgt in kurzen Iterationen oder Sprints. In regelmäßigen Abständen werden die Fortschritte der Projekte überprüft und notwendige Anpassungen vorgenommen. Dies ermöglicht eine schnelle Reaktion auf Veränderungen und eine kontinuierliche Verbesserung der jeweils getesteten Hypothesen.

10. Nutze und schätze die Vielfalt

Prinzip 10 der Permakultur-Design-Prinzipien betont die hohe Relevanz von Vielfalt, die wesentlich zur Widerstandsfähigkeit eines Systems beiträgt.

Diese Idee findet sich auch in anderen Bereichen wieder, beispielsweise in der Finanzwelt, wo der Begriff „Diversifikation“ verdeutlicht, dass es riskant ist, „alles auf ein Pferd“ zu setzen. Vielfalt sorgt für Stabilität und Ausfallsicherheit, indem die unterschiedlichen Elemente eines Systems sich gegenseitig unterstützen und absichern.

In der Praxis der Permakultur bedeutet dies, dass bestimmte Pflanzenkombinationen nicht nur den Boden verbessern, sondern sich auch gegenseitig vor Schädlingen und Krankheiten schützen können. Diese Synergien reduzieren den Bedarf an externen Eingriffen und schaffen ein robusteres, nachhaltigeres System.

Ein praktischer Tipp (auch wenn ich ehrlicherweise keine Ahnung habe): Die Kombination von Ringelblumen und Tomaten kann dazu beitragen, Schädlinge fernzuhalten, während Bohnen und Mais zusammen gepflanzt ihre jeweilige Bodenfruchtbarkeit und Stabilität erhöhen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Schon bei Prinzip 8 habe ich dargelegt, dass durch Diversität in Teams und Führungsebenen unterschiedliche Perspektiven und Ideen eingebracht werden, was zu kreativeren und robusteren Lösungen und damit zur Stärkung der organisationalen Resilienz führt. Vielfalt sollte daher aktiv gefördert und wertgeschätzt werden.

Beim Befassen mit Prinzip 10 und dem Begriff Diversifikation kam mir die Entscheidungslogik „Effectuation“ in den Sinn. Das zweite Effectuation-Prinzip, „leistbarer Verlust statt erwarteter Ertrag,“ zeigt, dass erfolgreiche Unternehmer:innen entgegen dem gängigen Klischee nicht durch eine überdurchschnittlich hohe Risikobereitschaft glänzen. Im Gegenteil: Sie riskieren nur das, was sie verschmerzen können, ohne ruiniert zu werden. Sie handeln also anders, als oft angenommen.

Bezogen auf OE-Prozesse bedeutet dies, genau abzuwägen, wo und wie Änderungen vorgenommen werden. Anstatt einen „Big Bang“ zu verfolgen und von heute auf morgen alles auf den Kopf zu stellen, stoße ich immer wieder auf die „Schmerzgrenzen“ in der Veränderungsmöglichkeit sozialer Systeme. Ein Blick in die Sozialwirtschaft zeigt wortwörtlich jahrhundertealte Organisationen, deren Kultur nicht über Nacht entstanden ist. Diese Kultur wird Wege finden, allzu schnelles Vorpreschen, radikale Veränderungen und extreme Vorstellungen einer zukünftigen Organisation zu verhindern.

11. Nutze die Ränder und schätze das Marginale

Prinzip 11 ist für mich das Überraschendste, da ich bisher bewusst noch nicht über diese Perspektive nachgedacht habe. Das Prinzip besagt aus der Sicht der Permakultur, dass an den Grenzen, also dort, wo verschiedene Bedingungen aufeinandertreffen, Übergänge entstehen.

Diese Übergangsbereiche liegen oft nicht im Aufmerksamkeitsbereich, obwohl sie besonders vielfältig und produktiv sind. Anstatt also zu trennen, sollten diese Bereiche als Chance gesehen werden. Ein konkretes Beispiel sind Waldränder, die unglaublich vielfältige Biotope darstellen, da dort verschiedene Bedingungen aufeinandertreffen. Diese Übergangsbereiche sind besonders vielfältig, produktiv und wertvoll. Ebenso sind Grenzstreifen oft wunderbare, unberührte Lebensräume.

Indem wir diese Übergangsbereiche bewusst wahrnehmen und nutzen, können wir von ihrer Vielfalt und Produktivität profitieren und nachhaltigere Systeme schaffen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Mir kommen zu diesem Prinzip die Ausführungen von Groth und Richter (2023) rund um das Thema Führung in den Sinn:

„Wirksame Führung – ob Selbstführung oder Fremdführung (…) – betreibt Grenzmanagement zwischen einer Einheit (von uns häufig und synonym auch »System« genannt) und den relevanten Einheiten ihrer Umwelt. Es geht um Fragen wie: Wie soll eine Einheit reagieren, wenn sich die Umwelt verändert? Kann eine Einheit ihre Position in Relation zur Umwelt verbessern oder absichern? Oder kann die Einheit sogar Impulse in die Umwelt geben, d. h. andere Einheiten in ihrem Sinne beeinflussen? Immer geht es um Grenzziehungs- und Beziehungsfragen und damit um Arbeit an gegenseitigen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten, ohne dass eine Seite die Beziehung dominiert oder eine Seite ganz weggedacht werden kann. Systeme und ihre Umwelten »irritieren« sich gegenseitig und ihr Zusammenspiel, ihre Kopplung, entwickeln ein Eigenleben“ (ebd., 15).

Führung ist demnach „weder allein das, was eine einzelne Einheit tut, noch allein das, was zwischen Einheiten passiert. Führung ist beides, sie sitzt gewissermaßen auf dieser Grenze zwischen einer Einheit und ihrem Außen, beobachtet also ein System und seine Bezugnahme auf die relevanten Umwelten“ (ebd., 16).

Führung (womit hier nicht nur die eine „Führungskraft“ bzw. der:die Vorgesetzte gemeint ist) spielt sich also immer dort ab, wo Systeme aufeinandertreffen. Wenn dazu die Definition von Führung als „erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten“ (Muster, 2020) hinzugezogen wird, wird deutlich, dass es für gelingende Führung notwendig ist, den Blick nicht allein auf das eigene System, sondern zusätzlich immer auch auf das „Dazwischen“ zu richten.

Wenn die Entwicklung des jeweiligen Systems (Person, Mitarbeiter, Team, Organisation) als ein Kernaspekt von Führung definiert wird, kann auch die Organisationsentwicklung nie „abgetrennt“ von der Entwicklung der Menschen und Teams innerhalb und anderer sozialer Systeme in der Umwelt und damit außerhalb der Organisation erfolgreich gelingen. In den fraktalen Organisationsmodellen vieler Organisationen der Sozialen Arbeit rücken dann zum einen die anderen Organisationseinheiten in den Blick, aber auch externe Stakeholder wie die Kostenträger, die bei gelingenden OE-Prozessen mitzudenken sind.

Neben all dem findet auch die Entwicklung innovativer Ideen oft an den Rändern bzw. in Bereichen statt, die nicht im Hauptfokus stehen.

12. Reagiere kreativ auf Veränderung

Achtung, Binse: Das einzig Konstante auf der Welt ist der Wandel.

Dieser Gedanke ist zwar logisch und nicht neu, dennoch stellt Prinzip 12 die entscheidende Frage:

Wie gehen wir mit dem Wandel um?

Der Blick in die Zukunft kann entweder verstörend und deprimierend sein oder neue Möglichkeiten eröffnen. Kreativität bedeutet in diesem Kontext beispielsweise, dass klimatische Veränderungen den Anbau neuer Pflanzenarten ermöglichen können. Es geht darum, unvermeidliche Veränderungen positiv zu beeinflussen, indem wir sie aufmerksam beobachten und zum richtigen Zeitpunkt eingreifen. Dadurch entsteht Anpassungsfähigkeit, die durch vorausschauende Planung entscheidend ist, um in einer sich ständig verändernden Welt erfolgreich zu sein.

Ein flexibles System kann langfristig überleben, da es Umweltveränderungen gibt, auf die wir keinen Einfluss haben. Nur diejenigen, die sich anpassen, sichern ihr Fortbestehen.

Praktische Konsequenzen für die nachhaltige Organisationsentwicklung:

Organisationen insgesamt und die Sozialwirtschaft im Speziellen kennen den Wandel als einzige Konstante. Hier stellt sich immer wieder die Frage, wie wir mit den bevorstehenden und oft unvermeidlichen Veränderungen umgehen und mit welchem Blick wir auf die Herausforderungen schauen. So habe ich beispielsweise in einem Blogbeitrag versucht, den Fachkräftemangel als Chance zu betrachten und zehn Möglichkeiten für die Soziale Arbeit beschrieben, wie dieser „positive Blick“ gelingen kann.

Und auch in Organisationsentwicklungsprozessen sind Veränderungen unvermeidlich. So verlässt in einem OE-Prozess in einer Altenhilfeeinrichtung die Pflegedienstleitung die Einrichtung, in einem anderen Prozess wird die Geschäftsführung aufgrund von Unstimmigkeiten mit dem Vorstand plötzlich entlassen. Zeiten verschieben sich, neue Menschen kommen hinzu oder eine unerwartete Pandemie tritt auf. Immer wieder stellt sich die Frage:

„Wie gehe ich jetzt damit um?“

Ehrlich gesagt, habe ich oft einen „Plan“ im Kopf, eine Prozessarchitektur, die idealerweise mit begrenzten Ressourcen zu signifikanten Veränderungen führt. Ja, es frustriert mich manchmal, wenn der Prozess plötzlich auf wackligen Füßen steht, Anpassungen notwendig sind und ich den Plan über den Haufen werfen muss.

Doch auch hier – wie schon bei Prinzip 10 – lohnt ein Blick in die Entscheidungslogik „Effectuation“. Das dritte Prinzip der Effectuation (Umstände und Zufälle nutzen statt vermeiden) zeigt explizit, dass Veränderungen immer hinzukommen, egal wie gut wir planen. Es macht wenig Sinn, viel Energie darauf zu verwenden, Veränderungen vorzubeugen. Stattdessen sollten wir versuchen, das Unerwartete, Zufälle und sich verändernde Umstände als Chancen und Hebel zu nutzen und in Innovation und Möglichkeiten zu transformieren.

Nachhaltige Organisationsentwicklung, oder: Ein-Mini-Fazit!

Puh, das war ein ganz schön langer Text. Und ehrlich gesagt, könnte man bei jedem einzelnen Prinzip viel tiefer einsteigen.

Bei den meisten Prinzipien habe ich auf Fachliteratur verzichtet. Vielleicht nehme ich mir später die Zeit, die kurzen Ausführungen mit entsprechenden Belegen zu untermauern. Aber für den Moment betrachte ich den Beitrag als „gut genug für jetzt und sicher genug, um es auszuprobieren“.

Klar ist, dass die Prinzipien der Permakultur wertvolle Einsichten bieten, die auf Fragen der nachhaltigen Organisationsentwicklung übertragen werden können.

Indem wir natürliche Systeme als Vorbild nehmen, können wir Strukturen schaffen, die nicht nur effizient und produktiv, sondern auch nachhaltig und harmonisch sind. Durch die Anwendung dieser Prinzipien können Organisationen aller Branchen nachhaltiger, widerstandsfähiger und anpassungsfähiger werden.

Aber was waren die für dich interessantesten Prinzipien? Schreib es doch gerne in die Kommentare oder teile es in den sozialen Medien.

Wie organisationale Resilienz in Sozialen Organisationen gestaltet werden kann: Ansätze, Herausforderungen und Lösungen

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Die Herausforderungen, denen Soziale Organisationen gegenüberstehen, sind enorm. Spannend ist, dass die sich überlagernden gesellschaftlichen Probleme und Polykrisen nicht nur akut sind, sondern sich gegenseitig verschärfen (vgl. hier). Dramatisch dabei ist, dass sich aktuell kaum erkennbare politische Lösungen abzeichnen. Vor dem Hintergrund dieser mehr als herausfordernden Situation ist es entscheidend, dass Menschen in und – hier liegt mein wesentliches Interesse in der Organisationsentwicklung – Soziale Organisationen übergreifend resilient bleiben. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, wie organisationale Resilienz erreicht werden kann.

Dazu findest Du im Folgenden einige Ideen und Ansätze. So wird einführend der Begriff der organisationalen Resilienz definiert. Daran anschließend werden die aktuell diskutierten Ansätze organisationaler Resilienz skizziert und ein Blick auf die besonderen Herausforderungen sozialer Organisationen geworfen. Abschließend wird ein Vorgehensmodell zur Gestaltung organisationaler Resilienz beschrieben, dass Dir in Deiner Organisation helfen kann, Schritte in Richtung „Krisenfestigkeit“ und damit organisationaler Resilienz zu gehen.

Der Beitrag basiert auf einer Ausformulierung eines meiner IdeeQuadrat Newsletter, den ich vor Kurzem verfasst habe. Falls Du Lust hast, regelmäßig Ideen und Gedanken rund um New Social Work, rund um Organisationsentwicklung sozialer Organisationen, Tipps, Links, Infos und mehr zu bekommen, kannst Du den Newsletter hier abonnieren.

Und als Transparenzhinweis: Ja, ich habe die Gratisversion von ChatGPT für erste Ideen zum Text genutzt und verwende auch einige Abschnitte davon hier im Text.

Was ist organisationale Resilienz?

Organisationale Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit einer Organisation, sich an Veränderungen, Störungen, Krisen und unerwartete Herausforderungen anzupassen und dennoch effektiv zu funktionieren. Dabei wirken verschiedene Aspekte und „Qualitäten einer Organisation auf der Mikro-, Meso- und Makroebene [zusammen], die das Unternehmen widerstandsfähig und flexibel für die Handhabung von Belastungen und Krisen machen“ (vgl. Heller, J. (Hrsg.) (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Heidelberg: Springer, 134).

Der Begriff der organisationalen Resilienz ist eng mit dem Konzept der Resilienz in der Psychologie verbunden. Dort beschreibt es die Fähigkeiten einer Person, in schwierigen Zeiten widerstandsfähig zu bleiben und sich von Rückschlägen zu erholen.

Im organisatorischen Kontext geht es bei Resilienz inbesondere um:

  1. Anpassungsfähigkeit: Eine resiliente Organisation kann sich schnell auf neue Situationen einstellen und flexibel auf Veränderungen reagieren. Dies kann bedeuten, dass sie Geschäftsmodelle, Entscheidungswege, Prozesse oder Strategien verändern kann, um sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
  2. Krisenbewältigung: Resiliente Organisationen sind in der Lage, mit Krisen und unvorhergesehenen Herausforderungen effektiv umzugehen. Sie haben bspw. Notfallpläne und -verfahren, um in Krisensituationen zu reagieren und den Betrieb aufrechtzuerhalten.
  3. Lernfähigkeit: Eine resiliente Organisation lernt aus Erfahrungen und Fehlern. Es werden regelmäßig Restrospektiven und Nachbetrachtungen durchgeführt, um zu verstehen, was schief gelaufen ist. Darauf basierend werden Maßnahmen zur Verbesserung erarbeitet und umgesetzt.
  4. Kommunikation: Effektive, effiziente und transparente Kommunikation ist ein wichtiger Faktor für organisationale Resilienz. Die Fähigkeit, Wissen und Informationen innerhalb der Organisation zu teilen und mit internen wie externen Stakeholdern zu kommunizieren, hilft, Unsicherheit zu reduzieren und Vertrauen aufzubauen.
  5. Ressourcenmanagement: Resiliente Organisationen verwalten ihre Ressourcen sorgfältig, um sicherzustellen, dass sie in schwierigen Zeiten ausreichend Kapazitäten und Mittel haben, um weiterhin funktionieren zu können.
  6. Risikomanagement: Eine wichtige Komponente der organisatorischen Resilienz ist die Identifizierung und Bewertung von Risiken. Durch die proaktive Erkennung von potenziellen Bedrohungen können Organisationen Maßnahmen ergreifen, um sich besser darauf vorzubereiten.

Kurz: Organisationale Resilienz trägt dazu bei, das Überleben und damit auch den langfristigen Erfolg von Organisationen sicherzustellen. Dabei geht es nicht allein darum, auf unmittelbare Herausforderungen zu reagieren, sondern proaktiv auf eine langfristige Fähigkeit zur Anpassung und Überwindung von Schwierigkeiten hinzuarbeiten.

Bei der Befassung mit organisationaler Resilienz ist es hilfreich, die Ebenen „Mitarbeitende“, „Teams“ und die „Organisation als Ganzes“ zu unterscheiden.

So ist a) „organisationale Resilienz aus Sicht der Beschäftigten (…) dann gegeben, wenn das resiliente Verhalten durch organisationale Ressourcen unterstützt wird. Diese Ressourcen umfassen Aspekte wie etwa: Handlungsspielraum Unterstützung durch Vorgesetzte, angemessene Arbeitsmenge und Arbeitsintensität“ (vgl. ebd., S. 104, Hervorhbg. durch den Verf.).

Aus b) der Perspektive von Teams ist organisationale Resilienz dann gegeben, wenn folgende Facetten berücksichtigt sind (vgl. ebd.):

  • Die Organisation hält die Mitarbeitenden über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden.
  • Die Organisation schafft ein Verständnis der Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation.
  • Die Organisation stellt Ressourcen flexibel bereit, um eine Reaktion auf unvorhergesehene Probleme zu ermöglichen.

Und übergreifend, aus c) der Perspektive der Organisation, gibt es sogar eine ISO-Norm zu organisationaler Resilienz (22136:2017), in der die folgenden 9 Elemente organisationaler Resilienz beschrieben werden (vgl. näher dazu bspw. hier):

  1. Gemeinsame Vision und Klarheit über den Zweck: Eine resiliente Organisation zeichnet sich durch die gemeinsame Vision, klare Ziele und gemeinsame Werte aus. Dies wird auf allen Hierarchieebenen geteilt.
  2. Verständnis des internen und externen Umfelds und Einflussnahme: Eine resiliente Organisation verfügt über ein tiefes Verständnis der internen und externen Systeme, in denen sie agiert. Dies ermöglicht der Organisation, aktiv Einfluss zu nehmen und Möglichkeiten zur Anpassung zu schaffen.
  3. Führung, die Unsicherheit und Scheitern akzeptiert und ermutigt: In einer resilienten Organisation herrscht eine Führungskultur, die es den Mitarbeitenden erlaubt, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
  4. Festlegung von relevanten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen: Eine resiliente Organisation verankert gemeinsame Überzeugungen und Werte, positive Einstellungen und Verhaltensweisen fest in der Kultur, die für jeden Einzelnen von Bedeutung sind.
  5. Teilen von Informationen und Wissen: Die Mitglieder einer resilienten Organisation teilen aktiv Informationen und Wissen. Das Lernen aus Erfahrungen, einschließlich Fehlern, wird unterstützt und gefördert.
  6. Verfügbarkeit von Ressourcen: Eine resiliente Organisation verfügt über Ressourcen wie qualifizierte Mitarbeitende, finanzielle Mittel, Gebäude, Informationen und Technologie, um die anfälligen Bereiche der Organisation abzusichern und eine schnelle Anpassung an sich ändernde Umstände zu ermöglichen.
  7. Entwicklung und Koordination der Unternehmensbereiche: In einer resilienten Organisation werden die verschiedenen Unternehmensbereiche (bspw. Personalwesen, Qualitätsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Krisenmanagement und Informationstechnologie), definiert, entwickelt und koordiniert. Dies geschieht im Einklang mit den strategischen Zielen der Organisation.
  8. Evaluierung und Unterstützung kontinuierlicher Verbesserung: Eine resiliente Organisation bewertet ihre Ergebnisse und lernt aus Erfahrungen, um Chancen für kontinuierliche Verbesserung zu identifizieren.
  9. Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren und zu managen: Eine resiliente Organisation erkennt frühzeitig zukünftige Veränderungen, kann angemessen darauf reagieren und diese erfolgreich bewältigen.

