Schlagwort: Sozialwirtschaft

Drei Thesen für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit

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Spätestens seit der Pandemie sollte klar sein, dass diese „Digitalisierung“ hilfreich, vor allem aber nicht mehr wegzudenken ist. Videokonferenzen, digitale Kommunikation, Vernetzung, effiziente Prozesse mit daraus resultierender Arbeitserleichterung und vieles mehr sprechen für digitale Entwicklungen auch in der Sozialwirtschaft bzw. spezifischer: in Organisationen der Sozialen Arbeit. Und trotzdem geht es mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialwirtschaft nicht (wirklich) voran. Warum ist das so? Was braucht es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit? Darauf will ich hier eingehen.

Aber muss dieser Beitrag in Zeiten von AI, in Zeiten von augumented intelligence, wirklich sein? Haben nicht wirklich langsam alle verstanden, dass es keinen Weg zurück, an digitalen Entwicklungen vorbei, gibt? Doch, schon, aber trotzdem.

So basiert dieser Beitrag darauf, dass ich in vielen Veröffentlichungen, bspw. in den sozialen Medien, immer wieder lese, dass „Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit helfen kann“, aktuelle und zukünftige Herausforderungen Sozialer Arbeit zu lösen.

Das ist mir deutlich zu undifferenziert, da ich in den Organisationen, Einrichtungen und Teams, in denen ich unterwegs sein darf, an vielen Stellen eine zunehmende „Digitalisierungsskepsis“ wahrnehme.

Echte, tiefgreifende Verbesserungen der eigenen Arbeit durch Digitalsierung haben sich – so die Wahrnehmung vieler Fachkräfte – häufig nicht ergeben. Das Versprechen, mehr Zeit für die Klient:innen zu haben, für die eigentliche Soziale Arbeit, für die Arbeit mit den Menschen, hat sich häufig nicht eingelöst.

Und leider viel zu hautnah musste ich in den letzten Wochen ambulante Pflegekräfte eines modernen Verbands erleben, die sehr bewusst Stift und Papier zur Dokumentation verwenden. Auf die Frage „Warum denn nicht digital?“ kam die sehr nachvollziehbare Rückmeldung:

„Stift und Papier funktioniert immer, schnell und sicher, auch bei sauerländischen Funklöchern“.

Aber:

Was ist Digitalisierung eigentlich?

Boah, echt jetzt? Schon wieder diese Grundsatzdebatte? Ganz ehrlich Hendrik, kauf dir’n Buch.

Zum Beispiel:

  • Beranek, Angelika; Hill, Burkhard & Sagebiel, Juliane Beate (2019): Digitalisierung und Soziale Arbeit – ein Diskursüberblick. In: Soziale Passagen 11(2), 225-242.
  • Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz. Veröffentlichung zum zehnjährigen Bestehen der FH der Diakonie. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2018, Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen – Strategien – Praxis. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2020): Sozialinformatik. Digitaler Wandel und IT-Einsatz in sozialen Organisationen, 3., überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos.
  • Kutscher, N. et. Al. (2020, Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Pölzl, A., Wächter, B. (2019): Digitale (R)Evolution in Sozialen Unternehmen. Praxis-Kompass für Sozialmanagement und Soziale Arbeit. Regensburg: Walhalla.
  • Wunder, M. (2021, Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Das ist nur eine Auswahl der vielfältigen Veröffentlichungen rund um das Thema „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ der letzten Jahre.

Und ja, in den Veröffentlichungen stehen wichtige, spannende, richtige Aspekte rund um das Thema. Es lohnt sich, sich auf Basis von Literatur mit dem Thema zu befassen.
Oder anders, deutlich schöner, ausgedrückt:

„Nichts verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem Papier.“ (Cornelia Funke)

Unklar ist aber immer noch, was denn Digitalisierung jetzt genau ist, oder hast Du Dich erstmal hingesetzt und die Bücher gewälzt? Nein? Ach…

Und damit kommen wir schon zur These 1, was es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit braucht:

These 1: Gelingende Digitalisierung braucht klare Erwartungen

Was ist New Work? Was ist Innovation? Jede:r hat zu diesen Begriffen Bilder im Kopf, jede:r kann etwas zu dem Thema sagen und kann – meinungsstark – seine eigene Position vertreten. Und bei Digitalisierung ist es genauso:

Jede:r hat eine Vorstellung dessen im Kopf, was „Digitalisierung“ bedeutet.

Das ist super, wenn man den Party-Smalltalk am Laufen halten will:

„Und, wie steht es um die Digitalisierung in Eurer Einrichtung?“

Da flutscht das Gespräch!

Und aller Wahrscheinlichkeit nach versteht man sich auch gut, da die Diskussion von A wie Algorithmen bis Z wie Zukunft mäandern kann, ohne an der ein oder anderen Stelle über die Ufer treten zu müssen.

In Workshops zur Entwicklung von Digitalstrategien nutze ich zu Beginn gerne die Übung, dass jede:r einmal „sein“ Digitalisierungsalphabet aufschreibt: A wie Alphabet, B wie Bits und Bytes, C wie Computer, D wie Datenverlust… Dabei wird deutlich, dass jede:r sehr eigene und häufig sehr andere Erwartungen an das hat, was Digitalisierung im Allgemeinen und im Spezifischen bezogen auf die eigene Organisation ist bzw. bringen soll.

Wenn jedoch die einen die Hoffnung von Digitalisierungsbemühungen auf die Vereinfachung bestehender Prozesse (bspw. zur Pflegedokumentation) legen, sich die anderen endlich mal für die Employer Branding Kampagne in Social Media vertreten sehen wollen und die Dritten neue, digitalisierte Geschäftsmodelle oder die sinnvolle Nutzung sog. „künstlicher Intelligenz“ erhoffen, wird es schwierig, ein gemeinsames Verständnis, geschweige denn eine gemeinsame, sinnvolle, umsetzbare Strategie zu entwickeln.

Hinzu kommt, dass die verschiedenen Erwartungen an „die Digitalisierung“ nur zu enttäuschen sind, sofern diese nicht vorab geklärt werden.

Was kann getan werden?

Entsprechend ist dies der erste Schritt: Es sind die Erwartungen an die Digitalisierungsbemühungen zu klären. Darüber kann partizipativ ein gemeinsames Verständnis dessen geschaffen werden, was durch „die Digitalisierung“ ganz spezifisch in der eigenen Organisationen erreicht werden soll und kann.

Dieses „kann“ ist relevant, denn: Möglich ist vieles, realistisch umsetzbar deutlich weniger und funktional für die Organisation sind vielleicht nur wenige, kleine Schritte, die aber echte Veränderung im Kleinen bewirken.

Die kleinen, häufig nicht für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen sichtbaren Fortschritte sind immer wieder zu kommunizieren, damit nicht der Eindruck entsteht, „viel Lärm um nichts“ zu machen.

These 2: Gelingende Digitalisierung braucht ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung durch Digitalisierung

Digitalisierung formalisiert – immer! Klingt komisch, ist aber recht einfach erklärt:

Die Einführung eines Messengers zur Kommunikation mit den Klient:innen kann nicht der Entscheidung einzelner Organisationsmitglieder und ebensowenig der Entscheidung einzelner Teams oder Organisationseinheiten überlassen werden. Genauso kann nicht jedes Team, bspw. in der ambulanten Pflege, individuell entscheiden, ob sie Programm X oder Y zur digitalen Dokumentation nutzen oder ob sie doch lieber weiterhin analog, mit Stift und Papier, dokumentieren.

Digitalisierung erfordert formale Entscheidungen, die Gültigkeit für die Gesamtorganisation besitzen.

Richtig spannend wird es beim Dokumentenmanagement: Sofern die Organisation einheitliche, formal vorgegebene Prozesse der Pflege, Bearbeitung, Ablage usw. von Dokumenten anstrebt, sind alle (!) Mitarbeiter:innen gefordert, die Vorgaben einzuhalten.

Das ist mehr als nervig, wenn es vorab eine „Kultur der dominierenden Informalität“ gab und jede:r irgendwelche Dokumente irgendwie ändern und irgendwo „ablegen“ konnte.

Zur Erläuterung: Informalität lässt sich als das „Netzwerk bewährter Trampelpfade, die in Organisationen immer wieder beschritten werden“ (Kühl, 2010) definieren.

Eine Kultur der dominierenden Informalität bedeutet entsprechend, dass die Einhaltung formaler Vorgaben als weniger wichtig erachtet wird als das Netzwerk der bewährten Trampelpfade bzw. die erwarteten, spontanen, individuellen, nicht formal geregelten und damit eben informellen Entscheidungen von Individuen und Teams.

Meine These ist, dass eine Kultur der dominierende Informalität in sozialen Organisationen vorherrschend ist und diese Kultur Veränderungsbemühungen erschwert.

Überspitzt formuliert wird erwartet, dass Mitarbeiter:innen und Teams spontan, aus Erfahrung und Intuition, basierend auf den eigenen Vorlieben und „gefühlten Notwendigkeiten“, anstatt basierend auf Vorgaben der Organisationen, festgelegten Prozesse oder gar „Ansagen von oben“ zu agieren.

Um nur ein Beispiel zu nennen, zeigt sich die dominierende Informalität in der verhältnismäßig geringen Bedeutung eines standardisierten Qualitätsmanagements in sozialen Organisationen. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, weist bspw. Grunwald darauf hin, dass Vorstellungen eines rein standardisierten Qualitätsmanagements dazu führen, dass QM als die notwendigen informellen Handlungsspielräume beschneidend erlebt wird und die Befürchtung besteht, dass Strategien und Verfahren „zu sinnentleerten Qualitätsmanagement-Routinen werden, womit die potentiellen Chancen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Qualitätsmanagement und seiner möglichen Bedeutung für die eigene Organisation verspielt werden“ (2018, 618).

Meine These der „dominierenden Informalität sozialer Organisationen“ findest Du tiefer ausgearbeitet unter dem Link.

Aber:

Die Informalität (im Gegensatz zur Formalität) sozialer Organisationen muss nicht immer schlecht sein. In vielen Fällen ist informelles Handeln hoch funktional, insbesondere für soziale Organisationen:

Die Komplexität sozialer Arbeit erfordert spontane Entscheidungen, ein hohes Maß an intrinsischer Motivation, kreatives und individuelles, auf Beziehung setzendes Vorgehen. Entsprechend sinnvoll sind „agile Organisationsdesigns“ oder die Entwicklung selbstbestimmt agierender Teams in und für soziale Organisationen.

Aber eine Kultur, in der die Erwartung des Treffens individueller Entscheidungen vor der Erwartung des Einhaltens von allgemeingültigen, organisationalen Regeln steht, passt eben nicht zur immer formalisierenden Digitalisierung.

Was kann getan werden?

Zunächst einmal ist relevant, Informalität als existente Rahmenbedingung in sozialen Organisationen zu akzeptieren. Ganz allgemein formuliert kann nicht „alles“, jeder Handlungsschritt in Organisationen formalisiert werden.

Und spezifisch in der sozialen Arbeit ist der Versuch, dieses zu tun, an vielen Stellen dysfunktional. Man muss sich nur einmal den „Dienst nach Vorschrift“ in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung vorstellen, in der es nur wenige Vorschriften (für die Mitarbeitenden) geben kann.

Ebenfalls notwendig ist es, Digitalisierungsbemühungen aus der Brille der mit der Digitalisierung zwangsläufig einhergehenden Formalisierung zu betrachten. Es können nicht alle Mitarbeiter:innen mitentscheiden, welche Kommunikationsplattform verwendet wird. Ebenso kann, bspw. bei digitaler Dokumentation nicht mehr individuell entschieden werden, wer was wie dokumentiert. Eingabemasken sind vorgegeben und auszufüllen, ob man will oder nicht.

Über diese beiden Vorüberlegungen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsweise sollten die Mitarbeiter:innen informiert werden. Dadurch kann grundlegend ein zumindest besseres Verständnis geschaffen werden, was Digitalisierung sozialer Organisationen im Allgemeinen und im Spezifischen für die eigene Organisation bedeutet und welche Implikationen für die eigene Arbeit mit Digitalisierung einhergehen.

Information allein ist jedoch nicht ausreichend. Es bedarf basierend auf der Information dann der gemeinsamen Auseinandersetzung in der Organisation über die Auswirkungen. Es wird Menschen in der Organisation geben, die die Entwicklung begrüßen, Menschen, die die Entwicklung hinnehmen und Menschen, die sehr kritisch auf die Digitalisierungsbemühungen schauen.

Und nein, ich plädiere nicht dafür, „alle Menschen mitzunehmen“. Das wird nicht gelingen. Aber das Wahrnehmen auch der kritischen Stimmen in der Organisation ist wichtig, um gute Wege sinnvoller Digitalisierung zu beschreiten.

These 3: Gelingende Digitalisierung braucht unternehmerische Kompetenz

Nein, jetzt erfolgt kein Bashing der „ach so innovationsfeindlichen Sozialwirtschaft“ und ebenso kein Verweis auf die Unbeweglichkeit der „großen Tanker“. Das ist nämlich nicht so: Sozialwirtschaft ist und war schon immer hochgradig innovativ. Und unternehmerisch, wenn unternehmerisches Handeln verstanden wird als „mit wenigen Mitteln Großes zu leisten“.

Insbesondere sehe ich unternehmerische Kompetenzen bei den Führungskräften, Vorständen, Geschäftsführungen der Organisationen.

Ja, es mag manche geben, die immer noch an der „guten alten Zeit“ festhängen und die Asche anbeten, anstatt das Feuer weiterzugeben. Aber die Menschen, mit denen ich arbeiten darf, denken nach vorne, wollen etwas bewirken, Dinge im Sinne der ihnen anvertrauten Menschen voranbringen, Neues gestalten. Und das in hochgradig dynamischen, komplexen Umwelten unter den Rahmenbedingungen politischer Begrenztheiten und (zunehmend) bürokratisch agierender Kostenträger.

Ich vermisse hingegen unternehmerische Kompetenzen bei den Mitarbeiter:innen an der Basis.

Aber was genau verstehe ich unter „unternehmerischen Kompetenzen“, was haben diese mit stockenden Digitalisierungsbemühungen zu tun und vor allem: Warum sollten Mitarbeiter:innen an der Basis diese Kompetenzen nicht haben?

Unternehmerische Kompetenzen beziehen sich nicht nur auf die Fähigkeiten einer Person in Bezug auf „geschäftliche“ Aktivitäten, sondern ganz grundlegend auf Fähigkeiten, wie sie „auf die Welt“ schaut und mit dieser interagiert.

Im Gegensatz zu einer reaktiven Defizitorientierung geht es um die Entwicklung von Fähigkeiten, Chancen zu erkennen, kalkulierbare Risiken einzugehen, Innovationen voranzutreiben und Verantwortung zu übernehmen, um auch in Unsicherheit erfolgreich und „proaktiv“ agieren zu können.

Der Blick beispielsweise auf die Ausführungen zu Future Skills von Ehlers (2020) und im Spezifischen auf die Gruppe der „Organisationsbezogene Future Skills“ (Kompetenzen, die sich auf den Umgang mit der sozialen, organisationalen und institutionellen Umwelt beziehen) zeigt für mich das, was unter „unternehmerischen Kompetenzen“ gut gefasst werden kann. Ehlers beschreibt hier Fähigkeiten wie Sinnstiftung und Wertebezogenheit, die Fähigkeit, Zukünfte gestaltend mitzubestimmen, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu kooperieren und in besonderer Weise kommunikationsfähig, kritik- und konsensfähig zu sein. So ist – als nur ein Beispiel – Zukunftskompetenz „die Fähigkeit mit Mut zum Neuen, Veränderungsbereitschaft und Vorwärtsgewandtheit die derzeit gegebenen Situationen in andere, neue und bisher nicht bekannte Zukunftsvorstellungen weiterzuentwickeln und diese gestalterisch anzugehen“ (ebd., 94ff).