Organisationale Resilienz und die besonderen Herausforderungen sozialer Organisationen

Meine erste Überlegung war, jeden der einzelnen Aspekte organisationaler Resilienz aus der ISO-Norm herauszugreifen und in Bezug zu den Besonderheiten sozialer Organisationen zu reflektieren. Der Aufwand dahinter ist jedoch enorm und der Mehrwert für Dich wahrscheinlich eher begrenzt… Entsprechend habe ich aus den drei Bereichen a) Mitarbeitende, b) Teams und c) Organisationen jeweils einen Aspekt herausgegriffen, die ich als besonders beachtenswert empfunden habe: 

  1. Auf Ebene der Mitarbeitenden ergeben sich spätestens durch den Fachkräftemangel Herausforderungen bezogen auf die angemessene Arbeitsmenge und Arbeitsintensität. Es ist keine Raketenwissenschaft, festzustellen, dass bei gleichbleibender Arbeitsmenge (bspw. zu betreuende Kids in der Kita) und abnehmendem Personal die Arbeitsmenge für die verbleibenden Mitarbeiter:innen steigt. In den Kernprozessen Sozialer Organisationen fehlt die Möglichkeit der Automatisierung (fast) vollständig.
  2. Auf Ebene der Teams sind zum einen die Ressourcen für Unvorhergesehenes (sog. Slack Ressources) fraglich: Gibt es sowas überhaupt oder sind soziale Organisationen „komplett auf Kante genäht“? Spannender finde ich aber, dass, so die obigen Ausführungen, Resilienz in Teams gefördert wird durch ein klares Verständnis der Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation. Mein Blick in soziale Organisationen zeigt jedoch immer wieder, dass nicht nur das Verständnis der Strukturen und Prozesse, sondern Strukturen und Prozesse überhaupt fehlen. Da fällt es dann entsprechend schwer, ein Verständnis dieser zu entwickeln.
  3. Auf Ebene der „Organisation als Ganzes“ könnte ich vieles, will aber nur das erste Element herausgreifen: Resiliente Organisationen antizipieren Veränderungen. Dazu braucht es die Fähigkeit, sog. irritationsrelevante Informationen überhaupt wahr- und dann auch noch aufnehmen zu können. Das klingt einfacher, als es ist, denn: Organisationen als soziale Systeme grenzen sich – sehr verkürzt – bewusst von ihrer Umwelt ab. Sie ignorieren bewusst viele Informationen, die vielleicht wichtig sein könnten, um mit der Komplexität überhaupt umgehen zu können: Hochschulen schauen auf das Hochschulsystem, soziale Organisationen beobachten die Entwicklungen der Sozialgesetzgebungen, Krankenhäuser beobachten die Entwicklungen im Medizinsektor und so weiter… Würden alle Informationen einfließen, wäre das System überlastet. Wenn man sich aber bspw. die Entwicklungen rund um KI oder AI anschaut (ich empfehle gerade diese Podcast-Episode sehr), stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese haben? Dabei reicht es nicht aus, dass einzelne Menschen in der Organisation sich mit diesen Fragen befassen. Vielmehr muss gegeben sein, dass es zu „anschlussfähigen Kommunikationen“ in der Organisation kommt.

Noch einmal: Ich hätte auch andere Aspekte herausgreifen können, die die Entwicklung organisationaler Resilienz in sozialen Organisationen erschweren. So wäre bspw. die Herausforderungen durch die Abhängigkeit von Kostenträgern (vgl. das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis) ebenso erwähnenswert wie die Frage, ob und wie es gelingen kann, die Lernfähigkeit als Mitarbeiter:in, Team und Gesamtorganisation zu steigern.

Und trotz dieser Herausforderungen müssen wir uns angesichts der skizzierten Veränderungen damit befassen…

…wie die Stärkung der organisationalen Resilienz auch in sozialen Organisationen gelingen kann!

Abschließend möchte ich einen Schritt-für-Schritt-Ansatz zur Stärkung der organisationalen Resilienz in Sozialen Organisationen empfehlen. Und ganz ehrlich: Es geht um die Gestaltung und Entwicklung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber der Reihe nach:

Zu Beginn der Entwicklung resilienter Organisationen steht a) eine umfassende Bestandsaufnahme, gefolgt von b) einer gründlichen Resilienz-Diagnose und endet schließlich mit c) gezielten Maßnahmen zur Stärkung der relevanten Fähigkeiten.

Bestandsaufnahme und Resilienz-Diagnose

Hilfreich für die Bestandsaufnahme bzw. die „Ist-Analyse“ ist die Orientierung an einem Management-Modell, das hilft, alle Bereiche einer Organisation in den Blick zu nehmen. Denkbar ist bspw. eine Befassung mit dem St. Galler Management Modell. Aber etwas Eigenwerbung darf hier ja ruhig sein…

Deswegen empfehle ich das – aus meiner Sicht natürlich – hilfreiche Werkzeug zur Bestandsaufnahme – die IdeeQuadrat New Work Canvas.

In diesem Werkzeug finden sich zahlreiche Fragen, die dazu beitragen können, die Organisation zu analysieren und über Vorgänge in der Organisation zu reflektieren, um dann auf der Reflexion basierend Entscheidungen treffen zu können, die zur Gestaltung der organisationalen Resilienz dienen.

Kategorien, die in der Arbeit mit dem IdeeQuadrat New Work Canvas in den Blick genommen werden, sind:

  • Vision, Zweck und Identität
  • Sachmittel und Ressourcen
  • Optimierung, Innovation und Exnovation
  • Strukturen und Entscheidungswege
  • Interne und externe Stakeholder
  • Prozesse und Regeln
  • Strategien und Konzepte
  • Mandate und Funktionen
  • Kommunikation

Bei der Bestandsaufnahme und der damit einhergehenden Resilienz-Diagnose wird der Blick zunächst auf die bestehenden Herausforderungen in der Gegenwart gerichtet. Der Blick auf die Herausforderungen ist insofern relevant, da zum einen oftmals unklar ist, wie die Vorgänge in meist hochgradig dezentralen sozialen Organisationen gestaltet sind und zum anderen nur über die wahrgenommene Notwendigkeit der Entwicklung ausreichend „Veränderungsenergie“ erzeugt werden kann, um (sofern notwendig) tiefgreifende Anpassungen vorzunehmen.

Gezielte Maßnahmen zur Stärkung der organisationalen Resilienz

Der dritte Schritt ist die Entscheidung und Umsetzung gezielter Maßnahmen zur Stärkung der Organisationalen Resilienz. Diese sind je nach Herausforderung der jeweiligen Organisation hochgradig individuell. Entsprechend ist es schwierig, hier „für alle passende Maßnahmen“ zu beschreiben.

Der Blick auf die in der ISO-Norm aufgeführten Aspekte jedoch eröffnet zumindest eine Orientierung dessen, was für eine resiliente Organisation gegeben sein sollte. Orientiert an den Kategorien des IdeeQuadrat New Work Canvas ist es entsprechend relevant…

  • …sich über die Vision und (vor allem) die Mission der eigenen Organisation(seinheit) bewusst zu werden: Die Mission, der Zweck, von mir aus auch der „Purpose“ der Organisation ist relevant, damit allen Beteiligten klar ist, woran die Organisation arbeitet. Die Fokussierung auf eine erstrebenswerte Mission (und Vision), in der auch die emotionalen Aspekte innerhalb der Organisation berücksichtigt werden, bietet eine klare Ausrichtung, an der sich gemeinsame Strategien und Prozesse orientieren können.
  • …sich den vorhandenen Ressourcen bewusst zu sein und diese krisenfest zu entwickeln. Dabei sind es in dieser Kategorie vornehmlich finanzielle und personelle Ressourcen und Sachmittel. Hinzu kommen aber auch Gebäude oder die digitale Infrastruktur ebenso wie die Kompetenzen und Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen. Krisenfest entwickeln heißt übrigens nicht ausschließlich, die Ressourcen auszubauen und um jeden Preis zu wachsen. Auch der Blick auf Ineffizienzen und damit einhergehende Ressourceneinsparungen ist relevant.
  • …Prozesse zu gestalten, die es ermöglichen, aus Erfahrung zu lernen. Lernen ist umfassend zu verstehen. So sind zum einen regelmäßige Möglichkeiten zu schaffen, hypothesenbasiert Bestehendes (bspw. Prozesse, Abläufe, Angebote, Geschäftsmodelle) zu optimieren und weiterzuentwickeln. Hinzu kommt die Entwicklung der Innovationsfähigkeit, unterstützt durch ein passfähiges Innovationsmanagement. Nicht außer acht gelassen werden darf aber auch hier die Möglichkeit, explizit zu exnovieren und das Bestehende auf allen Ebenen infrage zu stellen. Hierbei ist relevant, internes und externes Wissen in den Prozess der Optimierung, Innovation und Exnovation zu integrieren.
  • …Strukturen zu gestalten, die Anpassungsfähigkeit ermöglichen. Das klingt leichter, als es in der Realität ist. Denn: In sozialen Organisationen geht es nicht immer um die Gestaltung „agiler Organisationsstrukturen“. Diese sind – in ihrer Grundstruktur – oftmals aufgrund der Dezentralität gegeben. So kümmern sich (kleine) Teams um die Wertschöpfung vor Ort, in Wohngruppen, Beratungsstellen, regionalen Einrichtungen. Anpassungsfähigkeit kann hier auch bedeuten, Klarheit (auch in der Krise) über die Gestaltung transparenter Entscheidungswege (Hierarchien) zu schaffen, anstatt Hierarchie ausschließlich „zu verteufeln“.
  • …zukunftsfähige Lern- und Entwicklungswege für die Menschen in der Organisation zu schaffen. Das Personal ist das wesentliche Kapital sozialer Organisationen. Dies gilt nicht nur, aber deutlich verstärkt in Zeiten des Fachkräftemangels. Entsprechend gilt es, sicherzustellen, dass die Kompetenzen der Mitarbeitenden mit aktuellen und zukünftigen Anforderungen korrelieren! Dies erhöht zum einen die Mitarbeiter(ver)bindung und sichert zum anderen das Überleben der Organisation. Hier sind aus meiner Sicht die Ansätze des New Learnings enorm hilfreich.
  • …transparente und funktionale Regeln und Prozesse zu schaffen, die Zusammenarbeit sicherstellen. So fällt mir immer wieder auf, dass Kern-, Unterstützungs- und Managementprozesse entweder gar nicht sind definiert oder nicht bekannt sind. Diese sind jedoch insbesondere in Krisenzeiten hilfreich, um den Betrieb verlässlich aufrechtzuerhalten. Es gilt jedoch auch, bestehende Vorgaben und Prozesse im Sinne der Exnovation zu hinterfragen und nicht funktionale Prozesse abzuschaffen.
  • …klare und sinnvolle strategische Stoßrichtungen für die (nahe) Zukunft zu definieren. Denn: Sofern nicht klar ist, wo die Entwicklungsrichtung der Organisation liegt, worein heute und in Zukunft investiert werden soll (und muss), bleibt auch in der Krise unklar, wo strategische Änderungen vorgenommen werden müssen. An dieser Stelle ist noch relevant, dass nicht nur die Entwicklung, sondern vor allem die Umsetzung der Strategien aktiv gestaltet wird. Im Sinne der adaptiven Strategie gilt es, auch aktuelle Entwicklungen in die Strategie zu implementieren, um auch hierüber die Anpassungsfähigkeit sicherzutellen.
  • …in der Organisation und in den Teams klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu definieren. Hierbei recht es oft nicht aus, allein unflexible und wenig aussagekräftige „Stellenbeschreibungen“ zu erstellen. Vielmehr geht es um die Unterscheidung von Rollen (im Sinne von Stellen) und den Verantwortungsbereichen (Mandaten). So haben bspw. in einem Team einer stationären Einrichtung alle die gleiche Stellenbeschreibung. Dies führt jedoch dann zu Problemen, wenn (nicht nur) in der Krise selbstbestimmt agiert und Verantwortung übernommen werden muss.
  • …die Art und Weise, wie in der Organisation miteinander umgegangen wird, in den Blick zu nehmen. Die Interaktionen und Kommunikationen haben großen Einfluss auf den Geist, die Atmosphäre, die Kultur, das emotionale Wohlbefinden und die Effektivität der Teams und der Organisation als Ganzes. Und gerade in Krisenzeiten sind dies hoch relevante Aspekte, die das Überleben (oder auch nicht) einer Organisation massiv beeinflussen können. Wie auch in der ISO-Norm angeführt, geht es hier bspw. auch um die Frage, wie und ob Wissen in der Organisation geteilt wird.

Fazit, oder: Wir sind besser als wir denken!

Klar ist, dass in einer Zeit, in der der soziale Sektor vor immer neuen Herausforderungen steht, die Entwicklung organisationaler Resilienz von entscheidender Bedeutung ist. Und es wurde auch deutlich, dass organisationale Resilienz Anpassungen und Entwicklungen auf individueller, auf Team- und auf Organisationsebene erfordert. Und da haben soziale Organisationen sowieso spezifische Herausforderungen. Kurz:

Oh man, wer soll das bitte wann und wie machen?

Ja, das ist richtig. Aber! Aber ich habe oben des Öfteren die hoch diversen, dezentralen Strukturen sozialer Organisationen betont. Ja, auch diese bringen einige Herausforderungen mit. Aber sie bieten auch enorme Möglichkeiten, sofern die Vorteile berücksichtigt werden.

Und die Vorteile liegen in der Diversität. Wenn soziale Systeme wie Ökosysteme betrachtet werden, dann zeigt sich, dass insbesondere Monokulturen hochgradig krisenanfällig sind. Reine Fichtenmonokulturen sterben durch einen kleinen Käfer sowie Geschäftsmodelle, die ausschließlich auf ein Produkt bzw. Angebot setzen, durch eine kleine Gesetzesänderung oder Innovation am Ende sein können.

P.S.: Das Bild zu diesem Beitrag zeigt den Garten meines Vater. Ich finde, es zeigt sehr gut, was Resilienz bedeuten kann (auch wenn hier der Wildwuchs etwas überwiegt 😉


Wie aber steht es um die Resilienz Deiner Organisation, Deines Teams oder Deiner ganz persönlichen Resilienz? Hinterlasse dazu gerne einen Kommentar – hier oder auf den verschiedenen, anderen Kanälen…

Quellen

  • Heller, J. (Hrsg.) (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Heidelberg: Springer.

Adaptive Strategiearbeit in Sozialen Organisationen – Ansätze, Herausforderungen und Lösungen

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Der Beitrag „Adaptive Strategiearbeit in Sozialen Organisationen – Ansätze, Herausforderungen und Lösungen“ ist mein Skript bzw. eine Verschriftlichung meiner Gedanken, die ich zur BEB Fachtagung Dienstleistungsmanagement mitgebracht habe. Mein Impuls befasste sich mit „adaptiver Strategiearbeit“, agiler Strategieentwicklung und Strategieumsetzung (und irgendwas mit New Work ;-). Hier (und entsprechend in meinem Impuls bei der Tagung) habe ich dazu vier Fragen beantwortet, die ich hier gerne teilen will:

  1. Wozu brauchen wir ein neues Verständnis von Strategiearbeit – und was ist das eigentlich?
  2. Wie entwickelt man adaptive Strategien in Zeiten des Wandels?
  3. Warum ist Strategieumsetzung in sozialen Organisationen so schwierig?
  4. Was Sie trotzdem tun können!

Wozu brauchen wir ein neues Verständnis von Strategiearbeit – und was ist das eigentlich?

Der erste Teil der ersten Frage ist eigentlich schnell beantwortet:

Wir befinden uns in einer Krisenzeit, in der der Krisenbegriff an die Grenze kommt:

Eine Krise, so findet man in Wikipedia, „ist im Allgemeinen ein Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und der eher kürzer als länger andauert.“

Wenn die Krise zum Normalzustand wird, ist es keine Krise mehr, sondern das „neue Normal“, unsere geteilte Wirklichkeit, in der wir uns befinden.

Diese neue Normal besteht aus einer Aneinanderreihung, mehr noch, aus einer Überlagerung von Krisen und damit von gefährlichen Konfliktentwicklung in verschiedenen natürlichen oder sozialen Systemen.

Hier muss man nicht mehr in die Tiefe gehen, allein die Aufzählung der Begriffe Demokratiekrise, Fachkräftemangel, Haushaltskürzungen, Klimakatastrophe, Krieg, und Künstlicher Intelligenz (in alphabetischer Reihenfolge) reicht aus, um das Problem zu skizzieren.

Aber es bleibt nicht bei der Überlagerung von Krisen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass durch die Synchronisation der Krisenphänomene von deren gegenseitiger Beschleunigung und Verstärkung ausgegangen werden kann (vgl. Homer-Dixon et. al, 2022).

Vor diesem Hintergrund kommt der klassische Strategieegriff massiv an seine Grenzen. Wobei: Was ist eigentlich Strategie?

Was ist eigentlich Strategie?

Interessanterweise wird in der Literatur über Strategie sehr viel vermischt:

Da wird kaum zwischen den Begriffen Plan, Taktik, Strategie unterschieden (vgl. auch Kühl, 2016, 8). Es geht aber um die Verwirklichung von (längerfristigen) Unternehmenszielen bzw. – etwas theoretischer formuliert – um die „Suche nach geeigneten Mitteln zur Realisierung eines vorher definierten Zwecks“ (ebd., 9), soviel scheint klar zu sein.

Aus dieser Perspektive wäre „Strategieformulierung (oder Strategieentwicklung) (…) der Prozess der Suche nach dem geeigneten Mittel (…). Strategieumsetzung (oder Strategieimplementation) wäre der Prozess des Einsatzes der als geeignet identifizierten Mittel, um den vorher definierten Zweck zu erreichen“ (ebd.).

Es ergibt sich ein zweckrationales Strategieverständnis, das von einem Oberzweck der Organisation ausgeht und dann nach geeigneten Mitteln gesucht wird, diesen Zweck zu erreichen. Dieses zweckrationale Verständnis ist wunderbar nach unten zu skalieren, indem auch die Bereiche, Abteilungen und einzelnen Teams Ziele und Zwecke definieren, für deren Erreichung dann geeignete Mittel gesucht werden.

Spätestens angesichts der skizzierten Polykrisen jedoch kommt dieses alleinig zweckrationale Vorgehen massiv an seine Grenzen. Die langfristige Planung von Unternehmenszielen und die darauffolgende Suche nach Mitteln, um die definierten Zwecke zu erreichen, funktioniert nicht mehr, da sich das neue Normal so schnell ändert, dass eine alleinige Fokussierung der Organisation auf die Erreichung strategischer Ziele nicht mehr gelingen kann.

Es kommt heute und zukünftig darauf an, Strategieprozesse aus beiden Perspektiven zu denken und so anzulegen, dass für strategische Ziele geeignete Mittel gesucht werden können und Organisationen gleichzeitig offen dafür bleiben, für bereits in der Organisation existierende Mittel bzw. schon vorhandene Ressourcen geeignete Ziele, Probleme und Einsatzmöglichkeiten zu suchen.

Beim zweiten Ansatz wird gefragt, „welche Mittel in der Organisation vorhanden sind, auf deren Basis man verschiedene, unterschiedliche Ziele anstreben kann“ (ebd., 64).

Die Kombination beider Perspektiven wird dann zur „adaptiven Strategiearbeit“ (oder auch zur agilen, iterativen oder anpassungsfähigen Strategiearbeit).

Dieser Ansatz klingt in der Beschreibung einfach, kehrt jedoch die klassische Denkweise der Strategiearbeit um. Es gilt, mit kleineren Maßnahmen (Inkremente, Experimente) zu beginnen, noch bevor die Bewertung von zig Alternativen stattgefunden hat.

Dazu bedarf es die kontinuierliche, ganzheitliche Einbeziehung der Organisation in die Strategiearbeit und – wie gesagt – eine Abkehr des Denkens der Strategie „von oben nach unten“.

Die ganze Organisation kontinuierlich in den Blick nehmen

Was ist aber „die ganze Organisation“?

Hierzu lohnt ein Blick auf verschiedenen Management-Modelle – hervorzuheben ist aus meiner Sicht das St. Galler Management Modell. Und trotzdem habe ich, wie es sich für einen guten Berater gehört ;-), die „IdeeQuadrat New Wort Canvas“ erarbeitet – eine Kombination verschiedener Ansätze, die mir hilfreich erschienen. Hier findest Du mehr zur „IdeeQuadrat New Wort Canvas“ (inkl. Download und Co.).

Dieses Modell betrachtet eine Organisation aus den Kategorien:

  • Zweck: Wofür treten wir an?
  • Ressourcen: Was und wen haben wir zur Verfügung?
  • Optimierung und Innovation: Wie lernen wir?
  • Strukturen, Prozesse und Mandate: Wie organisieren wir uns?
  • Umweltsphären: Wo spielen wir?
  • Kultur: Wie sind wir (und wie wollen wir sein)?
  • Stakeholder: Wer hat Interesse an und Einfluss auf uns?

Wichtig ist vor allem, dass in jeder Kategorie strategische Entscheidungen im klassischen Sinne (Wo wollen wir hin? Wie kommen wir dahin?) getroffen werden können. Und gleichzeitig können in jeder Kategorie Entscheidungen in der anderen Richtung getroffen werden (Was haben wir? Was können wir damit erreichen?).

Und zur Orientierung lassen sich auf all diesen Ebenen „Markierungen“, „Optionen“ und „Arbeit“ finden.

„Markierungen“, „Optionen“ und „Arbeit“

Die Unterscheidung von „Markierungen“, „Optionen“ und „Arbeit“ findet sich bei Darkhorse (vgl. 2023).

  • Markierungen lassen sich als Erzählungen über die Identität einer Organisation in einer zu gestaltenden Zukunft beschreiben. Sie sind vergleichbar mit (aber nicht gleich) „der einen Vision“ oder „dem einen Nordstern“ einer Organisation. Sie sind deutlich breiter gedacht und liefern damit einen Rahmen für Entscheidungen über die Optionen.
  • Optionen sind die Möglichkeiten, die einer Organisation in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen. Optionen sind nicht alternativlos, sondern bieten Möglichkeiten, Korrekturen auch im laufenden Geschäft vorzunehmen. Und diese Korrekturen sind es, die zeitgemäße und damit anpassungsfähige Organisation brauchen.
  • Und die Thesen, die die Optionen versprechen, werden durch Arbeit überprüft. Hier zeigt sich die Parallele zu den „Inkrementen“ von oben ebenso wie zu Überlegungen rund um agiles Arbeiten oder der Denkhaltung „Effectuation“.

Strategie wird damit über drei Perspektiven gedacht, an denen adaptive Startegiearbeit in den einzelnen Kategorien ansetzen kann.

Dabei aber ist wiederum zu bedenken, dass adaptive Strategiearbeit nicht nur top-down (von Markierungen zur Arbeit), sondern eben auch von der Arbeit zur Entwicklung der Markierungen gedacht und gelebt wird.

Aber wie sieht das etwas konkreter aus, oder:

Wie entwickelt man adaptive Strategien in Zeiten des Wandels?

Die Entwicklung adaptiver Strategien erfolgt aus zwei Perspektiven, die im Folgenden skizziert werden:

Vorgehen aus beiden Perspektiven

Zunächst wird (klassisch) überlegt, welche Ziele und Zwecke die Organisation in den nächsten Jahren erreichen soll. Hier dienen die Markierungen als Ausgangspunkt für Fragen wie „Wer sind wir heute und in Zukunft?“

Aus diesen Markierungen, die die Zwecke der Organisation beschreiben, lassen sich dann Optionen gestalten, die für die Erreichung der Zwecke notwendig sind.

Ein Beispiel:

Die Mitarbeitenden einer Einrichtung aus der Eingliederungshilfe erzählen stolz über die innovativen Lösungen, die sie immer wieder für ihre Bewohner:innen finden. Eine Markierung im Bereich der „internen Stakeholder“ wäre damit bspw. „Wir sind innovativ im Sinne unserer Bewohner:innen“.

Angesichts des Fachkräftemangels stellt sich entsprechend die Frage, wie es gelingen kann, diesen innovativen Anspruch trotz Personalengpässen zu halten. Daraus ergeben sich verschiedene Optionen: Verstärkte Suche nach Fachkräften, Bindung der bestehenden Fachkräfte, Reduzierung des Angebotsspektrums, um die Kernleistungen bestmöglich zu erfüllen, Überdenken der Formalstruktur der Organisation, um darüber klare Orientierung für die Mitarbeiter:innen zu schaffen usw… Jede dieser Optionen kann dann im Sinne iterativen Vorgehens vor dem Hintergrund des Zwecks (aufrechterhalten der innovativen Qualität) getestet werden. Die erfolgsversprechendsten Experimente (Arbeit) lassen sich dann in das regelhafte Angebot der Organisation übernehmen. Kurz: Für den angestrebten Zweck werden geeignete Mittel gesucht.

Die umgekehrte Perspektive ist, über die Arbeit, das Tun, über die vorhandenen Mittel und Ressourcen zu gehen und zu überlegen, welche Optionen sich daraus ergeben, die zu einer Neuorientierung der Organisation führen können.

In unserem Beispiel ist denkbar, dass Mitarbeiter:innen in einem Team der Organisation aus der Not des Fachkräftemangels eine Tugend gemacht haben und neue Wege gehen, die für dieses Team sehr erfolgsvorsprechend sind. Das Denken und Handeln aus den vorhandenen Möglichkeiten des Teams, sichtbar in der geleisteten Arbeit, führt zu neuen Optionen wie bspw. der Rekrutierung von Quereinsteiger:innen, der Verbindung der Einrichtung mit der Kita im Ort, der Entwicklung neuer, ressourcenschonender Dienstplanlösungen, der Reduzierung der Beschäftigung mit internen Prozessen zugunsten echter Arbeit an und mit den Menschen usw. Aus den Optionen ergeben sich dann – mittelfristig – neue Markierungen, die die Gesamtorganisation prägen (bspw. Stärkerer Einbezug des Sozialraums der Organisation).

Und wer hat den Hut auf?

Aus der beschriebenen Logik folgt, dass Strategiearbeit nicht mehr reine „Chefsache“ ist. Top-Down allein reicht nicht mehr (und reichte ehrlich gesagt noch nie wirklich).

Darkhorse (vgl. 2023) unterteilt hier sinnvollerweise in „Strategietreibende“ und „Strategiestakeholder„.

  • Strategietreibende sind Teams oder Mandate (Rollen, Verantwortungsbereiche), die explizit bezogen auf die jeweiligen Optionen gebildet werden und sich um die Optionen kümmern und deren Umsetzung vorantreiben! In unserem Beispiel wäre es ein Team (oder Arbeitsgruppe „Fachkräftemangel“).
  • Strategiestakeholder sind Mandatsträger:innen, die bei Feedbackschleifen involviert werden. Sie bieten Leitplanken für die Strategietreibenden. Idealerweise sind die Gruppen der Strategiestakeholder besetzt mit Mandaten, die nicht nur aus der „Ebene der Markierungen“ (Vorstand, GF, Leitung) bestehen, sondern auch die „Ebene der Arbeit“ miteinbeziehen (Mitarbeiter:innen). Spannend im Sinne einer Open Stategy (und der Teilhabe der Klient:innen Sozialer Organisationen) ist natürlich auch die Einbeziehung von Nutzer:innen in die Gruppen der Strategiestakeholder.

Das konkrete Vorgehen der adaptiven Strategiearbeit orientiert sich damit an einer Verbindung aus Top-Down und Bottom-Up Ansätzen. Wer sich mit Effectuation oder auch mit OKR – Objectives an Key Results – beschäftigt, erkennt die Nähe dieser Modelle zum adaptiven Strategieansatz.

Probleme der Strategieumsetzung in sozialen Organisationen

Die vorherigen Ausführungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach nachvollziehbar, oder? Sie machen auch Sinn, oder? Naja, zumindest für mich 😉 Aber die Realität in sozialen Organisationen zeigt, dass es mit der Umsetzung von Strategien nicht so einfach ist.

Das hat viele verschiedene Ursachen (unter anderem Abhängigkeit von Gesetzen und Kostenträgern, enorme Komplexität der Arbeit mit Menschen usw.). Eingehen will ich hier aber insbesondere auf eine These, die ich in einem anderen Beitrag ausdifferenziert habe. Die These lautet (angepasst auf Strategiearbeit in sozialen Organisationen):

„Weil in sozialen Organisationen die Informalität dominiert, ist Strategiearbeit ungleich schwieriger als in privatwirtschaftlichen Organisationen.“

Um den Beitrag noch halbwegs lesbar zu halten, gehe ich hier nicht in der Tiefe darauf ein, was Informalität ist und warum diese in allen Organisationen vorkommt. Nur soviel:

Die Informalität der Organisation meint die Aspekte in einer Organisation, über die keine formale Entscheidung getroffen wurde – sog. unentschiedene Entscheidungsprämissen.

„Von Informalität als Teil der Organisationsstruktur kann man sprechen, wenn eine nicht in der Formalstruktur erwartete Handlung mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftritt. Erst wenn ein Deutungsmuster sich nicht nur bei einem einzigen Mitglied findet, sondern sich in Teilen der Organisation als erwartbar eingeschlichen hat, hat es den Status einer informalen Erwartung. Erst wenn die kurzfristige Abstimmung mit der Kollegin in der Nachbarabteilung nicht ausnahmsweise vorgenommen wird, sondern wiederkehrend als ‚kurzer Dienstweg‘ zur Abstimmung genutzt wird, hat man es mit einer informalen Struktur zu tun“ (Kühl, 2016).

Diese personenorientierten Routinen und Gewohnheiten werden oft und etwas verkürzt als Organisationskultur definiert: „So machen wir das hier eben, damit es funktioniert.“

Die Herausforderung besteht jetzt darin, dass bewusste, zielgerichtete Gestaltung einer Organisation nur über das Treffen formaler Entscheidungen gelingt.

Wenn jedoch die formalen Entscheidungen vergleichsweise wenig Gewicht haben und die eingeschliffenen Muster unabhängig von den formalen Entscheidungen weiterleben (bspw. durch die Einarbeitung von neuen Mitarbeiter:innen, denen die eingeschliffene Kultur mit auf den Weg gegeben wird), ist Arbeit an den sich aus der Strategiearbeit ergebenden Aufgaben, die ja formale Entscheidungen sind, schwieriger.

Dazu schreibt Rudolf Wimmer, dass es nicht funktional ist, in der Gestaltung von Organisationsdesigns auf die Personenorientierung (gemeint ist die Orientierung an den Mitarbeiter:innen) zu setzen, da das Organisationsprinzip „Personenorientierung“ „nur bis zu einem gewissen Komplexitätsgrad erfolgreich ist“ (Wimmer, 2019).

Dem folgend „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (ebd.).

Wimmer schließt die Ausführungen mit dem Bezug zu Non-Profit-Organisationen, die aus seiner Perspektive „per se veränderungsresistent [sind], weil sie keinen Aufgabenfokus jenseits der persönlichen Bedürfnisse mobilisieren können“ (ebd.).

In sozialen Organisationen zeigt sich jedoch die Personenorientierung (zu verstehen aus Perspektive der Mitarbeiter:innen und im Gegensatz zur Aufgabenorientierung) an vielen Stellen – von der Gründungsgeschichte sozialer Organisationen basierend auf individuellen Erlebnissen der Gründer:innen über die auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesenen Rechtsformen sozialer Organisationen bis hin zur auf die intrinsische Motivation setzende professionelle Identität der in den Sozialen Berufen Beschäftigten.

Im Vorfeld des Vortrags hatte ich ein kurzes Gespräch, in dem ein Mitarbeiter einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung die Hauptproblematik bzgl. gelingender Organisationsentwicklung darin gesehen hat, dass „vor allem die langjährigen Mitarbeiter:innen nicht von ihrem „Expertenstatus“ („Ich weiß, was für die Menschen richtig ist!“) abweichen können!“ Auch dies ist ein wunderbares Beispiel für die vor der Aufgabenorientierung (in diesem Fall Teilhabe ermöglichen) stehende Personenorientierung („Ich weiß, was für dich richtig ist!“).

Noch einmal etwas überspitzt zusammenfasst:

Die Arbeit an den mit der Strategiearbeit verbundenen Aufgaben, das Verfolgen von Zielen, das Suchen nach innovativen Lösungswegen, die klassische ebenso wie die „adaptive Strategiearbeit“ kommen an ihre Grenzen, wenn jede:r macht, was er:sie will.

Wie adaptive Strategiearbeit in sozialen Organisationen gelingt

Abschließend lege ich Handlungsoptionen dar, wie adaptive Strategiearbeit trotz (oder gerade wegen) der skizzierten Herausforderungen gelingen kann.

Den Menschen aus dem Mittelpunkt nehmen

Adaptive Strategiearbeit

Das klingt komisch (und ist bewusst provozierend formuliert). Es ist aber recht einfach erklärt:

Wenn auch soziale Organisationen damit beginnen, die „Menschen aus dem Mittelpunkt“ und deren Verantwortungsbereiche (Rollen oder Mandate) in den Mittelpunkt zu stellen, wird deutlich, dass es in Organisationen um die Erfüllung von Zielen und Zwecken geht. Das ist auch nicht „unmenschlich“, im Gegenteil:

Wenn der:die Mitarbeiter:in als „ganzer Mensch“ in die Organisation inkludiert wird, besteht keine Grenze mehr. Burnout ist vorprogrammiert und völlig logisch. Wenn aber zwischen Mandat und ganzem Mensch unterschieden wird, kann zum einen über die Aufgaben im Mandat und zum anderen – an anderer Stelle, zu anderen Zeiten – über das individuelle Befinden und die „menschliche Seite“ gesprochen werden.

Organisationsbewusstsein entwickeln

Selbstverständlich gehört auch der erste Aspekt – die Trennung zwischen Person und Verantwortungsbereich – zur Entwicklung eines Organisationsbewusstseins. Hier will ich aber weitere Punkte aufführen, die zur Entwicklung eines Organisationsbewusstsein beitragen:

Dazu ist es a) zunächst wichtig, Ziel und Zweck der Organisation bzw. des Bereichs oder der Abteilung bzw. des Teams zu klären und transparent zu machen! Wozu ist die Organisation da? Was ist Kernaufgabe der Organisation? Erst daran orientiert kann „klassische Strategiearbeit“ gelingen. Wenn Ziel und Zweck nicht klar sind, kann nicht daran gearbeitet werden, diesen über die Suche nach geeigneten Mitteln zu erreichen.

Außerdem sollten b) die Entscheidungswege der Organisation geklärt sein und für alle Mitarbeiter:innen verständlich dargelegt werden (dabei muss es sich übrigens nicht nur um „Vorgesetzte“ handeln. Auch selbstbestimmt agierende Teams haben über die Festlegung von Mandaten klare Entscheidungswege). Wer darf was entscheiden? Solange dies unklar ist, kommt es zu einer Verantwortungsdiffusion, die aller Wahrscheinlichkeit nach darin endet, dass keine Entscheidungen getroffen werden.

Ebenso sind c) die Prozesse der Organisation transparent zu definieren, die kausal bearbeitet werden können. Was passiert, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls auftritt? Zu diesen Prozessen gehören bspw. viele Verwaltungsprozsse, aber auch Prozesse wie die Neuaufnahme von Klient:innen, die Festlegung des Ablaufs von Teamsitzungen oder die Dauer von Iterationen bezogen auf bestimmte Projekte. Wichtig ist, dass erst dann, wenn klar ist, wie Prozesse ablaufen, kann an deren Weiterentwicklung gearbeitet werden.

Sicherlich nicht unbedingt beliebt ist d) die Definition von Konsequenzen, die regeln, was passiert, wenn im jeweiligen Verantwortungsbereich der definierten Verpflichtung nicht nachgekommen wird. Und auch hierbei geht es nicht um willkürliche Sanktionierung, sondern um Transparenz und Klarheit.

Über die Aspekte a – d wird deutlich, was die Organisation von den Mitarbeiter:innen will und was – aus der anderen Perspektive – der:die Mitarbeiter:in von der Organisation erwarten kann. Dieser Klarheit, was Organisationen sind und welche Regeln wie durch wen zu befolgen sind, sind sich viele Menschen in sozialen Organisationen nicht (immer) bewusst.