Unternehmerische Kompetenzen beinhalten Kompetenzen wie Innovations-, Führungs-, Kollaborations- und Kommunikationskompetenz. Aber auch Fähigkeiten wie Finanzwissen, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen lassen sich unter die „unternehmerischen Kompetenzen“ fassen.

Ich will hier nicht zu sehr in die Tiefe gehen, empfehle aber eine Auseinandersetzung mit den Future Skills.

Warum aber braucht es die hier angerissenen Kompetenzen für erfolgreiche Digitalisierung?

Auch dies ist eine große Frage, die sehr kurz beantwortet werden kann: Das sinnvollste Vorgehen zur Gestaltung einer dynamischen und komplexen Welt (egal, ob auf individueller Ebene, auf Ebene von Teams und Organisationen oder auf Ebene der Gesellschaft und der Welt als Ganzes) besteht im Experimentieren und Lernen. Nur durch das Ausprobieren des Neuen und das Lernen aus den gemachten Erfahrungen ist es möglich, sich Schritt für Schritt in die erwünschte Richtung, bspw. hin zur „digitalen Vision“ der eigenen Organisation, vorzutasten. Dieses aus dem agilen Management bekannte, „iterative Vorgehen“ wurde inzwischen an den verschiedensten Stellen ausführlich beschrieben.

Und dieses iterative Vorgehen findet sich auch im Denken und Handeln erfolgreicher Unternehmer:innen. Wiederum ohne zu tief einzusteigen findet sich unter dem Vorgehensweise „Effectuation“ eine anwendbare Logik, wie Unternehmer:innen „ins Handeln kommen“ und gleichzeitig Risiken minimieren, Partnerschaften eingehen und Zufälle nutzen.

Die unternehmerische Logik „Effectuation“ verbindet die unternehmerischen Kompetenzen mit den Notwendigkeiten des iterativen Vorgehens zur Gestaltung der Digitalisierung.

Aber warum vermisse ich diese Herangehensweise bei den Mitarbeiter:innen an der Basis sozialer Organisationen?

Dazu ist vorab zu konstatieren, dass das Problem nicht bei den Individuen liegt, sondern vielmehr als strukturelles Problem verstanden werden muss:

Da Soziale Arbeit im Wesentlichen kostenträgerfinanziert ist, bestehen wenige Anreize, „unternehmerisch“ zu agieren. Nur ein paar Gründe: Es besteht, insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels, nicht die Notwendigkeit, a) durch bessere Angebote neue „Kunden“ zu gewinnen. Außerdem besteht kaum Anreiz, b) „möglichst gute“, wirksame Soziale Arbeit zu leisten, damit die eigene Organisation weiterempfohlen wird. Hinzu kommt, dass c) die Vergütung Sozialer Arbeit in den meisten Fällen auf Tarifverträgen basiert, die wiederum wenig Anreize schaffen, besonders innovativ, überdurchschnittlich gut oder besonders effizient zu arbeiten. Und nein, der völlige organisationale und individuelle Burnout (spannend dazu der aktuelle Bericht der DAK) aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (ausgelöst insbesondere durch den Fachkräftemangel) ist keine Effizienz. Hinzu kommt, dass d) das für gelingende Digitalisierung notwendige iterative Vorgehen, das Experimentieren und Lernen, den Finanzierungsbedingungen der Kostenträger zuwiderläuft – in der Regelfinanzierung ebenso wie (zumindest offiziell) in der Finanzierung innovativer Projekte (deren Anschlussfinanzierung oftmals völlig unklar bleibt).

Kurz: Die strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft laden nicht dazu ein, unternehmerisch zu agieren. Und die angesprochenen Punkte a) – d) sind alles andere als abschließend. Sie verdeutlichen nur, dass fehlende unternehmerische Kompetenzen – wie so oft – kein ausschließlich individuelles Problem sind.

Und der Blick in die Zukunft zeigt aktuell sehr dramatisch, dass die Rahmenbedingungen alles andere als besser werden. Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 sprechen hier eine deutlich düstere Sprache. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bringt es auf den Punkt: „Die Pläne zwingen zu massiven Einschnitten bei sozialen Angeboten: von Freiwilligendiensten über die psychosoziale Versorgung Geflüchteter bis hin zur Unterstützung Arbeitsuchender.“ Marc Groß, Vorstandsvorsitzender der Liga-BW, sagt: „Sollten die Kürzungen wie vorgeschlagen beschlossen werden, trifft dies genau die Menschen, die es jetzt bereits am schwersten haben: Kinder, Jugendliche und Familien, Menschen in Armut, geflüchtete und zugewanderte Menschen“.

Und konkret im Kontext der Digitalisierung sind Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. Euro vorgesehen, die das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgesetzte Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung komplett aushebeln: „Hier werden die Verbände mitten im Aufbruch und in wichtigen strategischen Entwicklungen stark beeinträchtigt“, so die BAGFW.

Die Mitarbeiter:innen an der Basis aber sind nicht „geschult“ darin, Probleme „selbst in die Hand“ zu nehmen. Noch einmal: Das ist kein individueller Vorwurf, sondern strukturell bedingt. Und gleichzeitig ist es es relevant, genau hinzuschauen:

Das Jammern über schlechte Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, den Staat, die Politik, die da oben und diesdas hilft (und ist wirklich relevant) für die eigene Psychohygiene, verbessert die Situation aber nicht. Es gilt vielmehr, die eigene Freiheit zu nutzen. Und diese Freiheit ist in Organisationen mit der oben beschriebenen „dominierenden Informalität“ alles andere als klein. Denn gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team und oftmals auch völlig individuell zu entscheiden, was notwendig und möglich ist:

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer:innen gestaltet werden können. Die oberste Führungsebene hat – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort.

Wir waren ja beim Thema Digitalisierung, Du erinnerst Dich? Da gilt das Gleiche:

Trotz der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung ist es nur vor Ort möglich, die für die Digitalisierung notwendigen iterativen Experimente zu starten bzw. gesamtorganisationale Experimente für vor Ort zu adaptieren und aus diesen zu lernen, damit Digitalisierung gelingen kann.

Was kann getan werden?

Der erste Punkt ist der weitere Kampf (leider muss dieser Begriff benutzt werden) um die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft. Lobbyarbeit, die Verständigung mit den Kostenträgern über die komplexen Bedingungen sozialer Arbeit, wirksame Öffentlichkeitsarbeit für die Anliegen und die Bedeutung sozialer Dienstleistungen sind heute wichtig und werden in Zukunft wichtiger.

Aber auch wenn die Rahmenbedingungen das wesentliche Problem darstellen, brauchen wir mehr sichtbare Beispiele von Menschen, die mutig neue Wege beschreiten und unternehmerisch Innovationen vorantreiben.

Mir fallen hier viele Menschen ein, die Beispiel für gelingendes Unternehmertum sein können. Hier nur drei Beispiele:

  • Die Diakonie An Sieg und Rhein entwickelt mit der integrierten Sozialberatung die Sozialberatung der Zukunft. Dabei arbeiten Berater:innen mit verschiedenen inhaltlichen Spezialisierungen kollaborativ in Echtzeit mit Klient:innen zusammen. Patrick Ehmann, Geschäftsführer der Diakonie An Sieg und Rhein berichtet hier im Podcast vom aktuellen Stand der Entwicklungen des neuen Beratungsansatzes.
  • Bei der SozKom GmbH unter Leitung der beiden Geschäftsführerinnen Kathrin Stern und Rita Resch hat ein eigenes organisationales Betriebssystems – die „sozKomKratie“ – entwickelt und strukturiert sich anders. Das führt bspw. dazu, dass sich die Organisation keine Sorgen um Fachkräftegwinnung machen muss. Mehr dazu kannst Du hier im Podcast anhören.
  • Thomas Mampel beschreibt in seinem aktuellen Blogbeitrag das vom Stadtteilzentrum Berlin-Steglitz entwickelte kleine, aber sehr feine Projekt „Mobile Lernwerkstatt Demokratie“. Mit Koffern voll mit Moderations- und Workshopmaterial führen die Kolleg*innen spannende Projekttage zur aktuell mehr als relevanten Demokratieförderung an Schulen und in Kinder- und Jugendprojekten durch.

Ich will damit sagen, dass es die „Intrapreneur:innen“ in sozialen Organisationen braucht und gibt.

Intrapreneur:innen sind Mitarbeitende, „denen die Balance zwischen dem persönlichen Einsatz für die eigenen – von der hegemonialen Norm in ihren jeweiligen Organisationen abweichende (!) – Werte und Ideale auf der einen und der Anpassung an die institutionalisierten Settings, in denen sie agieren, auf der anderen Seite gelingt“, wie Hannes hier im Blog schreibt.

Entsprechend gilt es, in sozialen Organisationen, die Intrapreneur:innen, die Menschen, die neue Wege ausprobieren wollen, lebendig werden zu lassen. Das klingt leichter, als es ist. Einige Taktiken für Intrapreneur:innen beschreibt Hannes hier in diesem lesenswerten Beitrag.

Darüber hinaus ist es relevant, dass in Studium und Ausbildung die Entwicklung neuer Wege in der Unsicherheit, das Experimentieren und Lernen als Voraussetzung für gelingende Digitalisierung, viel stärker und in der Breite verankert werden muss. Nur so lassen sich die heutigen und zukünftigen Herausforderungen meistern.

Der Blick in die Ausbildungslandschaft zeigt, dass es an vielen Stellen in Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen bereits tolle Projekte gibt, die „unternehmerische Kompetenzen“ fördern. Über diese Projekte muss es gelingen, die berufliche Identität der Menschen an der Basis dahingehend zu erweitern, dass sich diese Menschen nicht „nur“ als Anwält:innen für ihr Klientel, sondern auch als Entre- oder Intrapreneur:innen für die Entwicklung der Angebote, der Teams und Organisationen und damit als Anwält:innen des Sozialen verstehen.

Fazit: Digitalisierung muss gestaltet werden

Mal wieder ein viel zu langer Blogbeitrag. Aber vielleicht hast Du bis hierher durchgehalten. Also nur noch einmal kurz:

Jeder und jedem ist inzwischen bewusst, dass gelingende Digitalisierung mehr braucht als Technik. Gelingende Digitalisierung braucht

  • klare Erwartungen,
  • ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung und
  • unternehmerische Kompetenz.

Und noch viel mehr, aber der Beitrag ist sowieso schon viel zu lang…


Wie steht es bei Dir persönlich und in Deiner Einrichtung um die drei hier beschriebenen Thesen? Stimmst Du zu? Oder wo siehst Du es anders? Lass es mich gerne wissen, als Kommentar hier im Blog, als Mail oder als Kommentar in den sozialen Medien. Freue mich, von Dir zu lesen.

Resonanz, Exnovation und Kooperation, oder: Das Ende des Business as usual für die Zukunft der Sozialwirtschaft

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Beendigung der Armut. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. Ermächtigung der Frauen. Dies sind die drei der fünf „außerordentlichen Kehrtwenden“, die laut dem neuen Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ (vgl. Dixsons-Declève et al., 2022) notwendig sind, um die Risiken der Klimakatastrophe substanziell zu reduzieren. Angeführt werden darüber hinaus der Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und der Einsatz sauberer Energie, um die Menschheit zu retten.

Der Anspruch Sozialer Arbeit

Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen – dies könnte gut eine anspruchsvolle Mission einer sozialen Organisation oder eines Wohlfahrtsverbands sein: Welt retten, um die Menschheit zu retten – reduziert auf das Machbare.

Das lässt den Anspruch Sozialer Arbeit erkennen: Soziale Arbeit will die Lebenswelt der Menschen, für die soziale Organisationen die (Mit-)Verantwortung tragen, besser machen, was auch beim Blick auf die Internationale Definition Sozialer Arbeit (vgl. DBSH, 2016) deutlich wird:

Soziale Arbeit fördert „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (…). Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern“.

Soziale Arbeit hat sich viel vorgenommen! Es stellt sich die Frage, ob wir – jede*r Einzelne, unsere Organisationen und die Soziale Arbeit als Ganzes – diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurden und in der Zukunft gerecht werden können.

Vergangenheit und Zukunft, oder: Das Ende des Business as Usual

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als „wahre Erfolgsgeschichte“ (Merten, 2001, 165) erzählen. Hans Thiersch spricht vom letzten Jahrhundert gar als „sozialpädagogisches Jahrhundert“ (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die Soziale Arbeit“ weiterentwickelt. Aber fördert sie wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen? Da können Zweifel aufkommen.

Und der IW-Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ (Hickmann, Koneberg, 2022) zeigt, dass Berufe in den Bereichen Sozialarbeit / Erziehung / Pflege schon heute besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind. Das spüren die Beschäftigten an allen Ecken. Soziale Organisationen bewegen sich in den uns alle betreffenden Polykrisen (vgl. bspw. Scharmer, 2022) am Rande der Belastungsgrenze.

Für die Gestaltung der Zukunft ist da wenig Platz, denn wenn man linear in die Zukunft sozialer Organisationen blickt, ergibt sich folgendes Bild:

Angesichts demographischer Entwicklungen steigt der Gesamtbedarf an personenbezogenen Dienstleistungen bei gleichzeitig abnehmender Anzahl an Erwerbstätigen. Herausforderungen wie Digitalisierung, Energiekrise, Krieg, Klimakatastrophe kommen hinzu.

Wenn es weitergeht, wie bisher, können die Belastungsdämme der Organisationen und der Sozialwirtschaft nicht mehr lange standhalten.

Die triviale Folgerung aus diesem kurzen Überblick muss lauten (und nach Innen und Außen lauter werden):

 Ein „Weiter so!“, ein „Business as usual“ kann und wird nicht mehr funktionieren. Es braucht „Transformation hin zum Neuem“!

Aber wie sieht das Neue aus? Und vor allem: Wie kann die Transformation dorthin gelingen?

Um diese Fragen spezifisch für soziale Organisationen zu beantworten, lohnt es sich, ausgehend von den Kehrtwenden des Club of Rome, den Blick zu weiten: Wie kann Transformation auf globaler Ebene gelingen und was lässt sich daraus für soziale Organisationen lernen und adaptieren?

Gemeinsam Spüren, oder: Echte Transformation braucht neues Lernen

Im Folgenden wird eine von drei notwendigen Veränderungen herausgegriffen, die angesichts der aktuellen Krisen erforderlich sind, um die Forderungen des Club of Rome auf der systemischen Makroebene, also auf globaler, nationaler und/oder der Ebene der Funktionssysteme (Bildung, Politik, Gesundheit, Soziales…) umzusetzen:

Es braucht die Transformation des Lernens – weg von der Leistungs- und Prüfungsorientierung hin zur Entwicklung von Fähigkeiten zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen, ko-kreativen Gestaltung der Zukunft (vgl. Scharmer, 2022).

Der Gedanke, dass wir zur Bewältigung der globalen Krisen die Art, wie wir Lernen verstehen, ändern müssen, ist nicht neu: Bereits der im Jahr 1979 im Anschluss an den 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Bericht des Club of Rome unter dem Titel „No limits to learning“ rückt explizit das Thema „innovative learning“ in den Vordergrund. Darunter ist ein Lernen zu verstehen, das Kreativität und effektive Kooperation ins Zentrum rückt (vgl. Göpel, 2022, 132). Über Neu-Lernen, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten und Kooperation kann es gelingen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

So wissen wir, was wir tun sollten, kommen aber oft nicht ins Handeln. Rechtliche, institutionelle und individuelle Abhängigkeiten hindern uns daran, gemeinsam neu zu Lernen und das Business as usual nicht nur ernsthaft infrage zu stellen, sondern wirklich anders zu agieren.