Verbundenheit herstellen um Komplexität zu gestalten

Das Cynefin-Framework (vgl. näher bspw. hier) unterscheidet vier (bzw. fünf) Arten von Aufgaben:

  1. Einfache Aufgaben: Für Aufgaben dieser Domäne sind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gut bekannt und klar. Zur Aufgabebearbeitung sind bestehende Best Practices und Standardverfahren, klare Prozesse und Checklisten geeignet.
  2. Komplizierte Aufgaben: Aufgaben dieser Domäne verfügen zwar über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, aber diese sind nicht offensichtlich. Die Bearbeitung dieser Aufgaben benötigt die Expertise von Fachleuten und das Anwenden von analytischem Denken, um eine Lösung zu finden.
  3. Komplexe Aufgaben (worunter auch die agile Strategiearbeit fällt): Komplexe Aufgaben umfassen viele unbekannte Faktoren. Es gibt keine vordefinierten Lösungen. Die Aufgabenbearbeitung benötigt iterative Experimente, Lernen und Anpassung. Tragfähige Lösungen für komplexe Aufgaben zeigen sich erst im Laufe der Zeit. Wichtig ist hier, möglichst viele Perspektiven und damit viele Mitarbeiter:innen miteinzubeziehen.
  4. Chaotische Situationen: Chaotische Situationen sind durch völlige Unordnung und fehlende Kontrolle gekennzeichnet. In solchen Momenten ist es notwendig, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu stabilisieren, bevor man in eine der anderen Domänen wechseln kann.

Zwischen diesen vier (Aufgaben-)Bereichen findet sich im Cynefin-Framework der aporetische Bereich (die „fünfte Aufgabenart). In diesem Bereich befinden sich Probleme, die noch so unklar sind, dass nicht entschieden werden kann, in welchen Bereich sie fallen. Entsprechend geht es hier darum, Fragen zu stellen und zu reflektieren, anstatt nach endgültigen Antworten zu suchen.

Deutlich wird, dass vor allem komplexe Aufgaben die Beteiligung von vielen Menschen voraussetzen, um zu neuen Perspektiven, Ideen, Hypothesen usw. zu gelangen, die dann in iterativen Experimenten getestet werden können. Da Strategiearbeit immer komplex ist (sonst wäre sie unnötig), macht es Sinn, die Mitarbeitendenschaft der Organisation möglichst breit zu beteiligen.

Wichtiger als die breite Beteiligung ist aber der Aspekt, dass Krisen, neue Herausforderungen, Wandel und damit komplexe Situationen und Aufgaben immer Unsicherheit erzeugen. Der Blick in „unsere Gesellschaft“, das Wählerverhalten, die Suche nach eindeutigen (und damit in Komplexität immer falschen) Antworten zeigt dies eindrücklich.

Gleiches gilt in Organisationen: Auch hier erzeugt hohe Komplexität Unsicherheit, die sich oftmals im Erstarren und im Widerstand der Mitarbeiter:innen äußert.

Der erfolgreiche Umgang mit Komplexität hingegen erfordert – den Ausführungen des Cynefin-Frameworks folgend – genau das Gegenteil des Erstarrens: Ausprobieren, Innovation, Experimentierlaune, Mut, Neulernen.

Entsprechend ist es relevant, einen sicheren Rahmen in der Organisation zu schaffen, innerhalb dessen die Mitarbeiter:innen gemeinsam, verbunden über Experimente, an neuen Ideen arbeiten und neue Lösungen hervorbringen können.

Fazit – adaptive Strategiearbeit in sozialen Organisationen

Sehr kurz zusammengefasst braucht erfolgreiche adaptive Strategiearbeit Arbeit an der Arbeit ;-), den Optionen und den Markierungen – in beiden Richtungen. Man merkt sofort: Ganz ohne Arbeit wird es nix mit der Strategie.

In sozialen Organisationen gelingt dies, wenn die Aufgabenorientierung in den Vordergrund gerückt wird.

Dazu braucht es Organisationsbewusstsein, eine Stärkung der formalen Seite der Organisation, Klarheit über die Aufgabenarten sowie Sicherheit und Verbundenheit bei der Beteiligung an der Strategiearbeit!

Quellen

  • Dark Horse Innovation (2023): Future Organization Playbook – Die unverzichtbare Anleitung für innovative Unternehmen in der Transformation. Murmann Publishers.
  • Homer-Dixon, T., Renn, O., Rockstrom, J., Donges, J., Janzwood, S. (2021): A Call for An International Research Program on the Risk of a Global Polycrisis. ID 4058592. Social Science Research Network, Rochester, NY, 2021, doi:10.2139/ssrn.4058592 (ssrn.com [abgerufen am 3. Mai 2022]).
  • Kühl, Stefan (2016): Strategien entwickeln. Wiesbaden: Springer VS.
  • Wimmer, R., von Ameln, F. Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Wie sind Deine Erfahrungen mit der Strategiearbeit (Entwicklung und Umsetzung) in Deiner Organisation? Lass doch gerne einen Kommentar da oder schreib mir auf den Sozialen Medien (oder hier per Mail).

Warum wir verpflichtende Weiterbildung in der Sozialen Arbeit brauchen

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Kontinuierliche Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist und war schon immer relevant, um neue und sich ständig verändernde Anforderungen zu bewältigen.

Gefordert sind übergreifend Kompetenzen zur Zukunftssicherung der Organisationen und der Gesellschaft. Und spezifisch sind der Weiterentwicklung fachlicher Kompetenzen Kompetenzen für die Gestaltung der digitalen ebenso wie der ökologischen Transformation gefordert.

Diese “Future Skills” (s.u.), wie Innovationskompetenz, Transformationskompetenz oder auch Unsicherheitsbewältigungskompetenz, sind schon jetzt und werden zukünftig unabdingbar. Aus der Herausforderung kontinuierlicher Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels eine Notwendigkeit geworden. 

Mit Blick auf das Angebot und der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit zeigen sich jedoch einige Paradoxien und Herausforderungen. Diese wollen wir hier skizzieren und Ideen zeigen, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann. Am Ende bleiben aber, wie so oft, mehr Fragen als Antworten.


von Prof. Dr. Berthold Dietz und Hendrik Epe


Paradoxien bzgl. der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Noch einmal: Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist notwendig. Es zeigen sich jedoch mindestens drei paradoxe Szenarien, die wir im folgenden näher beschreiben:   

1. Schere zwischen der Relevanz und der Wahrnehmung von Weiterbildung

Branchenübergreifend zeigt sich, dass – obwohl die Zustimmung der Arbeitnehmer:innen wie der Arbeitgeber zur Notwendigkeit “lebensbegleitenden Lernens” enorm hoch ist – die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten hinter den Weiterbildungsbedarfen zurückbleibt (vgl. bspw. cedefop, 2022). 

Es ist davon auszugehen, dass diese Diskrepanz auch in den Sozialen Berufen existiert. Dies ist gerade mit Blick auf die Qualifikation von Leitungskräften interessant: 

Der Weiterbildungsbedarf nimmt auf höheren Qualifikationsebenen eher zu. So sieht – in der Theorie – der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) bzw. der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) für Leitungskräfte bspw. das Level 7 (Master-Niveau) vor. Ähnlich werden Leitungskompetenzen auch im “Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit” (vgl. Fachbereichstag Soziale Arbeit, 2016) nicht auf Bachelor-, sondern auf Master-Level verortet.

Unsere (nicht verifizierte) These lautet, dass eine Umsetzung und Anerkennung dieser höheren Qualifikationsstufen in der beruflichen Realität nicht (umfassend) berücksichtigt wird. 

So zeigt die Erfahrung in den Sozialen Organisationen, dass die Besetzung von Führungspositionen (bspw. auf Team- oder Abteilungsebene) nicht zwingend an eine Höherqualifizierung gekoppelt ist. Insbesondere in kleineren und mittelgroßen Einrichtungen fehlen darüber hinaus (aus unterschiedlichen Gründen) interne Qualifizierungsprogramme für Führungskräfte. Eine Verpflichtung zur Wahrnehmung von externen Weiterbildungsangeboten (bspw. des Sozialmanagements) findet sich ebenso wenig. 

2. Der Hype-Effekt und das Dilemma der Themenjagd

Weitergehend zeigt sich mit Blick auf die Weiterbildungsangebote rund um die Soziale Arbeit und das Sozialmanagement, dass deren Vielfalt scheinbar grenzenlos ist. 

Dabei fokussieren viele Angebote jedoch über das Bedienen von “Managementmoden”,   verstanden als “breit geteilte Vorstellungen darüber, wie (…) Verbände besser organisiert werden können” (Kühl, 2022), auf die Jagd nach Teilnehmer:innen, statt grundlegende, wissenschaftlich fundierte Angebote zur Entwicklung moderner, aber basaler Kompetenzen bereitzustellen. 

Ein auffälliger Aspekt der aktuellen Weiterbildungslandschaft lässt sich als „Hype-Effekt“ definieren: 

Themen, die für Aufsehen sorgen und als reißerisch gelten, dominieren oft die Diskussion. Weiterbildungsangebote zu “Managementmoden” werden erfolgreich kommuniziert und es scheint, als wären Weiterbildungsanbieter nur auf der Jagd nach den neuesten Trends zu sein, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Während diese Strategie kurzfristig (wirtschaftlich) erfolgreich sein kann, bleiben die oftmals komplexen Grundlagen der Sozialen Arbeit und des Sozialmanagements auf der Strecke. Fundamentale, grundlegende Weiterbildungsthemen geraten in den Hintergrund und werden vernachlässigt.

3. Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist Privatsache

Trotz des Wandels der Arbeitswelt und der Notwendigkeit kontinuierlicher Weiterbildung hält sich mit Blick auf die Sozialwirtschaft – etwas überspitzt formuliert – die traditionelle Ansicht hartnäckig, dass Weiterbildung Privatsache ist. 

Es gibt, und hier bestätigen die Ausnahmen die Regel, kaum systematische Förderung durch Verbände und Organisationen – und dies, obwohl in vielen Arbeitsfeldern Weiterbildungen wie bspw. systemische Beratungskompetenzen explizit vorausgesetzt werden. 

Ein Grund dafür ist, dass “Weiterbildungsaktivitäten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit oftmals nur unzureichend in das Managementhandeln von Leitungskräften eingebunden” (Gesmann, 2022, 1f) sind. Daraus resultiert ein Dilemma: 

Obwohl die Arbeitsanforderungen immer komplexer werden, fehlt es oft an Anreizen und formalen Strukturen, um Weiterbildung in den aufgrund des Fachkräftemangels sowieso schon vollen Arbeitsalltag der Fach- und Führungskräfte zu integrieren. 

Gesmann sieht hier die Notwendigkeit der Implementierung eines “systemischen Weiterbildungsmanagements in Organisationen der Sozialen Arbeit” (vgl. 2022). Dieses muss sich explizit “nicht nur an der sich weiterbildenden Fachkraft, sondern zugleich am strukturell gekoppelten sozialen System (i. d. R. dem jeweiligen Team des*der Einzelnen)” (ebd., 164) orientieren mit dem Ziel, “nicht nur (…) einen Transfer I. Ordnung (im Sinne der klassischen Anpassungslogik) zu evozieren, er strebt zudem einen Transfer II. Ordnung an, soll also einen Nährboden schaffen, um individuell erfahrene Irritationen auch zur kontrollierten Destabilisierung vorhandener Kommunikations- und Entscheidungsmuster nutzen zu können (Transfer II. Ordnung)” (ebd.). 

Ein entsprechendes Weiterbildungsmanagement hängt jedoch wiederum an den beiden zentralen Ressourcen Zeit und Geld – im Bilden von Anreizstrukturen (Fachkräftebindung) genauso wie in der Mitarbeitenden- und Organisationsentwicklung. 

Beides ist unserer Meinung nach extrem unterschätzt. Vielmehr besteht der Verdacht (der mangels belastbarer Umfragedaten ein Verdacht bleiben muss, wenn auch “erhärtet”), dass Personalverantwortliche trotz des Fachkräftemangels keine Weiterqualifizierung finanzieren wollen, die danach durch Weggang der Fachkraft anderen Organisationen zugute kommen könnte. 

Und vielleicht wiegt sogar der Aspekt noch höher, dass der Transfer II. Ordnung – die Destabilisierung des bekannten Systems – Ängste hervorruft, die durch die Versagung von Weiterbildung vermieden werden.  

Entweder ist der Personaldruck noch nicht hoch genug und wird noch durch Arbeitsverdichtung kompensiert und an die Mitarbeitenden weitergegeben (was wiederum der Wahrnehmung von Weiterbildung entgegen wirkt), oder aber der Wert von individueller und gleichzeitig organisational gesteuerter Weiterbildung wird unterschätzt. Die Fantasie zur Mitarbeitendenentwicklung reicht noch nicht aus, um sich eine Investition in das eigene Personal mit allen Kosten, aber eben auch Mehrwerten und Gewinnen für die Organisation vorstellen zu können – auch wenn die Mehrwerte und Gewinne nicht kurz-, sondern eher mittel- und langfristig sichtbar werden. 

Den Aspekt der “Weiterbildung als Privatsache” abschließend ist der Blick auf die Möglichkeit, gesetzliche Ansprüche auf Weiterbildung geltend zu machen (bspw. Bildungsurlaub), interessant: 

Eine nicht verifizierte Annahme dazu könnte lauten, dass die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Rechte insbesondere in der Sozialen Arbeit weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Branchenübergreifend ist – trotz schlecht vergleichbarer Datenlage – etwa bei Eurostat bekannt, dass Deutschland im Vergleich eher unterdurchschnittlich in Bildung investiert (Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Öffentliche Ausgaben für Bildung in % des BIP (03/2019), Öffentliche Ausgaben für Bildung in jeweiligen Preisen (09/2018); zitiert nach https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/135809/oeffentliche-bildungsausgaben/). 

Man könnte, etwas überspitzt, formulieren, dass das Land der Dichter und Denker in Wahrheit eher das “Land der schlichten Gelenkten” ist, die sich nicht aktiv, selbstbestimmt und autonom um ihre Entwicklung bemühen. Mit den Worten von Konstantin Sakkas formuliert:

“Denn wir waren nie ein Volk von Dichtern und Denkern, sondern höchstens ein Volk mit überdurchschnittlich vielen Dichtern und Denkern – die sich in Deutschland allerdings (…) nur selten richtig wohl fühlten.” 

(Sakkas 2010)

Und Sakkas ist sicherlich nicht der Erste und nicht der Einzige, der Deutschland Bildungsfeindlichkeit attestiert, womit nicht nur das Fehlen von Kita-Plätzen und der Zustand von allgemeinbildenden Schulen gemeint ist, sondern auch das Bild von Bildung und Lernen und damit auch das Bild von Weiterbildung im Erwachsenenalter. Hierbei spielt wahrscheinlich auch die Unsicherheit über die Durchsetzbarkeit und die fehlende Information und Sensibilisierung von Arbeitnehmenden ebenso wie der Beschäftigenden eine Rolle.

Weiterbildungsverhalten und passgenaue Angebote?

Die Forschung unterscheidet zwischen allgemeiner Erwachsenenbildung (z. B. der klassische VHS-Kurs) und berufsbedingter, betrieblicher Fort- und Weiterbildung (entwickelt und angeboten durch Arbeitgeber oder Verband). Beide Weiterbildungsbedarfe sind nicht steuerbar und sind hier nicht von Interesse, weil sie entweder stark auf persönliche oder betriebliche Belange zugeschnitten sind. 

Was uns insgesamt in der Sozialwirtschaft jedoch interessieren sollte, in Zeiten chronischer Personalprobleme (nicht nur) in Kitas und Pflegeheimen sowie des sich vollziehenden Generationenwechsels durch den demografischen Austritt der geburtenstarken Boomer aus der Arbeitswelt – Antworten auf die schlichte Frage, wie und welche sozialen Angebote aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln sind. 

Seitens der Angebote betrifft es nicht die Orchideenfotografie, die von Bildungsskeptischen gerne als ”Argument” gegen eine flächendeckende, allgemeine Förderung von Fort- und Weiterbildungen angeführt wird. 

Die Leute sollen ihre Arbeit machen, in Zeiten der Bildung fehlen sie in den Teams und kommen nur auf komische Gedanken, die betrieblich für Unruhe sorgen (siehe Transfer II. Ordnung). Machen wir uns nichts vor: Hand hoch, wer nicht auch damit rechnet, dass solche Steinzeit-Einstellungsmuster noch existieren.

Wer die Hand unten behält, macht entweder positivere Erfahrungen mit Personalverantwortlichen und/oder ist mit qualifizierteren Bedenken konfrontiert: “Wie vereinbare ich Arbeitszeit, Familienzeit und Bildungszeit?” Mache ich diese spezielle Fortbildung zu Konfliktmanagement oder zu systemischer Beratung, dann bin ich u. U. in einer erheblich leichteren Verhandlungsposition gegenüber meinen Vorgesetzten. 

Schwierig wird es in der Kategorie “individuelle, berufsbezogene Weiterbildung”, also dem Weiterbildungssegment, welches nicht unmittelbar der aktuellen Tätigkeit, sondern der persönlichen Entwicklung im gewählten Beruf in einem breiteren Sinne entspricht. 

Die Weiterbildungsbeteiligung in diesem Segment ist zugunsten der direkten betrieblichen Fortbildung zwischen 2012 und 2020 deutlich zurückgegangen, anteilig von 13% zu nur noch 8% an allen Weiterbildungsaktivitäten (BMBF 2023:22). Sicherlich kann in der Folge ein Pandemie-Effekt nicht geleugnet werden, der angesichts allgemeiner Verunsicherung alles Zukunftsweisende einer strengen Effizienzbewertung unterzog, aber der Zug in Richtung Vereinbarkeit, Passgenauigkeit und unmittelbarer Verwertbarkeit fuhr schon viel früher ab.

Analysiert man das Weiterbildungsverhalten und fragt nach den Gründen der Nichtteilnahme bei Weiterbildungswilligen, so stehen zwei Hinderungsgründe im Vordergrund: Finanzierung und familiäre Gründe.

Geht man hier weiter in die Tiefe, so zeigt sich ein gravierender Geschlechterunterschied. Während nur 22% der sich nicht weiterbildenden Männer als Hinderungsgrund familiäre Gründe geltend machen, geben diese als Haupthinderungsgrund über 45 % der Frauen an (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271573; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00; Daten für 2016). 

Bei den Kosten als Haupthinderungsgrund ist das Geschlechterverhältnis 27% (m) zu 37% (w) (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271935; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00).

Kurz und vereinfachend gesagt spielen also auch hier Betreuungssituation wie auch Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten bzw. der Gender Pay Gap eine nicht unwesentliche Rolle. Was beides für das Weiterbildungsverhalten mit Blick auf mehrmonatige Programme mit institutionellem Abschluss bedeutet, liegt auf der Hand, wenn man weiß, wie hoch der Anteil von Frauen in sozialen, erzieherischen und pflegerischen Berufen ist.

Handlungsoptionen zur Steigerung der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Das Darlegen von (teils offensichtlichen) Herausforderungen allein ist selten ausreichend für gelingende Veränderung. Vielmehr braucht es das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie den Herausforderungen begegnet werden kann. Einige dieser Möglichkeiten bezogen auf die Weiterbildung in der Sozialen Arbeit werden im Folgenden dargelegt.