Aber wie können wir neu Lernen lernen und das kollektive Gefühl von „so kann es nicht mehr weitergehen“ transformieren in das Neue?

Dazu braucht es (vgl. Scharmer, 2022):

  • institutionelle Infrastrukturen, die alle relevanten Akteure zusammenbringen, um das System gemeinsam zu gestalten,
  • Führungsinstrumente und -kapazitäten, um das Bewusstsein der verschiedenen Akteure von einer Silo- zur Systemsicht zu verändern und
  • finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der oben genannten Maßnahmen.

Resonanz erzeugen, oder: Co-kreative institutionelle Infrastrukturen

Wir sind gefordert, in unseren Organisationen co-kreative institutionelle Infrastrukturen und damit Dialogräume zu gestalten, in denen es gelingt, Resonanz (vgl. Rosa, 2022) zwischen den Themen und den verschiedenen Akteur*innen zu erzeugen.

Resonanz meint a) die Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ (ebd., 57). Damit ist das Hören und Spüren des dezidiert Anderen, des Neuen gemeint – „und das kann durchaus irritierend sein“ (ebd., 59). Hier ist die Verbindung zur organisationalen Innovations- und damit Lernfähigkeit interessant: Für die Ermöglichung von Innovation ist es notwendig, „irritationsrelevante Informationen“ wahrzunehmen bzw. sich von diesen „anrufen“ lassen zu können.

Aus dem „angerufen werden“ folgt b) die Selbstwirksamkeit: „Ich stelle plötzlich fest, (…), dass ich in der Lage bin auf das Empfangene zu reagieren“ (ebd., 60). In Bezug zur organisationalen Innovationsfähigkeit gilt es, die irritierenden Informationen aus der Umwelt für die Organisation nutzbar machen zu können.

Aus der Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ und selbst wirksam zu werden entsteht dann c) die Möglichkeit echter Verwandlung bzw. Transformation:

„Da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre, und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich“ (Rosa, 2022, 62).

Und genau darum geht es: Um Verwandlung, um Transformation, die als Abkehr vom Business as Usual das Neue, echte Innovation und tiefgreifende Veränderung ermöglicht.

Der Moment der Resonanz kann jedoch nicht gekauft, hergestellt oder erzwungen werden. Resonanz ist d) unverfügbar (vgl. ebd., 64). Und genauso ist es in Organisationen:

Appelle an die Mitarbeiter_innen, „jetzt aber mal innovativ zu sein“ oder das Erzwingen nicht resonanzfähiger „New Work Maßnahmen“ werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ergebnislos verpuffen, wenn nicht echte, strukturelle Veränderungen erfolgen, die anderes Arbeiten nach sich ziehen.

Auf-Hören, oder: Systemische Führungsinstrumente und -kapazitäten

Im obigen Zitat irritiert das Wort „aufhören“. Rosa verbindet mit dem Auf-Hören das sich „anrufen und erreichen lasse[n] von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-Do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist“ mit dem gängigen Verständnis des Begriffs Aufhören im Sinne von „anhalten, stoppen“ (ebd., 56).

Beides ist wichtig: Zum einen gilt es, aufzuhorchen und sich von den irritierenden Informationen aus der Umwelt anrufen zu lassen, um daraus Neues zu gestalten. Zum anderen gilt es aber auch, aufzuhören und Aktivitäten zu stoppen, die keinen Mehrwert für die Menschen und die Organisation liefern.

Es lohnt die Beschäftigung mit Exnovation – der anderen Seite von Innovation: Exnovation heißt, dass Nutzungssysteme, Prozesse, Praktiken oder Angebote, die getestet und bestätigt wurden, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen, eingestellt werden (vgl. Epe, 2022). Exnovation heißt jedoch keinesfalls, in der Organisation eine Kultur der Nicht-Innovation zu propagieren. Exnovation, das Aufhören, die Abschaffung, das Beenden, gehört zur Innovation zwingend dazu – wie zwei Seiten einer Medaille.

Und hier sei mit Blick auf das „sozialpädagogische Jahrhundert“ die Frage gestattet: Wo haben wir im Sozialwesen erfolgreich Dinge nicht mehr getan, nicht (mehr) wirksame Angebote nicht weitergeführt und wirklich aufgehört, um so Raum für Neues zu schaffen?

Gleiches gilt institutionell: Anstatt grundlegende, strukturelle Barrieren zu beseitigen, die die Veränderung des Systems blockieren, versuchen wir, Menschen zu motivieren, „sich zu verändern“ und neue Methoden und Angebote zu schaffen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten. Echtes Lernen und damit Veränderung komplexer sozialer Systeme geschieht aber nicht, indem wir „mehr des Gleichen“ tun. Die Beseitigung struktureller Barrieren, das Weglassen, das Exnovieren ist oft der wirkungsvollste Hebel, um soziale Systeme und damit Organisationen in Veränderung zu bringen.

Veränderung bedeutet, etwas aus dem gewohnten Trott zu bringen. Es mag zwar oberflächlich beruhigend und entlastend sein, sich an Routinen und Business as usual zu klammern. Sinnvoller ist aber die Frage: Was von dem, was wir in unserer Organisation oder im Team tun, kann weg, womit können wir aufhören?

Bezogen auf Vorgaben in Organisationen hat sich zur Beantwortung der Frage die einfache Methode „Kill a stupid rule“ bewährt:

  1. In Kleingruppen sammeln die Beteiligten regelmäßig bestehende Regeln aus ihrer Organisation, die sie gerne abschaffen/ändern würden und notieren diese.
  2. Die Notizen werden vorgestellt und in ein Koordinatensystem eingruppiert: wenig bis sehr aufwändig und kleine bis große Wirkung.
  3. Ideen mit wenig Aufwand und großer Wirkung können direkt angegangen werden. Ideen mit mehr Aufwand kann man priorisieren und nach und nach umsetzen.

Eigentlich einfach, aber wir wissen auch: Das Auf-Hören fällt schwer – gesellschaftlich, organisational und individuell.

Kooperation, oder: Finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der Maßnahmen

So, wie in unseren Organisationen nicht eine Person allein „den Laden am Laufen hält“ lässt sich die Transformation der Gesellschaft nicht durch „den einen Hebel“ und damit losgelöst von anderen sozialen Systemen betrachten. Mehr noch:

„Kooperation war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Lebens, und sie ist bis heute ein das Leben in all seinen Varianten begleitendes Phänomen geblieben“ (Bauer, 2006, 221).

Wollen wir die Zukunft des Sozialwesens gestalten und die Abkehr vom Ego- zum Eco-System und Möglichkeiten gestalten, „vom größeren Gesamtsystem aus zu handeln“ (Scharmer, 2013, 220), müssen wir eine Kultur der Kooperation (wieder)beleben, auch wenn dies „ein radikaler Gegenentwurf zum neoliberalen und zum auf Verdrängungswettbewerb und Auslese aufbauenden darwinistischen Menschenbild [ist], das Ökonomie und Gesellschaft seit langer Zeit und heute noch prägt“ (Seliger, 2022, 119).

Kooperation erfolgt in vielen Fällen bereits zwischen sozialen Organisationen und zwischen unterschiedlichen Verbänden (auch wenn es hier ebenfalls Entwicklungsbedarf gibt). Aber gerade mit Blick auf die Finanzierung Sozialer Arbeit ist der Blick auf Kooperation hochgradig relevant:

Soziale Organisationen sind in ihrer Finanzierung im Wesentlichen abhängig von Sozialleistungsträgern. Entsprechend greift der isolierte Blick auf die institutionelle Transformation, auf innerorganisationale Veränderungsnotwendigkeit zu kurz – ohne damit zu sagen, dass innerhalb der Organisationen keine Veränderungen stattfinden sollten – da sie in der Finanzierung ihrer Leistungen abhängig sind von den Sozialleistungsträgern.

Eine Herausforderung der Verbindung von Sozialleistungsträgern auf der einen und sozialen Organisationen als Leistungserbringern auf der anderen Seite besteht aber darin, dass beide Systeme unterschiedliche binäre „Leitdifferenzen“ (Codes) aufweisen, anhand derer sich die Entscheidungen im jeweiligen System orientieren.

Soziale Organisationen wägen ihre Entscheidungen – sehr grob formuliert – anhand der Leitdifferenz „Helfen / nicht helfen“ (vgl. Kleve, 2007, 147) ab, wohingegen die Sozialleistungsträger ihre Entscheidungen anhand der Leitdifferenz „Rechtlich vorgegeben / nicht vorgegeben“ abwägen.

Daraus folgt, dass soziale Organisationen komplexe soziale Probleme anders angehen würden, wenn die Finanzierungsmöglichkeiten dies zuließen. So wird bspw. die Einbeziehung der Klient*innen und die Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung in allen moderneren Methoden Sozialer Arbeit gefordert, deren Umsetzung jedoch in Teilen durch die Notwendigkeit konterkariert, sich an die Vorgaben der Sozialgesetze zu halten, um darüber die Finanzierung sicherzustellen.

Zur zukünftigen Sicherstellung einer sinnvollen Finanzierung ist es also notwendig, die Kooperation zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern deutlich zu steigern, um über den Dialog ein gegenseitiges Verständnis der Notwendigkeiten wirksamer Finanzierung herzustellen.

Außerdem ist in sozialen Systemen, großen wie kleinen, alles miteinander verbunden (vgl. Göpel, 2022, 36ff). Entsprechend muss der kooperationsfokussierte Blick über die Grenzen der Sozialwirtschaft hinaus geweitet werden: Kooperation muss auch verstärkt zwischen anderen Unternehmen und Funktionssystemen gestärkt werden, um Transformation zu ermöglichen.

Das Ausweiten der Kooperation vereinfacht wiederum das unverzichtbare „Sich-anrufen-lassen“ von anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten, die ergriffen werden können, um gelingende Zukunft zu gestalten.

Das Ende des Business as usual, oder: Mutige Visionen für die Zukunft der Sozialwirtschaft

Es muss nicht wiederholt werden, dass die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen heute und in Zukunft widmen müssen, massiv sind. Sie werden heute nicht absehbare Veränderungen erfordern. Einfache Antworten und Business as usual werden aber definitiv nicht funktionieren, auch wenn die Suche nach Sicherheit und Beständigkeit in einer hyperaktiven Welt allgegenwärtig ist. Aber es hilft nicht, angesichts der Dynamik und Komplexität der Herausforderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gute in der aktuellen Situation: In allen Problemen (ver-)stecken sich auch Chancen, wenn wir lernen, mutige Visionen der Zukunft der Sozialwirtschaft in den Blick zu nehmen:

Mutige Visionen brechen mit dem Business as Usual. Sie helfen uns, die Gegenwart hinter uns zu lassen und damit neue Perspektiven einzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und gehen an Ihren Arbeitsplatz. Dort muss über Nacht ein Wunder geschehen sein und es ist alles so, wie Sie es sich schon immer erträumt haben:

  • Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert hat?
  • Was sind die größten Unterschiede zu gestern?
  • Wie fühlt sich die Veränderung an? Was ist beglückend?
  • Mit welchem Bild würden Sie die neue Situation Ihrer Organisation darstellen?

Beginnen Sie, Ihre Vision mutig zu malen, denn

„Mut heißt nicht, keine Angst zu haben! Mut heißt nur, dass man trotzdem springt!“ (Sarah Lesch).


Quellen:

  • Botkin, J. W., Elmandjra, M., Malitza, M.: No limits to learning: bridging the human gap. 1st ed. Pergamon international library. Oxford; New York: Pergamon Press, 1979.
  • DBSH. Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. 2016. Download unter: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html. Abruf am 16.12.2022.
  • Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., Espen Stoknes, P.:  Earth for all: ein Survivalguide für unseren Planeten. Übersetzt von Rita Seuß und Barbara Steckhan. 4. Auflage. München: oekom, 2022.
  • Epe, H.: Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht! Download unter: https://www.ideequadrat.org/exnovation/. Download am 03.01.2023.
  • Göpel, M.: Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
  • Hickmann, H., Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67. Download unter https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Top-Fachkr%C3%A4ftel%C3%BCcken.pdf. Download am 20.12.2022.
  • Kleve, H.: Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2007.
  • Merten, R.: Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192, 2001.
  • Rosa, H.: Demokratie braucht Religion. München: Kösel-Verlag, 2022.
  • Scharmer, O.: Protect the Flame. Circles of Radical Presence in Times of Collapse. 2022. Download unter: https://medium.com/presencing-institute-blog/protect-the-flame-49f1ac2480ac. Abruf am 15.12.2022.
  • Scharmer, O.: Theorie U – von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 3. Aufl. Management. Heidelberg: Carl-Auer-Verl, 2013.
  • Seliger, R.: Systemische Beratung der Gesellschaft: Strategien für die Transformation. Erste Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.
  • Thiersch, H.: Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Hinweis: Der Text ist vorab (in leicht angepasster Version) in den „Blättern der Wohlfahrtspflege“, 3/23, veröffentlicht worden. doi.org/10.5771/0340-8574-2023-3-96!


Selbstbestimmt und effizient Lernen, oder: Warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit wichtig wird!

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Es ist eine echte Floskel: In einer sich ständig verändernden und komplexen Welt gewinnt lebenslanges Lernen eine immer größere Bedeutung! Lernen ist eine der bedeutsamsten Future Skills. Dies gilt nicht nur „auch“, sondern insbesondere für Organisationen der Sozialen Arbeit: Die Mitarbeiter:innen sind kontinuierlich gefordert, sich mit komplexen sozialen Herausforderungen und kontinuierlich Neuem auseinandersetzen. Für das „einzige Kapital“ sozialer Organisationen – die Mitarbeiter:innen – ist es entsprechend notwendig, Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu nutzen. Hinzu kommt, dass traditionelle Lernmethoden zunehmend von modernen, selbstgesteuerten Lernmöglichkeiten abgelöst werden, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen besser entsprechen. Und außerdem geht es nicht nur um die Mitarbeiter:innen: Auch die Organisationen haben Weiterbildungsbedarfe, ausgelöst durch bspw. rechtliche oder organisatorische Veränderungen, die über kleine, schnelle, bedarfsgerechte Lernmöglichkeiten bedient werden können. Aber wie sieht zeitgemäßes und bedarfsgerechtes Lernen, wie sieht „New Learning“ in sozialen Organisationen aus? In diesem Blogbeitrag erfährst Du, was Microlearning ist und warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit Vorteile bringt. Außerdem findest Du Ideen für Inhalte, die „Microlearning-kompatibel“ sind.

Was ist Microlearning?

Microlearning, auch Mikrolernen genannt, bezeichnet das Lernen in kleinen Einheiten und kurzen Schritten. Dabei werden kompakte Lerneinheiten bzw. -module erstellt, die auf das Wesentliche reduziert sind und ein einzelnes, klar abgegrenztes Lernziel oder für die Mitarbeiter:innen relevantes Thema behandeln. Diese Lernmodule sind wirklich kurz – so kurz wie für den Inhalt möglich – und konzentrieren sich auf die Vermittlung nur einer sehr spezifischen Kompetenz bzw. auf die Beantwortung nur einer sehr spezifischen Frage.

Charakteristika von Microlearning:

Im Folgenden findest Du einige allgemeine Charakteristika von „Micro-Learning-Angeboten“:

  • Kompakte Lerneinheiten: Microlearning bricht das Lernmaterial in kleine, leicht verdauliche Bestandteile herunter. Anstatt lange Lernsitzungen zu absolvieren, nehmen Lernende in kurzer Zeit komprimierte Wissensportionen auf.
  • Fokussiertes Lernziel: Jede Microlearning-Einheit verfolgt ein spezifisches Lernziel, das klar und präzise definiert ist. Dadurch wird das Lernen gezielt und effizient gestaltet.
  • Zeit- und ortsunabhängig: Microlearning ermöglicht es den Lernenden, möglichst flexibel zu lernen, wann und wo es ihnen am besten passt. Die Lerneinheiten können über verschiedene Medien wie PC, Smartphone, Tablet oder auch – sofern inhaltlich sinnvoll – in Präsenz vor Ort abgerufen bzw. absolviert werden.
  • Vielfältige Lernformate: Microlearning nutzt verschiedene Formate wie Texte, Videos, interaktive Elemente oder Quizfragen, um das Lernerlebnis abwechslungsreich und ansprechend zu gestalten. Microlearning vor Ort sind entsprechend kurze Einheiten, die zu einem bestimmten Thema in der Organisation angeboten werden.
  • Gezielte Wiederholungen: Durch wiederkehrende Microlearning-Einheiten und Quizfragen wird das Wiederholen von Inhalten gefördert, um das langfristige Behalten zu unterstützen und die benötigten Kompetenzen dann abzurufen, wenn sie wirklich gebraucht werden.

Vorteile von Microlearning:

  • Bessere Aufmerksamkeit: Durch die kurzen und prägnanten Lerneinheiten können Lernende ihre Aufmerksamkeit besser auf das Thema konzentrieren und sind weniger anfällig für Ablenkungen.
  • Effizientes Lernen: Microlearning ermöglicht schnelles und gezieltes Lernen. Es spart Zeit, da Mitarbeiter:innen nicht lange aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden müssen.
  • Flexibilität: Lernende können selbst entscheiden, wann und wo sie lernen möchten. Dies fördert die Selbstorganisation und Eigenverantwortung beim Lernen.
  • Selbstwirksamkeit: Kurze Lerneinheiten sind schneller „durch Erfolg gekrönt“, als lange Workshopeinheiten zu einem bestimmten Thema. Daraus resultieren schnellere Lernerfolge, die wieder „Spaß am Lernen“ vermitteln.
  • Entwicklung einer Lernkultur: Die kontinuierliche Nutzung sinnvoller, die Selbstwirksamkeit steigernder Lernmöglichkeiten kann zu einer „Lernkultur“ in der Gesamtorganisation führen, denn: Die Verhältnisse bestimmen das Verhalten.
  • Besseres Wissensmanagement: Das kompakte Format von Microlearning-Einheiten erleichtert das „Organisieren und Verwalten“ des erlernten Wissens.

Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:

Der Fachkräftemangel stellt die aktuell größte Herausforderung für Soziale Organisationen dar. Der Fachkräftemangel in Verbindung mit sich dynamisch verändernden Themenstellungen – Digitalisierung allgemein, KI, IT-Sicherheit, sozial-ökologische Nachhaltigkeit, Demokratiekrise… – vergrößern diese Herausforderung jedoch massiv: Der Wandel der Organisationen muss gelingen bei sich gleichzeitig verringernden Möglichkeiten nachhaltigen Lernens durch weniger und häufig wechselndes Personal.

Stefan Gesmann bringt es auf den Punkt: „Angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Feld der Sozialen Arbeit werden sich Leitungskräfte zukünftig noch weniger erlauben können, die betriebliche Weiterbildung ungesteuert nebenherlaufen zu lassen“ (Gesmann, 2022, 170).

Entsprechend kann Microlearning auch und gerade in sozialen Organisationen echte Vorteile bieten:

  • Zeit- und kosteneffizient: Traditionelle Lernformen können zeitaufwendig und damit kostenintensiv sein. Mit Microlearning können Mitarbeiter:innen neue Inhalte in kurzen, flexiblen Einheiten erlernen, ohne ihren Arbeitsablauf (zu) stark zu beeinträchtigen. Dies spart Zeit und ermöglicht den Mitarbeiter:innen, „parallel zum Job“ zu lernen.
  • Flexibilität: Soziale Arbeit braucht Flexibilität. Mitarbeiter:innen müssen oft schnell auf neue Situationen reagieren. Microlearning bietet die Möglichkeit, benötigtes Wissen „just-in-time“ abzurufen, sei es in der Arbeitsstelle, im Home Office oder unterwegs.
  • Individuelles Lernen: Jede:r Mitarbeiter:in hat unterschiedliche Wissensstände und (Lern-)Bedürfnisse. Mit Microlearning können (relativ) einfach individuelle Lernpfade gestaltet werden, die den jeweiligen Anforderungen gerecht werden und eine maßgeschneiderte Weiterbildung ermöglichen.
  • Nachhaltiges Lernen: Kurze und prägnante Lerneinheiten fördern das bessere Behalten von Informationen. Die Möglichkeit, Inhalte in kleinen Häppchen zu wiederholen, stärkt das Langzeitgedächtnis und sorgt für nachhaltiges Lernen.

Chancen von Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:

Ich habe mir gerade eine Cajon gekauft (so eine Trommelkiste). Ich will damit meinen Sohnemann beim Gitarre spielen begleiten. Aber ich kann es nicht. Was also tun? YouTube-Videos schauen im Sinne meines eigenen Lernens. Dadurch erhoffe ich mir die Chance, ein Instrument zu lernen. Aber welche Chancen bietet Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit?

  • Praxisnähe: Microlearning-Module können sich auf praktische Situationen im Arbeitsalltag der Sozialen Arbeit konzentrieren. Mitarbeiter:innen können spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die ihnen in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar dann, wenn Fragen und Herausforderungen auftreten, zugutekommen.
  • Weiterentwicklung der Mitarbeiter:innen: Durch den einfachen Zugang zu relevantem Wissen und die Möglichkeit, schnell und einfach aktuell notwendige Kompetenzen im Sinne von Future Skills zu erwerben, können Mitarbeiter:innen ihre eigenen Kompetenzen kontinuierlich verbessern und sich den Anforderungen einer sich wandelnden Organisation und übergreifend einer sich wandelnden Gesellschaft anpassen.
  • Multimodalität: Microlearning vereint idealerweise verschiedene Medien wie Texte, Videos, Podcasts oder interaktive Lernmaterialien. Daraus resultiert ein Lernerlebnis, das auf die individuellen Lernbedürfnisse der einzelnen Mitarbeiter:innen abgestimmt und damit vielfältig und ansprechend ist. Nur so gelingt der Kulturwandel hin zu einer echten Lernkultur.

Inhalte für Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit

OK, die Chancen und Vorteile sind klar und (so meine Meinung, natürlich 😉 ziemlich einleuchtend. Aber was, also welche Inhalte können im Format des Microlearnings vermittelt werden? Um die Spannung nicht zu groß werden zu lassen: Ehrlich gesagt sind nahezu alle Arten von Inhalten für Microlearning geeignet. Vor allem aber lassen sich sich schnell und ressourcenschonend aktuelle Inhalte aufbereiten und den Mitarbeiter:innen zur Verfügung stellen. Wichtig ist aber, dass die Inhalte klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden. Die Inhaltsvielfalt ermöglicht es, Microlearning als vielseitiges und effektives Lernformat in verschiedenen Bereichen der Aus- und Weiterbildung einzusetzen. Aber etwas konkreter:

  • Wissenshäppchen: Komplexe Themen können in kleine, leicht verständliche Wissenshäppchen aufgeteilt werden. So können einzelne Konzepte oder Fakten in kurzer Zeit vermittelt werden. Zu denken ist hier bspw. an rechtliche Änderungen (BTHG, KJSG, Grundlagen aus den SGB usw.).
  • Fertigkeiten und Soft Skills: Praktische Fertigkeiten und Soft Skills, wie z.B. Kommunikationstechniken, Zeitmanagement oder Präsentationsfähigkeiten, lassen sich gut in kurzen Lerneinheiten trainieren. Zu denken ist – vor allem auf Ebene der Führungskräfte – auch an Skills zur Verhandlungsführung, zur Führung von Hilfeplangesprächen.
  • Informationen zu definierten Prozessen: Die dominierende Informalität sozialer Organisationen (What??? Hier lesen… 😉 in Verbindung mit dem Fachkräftemangel erfordert zunehmend die Definition von klaren Prozessen über Anforderungen und Arbeitsabläufe. Neue oder veränderte Prozesse können sehr gut über Microlearning-Einheiten verdeutlicht werden.
  • Methoden rund um Führung und Teamentwicklung: Auch wenn Methoden nicht alles sind, helfen kleine Ideen und Anregungen, bspw. zu Methoden der Teamentwicklung, im Alltag schon weiter. Und selbst im Führungsalltag auftretende Fragen lassen sich (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln.
  • Serviceinformationen: Informationen über neue Dienstleistungen können in kurzen Lerneinheiten präsentiert werden, um (neue) Mitarbeiter:innen (oder auch die Nutzer:innen) schnell auf den neuesten Stand zu bringen. Das ist bspw. rund um das „Onboarding“ bzw. die Einarbeitung von neuen Mitarbeiter:innen hoch interessant und ressourcenschonend.
  • Sicherheits- und Compliance-Schulungen: Richtlinien, Verfahren und Sicherheitsbestimmungen können in kurzen, wiederkehrenden Einheiten vermittelt werden, um das Bewusstsein der Mitarbeiter:innen zu schärfen. Neben Arbeitsschutz oder Datenschutz fallen mir hier insbesondere Schulungen rund um die IT-Sicherheit ein.
  • Sprach- und Vokabeltraining: Fremdsprachen oder Fachterminologie lassen sich ebenfalls gut in kurzen Lernmodulen üben, um die Lernenden kontinuierlich und zum Beginn einer neuen Tätigkeit mit neuen Vokabeln zu versorgen.
  • Mini-Simulationen: Kleine Simulationen oder Fallstudien können verwendet werden, um reale Situationen nachzubilden und die Entscheidungsfindung der Lernenden zu fördern.

Ohne hier zu tief auf die (umfangreichen) Gestaltungsmöglichkeiten einzugehen, macht es Sinn, in den Lerneinheiten Reflexionsfragen oder Feedback-Möglichkeiten am Ende einer Lerneinheit einzubinden, um die Möglichkeit zu schaffen, das Gelernte zu überdenken und den Lernfortschritt zu bewerten.

Noch einmal: Nahezu alle Arten von Inhalten eignen sich für Microlearning – auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. Wichtig ist nur, dass sie klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden – die Inhalte, nicht die Organisationen. Wobei…?

Aber – das erklärt sich wohl von selbst – Microlearning ist nicht die Lösung für alle Lernnotwendigkeiten. Die Vermittlung von breitem, grundlegenden Wissen zu einem Thema fällt darunter, da die kleinen Lerneinheiten per Definition darauf fokussieren, jeweils genau ein Problem zu lösen bzw. jeweils eine Frage zu beantworten. Es reicht auch nicht, einfach jeden Kurs oder jede Weiterbildung in Mikro-Lerneinheiten umzuwandeln, indem man den Kurs einfach in kleinere Stücke zerlegt. Die Unterteilung größerer Kurse und Lerneinheiten macht vielleicht Sinn, um Informationen in kleinen „Learning Nuggets“ zu organisieren. Der aufgeteilte Inhalt des Kurses muss aber immer mit dem Rest des Lerninhalts kombiniert werden, um einen sinnvolles Lernen zu ermöglichen. Die Strategie hinter Microlearning besteht jedoch daraus, für sich unabhängige Lerneinheiten zu gestalten, die auf einen einzigen Zweck ausgerichtet sind.

Fazit:

Für das Phrasenschwein: In Organisationen der Sozialen Arbeit ist lebenslanges Lernen essenziell, um den vielfältigen sozialen Herausforderungen gerecht zu werden.

Aber Spaß beiseite: Microlearning kann hier eine effektive und zeitgemäße Lernmethode darstellen, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen und den Weiterbildungsbedarfen der Organisation entgegenkommt!

Hinzu kommt, dass uns neben aller Effektivität heute und zukünftig nichts anderes übrig bleibt: Wir müssen die Effizienz in den Blick nehmen, auch wenn dieser Begriff nicht so wahnsinnig beliebt ist in der Sozialen Arbeit. Wir benötigen effiziente Möglichkeiten, Lernen und damit „Personalentwicklung“ zu ermöglichen.

Abschließend nur noch ein kurzer Blick auf die schon erwähnte Kulturentwicklung: Diese funktioniert – sehr kompakt ausgedrückt – nicht durch Appelle an eine andere Haltung („Wir sind ab morgen innovativ und kreativ, damit das klar ist!“). Kulturentwicklung funktioniert über die kontinuierliche Anpassung der Verhältnisse, der Strukturen und Abläufe in der Organisation oder dem Team.

Gerade die Gestaltung einer positiven Lernkultur kann mithilfe der Einführung von Microlearning wunderbar gefördert werden. Ach ja, oben hatte ich geschrieben, dass sich selbst im Führungsalltag auftretende Fragen (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln lassen. Dies finde ich gerade für neue und angehende Führungskräfte spannend, die einen Rollenwechsel vom Teammitglied hin zur Teamleitung vornehmen. Denn Rollenwechsel geht mit der Entwicklung der eigenen Identität einher. Und die Entwicklung der eigenen Identität funktioniert nicht durch ein zweitägiges Führungskräfteseminar, sondern durch eine kontinuierliche Beschäftigung mit den im Alltag auftretenden Herausforderung.


Gibt es in Deiner Organisation entsprechende Möglichkeiten, in kleinen Einheiten selbstbestimmt zu lernen? Schreib dazu doch nen Kommentar oder schick mir gerne eine Mail!


Quellen:

New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part II: Der Blick zurück!

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Nach Part I – meiner New Social Work Definition – findest Du hier Part II der Serie „New Social Work Zwischenbilanz“. Darin werde ich auf meinen ganz persönlichen Weg hin zu New Social Work schauen und dann – anhand der vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) etwas strukturierter die Anfänge der Entwicklungen rund um New Social Work darlegen.

Meine Anfänge rund um New Social Work

Damals, genauer 2014, habe ich – wie gesagt – das Buch „Reinventing Organizations“ verschlungen, erst auf Englisch als PDF, dann analog auf Englisch und Deutsch. Ich war fasziniert: Eine neue Art, Organisationen, Arbeit und übergreifend auch tradierte Grundprinzipien unseres Lebens in unserer Gesellschaft zu (über)denken.

Kurz zur Wiederholung: Laloux hat damals eine Studie bei 12 Organisationen durchgeführt. Die Kriterien zur Auswahl der Organisationen waren: mind. 100 Mitarbeiter sowie mindestens 5 Jahre Arbeit nach Strukturen und Prozessen, Praktiken und Kulturen, die mit den Merkmalen des integralen evolutionären Paradigmas übereinstimmen.

Es wurden Fragen gestellt, die sich auf 45 Praktiken und Prozesse in diesen Organisationen beziehen. Dabei wurden zentrale übergreifende Organisationsprozesse wie Strategie, Marketing, Verkauf, Unternehmensführung, Finanzplanung oder Controlling sowie wichtige Prozesse im Bereich Human Resources (bspw. Einstellungen, Weiterbildungen) und „Praktiken des Alltags“ wie Meetings, Organisationsfluss oder die Ausstattung der Büroräume in den Fokus genommen.

Es wurde versucht herauszufinden, „ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Pioniere von konventionellen Managementmethoden unterscheiden“ (ebd., 8).

Ohne hier in die Tiefe zu gehen, lässt sich das Ergebnis der Studie dahingehend zusammenfassen, dass die Studie die drei wichtigen „Durchbrüche“ oder Prinzipien Selbststeuerung (oder Selbstführung), Ganzheit und evolutionären Sinn als wesentlich für Organisationen des integralen evolutionären Paradigmas gezeigt hat.