Die Vielfalt der Angebote und ihre Grenzen

Trotz der Vielfalt an Weiterbildungsangeboten stellt sich die Frage, ob diese Vielfalt ausreicht, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden?

Braucht es in einer Zeit, in der sich die Anforderungen rasch ändern, nicht vielmehr ganz neue Herangehensweisen an Weiterbildung, wenn klassische Weiterbildungsmodelle an ihre Grenzen stoßen?

Zum einen ist gegen die Angebotsvielfalt grundsätzlich wenig einzuwenden. Diese “belebt das Geschäft” und fördert das Zustandekommen von innovativen Ansätzen und Inhalten. Hinzu kommt, dass sich die Weiterbildungsnotwendigkeiten aufgrund der eingangs geschilderten gesellschaftlichen und organisationalen Wandlungsprozesse ebenfalls kontinuierlich wandeln und entwickeln. 

Zum anderen ist das oftmals klassisch strukturierte “zur Verfügung stellen” der Angebote zu hinterfragen. Anstatt lang andauernder, mit hohen Kosten und Aufwand verbundener „Komplettpakete“ könnten von Seiten der Anbieter der Weiterbildungen innovative Ansätze wie „Weiterbildungs-Primes“ in Betracht gezogen werden:

Ähnlich wie ein Abonnement oder ein exklusives Angebot könnten Weiterbildungs-Primes auf die Bedürfnisse von Fachkräften zugeschnitten und sofort verfügbar sein.

So liegt, jenseits der gehypten Angebote, die es in einem Weiterbildungsmarkt immer geben wird, das Hauptaugenmerk auf den Kriterien Transparenz, Dauer und Kosten. Weiterbildungswillige wie Beschäftigende wollen wissen, was sie vom Bildungsinvestment haben. Dies gilt umso mehr für Weiterbildungsangebote, die mehr der längerfristigen, individuellen Entwicklung als einer kurzfristigen, unmittelbaren Tätigkeitsverwertung entsprechen. Programme, die von mehrmonatiger Dauer sind und auf Jahre konzipiert und akkreditiert werden, sind nur bedingt in der Lage, darauf zu reagieren.

Wir müssen in kleineren Häppchen – den Weiterbildungs-Primes – denken, auch um damit den Bildungsteilnehmenden die Möglichkeit zu geben, auf ihre Weiterbildung gestalterisch Einfluss zu nehmen und sich ihr individuelles Bildungspaket zusammenzustellen.

Bildung muss wie andere meritorische Güter (wie Information, Gesundheitsversorgung oder Kultur) verfügbar sein, wie und wann ich sie brauche, bzw. wie sie in mein Leben passt. Das klingt nach einem konsumistischen Credo, ist aber in erster Linie ein Anspruch, mehr und positivere Bildungserfahrungen zu ermöglichen. Diese braucht es zwingend, um „lebenslang“ weiterzulernen und weiterzukommen.

New Social Work braucht New Social Learning braucht Organisationsentwicklung

„New Learning“ (vgl. näher dazu Foelsing und Schmitz, 2021) lässt sich als Konzept definieren, das auch in der Sozialen Arbeit aus zwei Perspektiven eine wichtige Rolle spielen sollte. 

New Learning lässt sich a) individuell in der Frage zusammenfassen, wie es gelingen kann, selbstgesteuerte und autonome Ansätze des Lernens und zur Gestaltung der eigenen Lernumgebung und -inhalte zu schaffen. Mehr zum Thema New Learning kannst Du auch hier nachlesen.

Gleichzeitig stellt New Learning die Frage, wie es b) den Organisationen der Sozialen Arbeit gelingen kann, “Lernökosysteme” zu schaffen, die weit über klassische Lernsettings wie bspw. das “Wissensmanagement” hinausgehen. 

New Learning greift die Ideen des oben skizzierten “systemischen Weiterbildungsmanagements” auf und erfordert aus beiden Perspektiven – individuell wie organisational – ein Umdenken: 

Zum einen sind die Beschäftigten der Sozialen Arbeit gefordert, sich mit Lernen, Bildung und damit auch der Weiterbildung zu befassen. Es reicht heute und in Zukunft nicht mehr aus, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren und darauf zu hoffen, dass damit dann auch “Schluss mit Lernen” ist. Vielmehr gilt es, ein (neues) Bewusstsein lebensbegleitenden Lernens zu schaffen. Dieses muss über die alle paar Jahre stattfindende Wahrnehmung klassischer, von der Organisation verordneter Weiterbildungsangebote hinausgehen. Es geht darum, eine Haltung zu selbstbestimmtem Lernen und Weiterbildung zu schaffen, die es ermöglicht, selbstbestimmt und autonom eigene Lernoptionen zu finden, zu nutzen und auch zu gestalten. Diese Perspektive könnte die Vermutung nahelegen, dass Weiterbildung damit wieder “ins Private” abgeschoben wird. Das ist aber nicht zielführend.

Entsprechend sind zum anderen die Organisationen der Sozialen Arbeit gefordert, Lernen, Bildung und damit auch Weiterbildung zu einem der heute und in Zukunft wichtig(st)en strategischen Thema zu machen. Organisationen der Sozialen Arbeit sind gefordert, ihren Mitarbeitenden ein Lernökosystem bereitzustellen, das selbstgesteuertes, autonomes Lernen nicht nur ermöglicht, sondern explizit fördert. 

Diese Lernökosysteme gehen jedoch über klassische Maßnahmen – wie bspw. dem Angebot eines Weiterbildungskatalogs – hinaus. Lernökosysteme umfassen bewusst gestaltete, zum Lernen einladende Räumlichkeiten, Möglichkeiten der Wahrnehmung von internen wie externen und digitalen wie analogen Angeboten, das Nachhalten der Wirksamkeit der Lernaktivitäten der Mitarbeitenden ebenso wie eine veränderte Einstellung zur Weiterbildung der Führungskräfte (und vieles mehr, vgl. ebd., 309ff). 

Lernökosysteme betreffen damit das Organisationsdesign sozialer Organisationen, von den Kommunikationswegen über die Gestaltung der Regeln und Prozesse bis hin zur Frage der Einstellung von Personen.

Über die Ausrichtung der Formalstruktur der Organisationen auf die Ermöglichung von Lernen besteht die Hoffnung, perspektivisch eine oftmals gewünschte „Lernkultur“ nicht nur auszurufen, sondern tatsächlich zu ermöglichen.

Die Herausforderung des Ungewissen – oder: Wie lange können wir uns die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit noch leisten?

Schließlich stellt sich die Frage nach Ausrichtung und Qualität existierender Weiterbildungsangebote. 

Oft basieren viele Angebote auf gesicherten Wissens- und Kompetenzbeschreibungen. Alle Spezialisierungen und unmittelbaren Tätigkeitsverwertungen sind Schritte in eine fachliche Zementierung, in der alle ihren Arbeitsplatz in gut funktionierenden Prozessen haben. 

Die Realität jedoch ist längst eine andere: 

Es herrscht Mangel, Arbeiten am Limit, permanente Improvisation zum Bewältigen von Unterbesetzungen und zunehmender Ausfälle. Wir befinden uns zudem in Transformationsprozessen größerer und größter Art. 

Es sind nicht nur die Bedarfe, mit denen die Strukturen einer “industriellen” Sozialwirtschaft nicht mehr Schritt hält. Es sind die Strukturen der Organisationen wie die Strukturen des Funktionssystems Sozialwirtschaft selber, die sich nicht als zukunftstauglich erweisen. 

In einer sich schnell entwickelnden Welt ist das Lernen am Ungewissen, das Auseinandersetzen mit “Noch-nicht-zu-Ende-Gedachtem”, von entscheidender Bedeutung. Die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen und kreativ zu denken, wird zunehmend wichtiger. 

An dieser Stelle ist wiederum auf die Implementierung der “Future Skills” zu verweisen und zu fragen, wie es gelingen kann, einerseits wissenschaftlich fundierte Angebote bereitzustellen, die zukunftsfähiges Lernen ermöglichen und andererseits notwendige Entwicklungen der Weiterbildungsangebote aufgrund von einem “Festhalten am Alten” nicht zu verschlafen? 

Insbesondere im hochschulischen Kontext – beim Angebot bspw. von Master-Studiengängen – regen wir an, die trotz der Regulierungen durch bspw. die Akkreditierung vorhandenen Freiheiten und Möglichkeiten zu nutzen und das “noch nicht zu Ende gedachte” in die Entwicklung und Umsetzung der Weiterbildungsangebote aufzunehmen. 

Über dieses Vorgehen kann ganz praktisch und hautnah “agiles Arbeiten” erlebt werden: Über Annahmen und Hypothesen lassen sich auch in bestehenden Weiterbildungsangeboten Experimente machen und neue Wege gehen. Diese Experimente sind – das ist relevant – regelmäßig zu reflektieren, um aus den Erfahrungen zu lernen und fundierte Weiterentwicklung zu ermöglichen. 

Fazit: Den Spagat meistern

“Nachtigall, ick hör Dir trapsen!” 

Da schreiben zwei Menschen, die selbst in die Entwicklung und Durchführung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit aktiv eingebunden sind, über das Scheitern des Systems. Sie plädieren für die Notwendigkeit von Weiterbildung und für die Implementierung von “systemischem Weiterbildungsmanagement”. Sie kritisieren die Vielfalt an Hype-Angeboten und bieten gleichzeitig selbst “Schauseiten-Weiterbildungen” zu abgefahrenen Themen wie “New Social Work”, “OKR in der Sozialwirtschaft” oder “Agilem Arbeiten in Sozialen Organisationen” an (ich, Hendrik ;-)) bzw. sind als Leiter eines berufsbegleitenden Masterstudienganges ein klassischer Vertreter klassischer tertiärer institutioneller Angebote, die man sich zeitlich und finanziell erst einmal leisten können muss (ich, Berthold ;-)). 

Da ist doch ein Haken, oder? Das kann doch nicht ganz uneigennützig sein? 

Ja, stimmt. Der wesentliche Haken, den wir sehen, ist, dass es deutlich mehr Fragen als eindeutige Antworten gibt, was sich auch im vorliegenden Beitrag niederschlägt. 

Ein Aspekt liegt uns aber am Herzen, der sich in der folgenden Frage manifestiert: 

“Wie kann es gelingen, die für die Zukunft einer lebenswerten Gesellschaft hoch relevante Soziale Arbeit in all ihren Facetten so zu unterstützen, dass sie ihrem eigenen Anspruch heute und in Zukunft gerecht werden kann?”

Dieser Anspruch zeigt sich in der internationalen Definition Sozialer Arbeit: 

“Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung  von Menschen.” 

(IFSW 2014)

Der Anspruch ist hochgradig komplex und die skizzierten Paradoxien in der Weiterbildungslandschaft spiegeln die Komplexität der Sozialen Arbeit und übergreifend der modernen Arbeitswelt wider. 

Es gilt, die Balance zwischen aktuellen Trends und fundierter Bildung, zwischen individueller Verantwortung und systematischer Unterstützung zu finden. Nur so können Fachkräfte in der Lage sein, den Herausforderungen der Zukunft souverän zu begegnen und ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Um diesen komplexen Herausforderungen auch zukünftig begegnen zu können, geben wir abschließend noch eine Frage mit: 

Muss, vor dem geschilderten Hintergrund, Weiterbildung in der Sozialen Arbeit verpflichtend sein? 

Wir denken, dass einiges dafür spricht. 


Wie sind Deine Eindrücke bzgl. der Weiterbildung in der Sozialen Arbeit? Schreib uns diese gerne hier in die Kommentare oder per Mail!


Literatur: 

Drei Thesen für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit

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Spätestens seit der Pandemie sollte klar sein, dass diese „Digitalisierung“ hilfreich, vor allem aber nicht mehr wegzudenken ist. Videokonferenzen, digitale Kommunikation, Vernetzung, effiziente Prozesse mit daraus resultierender Arbeitserleichterung und vieles mehr sprechen für digitale Entwicklungen auch in der Sozialwirtschaft bzw. spezifischer: in Organisationen der Sozialen Arbeit. Und trotzdem geht es mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialwirtschaft nicht (wirklich) voran. Warum ist das so? Was braucht es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit? Darauf will ich hier eingehen.

Aber muss dieser Beitrag in Zeiten von AI, in Zeiten von augumented intelligence, wirklich sein? Haben nicht wirklich langsam alle verstanden, dass es keinen Weg zurück, an digitalen Entwicklungen vorbei, gibt? Doch, schon, aber trotzdem.

So basiert dieser Beitrag darauf, dass ich in vielen Veröffentlichungen, bspw. in den sozialen Medien, immer wieder lese, dass „Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit helfen kann“, aktuelle und zukünftige Herausforderungen Sozialer Arbeit zu lösen.

Das ist mir deutlich zu undifferenziert, da ich in den Organisationen, Einrichtungen und Teams, in denen ich unterwegs sein darf, an vielen Stellen eine zunehmende „Digitalisierungsskepsis“ wahrnehme.

Echte, tiefgreifende Verbesserungen der eigenen Arbeit durch Digitalsierung haben sich – so die Wahrnehmung vieler Fachkräfte – häufig nicht ergeben. Das Versprechen, mehr Zeit für die Klient:innen zu haben, für die eigentliche Soziale Arbeit, für die Arbeit mit den Menschen, hat sich häufig nicht eingelöst.

Und leider viel zu hautnah musste ich in den letzten Wochen ambulante Pflegekräfte eines modernen Verbands erleben, die sehr bewusst Stift und Papier zur Dokumentation verwenden. Auf die Frage „Warum denn nicht digital?“ kam die sehr nachvollziehbare Rückmeldung:

„Stift und Papier funktioniert immer, schnell und sicher, auch bei sauerländischen Funklöchern“.

Aber:

Was ist Digitalisierung eigentlich?

Boah, echt jetzt? Schon wieder diese Grundsatzdebatte? Ganz ehrlich Hendrik, kauf dir’n Buch.

Zum Beispiel:

  • Beranek, Angelika; Hill, Burkhard & Sagebiel, Juliane Beate (2019): Digitalisierung und Soziale Arbeit – ein Diskursüberblick. In: Soziale Passagen 11(2), 225-242.
  • Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz. Veröffentlichung zum zehnjährigen Bestehen der FH der Diakonie. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2018, Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen – Strategien – Praxis. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2020): Sozialinformatik. Digitaler Wandel und IT-Einsatz in sozialen Organisationen, 3., überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos.
  • Kutscher, N. et. Al. (2020, Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Pölzl, A., Wächter, B. (2019): Digitale (R)Evolution in Sozialen Unternehmen. Praxis-Kompass für Sozialmanagement und Soziale Arbeit. Regensburg: Walhalla.
  • Wunder, M. (2021, Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Das ist nur eine Auswahl der vielfältigen Veröffentlichungen rund um das Thema „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ der letzten Jahre.

Und ja, in den Veröffentlichungen stehen wichtige, spannende, richtige Aspekte rund um das Thema. Es lohnt sich, sich auf Basis von Literatur mit dem Thema zu befassen.
Oder anders, deutlich schöner, ausgedrückt:

„Nichts verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem Papier.“ (Cornelia Funke)

Unklar ist aber immer noch, was denn Digitalisierung jetzt genau ist, oder hast Du Dich erstmal hingesetzt und die Bücher gewälzt? Nein? Ach…

Und damit kommen wir schon zur These 1, was es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit braucht:

These 1: Gelingende Digitalisierung braucht klare Erwartungen

Was ist New Work? Was ist Innovation? Jede:r hat zu diesen Begriffen Bilder im Kopf, jede:r kann etwas zu dem Thema sagen und kann – meinungsstark – seine eigene Position vertreten. Und bei Digitalisierung ist es genauso:

Jede:r hat eine Vorstellung dessen im Kopf, was „Digitalisierung“ bedeutet.

Das ist super, wenn man den Party-Smalltalk am Laufen halten will:

„Und, wie steht es um die Digitalisierung in Eurer Einrichtung?“

Da flutscht das Gespräch!

Und aller Wahrscheinlichkeit nach versteht man sich auch gut, da die Diskussion von A wie Algorithmen bis Z wie Zukunft mäandern kann, ohne an der ein oder anderen Stelle über die Ufer treten zu müssen.

In Workshops zur Entwicklung von Digitalstrategien nutze ich zu Beginn gerne die Übung, dass jede:r einmal „sein“ Digitalisierungsalphabet aufschreibt: A wie Alphabet, B wie Bits und Bytes, C wie Computer, D wie Datenverlust… Dabei wird deutlich, dass jede:r sehr eigene und häufig sehr andere Erwartungen an das hat, was Digitalisierung im Allgemeinen und im Spezifischen bezogen auf die eigene Organisation ist bzw. bringen soll.

Wenn jedoch die einen die Hoffnung von Digitalisierungsbemühungen auf die Vereinfachung bestehender Prozesse (bspw. zur Pflegedokumentation) legen, sich die anderen endlich mal für die Employer Branding Kampagne in Social Media vertreten sehen wollen und die Dritten neue, digitalisierte Geschäftsmodelle oder die sinnvolle Nutzung sog. „künstlicher Intelligenz“ erhoffen, wird es schwierig, ein gemeinsames Verständnis, geschweige denn eine gemeinsame, sinnvolle, umsetzbare Strategie zu entwickeln.

Hinzu kommt, dass die verschiedenen Erwartungen an „die Digitalisierung“ nur zu enttäuschen sind, sofern diese nicht vorab geklärt werden.

Was kann getan werden?

Entsprechend ist dies der erste Schritt: Es sind die Erwartungen an die Digitalisierungsbemühungen zu klären. Darüber kann partizipativ ein gemeinsames Verständnis dessen geschaffen werden, was durch „die Digitalisierung“ ganz spezifisch in der eigenen Organisationen erreicht werden soll und kann.

Dieses „kann“ ist relevant, denn: Möglich ist vieles, realistisch umsetzbar deutlich weniger und funktional für die Organisation sind vielleicht nur wenige, kleine Schritte, die aber echte Veränderung im Kleinen bewirken.

Die kleinen, häufig nicht für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen sichtbaren Fortschritte sind immer wieder zu kommunizieren, damit nicht der Eindruck entsteht, „viel Lärm um nichts“ zu machen.

These 2: Gelingende Digitalisierung braucht ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung durch Digitalisierung

Digitalisierung formalisiert – immer! Klingt komisch, ist aber recht einfach erklärt:

Die Einführung eines Messengers zur Kommunikation mit den Klient:innen kann nicht der Entscheidung einzelner Organisationsmitglieder und ebensowenig der Entscheidung einzelner Teams oder Organisationseinheiten überlassen werden. Genauso kann nicht jedes Team, bspw. in der ambulanten Pflege, individuell entscheiden, ob sie Programm X oder Y zur digitalen Dokumentation nutzen oder ob sie doch lieber weiterhin analog, mit Stift und Papier, dokumentieren.

Digitalisierung erfordert formale Entscheidungen, die Gültigkeit für die Gesamtorganisation besitzen.