Selbststeuerung bedeutet, dass alle Mitglieder der Organisation alle Entscheidungen selbst treffen können, sofern sie sich 1. den Rat der von der Entscheidung Betroffenen und 2. den Rat der Experten in der jeweiligen Angelegenheit eingeholt haben. Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Transparenz und der Zugang zu Informationen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können.

Evolutionärer Sinn bedeutet, dass die Organisationen, in denen die genannten Prinzipien funktionieren, einem klaren Sinn, einem Unternehmenszweck folgen, der für alle Mitglieder der Organisation verständlich, einleuchtend und sinngebend ist. Dabei geht es nicht nur um die „Weltverbesserung“, auch bspw. der Zweck der Schaffung von Arbeitsplätzen in einer strukturschwachen Region kann sinnstiftend wirken. Mit klaren, auf den Zweck ausgerichteten, freien Entscheidungen aller Mitarbeitenden wären bspw. Zielvereinbarungen hinfällig, da jeder wüsste, welchen Beitrag er zur Erreichung des Zwecks zu leisten imstande ist.

Ganzheitlichkeit bedeutet, dass „der ganze Mensch“ mit all seinen Emotionen, Zweifeln, Gedanken usw. die Organisation mitgestaltet. Daraus entsteht einer Kultur der Offenheit, Wertschätzung und Akzeptanz.

Die Verbindung der bei Frederic Laloux formulierten Kernaussagen von „teal organizations“ – Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und evolutionärem Sinn – mit den grundlegenden Funktionslogiken sozialer Organisationen war augenöffnend.

Denn davon ausgehend, dass

  • soziale Organisationen einen Zweck verfolgen, der sinnstiftend ist („Helfen“ oder Menschenrechte oder wie auch immer) und
  • das Menschen, die im Bereich der Sozialen Arbeit tätig sind, über ein bio-psycho-soziales Menschenbild der „Ganzheitlichkeit“ aufgrund ihrer Profession verfügen (sollten) und
  • darüber hinaus in der täglichen Arbeit immer wieder eigenverantwortlich, selbstgesteuert, idealerweise vor dem Hintergrund einer professionellen Haltung, mit entsprechendem Wissen, Kompetenzen und Methoden agiert und reagiert werden muss (wenn ich nicht blitzschnell eine Entscheidung treffe, haut der Jugendliche mir eine auf die Nase),

ist anzunehmen, dass Organisationen der Sozialwirtschaft „eigentlich“ das Ideal an eine neue Arbeitswelt, an eine „New Social Work“ verkörpern.

Der Blick auf und in Soziale Organisationen hingegen zeigte ein anderes, formal-hierarchisches Bild tradierter Organisationen, deren Mitglieder schon damals hohe Burn-Out-Raten aufwiesen und Sinnstiftung nicht unbedingt an erster Stelle stand.

Spätestens beim Blick auf einen Kernbereich sozialer Arbeit – die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen – wurde deutlich:

Solange die Professionellen an vielen Stellen im Sozialwesen selbst nicht autonom und selbstbestimmt handeln können (begründet in organisationalen wie auch gesetzlichen Bedingungen) wird es schwer, wenn nicht gar unmöglich, Selbstbestimmung und Autonomie der Klient:innen zu stärken.

Seit diesem Zeitpunkt lassen mich Fragen rund um die funktionale Entwicklung, rund um die Gestaltung und das Design sozialer Organisationen nicht mehr los:

  • Machen klassische Hierarchien Sinn, wenn es um die Stärkung von selbstbestimmt agierenden Teams geht?
  • Wie organisieren wir Arbeit in der Sozialen Arbeit?
  • Macht die Art, wie wir soziale Organisationen denken und gestalten, überhaupt Sinn?
  • Welche Antworten können andere, auf den ersten Blick „moderne“ Ideen von Zusammenarbeit – bspw. die Ideen rund um Agilität – helfen, besser im Sinne der Nutzer:innen sozialer Dienstleistungen zu agieren?
  • Wie kann es besser gelingen, soziale Organisationen zu gestalten?

Reinventing Social Organizations und New Work

Neben dem Blick auf die Gestaltung der Organisationen kam ein zweiter Aspekt hinzu: Die „Real New Work“ im Sinne Frithjof Bergmanns. Auch hier kurz zur Wiederholung zusammenfassend:

New Work wurde von Bergmann als Alternative zum vorherrschenden Lohnarbeitssystem beschrieben. Bergmann geht es darum, dass unser Lohnarbeitssystem von Grund auf zu den in unserer Gesellschaft zunehmend verstärkt auftretenden Problemen führt:

“Sie besondere Form der Arbeit, die wir ‚Lohnarbeit‘ nennen, ist erst so alt wie die industrielle Revolution, also ungefähr 200 Jahre. schon als dieses System eingeführt wurde, gab es warnende Stimmen, die ihm keine gute Zukunft voraussagten. heute krankt das Lohnarbeitssystem an vielfältigen und schweren Mängeln. Deshalb ist es an der Zeit, die Arbeit von Grund auf neu zu organisieren. das Lohnarbeitssystem ist dabei, zu sterben, und das nächste System, die neue Arbeit, muss aufgebaut werden.” (Bergmann, 2004, 11).

New Work nach Bergmann basiert darauf, das System der Lohnarbeit zu ersetzen durch ein System, das aus den drei Teilen

  • – Erwerbsarbeit (1/3),
  • – High-Tech-Self-Providing (Selbstversorgung, 1/3) und
  • – dem „Calling“, der Berufung bzw. der Arbeit, die man wirklich, wirklich will (1/3)

besteht.

Hintergrund der Entwicklung des Konzeptes war schon damals die Feststellung, dass die „klassische“ Erwerbsarbeit insbesondere aufgrund der Roboterisierungs- und Automatisierungsprozesse zurückgehen wird. Aktuelle Entwicklungen rund um die sich mit enormer Geschwindigkeit entwickelnde KI unterstreichen die visionären Gedanken von Bergmann, dessen Ausführungen auf der zusammenbrechenden bzw. sich ins Ausland verlagernden amerikanischen Automobilindustrie in den 1980er/1990er Jahren und dem Niedergang von General Motors basierten. Sehr kurz dargestellt:

Es gab einfach deutlich weniger Arbeit – für (fast) alle Menschen!

Bergmann schlägt als Alternative zur Entlassung der von der Automatisierung betroffenen Menschen vor (bspw. 2/3 der Menschen) vor, die verbleibende Arbeit auf alle Menschen zu verteilen. Die Arbeitszeit jede:r Einzelnen sinkt (vgl. aktuelle Debatten um die Vier-Tage-Woche) – etwas schematisch – auf 1/3 seiner (Arbeits-)Zeit, die mit klassischer Lohnarbeit verbracht wird. Dafür aber gäbe es kaum vollständig arbeitslose Menschen.

Mit diesem ersten Drittel Erwerbsarbeit gelänge es, so Bergmann, eine finanzielle Basis für alle zu schaffen. Gleichzeitig werden durch das erzielte Einkommen Anschaffungen möglich, die nicht durch eigene Arbeit oder nachbarschaftliche Netzwerke erzeugt werden können.

Damit sind noch etwa 2/3 Zeit übrig. Das zweite Drittel der zur Verfügung stehenden Zeit sollte – so Bergmann – mit Selbstversorgung auf technisch höchstem Niveau zugebracht werden. Hier geht es nicht ausschließlich (aber auch) darum, Kartoffeln im eigenen Garten anzubauen. Es geht darum, mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten (bspw. 3D-Druck) Dinge des täglichen Lebens (angefangen von der Kartoffel bis hin zu bspw. technischen Geräten) herzustellen.

Hinzu kommt, dass sich die Menschen zunehmend verstärkt Gedanken um den tatsächlich sinnvollen Konsum machen, wodurch sich der Bedarf nach Wachstum und neuen Produkten automatisch reduziert (vgl. hierzu die Notwendigkeit, ökologisch auf einen nachhaltigen Weg zu kommen). Außerdem bleibt Zeit, kaputte Dinge zu reparieren. Und immer noch bleibt 1/3 Zeit übrig.

Hier steht – als dritte Säule der „Real New Work“ – die Arbeit im Zentrum, die die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“:

Ausgehend von der Prämisse, dass Arbeit grundsätzlich – und vor allem in und nach enormen Krisen – niemals endet, wenn man Arbeit als über das Lohnarbeitssystem hinausgehend definiert (bspw. Familie, Pflege, Ehrenamt, Aufbau), ist dieser Bestandteil des Konzepts „Neue Arbeit/Neue Kultur“ (so Bergmanns Buchtitel 2004) als wesentlich, als Kern, anzusehen.

Bergmann favorisierte hier einen evolutionären Ansatz der Systemveränderung, der nur nach und nach erfolgen kann, vorangetrieben durch Menschen, die sich in ihrem Tun an ihrem „Calvin“, ihrer Berufung und damit dem orientieren, was sie wirklich, wirklich tun wollen. Aus seiner Perspektive brauchte es also Menschen, die sich als Vorbilder allmählich unabhängiger machen vom Lohnarbeitssystem durch Unternehmertum (im Besten Sinne) in Verbindung mit High-Tech-Selbstversorgung.

Zusammenfassend also soll New Work im Sinne Bergmanns die Abhängigkeit vom Lohnarbeitssystem für alle Menschen reduzieren und selbstorganisiert Selbstständigkeit, Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglichen. Der Zwang zur beinahe ausschließlichen Partizipation an traditionellen Lohnarbeitsstrukturen, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten, kann sich damit auflösen.

New Work betrifft aus Perspektive von Bergmann damit über jeden einzelnen Menschen das Gesellschaftssystem, in dem wir leben, als Ganzes. Das Konzept fokussiert auf die Frage, wie viel Selbstbestimmung und Eigenverantwortung den Menschen selbst zugetraut werden kann und darf.

Und Bergmann ging es an keiner Stelle seiner Veröffentlichungen um die Gestaltung von bestehenden Organisationen. Bergmann ging es um die Suche nach einem dritten Weg zwischen Sozialismus (keine gute Idee) und Kapitalismus (auch keine gute Idee).

Wie aber sähe eine Welt aus, in der wir nachhaltig, in Gemeinschaften, Communities und lokalen Netzwerken, das produzieren, was wirklich gebraucht wird? Eine Welt, in der die existierenden Dinge repariert und damit möglichst lange im Leben erhalten werden? Und eine Welt, in der die Menschen Zeit finden, das zu tun, was sie „wirklich, wirklich wollen“?.

Ziemlich utopisch, irgendwie, aber wiederum hat der Blick auf die Soziale Arbeit für mich das Feuer entfacht, stärker nachzudenken:

Soziale Arbeit fördert eben nicht nur die Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen, sondern – so wie es in der internationalen Definition Sozialer Arbeit heißt – gesellschaftliche Entwicklungen. Und genau das ist doch das, was Bergmann impliziert hat:

  • – Wie sähe eine Förderung gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die „enkelfähig“ und damit nicht nur für ein paar wenige, privilegierte Menschen nützlich, sondern für – global – möglichst alle Menschen zukunftsfähig ist?

Die Verbindung der Gestaltung von lebendigen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten sozialen Organisationen und der Gestaltung von einer enkelfähigen Gesellschaft führte zu meiner „New Social Work Definition“.

Die vier Ebenen der New Social Work Zwischenbilanz im Rückblick

Nach diesen doch etwas ausführlicheren Vorgedanken 😉 will ich zumindest noch kurz auf die vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) schauen.

Das Individuum im Rückblick

Es gibt – allein in Deutschland – etwa 80 Mio. Individuen, Tendenz leicht sinkend. Entsprechend maße ich mir nicht an, pauschale Aussagen zu treffen. Aber es lassen sich doch Entwicklungen über die letzten 10 Jahre erkennen, die zumindest ich ganz spannend finde.

Im Jahr 2014 sah die Welt (sofern man die Augen nicht weit öffnete) noch ziemlich rosig aus. Die wirtschaftliche Entwicklung war nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 wieder grandios, Arbeitslosigkeit war kein Thema, Greta war auch Freitags noch in der Schule und der Klimawandel damit irgendwie noch nicht ganz so dramatisch. Selbst „die Digitalisierung“ steckte noch – zumindest mit Blick auf das Sozialwesen – in den Kinderschuhen.

Ich bin alles andere als Historiker, aber vielleicht war in der breiten Bevölkerung zu dem Zeitpunkt wirklich alles irgendwie „im Lot“. Danach ergaben sich aber ein paar Entwicklungen, die ich hier, auf individueller Ebene, herausgreifen will:

Spätestens im Jahr 2018, mit dem Beginn des Streiks von Greta und der Entwicklung von Fridays for Future unter dem Motto „Wir streiken bis ihr handelt!“ wurde der Freitag zum internationalen Streiktag, an dem Kinder und Jugendliche (!) auf die Straße gingen. Aber dem Zeitpunkt mussten sich auch Erna und Franz aus Hintertupfingen genauso Otto Normalverbraucher mit der Frage auseinandersetzen, ob Freitags zur Schule gehen wichtiger ist als die Rettung der Lebensgrundlagen des Planeten. Fridays for Future wurde DIE Bewegung, die in aller Munde war. Spätestens als Greta Thunberg bei Politiker:innen international Gehör fand und mit Barack Obama, dem Papst und vor der UNO sprechen konnte, war klar, dass es bei diesem Klima irgendwie doch Handlungsbedarf gibt (auch wenn der erste Bericht des Club of Rome bereits 1972 alles Wichtige rund um die zu erwartende Katastrophe dargelegt hat).

Der zweite „Einschlag“ kam dann zum Beginn des Jahres 2020 mit der Pandemie. Ich will hier nicht wiederholen, wie die Entwicklungen gelaufen sind, denn jede:r hat wohl noch eigene Bilder, Erlebnisse, dramatische Geschichten aber auch positive Errungenschaften im Kopf, die mit der Pandemie einhergingen. Meinen Pandemiebeginn habe ich damals hier verewigt.

Als wir dann alle irgendwie glaubten, dass jetzt auch mal gut sei mit der Dystopie, hat ein Verrückter aus Russland befohlen, die Ukraine anzugreifen und einen Angriffskrieg auf europäischem Boden anzuzetteln. Neben allem Schrecklichen eines Krieges war plötzlich jede:r ganz unmittelbar betroffen von steigenden Energiepreisen, von der Angst der zukünftigen Entwicklungen und, und, und…

Abschließend nur noch der Hinweis auf die aktuellen Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz bzw. konkret um die KI-basierte Textgeneratoren, allen voran ChatGPT:

Auch wenn es viele Fragen und Unklarheiten gibt, sind die Entwicklungen, die sich seit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 ergeben haben, über einbrechende Börsenkurse bis hin zur Entlassung von angestellten Texter:innen, beachtlich. Für einen tieferen Einblick lohnen sich die letzten 30 Minuten des Podcasts „Jetzt mal ehrlich“ (Du musst Bock auf Start-Up-Denglisch haben).

Aus diesen nur skizzierten Entwicklungen folgt:

Wer sich mit Wandel schwertut, wird es in Zukunft schwer haben. Und unsere jede:r Einzelne und damit unsere Gesellschaft insgesamt tut sich wahnsinnig schwer mit Veränderungen. Wir sind es – etwas pauschal – als Individuen in den letzten 60 Jahren nicht mehr gewohnt, komplexe und dynamische Entwicklungen zu bewältigen und zu gestalten und müssen dies erst wieder lernen.

Für den Blick auf die Soziale Arbeit zeigt sich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, besonders hart treffen:

So ist der Klimawandel ein nicht nur ökologisches, sondern ein sozial-ökologisches Problem. Auf die massiven Auswirkungen der klimatischen Veränderungen insbesondere für Hilfsbedürftige – in Deutschland, Europa und natürlich auch global – weisen die Wohlfahrtsverbände an verschiedenen Stellen sehr deutlich hin (bspw. hier).