Richtig spannend wird es beim Dokumentenmanagement: Sofern die Organisation einheitliche, formal vorgegebene Prozesse der Pflege, Bearbeitung, Ablage usw. von Dokumenten anstrebt, sind alle (!) Mitarbeiter:innen gefordert, die Vorgaben einzuhalten.

Das ist mehr als nervig, wenn es vorab eine „Kultur der dominierenden Informalität“ gab und jede:r irgendwelche Dokumente irgendwie ändern und irgendwo „ablegen“ konnte.

Zur Erläuterung: Informalität lässt sich als das „Netzwerk bewährter Trampelpfade, die in Organisationen immer wieder beschritten werden“ (Kühl, 2010) definieren.

Eine Kultur der dominierenden Informalität bedeutet entsprechend, dass die Einhaltung formaler Vorgaben als weniger wichtig erachtet wird als das Netzwerk der bewährten Trampelpfade bzw. die erwarteten, spontanen, individuellen, nicht formal geregelten und damit eben informellen Entscheidungen von Individuen und Teams.

Meine These ist, dass eine Kultur der dominierende Informalität in sozialen Organisationen vorherrschend ist und diese Kultur Veränderungsbemühungen erschwert.

Überspitzt formuliert wird erwartet, dass Mitarbeiter:innen und Teams spontan, aus Erfahrung und Intuition, basierend auf den eigenen Vorlieben und „gefühlten Notwendigkeiten“, anstatt basierend auf Vorgaben der Organisationen, festgelegten Prozesse oder gar „Ansagen von oben“ zu agieren.

Um nur ein Beispiel zu nennen, zeigt sich die dominierende Informalität in der verhältnismäßig geringen Bedeutung eines standardisierten Qualitätsmanagements in sozialen Organisationen. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, weist bspw. Grunwald darauf hin, dass Vorstellungen eines rein standardisierten Qualitätsmanagements dazu führen, dass QM als die notwendigen informellen Handlungsspielräume beschneidend erlebt wird und die Befürchtung besteht, dass Strategien und Verfahren „zu sinnentleerten Qualitätsmanagement-Routinen werden, womit die potentiellen Chancen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Qualitätsmanagement und seiner möglichen Bedeutung für die eigene Organisation verspielt werden“ (2018, 618).

Meine These der „dominierenden Informalität sozialer Organisationen“ findest Du tiefer ausgearbeitet unter dem Link.

Aber:

Die Informalität (im Gegensatz zur Formalität) sozialer Organisationen muss nicht immer schlecht sein. In vielen Fällen ist informelles Handeln hoch funktional, insbesondere für soziale Organisationen:

Die Komplexität sozialer Arbeit erfordert spontane Entscheidungen, ein hohes Maß an intrinsischer Motivation, kreatives und individuelles, auf Beziehung setzendes Vorgehen. Entsprechend sinnvoll sind „agile Organisationsdesigns“ oder die Entwicklung selbstbestimmt agierender Teams in und für soziale Organisationen.

Aber eine Kultur, in der die Erwartung des Treffens individueller Entscheidungen vor der Erwartung des Einhaltens von allgemeingültigen, organisationalen Regeln steht, passt eben nicht zur immer formalisierenden Digitalisierung.

Was kann getan werden?

Zunächst einmal ist relevant, Informalität als existente Rahmenbedingung in sozialen Organisationen zu akzeptieren. Ganz allgemein formuliert kann nicht „alles“, jeder Handlungsschritt in Organisationen formalisiert werden.

Und spezifisch in der sozialen Arbeit ist der Versuch, dieses zu tun, an vielen Stellen dysfunktional. Man muss sich nur einmal den „Dienst nach Vorschrift“ in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung vorstellen, in der es nur wenige Vorschriften (für die Mitarbeitenden) geben kann.

Ebenfalls notwendig ist es, Digitalisierungsbemühungen aus der Brille der mit der Digitalisierung zwangsläufig einhergehenden Formalisierung zu betrachten. Es können nicht alle Mitarbeiter:innen mitentscheiden, welche Kommunikationsplattform verwendet wird. Ebenso kann, bspw. bei digitaler Dokumentation nicht mehr individuell entschieden werden, wer was wie dokumentiert. Eingabemasken sind vorgegeben und auszufüllen, ob man will oder nicht.

Über diese beiden Vorüberlegungen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsweise sollten die Mitarbeiter:innen informiert werden. Dadurch kann grundlegend ein zumindest besseres Verständnis geschaffen werden, was Digitalisierung sozialer Organisationen im Allgemeinen und im Spezifischen für die eigene Organisation bedeutet und welche Implikationen für die eigene Arbeit mit Digitalisierung einhergehen.

Information allein ist jedoch nicht ausreichend. Es bedarf basierend auf der Information dann der gemeinsamen Auseinandersetzung in der Organisation über die Auswirkungen. Es wird Menschen in der Organisation geben, die die Entwicklung begrüßen, Menschen, die die Entwicklung hinnehmen und Menschen, die sehr kritisch auf die Digitalisierungsbemühungen schauen.

Und nein, ich plädiere nicht dafür, „alle Menschen mitzunehmen“. Das wird nicht gelingen. Aber das Wahrnehmen auch der kritischen Stimmen in der Organisation ist wichtig, um gute Wege sinnvoller Digitalisierung zu beschreiten.

These 3: Gelingende Digitalisierung braucht unternehmerische Kompetenz

Nein, jetzt erfolgt kein Bashing der „ach so innovationsfeindlichen Sozialwirtschaft“ und ebenso kein Verweis auf die Unbeweglichkeit der „großen Tanker“. Das ist nämlich nicht so: Sozialwirtschaft ist und war schon immer hochgradig innovativ. Und unternehmerisch, wenn unternehmerisches Handeln verstanden wird als „mit wenigen Mitteln Großes zu leisten“.

Insbesondere sehe ich unternehmerische Kompetenzen bei den Führungskräften, Vorständen, Geschäftsführungen der Organisationen.

Ja, es mag manche geben, die immer noch an der „guten alten Zeit“ festhängen und die Asche anbeten, anstatt das Feuer weiterzugeben. Aber die Menschen, mit denen ich arbeiten darf, denken nach vorne, wollen etwas bewirken, Dinge im Sinne der ihnen anvertrauten Menschen voranbringen, Neues gestalten. Und das in hochgradig dynamischen, komplexen Umwelten unter den Rahmenbedingungen politischer Begrenztheiten und (zunehmend) bürokratisch agierender Kostenträger.

Ich vermisse hingegen unternehmerische Kompetenzen bei den Mitarbeiter:innen an der Basis.

Aber was genau verstehe ich unter „unternehmerischen Kompetenzen“, was haben diese mit stockenden Digitalisierungsbemühungen zu tun und vor allem: Warum sollten Mitarbeiter:innen an der Basis diese Kompetenzen nicht haben?

Unternehmerische Kompetenzen beziehen sich nicht nur auf die Fähigkeiten einer Person in Bezug auf „geschäftliche“ Aktivitäten, sondern ganz grundlegend auf Fähigkeiten, wie sie „auf die Welt“ schaut und mit dieser interagiert.

Im Gegensatz zu einer reaktiven Defizitorientierung geht es um die Entwicklung von Fähigkeiten, Chancen zu erkennen, kalkulierbare Risiken einzugehen, Innovationen voranzutreiben und Verantwortung zu übernehmen, um auch in Unsicherheit erfolgreich und „proaktiv“ agieren zu können.

Der Blick beispielsweise auf die Ausführungen zu Future Skills von Ehlers (2020) und im Spezifischen auf die Gruppe der „Organisationsbezogene Future Skills“ (Kompetenzen, die sich auf den Umgang mit der sozialen, organisationalen und institutionellen Umwelt beziehen) zeigt für mich das, was unter „unternehmerischen Kompetenzen“ gut gefasst werden kann. Ehlers beschreibt hier Fähigkeiten wie Sinnstiftung und Wertebezogenheit, die Fähigkeit, Zukünfte gestaltend mitzubestimmen, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu kooperieren und in besonderer Weise kommunikationsfähig, kritik- und konsensfähig zu sein. So ist – als nur ein Beispiel – Zukunftskompetenz „die Fähigkeit mit Mut zum Neuen, Veränderungsbereitschaft und Vorwärtsgewandtheit die derzeit gegebenen Situationen in andere, neue und bisher nicht bekannte Zukunftsvorstellungen weiterzuentwickeln und diese gestalterisch anzugehen“ (ebd., 94ff).

Unternehmerische Kompetenzen beinhalten Kompetenzen wie Innovations-, Führungs-, Kollaborations- und Kommunikationskompetenz. Aber auch Fähigkeiten wie Finanzwissen, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen lassen sich unter die „unternehmerischen Kompetenzen“ fassen.

Ich will hier nicht zu sehr in die Tiefe gehen, empfehle aber eine Auseinandersetzung mit den Future Skills.

Warum aber braucht es die hier angerissenen Kompetenzen für erfolgreiche Digitalisierung?

Auch dies ist eine große Frage, die sehr kurz beantwortet werden kann: Das sinnvollste Vorgehen zur Gestaltung einer dynamischen und komplexen Welt (egal, ob auf individueller Ebene, auf Ebene von Teams und Organisationen oder auf Ebene der Gesellschaft und der Welt als Ganzes) besteht im Experimentieren und Lernen. Nur durch das Ausprobieren des Neuen und das Lernen aus den gemachten Erfahrungen ist es möglich, sich Schritt für Schritt in die erwünschte Richtung, bspw. hin zur „digitalen Vision“ der eigenen Organisation, vorzutasten. Dieses aus dem agilen Management bekannte, „iterative Vorgehen“ wurde inzwischen an den verschiedensten Stellen ausführlich beschrieben.

Und dieses iterative Vorgehen findet sich auch im Denken und Handeln erfolgreicher Unternehmer:innen. Wiederum ohne zu tief einzusteigen findet sich unter dem Vorgehensweise „Effectuation“ eine anwendbare Logik, wie Unternehmer:innen „ins Handeln kommen“ und gleichzeitig Risiken minimieren, Partnerschaften eingehen und Zufälle nutzen.

Die unternehmerische Logik „Effectuation“ verbindet die unternehmerischen Kompetenzen mit den Notwendigkeiten des iterativen Vorgehens zur Gestaltung der Digitalisierung.

Aber warum vermisse ich diese Herangehensweise bei den Mitarbeiter:innen an der Basis sozialer Organisationen?

Dazu ist vorab zu konstatieren, dass das Problem nicht bei den Individuen liegt, sondern vielmehr als strukturelles Problem verstanden werden muss:

Da Soziale Arbeit im Wesentlichen kostenträgerfinanziert ist, bestehen wenige Anreize, „unternehmerisch“ zu agieren. Nur ein paar Gründe: Es besteht, insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels, nicht die Notwendigkeit, a) durch bessere Angebote neue „Kunden“ zu gewinnen. Außerdem besteht kaum Anreiz, b) „möglichst gute“, wirksame Soziale Arbeit zu leisten, damit die eigene Organisation weiterempfohlen wird. Hinzu kommt, dass c) die Vergütung Sozialer Arbeit in den meisten Fällen auf Tarifverträgen basiert, die wiederum wenig Anreize schaffen, besonders innovativ, überdurchschnittlich gut oder besonders effizient zu arbeiten. Und nein, der völlige organisationale und individuelle Burnout (spannend dazu der aktuelle Bericht der DAK) aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (ausgelöst insbesondere durch den Fachkräftemangel) ist keine Effizienz. Hinzu kommt, dass d) das für gelingende Digitalisierung notwendige iterative Vorgehen, das Experimentieren und Lernen, den Finanzierungsbedingungen der Kostenträger zuwiderläuft – in der Regelfinanzierung ebenso wie (zumindest offiziell) in der Finanzierung innovativer Projekte (deren Anschlussfinanzierung oftmals völlig unklar bleibt).

Kurz: Die strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft laden nicht dazu ein, unternehmerisch zu agieren. Und die angesprochenen Punkte a) – d) sind alles andere als abschließend. Sie verdeutlichen nur, dass fehlende unternehmerische Kompetenzen – wie so oft – kein ausschließlich individuelles Problem sind.

Und der Blick in die Zukunft zeigt aktuell sehr dramatisch, dass die Rahmenbedingungen alles andere als besser werden. Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 sprechen hier eine deutlich düstere Sprache. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bringt es auf den Punkt: „Die Pläne zwingen zu massiven Einschnitten bei sozialen Angeboten: von Freiwilligendiensten über die psychosoziale Versorgung Geflüchteter bis hin zur Unterstützung Arbeitsuchender.“ Marc Groß, Vorstandsvorsitzender der Liga-BW, sagt: „Sollten die Kürzungen wie vorgeschlagen beschlossen werden, trifft dies genau die Menschen, die es jetzt bereits am schwersten haben: Kinder, Jugendliche und Familien, Menschen in Armut, geflüchtete und zugewanderte Menschen“.

Und konkret im Kontext der Digitalisierung sind Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. Euro vorgesehen, die das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgesetzte Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung komplett aushebeln: „Hier werden die Verbände mitten im Aufbruch und in wichtigen strategischen Entwicklungen stark beeinträchtigt“, so die BAGFW.

Die Mitarbeiter:innen an der Basis aber sind nicht „geschult“ darin, Probleme „selbst in die Hand“ zu nehmen. Noch einmal: Das ist kein individueller Vorwurf, sondern strukturell bedingt. Und gleichzeitig ist es es relevant, genau hinzuschauen:

Das Jammern über schlechte Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, den Staat, die Politik, die da oben und diesdas hilft (und ist wirklich relevant) für die eigene Psychohygiene, verbessert die Situation aber nicht. Es gilt vielmehr, die eigene Freiheit zu nutzen. Und diese Freiheit ist in Organisationen mit der oben beschriebenen „dominierenden Informalität“ alles andere als klein. Denn gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team und oftmals auch völlig individuell zu entscheiden, was notwendig und möglich ist:

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer:innen gestaltet werden können. Die oberste Führungsebene hat – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort.

Wir waren ja beim Thema Digitalisierung, Du erinnerst Dich? Da gilt das Gleiche:

Trotz der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung ist es nur vor Ort möglich, die für die Digitalisierung notwendigen iterativen Experimente zu starten bzw. gesamtorganisationale Experimente für vor Ort zu adaptieren und aus diesen zu lernen, damit Digitalisierung gelingen kann.

Was kann getan werden?

Der erste Punkt ist der weitere Kampf (leider muss dieser Begriff benutzt werden) um die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft. Lobbyarbeit, die Verständigung mit den Kostenträgern über die komplexen Bedingungen sozialer Arbeit, wirksame Öffentlichkeitsarbeit für die Anliegen und die Bedeutung sozialer Dienstleistungen sind heute wichtig und werden in Zukunft wichtiger.

Aber auch wenn die Rahmenbedingungen das wesentliche Problem darstellen, brauchen wir mehr sichtbare Beispiele von Menschen, die mutig neue Wege beschreiten und unternehmerisch Innovationen vorantreiben.

Mir fallen hier viele Menschen ein, die Beispiel für gelingendes Unternehmertum sein können. Hier nur drei Beispiele:

  • Die Diakonie An Sieg und Rhein entwickelt mit der integrierten Sozialberatung die Sozialberatung der Zukunft. Dabei arbeiten Berater:innen mit verschiedenen inhaltlichen Spezialisierungen kollaborativ in Echtzeit mit Klient:innen zusammen. Patrick Ehmann, Geschäftsführer der Diakonie An Sieg und Rhein berichtet hier im Podcast vom aktuellen Stand der Entwicklungen des neuen Beratungsansatzes.
  • Bei der SozKom GmbH unter Leitung der beiden Geschäftsführerinnen Kathrin Stern und Rita Resch hat ein eigenes organisationales Betriebssystems – die „sozKomKratie“ – entwickelt und strukturiert sich anders. Das führt bspw. dazu, dass sich die Organisation keine Sorgen um Fachkräftegwinnung machen muss. Mehr dazu kannst Du hier im Podcast anhören.
  • Thomas Mampel beschreibt in seinem aktuellen Blogbeitrag das vom Stadtteilzentrum Berlin-Steglitz entwickelte kleine, aber sehr feine Projekt „Mobile Lernwerkstatt Demokratie“. Mit Koffern voll mit Moderations- und Workshopmaterial führen die Kolleg*innen spannende Projekttage zur aktuell mehr als relevanten Demokratieförderung an Schulen und in Kinder- und Jugendprojekten durch.

Ich will damit sagen, dass es die „Intrapreneur:innen“ in sozialen Organisationen braucht und gibt.

Intrapreneur:innen sind Mitarbeitende, „denen die Balance zwischen dem persönlichen Einsatz für die eigenen – von der hegemonialen Norm in ihren jeweiligen Organisationen abweichende (!) – Werte und Ideale auf der einen und der Anpassung an die institutionalisierten Settings, in denen sie agieren, auf der anderen Seite gelingt“, wie Hannes hier im Blog schreibt.

Entsprechend gilt es, in sozialen Organisationen, die Intrapreneur:innen, die Menschen, die neue Wege ausprobieren wollen, lebendig werden zu lassen. Das klingt leichter, als es ist. Einige Taktiken für Intrapreneur:innen beschreibt Hannes hier in diesem lesenswerten Beitrag.

Darüber hinaus ist es relevant, dass in Studium und Ausbildung die Entwicklung neuer Wege in der Unsicherheit, das Experimentieren und Lernen als Voraussetzung für gelingende Digitalisierung, viel stärker und in der Breite verankert werden muss. Nur so lassen sich die heutigen und zukünftigen Herausforderungen meistern.

Der Blick in die Ausbildungslandschaft zeigt, dass es an vielen Stellen in Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen bereits tolle Projekte gibt, die „unternehmerische Kompetenzen“ fördern. Über diese Projekte muss es gelingen, die berufliche Identität der Menschen an der Basis dahingehend zu erweitern, dass sich diese Menschen nicht „nur“ als Anwält:innen für ihr Klientel, sondern auch als Entre- oder Intrapreneur:innen für die Entwicklung der Angebote, der Teams und Organisationen und damit als Anwält:innen des Sozialen verstehen.

Fazit: Digitalisierung muss gestaltet werden

Mal wieder ein viel zu langer Blogbeitrag. Aber vielleicht hast Du bis hierher durchgehalten. Also nur noch einmal kurz:

Jeder und jedem ist inzwischen bewusst, dass gelingende Digitalisierung mehr braucht als Technik. Gelingende Digitalisierung braucht

  • klare Erwartungen,
  • ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung und
  • unternehmerische Kompetenz.

Und noch viel mehr, aber der Beitrag ist sowieso schon viel zu lang…


Wie steht es bei Dir persönlich und in Deiner Einrichtung um die drei hier beschriebenen Thesen? Stimmst Du zu? Oder wo siehst Du es anders? Lass es mich gerne wissen, als Kommentar hier im Blog, als Mail oder als Kommentar in den sozialen Medien. Freue mich, von Dir zu lesen.