Die Steigerung der Energiekosten trifft – wenig verwunderlich – die von Armut betroffenen Menschen der Gesellschaft ganz anders als die „Oberschicht“ und auch die Auswirkungen der Roboterisierung und Technisierung und damit alles rund um KI und Co. sind ebenfalls für Menschen in prekären Lebenslagen massiver als für die „Bildungselite“ (für die diese Entwicklungen ebenfalls massive Auswirkungen haben werden).

Kurz: All die hier (alles andere als umfassend) skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen betrafen und betreffen jeden einzelnen Menschen und insbesondere das Klientel Sozialer Arbeit.

Ist es aber gelungen, passende Antworten – auch aus der Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit heraus – auf diese Entwicklungen zu finden? In meinen Augen zeigen insbesondere die politischen Entwicklungen und konkret das Wahlverhalten, dass dies bislang leider nicht gelungen ist. Die demokratiezersetzenden Tendenzen sprechen Bände. Das liegt – so meine Einschätzung – an der wenig ausgeprägten Unsicherheitsbewältigungskompetenz, die für die aktuellen Zeiten notwendig ist. Dazu aber im nächsten Teil dieser Serie – dem Blick auf den Status Quo rund um New Social Work – mehr.

Die Organisationsentwicklung im Rückblick

New Social Work ist ziemlich komplex, das gebe ich zu. Vielleicht war das Komplexe auch ein Grund, warum meine Ausführungen zu New Social Work hier im Blog oder auch auf ersten Veranstaltungen, auf denen ich sprechen durfte, damals zwar auf Interesse, aber auch auf Kopfschütteln stießen („Spannend, ja, aber wie soll das denn gehen?“).

Gerade die „Profiteure des bestehenden Systems“ (Vorstände, Geschäftsführungen, Führungskräfte, politische Entscheidungsträger:innen) waren damals doch (diplomatisch ausgedrückt) „zurückhaltend“, was die Ideen zumindest rund um die Neugestaltung von Organisationen anging.

Und die gesellschaftlichen Megatrends steckten (aus meiner Perspektive) in den Kinderschuhen der Sozialwirtschaft:

  • Die Digitale Soziale Arbeit nahm erst 2015/2016 so richtig Fahrt auf.
  • Der demographische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel waren zwar am Horizont als dunkle Wolke erkennbar, aber der Regenschirm stand unbenutzt zu Hause.
  • Und erst heute rückt die (sozial-)ökologische Nachhaltigkeit flächendeckend in sozialen Organisationen auf die Agenda, auch wenn der erste Bericht des Club of Rome auch damals nicht neu war.

Persönlich muss ich betonen, dass es richtig cool war und ist, dass es schon damals viele Menschen gab, die progressiv in die Zukunft geschaut, den Blog gelesen, die Ideen verstanden und geteilt haben. Viele Menschen im Digitalen und Analogen haben schon damals erkannt, dass es sinnvoll und notwendig war, das „Soziale“ neu zu denken. Und viele dieser Menschen sind für mich langjährige und treue Wegbegleiter:innen und Freund:innen geworden. Danke dafür!

Übergreifend aber war das Thema „Organisationsentwicklung“ noch nicht so präsent, wie es dann geworden ist. Zwar profitiere ich selbst natürlich von den Entwicklungen ;-). Und trotzdem ist Vorsicht geboten: Haben sich die Bedingungen wirklich verändert oder sitzen auch soziale Organisationen „Managementmoden“ auf?

Managementmoden lassen sich charakterisieren als „breit geteilte Vorstellungen darüber, wie Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser, Hochschulen, Schulen, Armeen, Polizeien oder Verbände besser organisiert werden können. Die Managementmoden suggerieren dabei, dass durch die Einführung neuer Gestaltungsprinzipien die Anpassungs-, Leistungs- und Innovationsfähigkeit erhöht werden können. Sie setzen mit diesem Versprechen an dem in Organisationen verbreiteten Bedürfnis an, wahrgenommene Defizite zu beheben und bisher nicht genutzte Verbesserungsmöglichkeiten zu erschließen“ (Kühl, 2022).

Und die Anziehungskraft von Reinventing Organizations in Verbindung mit dem aus der Softwarebranche ausbrechenden „agilen Management“ war enorm. Sätze wie „Endlich so arbeiten, wie wir das schon immer gewollt haben!“ oder „Selbstorganisation? Da kann ich dann endlich mal denen da oben zeigen, wie es richtig geht!“ oder „Wenn es gelänge, unseren Laden so richtig agil zu gestalten, wären alle Probleme der Welt gelöst!“ wurden zwar nicht explizit geäußert, implizit gab es aber schon eine „Goldgräberstimmung“, immer begleitet von einem sehr sympathischen Holländer, dem es gelungen ist, die Pflegebranche der Niederlande zu revolutionieren. Hier habe ich einmal dargelegt, warum Du Buurtzorg nicht als Vorbild nehmen solltest.

Und in einem meiner letzten Newsletter habe ich „vom Ende der Euphorie“ geschrieben. Darunter habe ich die Abkehr vom doch sehr utopisch anmutenden Frederic Laloux hin zum realen, etwas nüchternen Blick auf die Funktionsweise sozialer Organisationen als komplexe soziale Systeme verstanden. So machen formale Hierarchien genauso wie das Konzept der Trennung von Person und Rolle in Organisationen sehr viel Sinn (vgl. dazu ausführlich Matthiesen, Muster, Laudenbach, 2022).

Ich will und kann hier in diesem Beitrag nicht in die Tiefe gehen, aber die folgende Frage wurde in meinen Augen in den letzten Jahren zu wenig gestellt:

„Wenn Organisationsentwicklung hin zu mehr Agilität, Selbstorganisation und Co. die Lösung ist, was ist dann eigentlich unser Problem?“

Falls Du Lust auf mehr Theorie hast, empfehle ich Dir diesen Beitrag zur „dominierenden Informalität in Sozialen Organisationen“, in dem ich dargelegt habe, dass soziale Organisationen an vielen Stellen sogar stärkerer Formalisierung bedürfen und nicht das halbherzige Umsetzen der neuesten Managementmode.

Die Ebene sozialer Organisationen zeigt im Rückblick ein sehr differenziert zu betrachtendes Bild: Organisationsentwicklung war und ist dringend erforderlich, aber nicht unbedingt so, wie es, durch viele Managementmoden angetrieben, gerne propagiert wurde.

Das Sozialwesen im Rückblick

Im Jahr 2016 wurde das BTHG – das Bundesteilhabegesetz – verabschiedet. In der Pressemeldung damals hieß es, dass „das Gesetz (…) mehr Möglichkeiten und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen“ schafft (BMAS, 2016). Für mich zeigt diese Entwicklung recht viel:

Einerseits zeigten sich in den letzten Jahren politisch wirklich gute Entwicklungen, die bspw. Menschen mit Behinderung oder auch Kinder (Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, inzwischen sogar ausgeweitet auf einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule) betrafen.

Bzgl. des BTHG sind Organisationen der Eingliederunghilfe zur Umsetzung des BTHG gefordert, neue Angebote und neue Organisationsstrukturen zu gestalten. Der Paradigmenwechsel von der Institutionenorientierung hin zur Personenorientierung ist hochgradig sinnvoll. Das BTHG soll die Teilhabe und damit die individuellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. In der Praxis soll dies durch die Aufsplitterung der Betreuungsleistungen in Grund- oder Basismodule als Tagespauschale auf der einen Seite und auf der anderen Seite durch verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden, geschehen (vgl. zu Fragen der Organisationsentwicklung und dem BTHG diesen Beitrag hier).

Der genauere Blick in die Herausforderungen zur Umsetzung der mit dem Gesetzesvorhaben BTHG einhergehenden Veränderungen zeigt jedoch auch viel Schatten:

Die Umsetzung ist zum einen eine enorme bürokratische Aufgabe und zum anderen lässt sich das BTHG auch als massives Sparprogramm lesen. So zeigt sich die Paradoxie des BTHG darin, dass auf der einen Seite damit geworben wird, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Leistungen sollen sich am individuellen Assistenzbedarf orientieren und passgenau erbracht werden. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber klar formuliert, dass durch die Reform des BTHGs die seit Jahrzehnten ansteigende Ausgabendynamik gebremst werden soll (vgl. Bt-Drs. 18/9522, S.3). Auf diesen Widerspruch kann man eigentlich nicht oft genug hinweisen.

Ich erwähne das Beispiel BTHG hier – auf der Ebene des Sozialwesens – so ausführlich, da ich in den letzten Jahren kaum echte Verbesserungen im Sozialwesen erkennen konnte. Oft sind die Entwicklungen eher potemkinsche Dörfer anstatt echte Verbesserungen im Sinne der Menschen zu bewirken.

So zeigt auch das Beispiel Ganztagsbetreuung in der Grundschule ähnliche Schwächen: Schon zur Verabschiedung des Gesetzes zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG) war glasklar, wie sich die Personalsituation im Arbeitsfeld Erziehung und Bildung entwickeln wird. Wie kommt man also auf die Idee, ein Gesetz zu verabschieden, dass auf dem Rücken der Mitarbeiter:innen im Sozialwesen ausgetragen wird oder – auch keine bessere Perspektive – die Qualitätsstandards in der Ganztagsbetreuung soweit senkt, dass jeder Hans Wurst mit den Kids arbeiten kann („Waren Sie selbst mal Kind? Ja? Dann können Sie hier anfangen!“).

Du merkst – ich bin im Rückblick eher skeptisch, was die Entwicklungen des Sozialwesens angeht. Eine nachhaltige, zukunftsfähige „New Social Work“ im Sinne einer qualitativ hochwertigen Sozialen Arbeit, angeboten von zeitgemäß und bedarfsgerecht gestalteten Sozialen Organisationen, zur Förderung der gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. New Social Work Definition) ist kaum erkennbar.

Das hängt zu großen Teilen mit politischen Entscheidungen zusammen. Und Entscheidungen im politischen System sind leider alles andere als rational, wissenschaftlich fundiert oder immer so zukunftsfähig, wie es dringend nötig wäre.

Es geht im „System Politik“ nicht um die Leitdifferenz „richtig/falsch“, sondern um Mehrheiten, um Meinungen und um die Leitdifferenz „Macht/keine Macht“. Die Entscheidungen der Menschen im System, der Politiker:innen, orientieren sich – bewusst, meist aber unbewusst – an dieser Leitdifferenz.

Das erklärt die oftmals absurd wirkenden Äußerungen von Politiker:innen bspw. der konservativen Parteien aka CDU/CSU zu Themen rund um die Klimakatastrophe, voraussetzend, dass Merz, Söder und Co. nicht einfach nur dumm sind.

Und das erklärt eben auch die Entwicklungen rund um das ganze „Gedöns“ bzw. die Sozialpolitik, mit der für die politische Karriere kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Ob sich das heute geändert hat und in Zukunft ändert? We’ll see in Part 3… Aber ich nehme sehr gerne Kommentare entgegen, die das Bild etwas positiver erscheinen lassen. Also:

Immer her mit den guten Nachrichten (bspw. hier in den Kommentaren oder unter diesem Link hier)!!!

Die Gesellschaft im Rückblick

Ich gehe hier nur noch sehr kurz drauf ein, da ich denke, schon zuvor, auf Ebene des Individuums und des Sozialwesens, einiges zur gesellschaftlichen Entwicklung geschrieben zu haben. Deswegen nur als Wiederholung:

Rückblickend lebten wir zwischen 2010 und 2020 in einer ziemlich ruhigen Dekade, die wirtschaftlich und politisch wenig Aufregendes gebracht hat. Ein Schelm, wer an die Angela denkt…

Nein, ernsthaft: Es ging bergauf, Sicherheit, zumindest die gefühlte Sicherheit, stand ob auf der Agenda. Und diese damals noch gefühlte Sicherheit wankt, an allen Ecken und Enden.

Das sind wir hier im globalen Norden in dieser Intensität nicht gewohnt. Entsprechend gespannt bin ich, wo es sich hinentwickelt.

Für das Sozialwesen bedeutet wirtschaftliches Wachstum und Stabilität natürlich auch (im Groben) „ruhige(re) Zeiten“, die sich schon jetzt und zukünftig weiter verändern werden.

Fazit Part II: New Social Work Zwischenbilanz und der Blick zurück

Puh, alles ganz schön komplex und an den wenigsten Stellen auch nur ansatzweise zu Ende diskutiert. Aber ich hoffe, einen kleinen Einblick in meine Gedankenwelt gegeben zu haben.

Spannend ist für mich jetzt die Frage, wie sich Deine Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit, im Blick zurück und über die letzten 10 Jahre verändert hat?

Wo hast Du im Rückblick Verbesserungen erlebt? Wo ist es nicht besser geworden?

Ich würde mich riesig freuen, wenn Du unter diesem Link hier Deine Rückmeldung zum Blick zurück, zum Status Quo und zu einer wünschenswerten Zukunft teilen würdest… Die ersten Rückmeldungen trudeln über den Link bereits ein!

Danke dafür schon jetzt!

Quellen:

  • Bergmann, F. (2004): Neue Arbeit, Neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, 2016): Bundesteilhabegesetz verabschiedet. URL: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2016/bthg-verabschiedet.html. Download am 30.05.2023.
  • Kühl, S. (2022): Managementmoden – Wie man unsicheres in sicheres Wissen verwandelt. URL: https://versus-online-magazine.com/de/kolumne/stefan-kuehl/managementmoden/ . Download am 30.05.2023.
  • Matthiesen, K., Muster, J., Laudenbach, P. (2022): Die Humanisierung der Organisation. Wie man den Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. München: Verlag Franz Vahlen.

New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part I: Die Definition!

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Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Beitragsserie rund um New Social Work. Und zum Auftakt ist zunächst (m)eine New Social Work Definition darzulegen. Damit umreiße ich, was unter New Social Work zu verstehen ist (Part I). Daran anschließend will ich in Part II zurück, in die Historie, und in Teil III ins Jetzt, den Status Quo rund um New Social Work schauen. Dann, im (vorerst) abschließend in Teil IV, versuche ich, einen Blick in die Zukunft rund um „New Social Work“ zu wagen.

Hintergrund der Beitragsserie ist, dass ich im Jahr 2014 den Blog „IdeeQuadrat“ startete. Der erste Beitrag: Ein Review des Buchs „Reinventing Organizations“. Kurz drauf dann meine „Entdeckung“ des „Bergmannschen New Work“.

Die Verbindung aus neuen Formen der Organisationsentwicklung basierend auf Prinzipien von Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der Suche nach dem „evolutionären Sinn“, mit den utopischen Gedanken einer Abkehr vom Lohnarbeitssystem haben mich begeistert, gefesselt und das finden lassen, was ich „wirklich, wirklich tun“ will. Das war der Beginn der Geschichte von IdeeQuadrat und der Beginn meiner vertieften Auseinandersetzung mit New Social Work.

Dabei leiten mich Fragen rund um zeitgemäße und bedarfsgerechte Organisationsentwicklung kombiniert mit dem Fokus auf soziale Organisationen, meiner beruflichen Herkunft, ohne gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen aus dem Blick zu verlieren. Ich habe damit von Beginn an Organisationen, die uns alle von der Wiege bis zur Bahre begleiten – Kitas, Kindergärten, Jugendhilfeeinrichtungen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Suchthilfe, Wohlfahrtsverbände, kleine Träger, Komplexträger mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen und übergreifend „das Sozialwesen“ als gesellschaftsprägendes System fokussiert.

Und jetzt, nach fast zehn Jahren, ist einiges passiert. Einiges ist auch nicht passiert. Zeit für eine Zwischenbilanz. Und die beginnt mit Part 1 – der…

New Social Work Definition

New Social Work ist Organisationsentwicklung. New Social Work aus Blickrichtung der Organisationsentwicklung ist die Suche nach und das Gestalten von funktionalen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten Organisationsdesigns für soziale Organisationen, die es ermöglichen, wirksame Soziale Arbeit im Sinne der Nutzer:innen wie der Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen leisten zu können. Wortwörtlich: soziale Arbeit.

New Social Work ist gleichzeitig Arbeit an der Gesellschaft. New Social Work nimmt damit gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick. Sie ist politisch – wie Soziale Arbeit schon immer politisch war. Und sie ist zukunftsorientiert, denn New Social Work nimmt „gesellschaftliche Megatrends“, die gesellschaftlichen Veränderungen in den Blick, von der digitalen Transformation, über die Individualisierung, den demographischen Wandel bis hin zu Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit uvm.

Vier Ebenen einer New Social Work

Der Definition liegen vier Ebenen zugrunde, die hier skizziert und jeweils in den folgenden Beiträgen dieser Serie in den Blick genommen werden, um eine angemessene Betrachtungstiefe zu ermöglichen:

1. Ebene: Das Individuum

Der „Real New Work“ im Sinne Bergmanns ging es über die Schaffung einer Alternative zum klassisch-kapitalistischen Lohnarbeitssystem darum, Menschen zu befähigen, das zu finden, was sie „wirklich, wirklich tun“ wollen. Darüber rückt automatisch „der Mensch“ als Individuum nach auf die Bühne.

Es geht um die Vorstellungen, die wir in unserer Gesellschaft „vom Wesen des Menschen“ haben. Eas geht um unsere Menschenbilder: Nur dann, wenn die Vorstellung existiert, dass Menschen sich entwickeln, sich verändern können und wollen und damit nach Selbstbestimmung und Autonomie, nach Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, nach Selbstverwirklichung und Sinn streben, machen Vorstellungen rund um New Work und die Suche nach dem, was Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“ Sinn.

Nur aus dem gleichen Menschenbild heraus ist Soziale Arbeit als Profession und Disziplin denkbar. Nur dann, wenn wir als Professionelle davon ausgehen, dass wir einen Beitrag zur Selbstbestimmung und Autonomie der Menschen – egal in welchem Arbeitsfeld – leisten können, macht Soziale Arbeit Sinn.

Fraglich ist aber, wie es bestmöglich gelingen kann, zum einen Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft und unseren Organisationen zu schaffen, die dem Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie zuträglich sind? Zum anderen ist fraglich, wie das „auf die Welt bringen des in den Menschen liegenden Potenzials“ bestmöglich gelingen kann. Hier rückt u.a. das Bildungssystem in den Fokus. Und – aus einer bestimmten Richtung – sind auch soziale Organisationen immer Organisationen der Bildung.

2. Ebene: Die Organisationen

Wie definiert umfasst New Social Work als einen Fokusbereich die Organisationsentwicklung und damit einer Veränderung der Arbeitswelt. Denn es wird im Wesentlichen durch die Veränderung der Arbeitswelt möglich, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern, hin zu mehr Nachhaltigkeit, Zusammen-Leben, Sinn, Zeit für das wirklich, wirklich Wichtige für jeden einzelnen Menschen.

Das ist übrigens, wenn man die Geschichte betrachtet, schon immer so gewesen: Durch die Entwicklung der Landwirtschaft sind die Menschen sesshaft geworden, durch die Entwicklung der Webstühle und der Dampfmaschine wurde das Industriezeitalter eingeläutet und durch die Informationstechnologie bewegen wir uns immer in einer „Wissensgesellschaft“. Und all diese Veränderungen der Arbeitswelt haben zu neuen Gesellschaftssystemen geführt:

„Wichtige historische Gesellschaftsformationen sind nach Marx die klassenlose Urgesellschaft der frühen Stammesgesellschaften, die von Landwirtschaft und despotischer Herrschaft geprägte ‚asiatische Produktionsweise‘, die Sklavenhaltergesellschaft der Antike, der Feudalismus des Mittelalters und die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise“.

Hinzu kommen natürlich Sozialismus und Kommunismus, deren Bezug zur Arbeitswelt als „Diktatur des Proletariats“ auf der Hand liegt. Damit wird deutlich:

Die Veränderung der Organisationen und damit die Veränderung der Art, wie wir arbeiten, führt zu gesellschaftlicher Veränderung.

Und soziale Organisationen, die „als Vorreiter der gesellschaftlichen Transformation ihren wirkungsvollen Beitrag für eine lebenswerte Gesellschaft nachhaltig leisten„, spielen dabei eine unfassbar wichtige Rolle.

Für New Social Work rückt auf dieser Ebene die Frage ins Zentrum, wie es gelingen kann, Organisationen, deren Zwecke, Prozesse, formale Hierachien und darüber „soziale Arbeit“ so zu gestalten, dass der Zweck der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Teams bestmöglich erreicht werden kann.

3. Ebene: Das Sozialwesen

Soziale Organisationen sind eingebunden in ein nach bestimmten Bedingungen funktionierendes „funktionsspezifisches Teilsystem“ der Gesellschaft – das Sozialwesen.

Funktionsspezifische Teilsysteme sind „funktions-, leistungs-, medien-/codespezifische und (re-)programmierbare, sich selbst validierende selbstsubstitutive autopoietische Systeme“ (Krause, 2005, 44), die einerseits mehr oder weniger miteinander und andererseits in der Gesamtheit all dieser gesellschaftlichen Kommunikationen auch übereinander kommunizieren und damit Gesellschaft prägen. Sie sind operativ geschlossen. Der Code bzw. die Leitdifferenz des Sozialsystems ist „helfen/nicht helfen“ (Kleve, 2007, 147). Jedes funktionsspezifische gesellschaftliche Teilsystem übernimmt für die Gesellschaft exklusiv eine bestimmte Funktion (vgl. Krause, 2005, 49).

Auch wenn fraglich ist, ob das Sozialwesen exklusiv eine bestimmte Funktion übernimmt und damit per Definition ein eigenständiges, funktionsspezifisches Teilsystem unserer Gesellschaft ist, gehe ich zur Komplexitätsreduktion einmal davon aus. Soziale Dienstleistungen als öffentliche Güter und damit „das Sozialwesen insgesamt“ ist hochgradig abhängig von der geltenden Sozialpolitik.

Daraus resultieren wiederum Fragen: (Wie) gelang, gelingt und wird es zukünftig gelingen, zum einen der Sozialpolitik, sinnvolle, zukunftsgerichtete Entscheidungen für die Menschen, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind, zu treffen? Und wie gelang, gelingt und wird es zukünftig den Verantwortungsträger:innen wie bspw. den Wohlfahrtsverbänden gelingen, diese Entscheidungen im Sinne der Anwaltschaft für die Nutzer:innen (und nicht nur zur eigenen Sicherung des Überlebens) zu beeinflussen?

4. Ebene: Die Gesellschaft

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als »wahre Erfolgsgeschichte« (Merten 2001, S. 165) erzählen. Thiersch bezeichnet das letzte Jahrhundert gar als »sozialpädagogisches Jahrhundert« (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die“ Soziale Arbeit weiterentwickelt.

Auf der vierten Ebene stellt sich die Frage, ob Soziale Arbeit wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt gefördert hat, aktuell fördert und zukünftig fördern wird?

Fazit Part I: New Social Work Definition

Wenn ich die Ausführungen zur New Social Work Definition so anschaue, könnte es ein ziemlich umfangreiches Unterfangen werden, eine Zwischenbilanz rund um New Social Work zu ziehen. Aber ich denke, es ist an der Zeit, innezuhalten und dies zu versuchen. Entsprechend will ich in den kommenden Beiträgen – für mich, für Dich und vielleicht auch darüber hinaus – auf die oben gestellten Fragen eingehen.

Dabei werden meine Antworten sicherlich immer sehr persönlich gefärbt sein. Ich hoffe, das passt für Dich…

Gespannt bin ich aber schon jetzt, zu hören, was Du von der Definition und den Ausführungen hältst? Lass doch einen Kommentar da und gib eine Rückmeldung dazu. Vielleicht kann ich diese in den weiteren Beiträgen einbauen… Danke schon jetzt!

Quellen

  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Kleve, H. (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl., Wiesbaden: Springer.
  • Krause, D. (2005): Luhmann-Lexikon. 4.Aufl., Stuttgart: Lucius & Lucius.
  • Merten, R. (2001): Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192.
  • Thiersch, H. (1992): Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Das Dilemma der Agilisierung sozialer Organisationen – und was trotzdem getan werden kann!

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Warum gelingt es sozialen Organisationen so schwer, sich zeitgemäß und bedarfsgerecht zu verändern? Warum sehen wir an so wenigen Stellen echte Leuchttürme, best practice Beispiele, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ihr Organisationsdesign, ihre Strukturen, Arbeitsweisen, Prozesse usw. anpassungsfähig an sich komplex und dynamisch verändernde Umwelten zu gestalten und gleichzeitig ihren Zweck nicht aus den Augen zu verlieren? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht eindimensional, sondern erfordert unterschiedliche Blickrichtungen. Im Folgenden wird insbesondere ein Aspekt herausgegriffen, der ein Dilemma, in dem soziale Organisationen stecken- ich nenne es das „Dilemma der Agilisierung sozialer Organisationen“ – beleuchtet. Außerdem werden Möglichkeiten dargelegt, die es ermöglichen, sich „trotzdem“ zu bewegen.

Das Dilemma, oder: Warum fällt es sozialen Organisationen so schwer, sich zu verändern?

Ein Dilemma ist eine Zwickmühle. Ein Dilemma bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, die beide zu einem unerwünschten Resultat führen und durch seine Ausweglosigkeit als paradox empfunden wird. Ein klassisches Beispiel ist das berühmt gewordene Dilemma von Buridans Esel. Der Esel verharrt unbeweglich zwischen zwei gleichgroßen und gleich weit entfernten Heubündeln. Er kann sich weder für das eine noch für das andere entscheiden – er verhungert.

Bezogen auf die Sozialen Organisation hier eine kurze Darlegung der beiden Heuhaufen:

Dilemma Perspektive 1: Das Überleben der Organisation

ChatGPT liefert auf die Frage danach, warum es sozialen Organisationen so schwerfällt, sich zu verändern, im ersten Punkt den folgenden Absatz und beschreibt damit sehr gut die eine Seite des Dilemmas:

„Soziale Organisationen oder – etwas präziser – Organisationen der Sozialwirtschaft haben oft eine komplexe Struktur und sind stark reguliert, um sicherzustellen, dass sie ihre gemeinnützigen Ziele erfüllen. Diese Regulierungen können dazu führen, dass Veränderungen schwierig umzusetzen sind, da sie häufig genehmigt und von den zuständigen Behörden überwacht werden müssen.“

Das fasst das Dilemma etwas verkürzt, aber treffend zusammen:

Soziale Organisationen sind nicht frei in ihrer Gestaltung, wenn sie überleben wollen.

Dieses Überleben nehme ich hier explizit auf, denn „Zweck 1. Ordnung“ eines sozialen Systems ist es, überleben zu wollen. Patrick Breitenbach schreibt dazu in einem Beitrag treffend:

„Was ist der Hauptzweck, der „Zweck 1. Ordnung“, einer Unternehmung, ja eines gesamten Wirtschaftssystems (und Systemen überhaupt)? Es ist die Selbsterhaltung, das Überleben – im Business auch „Viability“ genannt.

Es geht also um die Tragfähigkeit einer Unternehmung, eines Systems oder einer Existenz. Dieses Handeln ist evolutionär tief in unsere DNA eingebrannt. Kombiniert mit einem zunächst natürlichen und später zugleich künstlich verstärkten Wettbewerbssprinzip rund um knappe oder verknappte Ressourcen, beherrscht es unser gesamtes Dasein. Das ist der Kern unseres „Operating Models“ – wenn man so will.“

ChatGPT greift den Punkt auf und schreibt weiter:

„Ein weiterer Grund, warum Organisationen der Sozialwirtschaft Veränderungen schwerfallen kann, ist die Tatsache, dass sie oft von begrenzten finanziellen Ressourcen abhängig sind. Dies kann bedeuten, dass sie sich auf bestimmte Einkommensströme verlassen, wie beispielsweise staatliche Zuschüsse oder Spenden von privaten Spendern, die möglicherweise begrenzt oder schwankend sind. Diese Abhängigkeit von begrenzten Ressourcen kann dazu führen, dass Organisationen zögern, Veränderungen vorzunehmen, aus Angst, ihre finanzielle Stabilität zu gefährden.“

Die Gefährdung der finanziellen Stabilität ist es aber, was Organisationen an den Rand ihres Überlebens bringt. Entsprechend und völlig nachvollziehbar halten sozialen Organisationen an ihren bewährten, ihre Existenz sichernden Strukturen fest.

Eine wirkliche, tiefgreifende Veränderung der Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen kann die Existenz sozialer Organisation gefährden, da es von Seiten der Kostenträger kaum Spielraum zur Entwicklung, Experimentierfelder, Möglichkeiten zur Neugestaltung gibt.

Ohne den Fall in der Tiefe verfolgt zu haben wird zumindest in diesem Beitrag zum Insolvenzverfahrens von Buurtzorg Deutschland explizit darauf verwiesen, dass „die Abrechnung auf Stundenbasis statt nach Leistung für Krankenkassen ein Problem“ darstellt. Noch einmal:

Alternative Modelle und Arbeitsweisen sind für die Nutzer:innen (ggf.) super, scheitern aber an den Rahmenbedingungen der Kostenträger.

Dilemma Perspektive 2: Die Komplexität Sozialer Arbeit und die Notwendigkeit der Agilisierung sozialer Organisationen

Auf der anderen Seite steht die Herausforderung sozialer Organisationen, Komplexität bewältigen zu müssen. Jede Arbeit mit Menschen, ob in der Kita, in der Jugendhilfe, in der Gemeinwesensarbeit, in der Arbeit mit älteren Menschen oder auch mit Menschen mit Behinderung ist komplex, individuell und immer auf die Mitarbeit der Nutzer:innen angewiesen. Mehr noch: Die aktuelleren Methoden sozialer Arbeit betonen explizit, dass nicht die Expertise der Mitarbeiter:innen im Zentrum steht („Wir wissen schon, was für dich richtig ist!“), sondern der „Wille der Menschen“, wie es bspw. explizit im Konzept der Sozialraumorientierung heißt.

Diese Perspektive, die Ausrichtung am Willen des Menschen, die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung als (ein) Zweck Sozialer Arbeit, ist nicht neu und sollte eigentlich nicht verwundern. Denn genau so heißt es auch in der Internationalen Definition Sozialer Arbeit, die ich ja immer wieder gerne anbringe:

„Soziale Arbeit fördert … die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“

Damit Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen diese Perspektive einnehmen können, sind sie gefordert, die Regeln, Strukturen, Vorgaben, Prozesse usw. der eigenen Organisation zu „hintergehen“ und so zu agieren, dass sie bestmöglich im Sinne ihrer Klientel agieren können. Daraus resultiert die dominierende Informalität, die ich bereits in diesem Beitrag hier umfänglich dargelegt habe. Sehr kurz zusammengefasst:

Organisationen lassen sich vornehmlich über die Entwicklung von formalen Strukturen, Prozessen und der Veränderung des Personals entwickeln. Mitarbeiter:innen in sozialen Organisationen jedoch interessieren sich nicht großartig für das, was die Organisation vorgibt, sondern agieren so, dass sie – aus ihrer Perspektive gedacht – bestmögliche Hilfe für die Nutzer:innen leisten können. Organisationsentwicklungsprozesse „verpuffen“ dann, da die Mitarbeiter:innen einfach das weitermachen, was aus ihrer Sicht für die Nutzer:innen funktional ist. Wie gesagt, das ist nur eine sehr kurze Zusammenfassung dieses Artikels, der die Herausforderung der dominierenden Informalität ausführlich darlegt.