Resonanz, Exnovation und Kooperation, oder: Das Ende des Business as usual für die Zukunft der Sozialwirtschaft

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Beendigung der Armut. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. Ermächtigung der Frauen. Dies sind die drei der fünf „außerordentlichen Kehrtwenden“, die laut dem neuen Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ (vgl. Dixsons-Declève et al., 2022) notwendig sind, um die Risiken der Klimakatastrophe substanziell zu reduzieren. Angeführt werden darüber hinaus der Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und der Einsatz sauberer Energie, um die Menschheit zu retten.

Der Anspruch Sozialer Arbeit

Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen – dies könnte gut eine anspruchsvolle Mission einer sozialen Organisation oder eines Wohlfahrtsverbands sein: Welt retten, um die Menschheit zu retten – reduziert auf das Machbare.

Das lässt den Anspruch Sozialer Arbeit erkennen: Soziale Arbeit will die Lebenswelt der Menschen, für die soziale Organisationen die (Mit-)Verantwortung tragen, besser machen, was auch beim Blick auf die Internationale Definition Sozialer Arbeit (vgl. DBSH, 2016) deutlich wird:

Soziale Arbeit fördert „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (…). Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern“.

Soziale Arbeit hat sich viel vorgenommen! Es stellt sich die Frage, ob wir – jede*r Einzelne, unsere Organisationen und die Soziale Arbeit als Ganzes – diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurden und in der Zukunft gerecht werden können.

Vergangenheit und Zukunft, oder: Das Ende des Business as Usual

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als „wahre Erfolgsgeschichte“ (Merten, 2001, 165) erzählen. Hans Thiersch spricht vom letzten Jahrhundert gar als „sozialpädagogisches Jahrhundert“ (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die Soziale Arbeit“ weiterentwickelt. Aber fördert sie wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen? Da können Zweifel aufkommen.

Und der IW-Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ (Hickmann, Koneberg, 2022) zeigt, dass Berufe in den Bereichen Sozialarbeit / Erziehung / Pflege schon heute besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind. Das spüren die Beschäftigten an allen Ecken. Soziale Organisationen bewegen sich in den uns alle betreffenden Polykrisen (vgl. bspw. Scharmer, 2022) am Rande der Belastungsgrenze.

Für die Gestaltung der Zukunft ist da wenig Platz, denn wenn man linear in die Zukunft sozialer Organisationen blickt, ergibt sich folgendes Bild:

Angesichts demographischer Entwicklungen steigt der Gesamtbedarf an personenbezogenen Dienstleistungen bei gleichzeitig abnehmender Anzahl an Erwerbstätigen. Herausforderungen wie Digitalisierung, Energiekrise, Krieg, Klimakatastrophe kommen hinzu.

Wenn es weitergeht, wie bisher, können die Belastungsdämme der Organisationen und der Sozialwirtschaft nicht mehr lange standhalten.

Die triviale Folgerung aus diesem kurzen Überblick muss lauten (und nach Innen und Außen lauter werden):

 Ein „Weiter so!“, ein „Business as usual“ kann und wird nicht mehr funktionieren. Es braucht „Transformation hin zum Neuem“!

Aber wie sieht das Neue aus? Und vor allem: Wie kann die Transformation dorthin gelingen?

Um diese Fragen spezifisch für soziale Organisationen zu beantworten, lohnt es sich, ausgehend von den Kehrtwenden des Club of Rome, den Blick zu weiten: Wie kann Transformation auf globaler Ebene gelingen und was lässt sich daraus für soziale Organisationen lernen und adaptieren?

Gemeinsam Spüren, oder: Echte Transformation braucht neues Lernen

Im Folgenden wird eine von drei notwendigen Veränderungen herausgegriffen, die angesichts der aktuellen Krisen erforderlich sind, um die Forderungen des Club of Rome auf der systemischen Makroebene, also auf globaler, nationaler und/oder der Ebene der Funktionssysteme (Bildung, Politik, Gesundheit, Soziales…) umzusetzen:

Es braucht die Transformation des Lernens – weg von der Leistungs- und Prüfungsorientierung hin zur Entwicklung von Fähigkeiten zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen, ko-kreativen Gestaltung der Zukunft (vgl. Scharmer, 2022).

Der Gedanke, dass wir zur Bewältigung der globalen Krisen die Art, wie wir Lernen verstehen, ändern müssen, ist nicht neu: Bereits der im Jahr 1979 im Anschluss an den 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Bericht des Club of Rome unter dem Titel „No limits to learning“ rückt explizit das Thema „innovative learning“ in den Vordergrund. Darunter ist ein Lernen zu verstehen, das Kreativität und effektive Kooperation ins Zentrum rückt (vgl. Göpel, 2022, 132). Über Neu-Lernen, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten und Kooperation kann es gelingen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

So wissen wir, was wir tun sollten, kommen aber oft nicht ins Handeln. Rechtliche, institutionelle und individuelle Abhängigkeiten hindern uns daran, gemeinsam neu zu Lernen und das Business as usual nicht nur ernsthaft infrage zu stellen, sondern wirklich anders zu agieren.

Aber wie können wir neu Lernen lernen und das kollektive Gefühl von „so kann es nicht mehr weitergehen“ transformieren in das Neue?

Dazu braucht es (vgl. Scharmer, 2022):

  • institutionelle Infrastrukturen, die alle relevanten Akteure zusammenbringen, um das System gemeinsam zu gestalten,
  • Führungsinstrumente und -kapazitäten, um das Bewusstsein der verschiedenen Akteure von einer Silo- zur Systemsicht zu verändern und
  • finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der oben genannten Maßnahmen.

Resonanz erzeugen, oder: Co-kreative institutionelle Infrastrukturen

Wir sind gefordert, in unseren Organisationen co-kreative institutionelle Infrastrukturen und damit Dialogräume zu gestalten, in denen es gelingt, Resonanz (vgl. Rosa, 2022) zwischen den Themen und den verschiedenen Akteur*innen zu erzeugen.

Resonanz meint a) die Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ (ebd., 57). Damit ist das Hören und Spüren des dezidiert Anderen, des Neuen gemeint – „und das kann durchaus irritierend sein“ (ebd., 59). Hier ist die Verbindung zur organisationalen Innovations- und damit Lernfähigkeit interessant: Für die Ermöglichung von Innovation ist es notwendig, „irritationsrelevante Informationen“ wahrzunehmen bzw. sich von diesen „anrufen“ lassen zu können.

Aus dem „angerufen werden“ folgt b) die Selbstwirksamkeit: „Ich stelle plötzlich fest, (…), dass ich in der Lage bin auf das Empfangene zu reagieren“ (ebd., 60). In Bezug zur organisationalen Innovationsfähigkeit gilt es, die irritierenden Informationen aus der Umwelt für die Organisation nutzbar machen zu können.

Aus der Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ und selbst wirksam zu werden entsteht dann c) die Möglichkeit echter Verwandlung bzw. Transformation:

„Da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre, und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich“ (Rosa, 2022, 62).

Und genau darum geht es: Um Verwandlung, um Transformation, die als Abkehr vom Business as Usual das Neue, echte Innovation und tiefgreifende Veränderung ermöglicht.

Der Moment der Resonanz kann jedoch nicht gekauft, hergestellt oder erzwungen werden. Resonanz ist d) unverfügbar (vgl. ebd., 64). Und genauso ist es in Organisationen:

Appelle an die Mitarbeiter_innen, „jetzt aber mal innovativ zu sein“ oder das Erzwingen nicht resonanzfähiger „New Work Maßnahmen“ werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ergebnislos verpuffen, wenn nicht echte, strukturelle Veränderungen erfolgen, die anderes Arbeiten nach sich ziehen.

Auf-Hören, oder: Systemische Führungsinstrumente und -kapazitäten

Im obigen Zitat irritiert das Wort „aufhören“. Rosa verbindet mit dem Auf-Hören das sich „anrufen und erreichen lasse[n] von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-Do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist“ mit dem gängigen Verständnis des Begriffs Aufhören im Sinne von „anhalten, stoppen“ (ebd., 56).

Beides ist wichtig: Zum einen gilt es, aufzuhorchen und sich von den irritierenden Informationen aus der Umwelt anrufen zu lassen, um daraus Neues zu gestalten. Zum anderen gilt es aber auch, aufzuhören und Aktivitäten zu stoppen, die keinen Mehrwert für die Menschen und die Organisation liefern.

Es lohnt die Beschäftigung mit Exnovation – der anderen Seite von Innovation: Exnovation heißt, dass Nutzungssysteme, Prozesse, Praktiken oder Angebote, die getestet und bestätigt wurden, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen, eingestellt werden (vgl. Epe, 2022). Exnovation heißt jedoch keinesfalls, in der Organisation eine Kultur der Nicht-Innovation zu propagieren. Exnovation, das Aufhören, die Abschaffung, das Beenden, gehört zur Innovation zwingend dazu – wie zwei Seiten einer Medaille.

Und hier sei mit Blick auf das „sozialpädagogische Jahrhundert“ die Frage gestattet: Wo haben wir im Sozialwesen erfolgreich Dinge nicht mehr getan, nicht (mehr) wirksame Angebote nicht weitergeführt und wirklich aufgehört, um so Raum für Neues zu schaffen?

Gleiches gilt institutionell: Anstatt grundlegende, strukturelle Barrieren zu beseitigen, die die Veränderung des Systems blockieren, versuchen wir, Menschen zu motivieren, „sich zu verändern“ und neue Methoden und Angebote zu schaffen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten. Echtes Lernen und damit Veränderung komplexer sozialer Systeme geschieht aber nicht, indem wir „mehr des Gleichen“ tun. Die Beseitigung struktureller Barrieren, das Weglassen, das Exnovieren ist oft der wirkungsvollste Hebel, um soziale Systeme und damit Organisationen in Veränderung zu bringen.

Veränderung bedeutet, etwas aus dem gewohnten Trott zu bringen. Es mag zwar oberflächlich beruhigend und entlastend sein, sich an Routinen und Business as usual zu klammern. Sinnvoller ist aber die Frage: Was von dem, was wir in unserer Organisation oder im Team tun, kann weg, womit können wir aufhören?

Bezogen auf Vorgaben in Organisationen hat sich zur Beantwortung der Frage die einfache Methode „Kill a stupid rule“ bewährt:

  1. In Kleingruppen sammeln die Beteiligten regelmäßig bestehende Regeln aus ihrer Organisation, die sie gerne abschaffen/ändern würden und notieren diese.
  2. Die Notizen werden vorgestellt und in ein Koordinatensystem eingruppiert: wenig bis sehr aufwändig und kleine bis große Wirkung.
  3. Ideen mit wenig Aufwand und großer Wirkung können direkt angegangen werden. Ideen mit mehr Aufwand kann man priorisieren und nach und nach umsetzen.

Eigentlich einfach, aber wir wissen auch: Das Auf-Hören fällt schwer – gesellschaftlich, organisational und individuell.

Kooperation, oder: Finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der Maßnahmen

So, wie in unseren Organisationen nicht eine Person allein „den Laden am Laufen hält“ lässt sich die Transformation der Gesellschaft nicht durch „den einen Hebel“ und damit losgelöst von anderen sozialen Systemen betrachten. Mehr noch:

„Kooperation war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Lebens, und sie ist bis heute ein das Leben in all seinen Varianten begleitendes Phänomen geblieben“ (Bauer, 2006, 221).

Wollen wir die Zukunft des Sozialwesens gestalten und die Abkehr vom Ego- zum Eco-System und Möglichkeiten gestalten, „vom größeren Gesamtsystem aus zu handeln“ (Scharmer, 2013, 220), müssen wir eine Kultur der Kooperation (wieder)beleben, auch wenn dies „ein radikaler Gegenentwurf zum neoliberalen und zum auf Verdrängungswettbewerb und Auslese aufbauenden darwinistischen Menschenbild [ist], das Ökonomie und Gesellschaft seit langer Zeit und heute noch prägt“ (Seliger, 2022, 119).

Kooperation erfolgt in vielen Fällen bereits zwischen sozialen Organisationen und zwischen unterschiedlichen Verbänden (auch wenn es hier ebenfalls Entwicklungsbedarf gibt). Aber gerade mit Blick auf die Finanzierung Sozialer Arbeit ist der Blick auf Kooperation hochgradig relevant:

Soziale Organisationen sind in ihrer Finanzierung im Wesentlichen abhängig von Sozialleistungsträgern. Entsprechend greift der isolierte Blick auf die institutionelle Transformation, auf innerorganisationale Veränderungsnotwendigkeit zu kurz – ohne damit zu sagen, dass innerhalb der Organisationen keine Veränderungen stattfinden sollten – da sie in der Finanzierung ihrer Leistungen abhängig sind von den Sozialleistungsträgern.

Eine Herausforderung der Verbindung von Sozialleistungsträgern auf der einen und sozialen Organisationen als Leistungserbringern auf der anderen Seite besteht aber darin, dass beide Systeme unterschiedliche binäre „Leitdifferenzen“ (Codes) aufweisen, anhand derer sich die Entscheidungen im jeweiligen System orientieren.

Soziale Organisationen wägen ihre Entscheidungen – sehr grob formuliert – anhand der Leitdifferenz „Helfen / nicht helfen“ (vgl. Kleve, 2007, 147) ab, wohingegen die Sozialleistungsträger ihre Entscheidungen anhand der Leitdifferenz „Rechtlich vorgegeben / nicht vorgegeben“ abwägen.

Daraus folgt, dass soziale Organisationen komplexe soziale Probleme anders angehen würden, wenn die Finanzierungsmöglichkeiten dies zuließen. So wird bspw. die Einbeziehung der Klient*innen und die Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung in allen moderneren Methoden Sozialer Arbeit gefordert, deren Umsetzung jedoch in Teilen durch die Notwendigkeit konterkariert, sich an die Vorgaben der Sozialgesetze zu halten, um darüber die Finanzierung sicherzustellen.

Zur zukünftigen Sicherstellung einer sinnvollen Finanzierung ist es also notwendig, die Kooperation zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern deutlich zu steigern, um über den Dialog ein gegenseitiges Verständnis der Notwendigkeiten wirksamer Finanzierung herzustellen.

Außerdem ist in sozialen Systemen, großen wie kleinen, alles miteinander verbunden (vgl. Göpel, 2022, 36ff). Entsprechend muss der kooperationsfokussierte Blick über die Grenzen der Sozialwirtschaft hinaus geweitet werden: Kooperation muss auch verstärkt zwischen anderen Unternehmen und Funktionssystemen gestärkt werden, um Transformation zu ermöglichen.

Das Ausweiten der Kooperation vereinfacht wiederum das unverzichtbare „Sich-anrufen-lassen“ von anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten, die ergriffen werden können, um gelingende Zukunft zu gestalten.

Das Ende des Business as usual, oder: Mutige Visionen für die Zukunft der Sozialwirtschaft

Es muss nicht wiederholt werden, dass die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen heute und in Zukunft widmen müssen, massiv sind. Sie werden heute nicht absehbare Veränderungen erfordern. Einfache Antworten und Business as usual werden aber definitiv nicht funktionieren, auch wenn die Suche nach Sicherheit und Beständigkeit in einer hyperaktiven Welt allgegenwärtig ist. Aber es hilft nicht, angesichts der Dynamik und Komplexität der Herausforderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gute in der aktuellen Situation: In allen Problemen (ver-)stecken sich auch Chancen, wenn wir lernen, mutige Visionen der Zukunft der Sozialwirtschaft in den Blick zu nehmen:

Mutige Visionen brechen mit dem Business as Usual. Sie helfen uns, die Gegenwart hinter uns zu lassen und damit neue Perspektiven einzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und gehen an Ihren Arbeitsplatz. Dort muss über Nacht ein Wunder geschehen sein und es ist alles so, wie Sie es sich schon immer erträumt haben:

  • Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert hat?
  • Was sind die größten Unterschiede zu gestern?
  • Wie fühlt sich die Veränderung an? Was ist beglückend?
  • Mit welchem Bild würden Sie die neue Situation Ihrer Organisation darstellen?

Beginnen Sie, Ihre Vision mutig zu malen, denn

„Mut heißt nicht, keine Angst zu haben! Mut heißt nur, dass man trotzdem springt!“ (Sarah Lesch).


Quellen:

  • Botkin, J. W., Elmandjra, M., Malitza, M.: No limits to learning: bridging the human gap. 1st ed. Pergamon international library. Oxford; New York: Pergamon Press, 1979.
  • DBSH. Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. 2016. Download unter: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html. Abruf am 16.12.2022.
  • Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., Espen Stoknes, P.:  Earth for all: ein Survivalguide für unseren Planeten. Übersetzt von Rita Seuß und Barbara Steckhan. 4. Auflage. München: oekom, 2022.
  • Epe, H.: Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht! Download unter: https://www.ideequadrat.org/exnovation/. Download am 03.01.2023.
  • Göpel, M.: Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
  • Hickmann, H., Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67. Download unter https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Top-Fachkr%C3%A4ftel%C3%BCcken.pdf. Download am 20.12.2022.
  • Kleve, H.: Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2007.
  • Merten, R.: Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192, 2001.
  • Rosa, H.: Demokratie braucht Religion. München: Kösel-Verlag, 2022.
  • Scharmer, O.: Protect the Flame. Circles of Radical Presence in Times of Collapse. 2022. Download unter: https://medium.com/presencing-institute-blog/protect-the-flame-49f1ac2480ac. Abruf am 15.12.2022.
  • Scharmer, O.: Theorie U – von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 3. Aufl. Management. Heidelberg: Carl-Auer-Verl, 2013.
  • Seliger, R.: Systemische Beratung der Gesellschaft: Strategien für die Transformation. Erste Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.
  • Thiersch, H.: Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Hinweis: Der Text ist vorab (in leicht angepasster Version) in den „Blättern der Wohlfahrtspflege“, 3/23, veröffentlicht worden. doi.org/10.5771/0340-8574-2023-3-96!


Mein OKR-Set bis Dezember 2023

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What??? Ein OKR-Set und das bis Dezember 2023 bzw. bis zum Ende des Jahres? Manchen OKR-Profis wird es wahrscheinlich die Haare aufstellen, aber ich muss irgendwie realistisch an meine Entwicklungen rund um IdeeQuadrat rangehen. Denn:

Mein Alltag frisst mich auf.

Und – so zumindest mein Verständnis von OKR – der Alltag gehört nicht in die OKR. Die OKR sind dafür da, meine strategischen Entwicklungen voranzutreiben.

Das kann man anders sehen, je nach Autor:in und Verständnis. Für mich zeigt sich aber, dass es überhaupt wichtig ist, meine Strategie – in kleinen Schritten – zu verfolgen (entsprechend gab es schon länger keine wirkliche Strategieplanung). Ich muss kleinere Brötchen backen, als ursprünglich geplant. Aber besser kleine als keine Brötchen.