Aufgreifen will ich hier noch die auf den ersten Blick sehr positiven Veränderungen der Sozialgesetzbücher – allen voran die Entwicklungen rund um das BTHG. Teilhabe, Partizipation, Inklusion werden aber nicht nur dort, sondern auch im KJSG groß geschrieben. Beide Gesetze fokussieren zunehmend – wie auch die grundlegenden Methoden Sozialer Arbeit – auf die Perspektive der Nutzer:innen und stellen diese in den Mittelpunkt allen Handelns.

Kurz zusammengefasst wird die Institutionenorientierung von der Personenorientierung abgelöst (welche Auswirkungen das für die Organisationsentwicklung sozialer Organisationen hat, haben Florian Acker und ich hier dargelegt).

Zerrissenheit

Wenn aber mit Blick auf den einen Heuhaufen – um das Beispiel des Esels wieder aufzugreifen – „die Menschen in den Mittelpunkt rücken“ müssen (nicht die Mitarbeiter:innen, sondern die Nutzer:innen) und mit Blick auf den anderen Heuhaufen an den Finanzierungslogiken der Kostenträger festgehalten werden muss, sich die Organisationen also nicht gemäß ihrem Zweck entwickeln können, kommt es zur Zerrissenheit.

Dieses Dilemma ist (ohne dies für die Soziale Arbeit empirisch belegen zu können) aller Wahrscheinlichkeit nach (mit) ein Grund, warum die Burnoutraten in sozialen Organisationen so hoch sind (vgl. dazu bspw. den jährlich erscheinenden AOK Fehlzeitenreport).

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Konzepte rund um „Moral Distress“, die im Kontext der Pflege bereits detailliert untersucht wurden.

Agilisierung sozialer Organisationen – was tun?

Welche Handlungsoptionen haben Soziale Organisationen, um die Zerrissenheit, um das Dilemma besser in den Griff zu bekommen? Ich betone dieses „besser“, da eine Auflösung des Dilemmas, so wünschenswert es auch wäre, wohl keine Option darstellt.

Auseinandersetzung mit dilemmatischen Konstellationen in der Organisation

Stabilität vs. Wandel, klare Verantwortlichkeiten vs. Flexibilität, Identifikation vs. Offenheit, Freiräume zur Entwicklung vs. Ausnutzung organisationsfremder Interessen. All dies sind Dilemmata, die in Organisationen immer wieder auftreten. Eine Tendenz zu einem Pol (z.B. Stabilität) geht immer auf Kosten des anderen Pols (z.B. Wandel). Es lässt sich kein einfacher oder dauerhafter Kompromiss erreichen (vgl. Weibler, Deeg, 2020).

Weibler und Deeg schreiben im verlinkten Beitrag, dass Dilemmata in Organisationen grundsätzlich „weniger gelöst als vielmehr (einigermaßen) neutralisiert bzw. in eine bearbeitbare Form gebracht werden, beispielsweise durch zeitliche Entzerrung“.

Für Führungskräfte gilt, dass „eher ein bewusstes Versuchen für den Moment angebracht [ist], das sich dann wieder in eine andere Richtung bewegt, wenn die Nachteile die errungenen Vorteile allmählich überwiegen. Dafür müssen Verschiebungen in deren Verhältnis allerdings aufmerksam beobachtet und am sich abzeichnenden Wendepunkt auch ein Umsteuern aktiv eingeleitet werden“ (ebd.).

Dabei ist relevant, „sich auch in schwierigsten Umständen nicht irritieren zu lassen und im quasi unstillbaren menschlichen Verlangen nach Gewissheit gründenden Versuchungen, nervös nach dem Naheliegenden mittels Heranziehung bestimmter Annahmen, Erklärungen oder Fakten zu greifen, zu widerstehen“ (ebd.).

Die Autoren betonen abschließend, dass es zusätzlich hilft, „ein ‚Entweder-Oder-Denken‘ zugunsten einer ‚Sowohl-als-auch-Herangehensweise‘ aufzugeben und mit Dilemmata möglichst kreativ und konstruktiv umzugehen. Dies ermöglicht es Führungskräften, neue Handlungsspielräume zu eröffnen und geschickter bzw. gewandter zu (re-)agieren, wenn sie sich in oftmals sehr unbehaglichen dilemmatischen Entscheidungssituationen bewegen. Weniger werden solche zukünftig wohl eher nicht“ (ebd.).

Die genannten Aspekte führen zu einer „Führung im Widerspruch“, die Michael Herzka schon 2013 ausführlich mit spezifischem Bezug zur Führung in sozialen Organisationen dargelegt hat.

Das oben beschriebene Dilemma jedoch zeigt sich nicht innerhalb sozialer Organisationen, die organisationsintern mit den mindestens gleichen Dilemmata zu kämpfen haben wie andere Organisationen auch. Das Dilemma zeigt sich vielmehr zwischen der Organisation und den Kostenträgern.

Wie also kann hier vorgegangen werden?

Basics der Organisationsentwicklung, oder: Das Mögliche tun

Oftmals wird die Abhängigkeit von den gesetzlichen Rahmenbedingungen als – überspitzt formuliert – Ausrede herangezogen, um keine Änderungen vornehmen zu müssen („Wir können nicht anders, weil die Kostenträger dies und jenes…“).

Das ist zu kurz gegriffen. Es gibt immer Handlungsoptionen und seien sie auch noch so klein.

Hier setzen die Basics an, die ich in Teams und sozialen Organisationen häufig vermisse. Unter diesen Basics fasse ich auf organisationaler Ebene eine regelmäßige Beschäftigung mit der Mission, der Vision, den Werten und den Strategien der Organisation.

Ich sehe Leitbilder, die vor Dekaden erstellt wurden, Leitbilder, die Werte propagieren, die auf Hochglanzbroschüren in Schubladen, an Wänden oder auch im Internet vergilben. Hier gilt es, diese Leitbilder regelmäßig in die Hand zu nehmen und zu prüfen, ob sie zum einen geeignet sind, Orientierung zu geben und zum anderen zu prüfen, ob sich grundlegende Veränderungen ergeben haben, die eine Anpassung des Leitbilds erfordern.

Auf Teamebene ist es ähnlich: Ich sehe in den seltensten Fällen so etwas wie einen „Teamkodex“, der für die Mitglieder eines Teams Orientierung gibt und darlegt, wie gemeinsam im Team gearbeitet werden soll.

Beides, die iterative Überprüfung des Leitbilds der Organisation sowie die Entwicklung und ebenfalls regelmäßige Überprüfung und Anpassung eines Teamkodex bedeutet nicht, einen riesigen Aufwand betreiben zu müssen. Es bedeutet auch nicht, die Gesamtorganisation komplett auf den Kopf zu stellen, neu, agil, demokratisch oder wie auch immer zu strukturieren.

Vielmehr ist die regelmäßig investierte Zeit in die grundlegenden Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen hilfreich, um für die Zukunft besser in den nicht auflösbaren Widersprüchen Sozialer Arbeit agieren zu können.

Organisationsbewusstsein entwickeln

Den berühmten „Praxisschock“ kennen wahrscheinlich alle, die sich mit Studium und Ausbildung in sozialen Berufen befassen. In Studium und Ausbildung kommt eine Auseinandersetzung mit der Funktionsweise sozialer Systeme zu kurz. Zwar haben Sozialarbeiter:innen (hoffentlich) immer grundlegende systemische Kompetenzen erlangt. Diese beziehen sich jedoch in den allermeisten Fällen auf die Klientensysteme und nicht auf das soziale System „Organisation“. Entsprechend sollte die Funktionsweise von sozialen Organisationen in ihren komplexen Abhängigkeiten unter den aktuellen Gegebenheiten (Fachkräftemangel, Digitalität und Co.) deutlich verstärkt Thema in Ausbildung und Studium werden, damit die Absolvierenden im Arbeitsleben nicht frustriert werden.

Gleiches gilt für Weiterbildungsangebote, die soziale Organisationen für ihre Mitarbeiter:innen und Führungskräfte anbieten: Insbesondere Führungskräfteschulungen sollten einen wesentlichen Teil darauf verwenden, die Funktionslogiken sozialer Systeme in den Mittelpunkt stellen. Damit können zum einen die „Steuerungsphantasien“ der (angehenden) Führungskräfte in Grenzen gehalten und zum anderen Handlungsoptionen zur Gestaltung von Teams und Organisationen – wiederum mit offener Kommunikation über die Dilemmata Sozialer Arbeit – vermittelt werden.

Dialog mit den Kostenträgern

Wie ich im Beitrag oben und bspw. auch hier ausführlich dargelegt habe, „ticken“ soziale Organisationen diametral entgegengesetzt zu den Kostenträgern. Mit anderen Worten:

„Im Gegensatz zu den auf die Gestaltung von Komplexität angelegten Sozialen Organisationen sind die Sozialleistungsträger (u.a. Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungsträger, Krankenkassen, die für die Kosten aufkommen) nicht im Erziehungssystem anhand der genannten Codes organisiert, sondern fokussieren in ihren Strukturen und Handlungsweisen auf Rechtmäßigkeit und Berechenbarkeit bei hoher Zuverlässigkeit, Effektivität und Effizienz.“

In dem verlinkten Beitrag habe ich als (eine) Lösungsoption formuliert, dass es „im Zuge grundlegender Transformationen gelingen muss, alle basierend auf einer System-Umwelt-Analyse definierten Stakeholder an einen Tisch zu bekommen – und das schon vor dem anstehenden OE-Prozess. Nur durch gemeinsames Verständnis der Anliegen der jeweils anderen Seiten kann (nicht: muss) sich die Option eröffnen, neue Wege gehen und dringend benötigte Experimente in der Neugestaltung pluralisitscher Organisationen realisieren zu können.“

Diese Dialogforen, diese gemeinsamen Gespräche zur zukünftigen Zusammenarbeit vermisse ich noch auf vielen Ebenen – im Kleinen wie im Großen.

Wie wollen wir leben? Oder: Zukunft gestalten

Oben habe ich die Definition Sozialer Arbeit sehr verkürzt und auf die Arbeit mit den Individuen fokussiert dargestellt.

Ausführlich heißt die Definition aber:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“

Es kommt die Förderung gesellschaftlicher Veränderungen, sozialer Entwicklungen und die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts hinzu. Krasse Aufgabe, ehrlich gesagt.

Diese Aufgabe beinhaltet eine gesellschaftliche Gestaltungsaufforderung an die Soziale Arbeit. Kurz gesagt:

Wie wollen wir leben?

Diese Frage ist nicht dadurch zu beantworten, dass Soziale Arbeit – neben dem, dass sie Gesetze umsetzen muss – nach immer neuen Lösungen für aktuelle Probleme sucht. Innovation ist gut und wichtig, greift aber – sofern sie auf Problemlösungen ausgerichtet ist – zu kurz.

Wir brauchen vielmehr eine Auseinandersetzung mit wünschenswerten Zukünften.

Dazu bedarf es einer deutlich weitergehenden Perspektive, einem Blick in die nicht existierende Zukunft. Es braucht Szenarien, die zwischen Utopie und Dystopie Möglichkeiten thematisieren, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu welchen Realitäten führen können. Es braucht eine Auseinandersetzung dazu, was Visionen Sozialer Arbeit der Zukunft sein können.

Auf Twitter habe ich mal gefragt: „Was ist eigentlich die Vision der Sozialwirtschaft 2035?“.

Es gab keine Antwort dazu (und ich selbst habe diese Antwort auch nicht.

Und ChatGPT 😉 liefert auf die Frage nach der Vision der Sozialwirtschaft auch wenig Erhellendes (Stärkere Betonung der Nachhaltigkeit, stärkere Nutzung von Technologie, stärkere Betonung sozialer Gerechtigkeit).

Nur in einem Punkt bin ich sehr bei dem, was die AI sagt:

„Ausbau der Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationen der Sozialwirtschaft und anderen Akteuren wie der öffentlichen Hand und Unternehmen könnte verstärkt werden, um gemeinsam gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.“ (siehe oben).

Es ist dringend Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.

Fazit zum Umgang mit Dilemmata

Dilemmata sind normal in Organisationen. Allein das Verhältnis von Organisation und den darin eingespannten Individuen ist hier zu benennen. Weitere Dilemmata habe ich oben angeführt.

Das Dilemma zwischen sozialen Organisationen und den Kostenträgern geht darüber jedoch hinaus. Entsprechend gilt es, auch über die eigene Organisation hinaus zu denken und neben den Handlungsoptionen innerhalb der Organisationen in der Branche der Sozialwirtschaft den Dialog mit den politischen Akteuren, den Kostenträgern, deutlich zu intensivieren. Soziale Arbeit muss aus dieser Perspektive wieder politischer werden.

Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit einer Zukunft, die als lebenswert angesehen wird.

Innovationen im Sinne von Problemlösungen reichen da nicht (mehr) aus.

Es gilt, sowohl die Zukünfte Sozialer Arbeit zu gestalten als auch die Organisationsentwicklung soweit möglich in Angriff zu nehmen – weg von der Institutionen- hin zur Personenorientierung.


P.S.: Wenn Du nach dem Lesen dieses Beitrags Deine Organisation zwischen diesen herausfordernden Polen entwickeln magst, stehe ich Dir gerne als Begleiter zur Seite. Einfach hier Kontakt aufnehmen

Das SCARF-Modell und die Sozialen Berufe, oder: Wie Deine Mitarbeiter motiviert bleiben!

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Mit diesem Beitrag will ich die Perspektive verändern vom sozialen System „Organisation“ auf die Ebene der Menschen, der Personen in der Organisation. Mitarbeiter und natürlich Mitarbeiterinnen lassen sich nicht motivieren. Es ist nur möglich, sie nicht zu demotivieren. Aber welche Faktoren sollten gegeben sein, damit es gelingt, Mitarbeiter:innen nicht zu demotivieren? Dazu beschreibe ich im Folgenden das SCARF-Modell – ein Modell, das aus meiner Sicht gut geeignet ist, Ansatzpunkte zu finden, um die Motivation Deiner Mitarbeiter:innen aufrechtzuerhalten.

Das SCARF-Modell

Ganz grundlegend ist das SCARF-Modell ein Modell, das von David Rock im Jahr 2008 entwickelt wurde. Das Modell betrachtet Faktoren, die Auswirkungen auf das Verhalten, auf Performance, Ausgeglichenheit, Kooperation und Lernbereitschaft eines Menschen und damit auf dessen Motivation haben.

Das Modell basiert auf den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung und will die elementaren Grundbedürfnisse des Menschen beschreiben.

Die fünf elementaren Grundbedürfnisse des Menschen sind laut dem Modell:

  • – Status,
  • – Certainty (Sicherheit)
  • – Autonomy (Selbstbestimmung)
  • – Relatedness (Verbundenheit) und
  • – Fairness.

Ich will hier gar nicht tiefer in die Beschreibung der Hintergründe des Modells eintauchen. Diese sind sehr schön aufbereitet im Blog „Digitale Neuordnung“ von Andreas Diehl beschrieben.

Aber was genau steht hinter den Grundbedürfnissen?

Status

Das Grundbedürfnis „Status“ bezieht sich auf die relative Stellung einer Person zu anderen Personen und damit auf den „sozialen Status“ einer Person. Es geht darum, dass wir uns wünschen, dass unsere Fähigkeiten und Kompetenzen anerkannt und unsere Leistungen gewürdigt werden.

Als Führungskraft gilt es, die Anerkennung tatsächlich in Bezug