Vielleicht stehst Du aber gerade vor der Frage, wovon ich überhaupt spreche? OKR??? OKR ist das Framework, das ich zur Strategielplanung und -umsetzung nutze (bzw. zu nutzen versuche). OKR heißt Objectives and Key Results. Und hier findest Du nähere Infos dazu, falls es Dich (vielleicht auch für Deine Organisation) interessiert.

Vorab noch einmal eine kurze Darlegung, wie ich meine OKR für mich strukturiere.

Meine Struktur der OKR

In meiner letzten Strategieplanung und den Veröffentlichungen dazu (hier ein Einblick) findest Du noch die Überlegung, meine Objectives nach Fokusbereichen zu untergleidern.

Fokusbereiche waren a) New Social Work (mein Kerngeschäft bzw. meine Aktivitäten und Angebote rund um die Organisationsentwicklung sozialer Organisationen, außerdem Fragen zum Geschäftsmodell, Marketing, Wertversprechen und Co.), b) New Social Learning (Aktivitäten zum Aufbau von offenen und internen Weiterbildungsangeboten), die ich mit IdeeQuadrat realisieren will), c) New Social Projects (Angebot zur Begleitung von Organisationen bei der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von Projekten und neuen Dienstleistungen und d) Private (meine persönliche Entwicklung im Rahmen der Selbständigkeit). Zu jedem Bereich habe ich versucht, jeweils ein Objective mit entsprechenden Key Results zu definieren.

Kurz: Das System hat nicht funktioniert. Es war zu viel, neben Arbeit, Familie und dem, was sich irgendwie Leben nennt.

Entsprechend werde ich mich bis Ende des Jahres auf ein OKR-Set fokussieren und darüber versuchen, mich zu beschränken und realistisch zu bleiben. Denn, das haben die letzten Wochen eindrücklich bewiesen:

„Leben ist das, was passiert, während Du andere Pläne machst.“

OKR-Set August – Dezember 2023

Objective: Ich habe einen vollständig automatisierbaren Online-Kurs entwickelt und eingeführt.

KR1: Abschluss der Entwicklung und Bereitstellung aller Kursmodule bis zum festgelegten Stichtag.

KR2: Sicherstellung einer positiven Nutzererfahrung (UX) durch die Durchführung von Usability-Tests mit mindestens 10 potenziellen Teilnehmern und einer Bewertung von mindestens 4 von 5 Punkten.

KR3: Implementierung einer automatisierten Test- und Qualitätskontrollstrategie, um sicherzustellen, dass der Kurs reibungslos funktioniert und Fehler minimiert werden.

KR4: Bereitstellung einer klaren und verständlichen Anleitung für die Teilnehmer, um sicherzustellen, dass sie den Kurs problemlos nutzen können.

Und jetzt bin ich sehr gespannt, wie es mit IdeeQuadrat zum Ende des Jahres aussieht, ich werde berichten…


P.S.: Im Beitrag zu den Objectives and Key Results findest Du auch ein OKR Canvas, das ich zur Entwicklung auch meines OKR-Set genutzt habe.

Selbstbestimmt und effizient Lernen, oder: Warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit wichtig wird!

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Es ist eine echte Floskel: In einer sich ständig verändernden und komplexen Welt gewinnt lebenslanges Lernen eine immer größere Bedeutung! Lernen ist eine der bedeutsamsten Future Skills. Dies gilt nicht nur „auch“, sondern insbesondere für Organisationen der Sozialen Arbeit: Die Mitarbeiter:innen sind kontinuierlich gefordert, sich mit komplexen sozialen Herausforderungen und kontinuierlich Neuem auseinandersetzen. Für das „einzige Kapital“ sozialer Organisationen – die Mitarbeiter:innen – ist es entsprechend notwendig, Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu nutzen. Hinzu kommt, dass traditionelle Lernmethoden zunehmend von modernen, selbstgesteuerten Lernmöglichkeiten abgelöst werden, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen besser entsprechen. Und außerdem geht es nicht nur um die Mitarbeiter:innen: Auch die Organisationen haben Weiterbildungsbedarfe, ausgelöst durch bspw. rechtliche oder organisatorische Veränderungen, die über kleine, schnelle, bedarfsgerechte Lernmöglichkeiten bedient werden können. Aber wie sieht zeitgemäßes und bedarfsgerechtes Lernen, wie sieht „New Learning“ in sozialen Organisationen aus? In diesem Blogbeitrag erfährst Du, was Microlearning ist und warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit Vorteile bringt. Außerdem findest Du Ideen für Inhalte, die „Microlearning-kompatibel“ sind.

Was ist Microlearning?

Microlearning, auch Mikrolernen genannt, bezeichnet das Lernen in kleinen Einheiten und kurzen Schritten. Dabei werden kompakte Lerneinheiten bzw. -module erstellt, die auf das Wesentliche reduziert sind und ein einzelnes, klar abgegrenztes Lernziel oder für die Mitarbeiter:innen relevantes Thema behandeln. Diese Lernmodule sind wirklich kurz – so kurz wie für den Inhalt möglich – und konzentrieren sich auf die Vermittlung nur einer sehr spezifischen Kompetenz bzw. auf die Beantwortung nur einer sehr spezifischen Frage.

Charakteristika von Microlearning:

Im Folgenden findest Du einige allgemeine Charakteristika von „Micro-Learning-Angeboten“:

  • Kompakte Lerneinheiten: Microlearning bricht das Lernmaterial in kleine, leicht verdauliche Bestandteile herunter. Anstatt lange Lernsitzungen zu absolvieren, nehmen Lernende in kurzer Zeit komprimierte Wissensportionen auf.
  • Fokussiertes Lernziel: Jede Microlearning-Einheit verfolgt ein spezifisches Lernziel, das klar und präzise definiert ist. Dadurch wird das Lernen gezielt und effizient gestaltet.
  • Zeit- und ortsunabhängig: Microlearning ermöglicht es den Lernenden, möglichst flexibel zu lernen, wann und wo es ihnen am besten passt. Die Lerneinheiten können über verschiedene Medien wie PC, Smartphone, Tablet oder auch – sofern inhaltlich sinnvoll – in Präsenz vor Ort abgerufen bzw. absolviert werden.
  • Vielfältige Lernformate: Microlearning nutzt verschiedene Formate wie Texte, Videos, interaktive Elemente oder Quizfragen, um das Lernerlebnis abwechslungsreich und ansprechend zu gestalten. Microlearning vor Ort sind entsprechend kurze Einheiten, die zu einem bestimmten Thema in der Organisation angeboten werden.
  • Gezielte Wiederholungen: Durch wiederkehrende Microlearning-Einheiten und Quizfragen wird das Wiederholen von Inhalten gefördert, um das langfristige Behalten zu unterstützen und die benötigten Kompetenzen dann abzurufen, wenn sie wirklich gebraucht werden.

Vorteile von Microlearning:

  • Bessere Aufmerksamkeit: Durch die kurzen und prägnanten Lerneinheiten können Lernende ihre Aufmerksamkeit besser auf das Thema konzentrieren und sind weniger anfällig für Ablenkungen.
  • Effizientes Lernen: Microlearning ermöglicht schnelles und gezieltes Lernen. Es spart Zeit, da Mitarbeiter:innen nicht lange aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden müssen.
  • Flexibilität: Lernende können selbst entscheiden, wann und wo sie lernen möchten. Dies fördert die Selbstorganisation und Eigenverantwortung beim Lernen.
  • Selbstwirksamkeit: Kurze Lerneinheiten sind schneller „durch Erfolg gekrönt“, als lange Workshopeinheiten zu einem bestimmten Thema. Daraus resultieren schnellere Lernerfolge, die wieder „Spaß am Lernen“ vermitteln.
  • Entwicklung einer Lernkultur: Die kontinuierliche Nutzung sinnvoller, die Selbstwirksamkeit steigernder Lernmöglichkeiten kann zu einer „Lernkultur“ in der Gesamtorganisation führen, denn: Die Verhältnisse bestimmen das Verhalten.
  • Besseres Wissensmanagement: Das kompakte Format von Microlearning-Einheiten erleichtert das „Organisieren und Verwalten“ des erlernten Wissens.

Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:

Der Fachkräftemangel stellt die aktuell größte Herausforderung für Soziale Organisationen dar. Der Fachkräftemangel in Verbindung mit sich dynamisch verändernden Themenstellungen – Digitalisierung allgemein, KI, IT-Sicherheit, sozial-ökologische Nachhaltigkeit, Demokratiekrise… – vergrößern diese Herausforderung jedoch massiv: Der Wandel der Organisationen muss gelingen bei sich gleichzeitig verringernden Möglichkeiten nachhaltigen Lernens durch weniger und häufig wechselndes Personal.

Stefan Gesmann bringt es auf den Punkt: „Angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Feld der Sozialen Arbeit werden sich Leitungskräfte zukünftig noch weniger erlauben können, die betriebliche Weiterbildung ungesteuert nebenherlaufen zu lassen“ (Gesmann, 2022, 170).

Entsprechend kann Microlearning auch und gerade in sozialen Organisationen echte Vorteile bieten:

  • Zeit- und kosteneffizient: Traditionelle Lernformen können zeitaufwendig und damit kostenintensiv sein. Mit Microlearning können Mitarbeiter:innen neue Inhalte in kurzen, flexiblen Einheiten erlernen, ohne ihren Arbeitsablauf (zu) stark zu beeinträchtigen. Dies spart Zeit und ermöglicht den Mitarbeiter:innen, „parallel zum Job“ zu lernen.
  • Flexibilität: Soziale Arbeit braucht Flexibilität. Mitarbeiter:innen müssen oft schnell auf neue Situationen reagieren. Microlearning bietet die Möglichkeit, benötigtes Wissen „just-in-time“ abzurufen, sei es in der Arbeitsstelle, im Home Office oder unterwegs.
  • Individuelles Lernen: Jede:r Mitarbeiter:in hat unterschiedliche Wissensstände und (Lern-)Bedürfnisse. Mit Microlearning können (relativ) einfach individuelle Lernpfade gestaltet werden, die den jeweiligen Anforderungen gerecht werden und eine maßgeschneiderte Weiterbildung ermöglichen.
  • Nachhaltiges Lernen: Kurze und prägnante Lerneinheiten fördern das bessere Behalten von Informationen. Die Möglichkeit, Inhalte in kleinen Häppchen zu wiederholen, stärkt das Langzeitgedächtnis und sorgt für nachhaltiges Lernen.

Chancen von Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:

Ich habe mir gerade eine Cajon gekauft (so eine Trommelkiste). Ich will damit meinen Sohnemann beim Gitarre spielen begleiten. Aber ich kann es nicht. Was also tun? YouTube-Videos schauen im Sinne meines eigenen Lernens. Dadurch erhoffe ich mir die Chance, ein Instrument zu lernen. Aber welche Chancen bietet Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit?

  • Praxisnähe: Microlearning-Module können sich auf praktische Situationen im Arbeitsalltag der Sozialen Arbeit konzentrieren. Mitarbeiter:innen können spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die ihnen in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar dann, wenn Fragen und Herausforderungen auftreten, zugutekommen.
  • Weiterentwicklung der Mitarbeiter:innen: Durch den einfachen Zugang zu relevantem Wissen und die Möglichkeit, schnell und einfach aktuell notwendige Kompetenzen im Sinne von Future Skills zu erwerben, können Mitarbeiter:innen ihre eigenen Kompetenzen kontinuierlich verbessern und sich den Anforderungen einer sich wandelnden Organisation und übergreifend einer sich wandelnden Gesellschaft anpassen.
  • Multimodalität: Microlearning vereint idealerweise verschiedene Medien wie Texte, Videos, Podcasts oder interaktive Lernmaterialien. Daraus resultiert ein Lernerlebnis, das auf die individuellen Lernbedürfnisse der einzelnen Mitarbeiter:innen abgestimmt und damit vielfältig und ansprechend ist. Nur so gelingt der Kulturwandel hin zu einer echten Lernkultur.

Inhalte für Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit

OK, die Chancen und Vorteile sind klar und (so meine Meinung, natürlich 😉 ziemlich einleuchtend. Aber was, also welche Inhalte können im Format des Microlearnings vermittelt werden? Um die Spannung nicht zu groß werden zu lassen: Ehrlich gesagt sind nahezu alle Arten von Inhalten für Microlearning geeignet. Vor allem aber lassen sich sich schnell und ressourcenschonend aktuelle Inhalte aufbereiten und den Mitarbeiter:innen zur Verfügung stellen. Wichtig ist aber, dass die Inhalte klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden. Die Inhaltsvielfalt ermöglicht es, Microlearning als vielseitiges und effektives Lernformat in verschiedenen Bereichen der Aus- und Weiterbildung einzusetzen. Aber etwas konkreter:

  • Wissenshäppchen: Komplexe Themen können in kleine, leicht verständliche Wissenshäppchen aufgeteilt werden. So können einzelne Konzepte oder Fakten in kurzer Zeit vermittelt werden. Zu denken ist hier bspw. an rechtliche Änderungen (BTHG, KJSG, Grundlagen aus den SGB usw.).
  • Fertigkeiten und Soft Skills: Praktische Fertigkeiten und Soft Skills, wie z.B. Kommunikationstechniken, Zeitmanagement oder Präsentationsfähigkeiten, lassen sich gut in kurzen Lerneinheiten trainieren. Zu denken ist – vor allem auf Ebene der Führungskräfte – auch an Skills zur Verhandlungsführung, zur Führung von Hilfeplangesprächen.
  • Informationen zu definierten Prozessen: Die dominierende Informalität sozialer Organisationen (What??? Hier lesen… 😉 in Verbindung mit dem Fachkräftemangel erfordert zunehmend die Definition von klaren Prozessen über Anforderungen und Arbeitsabläufe. Neue oder veränderte Prozesse können sehr gut über Microlearning-Einheiten verdeutlicht werden.
  • Methoden rund um Führung und Teamentwicklung: Auch wenn Methoden nicht alles sind, helfen kleine Ideen und Anregungen, bspw. zu Methoden der Teamentwicklung, im Alltag schon weiter. Und selbst im Führungsalltag auftretende Fragen lassen sich (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln.
  • Serviceinformationen: Informationen über neue Dienstleistungen können in kurzen Lerneinheiten präsentiert werden, um (neue) Mitarbeiter:innen (oder auch die Nutzer:innen) schnell auf den neuesten Stand zu bringen. Das ist bspw. rund um das „Onboarding“ bzw. die Einarbeitung von neuen Mitarbeiter:innen hoch interessant und ressourcenschonend.
  • Sicherheits- und Compliance-Schulungen: Richtlinien, Verfahren und Sicherheitsbestimmungen können in kurzen, wiederkehrenden Einheiten vermittelt werden, um das Bewusstsein der Mitarbeiter:innen zu schärfen. Neben Arbeitsschutz oder Datenschutz fallen mir hier insbesondere Schulungen rund um die IT-Sicherheit ein.
  • Sprach- und Vokabeltraining: Fremdsprachen oder Fachterminologie lassen sich ebenfalls gut in kurzen Lernmodulen üben, um die Lernenden kontinuierlich und zum Beginn einer neuen Tätigkeit mit neuen Vokabeln zu versorgen.
  • Mini-Simulationen: Kleine Simulationen oder Fallstudien können verwendet werden, um reale Situationen nachzubilden und die Entscheidungsfindung der Lernenden zu fördern.

Ohne hier zu tief auf die (umfangreichen) Gestaltungsmöglichkeiten einzugehen, macht es Sinn, in den Lerneinheiten Reflexionsfragen oder Feedback-Möglichkeiten am Ende einer Lerneinheit einzubinden, um die Möglichkeit zu schaffen, das Gelernte zu überdenken und den Lernfortschritt zu bewerten.

Noch einmal: Nahezu alle Arten von Inhalten eignen sich für Microlearning – auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. Wichtig ist nur, dass sie klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden – die Inhalte, nicht die Organisationen. Wobei…?

Aber – das erklärt sich wohl von selbst – Microlearning ist nicht die Lösung für alle Lernnotwendigkeiten. Die Vermittlung von breitem, grundlegenden Wissen zu einem Thema fällt darunter, da die kleinen Lerneinheiten per Definition darauf fokussieren, jeweils genau ein Problem zu lösen bzw. jeweils eine Frage zu beantworten. Es reicht auch nicht, einfach jeden Kurs oder jede Weiterbildung in Mikro-Lerneinheiten umzuwandeln, indem man den Kurs einfach in kleinere Stücke zerlegt. Die Unterteilung größerer Kurse und Lerneinheiten macht vielleicht Sinn, um Informationen in kleinen „Learning Nuggets“ zu organisieren. Der aufgeteilte Inhalt des Kurses muss aber immer mit dem Rest des Lerninhalts kombiniert werden, um einen sinnvolles Lernen zu ermöglichen. Die Strategie hinter Microlearning besteht jedoch daraus, für sich unabhängige Lerneinheiten zu gestalten, die auf einen einzigen Zweck ausgerichtet sind.

Fazit:

Für das Phrasenschwein: In Organisationen der Sozialen Arbeit ist lebenslanges Lernen essenziell, um den vielfältigen sozialen Herausforderungen gerecht zu werden.

Aber Spaß beiseite: Microlearning kann hier eine effektive und zeitgemäße Lernmethode darstellen, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen und den Weiterbildungsbedarfen der Organisation entgegenkommt!

Hinzu kommt, dass uns neben aller Effektivität heute und zukünftig nichts anderes übrig bleibt: Wir müssen die Effizienz in den Blick nehmen, auch wenn dieser Begriff nicht so wahnsinnig beliebt ist in der Sozialen Arbeit. Wir benötigen effiziente Möglichkeiten, Lernen und damit „Personalentwicklung“ zu ermöglichen.

Abschließend nur noch ein kurzer Blick auf die schon erwähnte Kulturentwicklung: Diese funktioniert – sehr kompakt ausgedrückt – nicht durch Appelle an eine andere Haltung („Wir sind ab morgen innovativ und kreativ, damit das klar ist!“). Kulturentwicklung funktioniert über die kontinuierliche Anpassung der Verhältnisse, der Strukturen und Abläufe in der Organisation oder dem Team.

Gerade die Gestaltung einer positiven Lernkultur kann mithilfe der Einführung von Microlearning wunderbar gefördert werden. Ach ja, oben hatte ich geschrieben, dass sich selbst im Führungsalltag auftretende Fragen (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln lassen. Dies finde ich gerade für neue und angehende Führungskräfte spannend, die einen Rollenwechsel vom Teammitglied hin zur Teamleitung vornehmen. Denn Rollenwechsel geht mit der Entwicklung der eigenen Identität einher. Und die Entwicklung der eigenen Identität funktioniert nicht durch ein zweitägiges Führungskräfteseminar, sondern durch eine kontinuierliche Beschäftigung mit den im Alltag auftretenden Herausforderung.


Gibt es in Deiner Organisation entsprechende Möglichkeiten, in kleinen Einheiten selbstbestimmt zu lernen? Schreib dazu doch nen Kommentar oder schick mir gerne eine Mail!


Quellen: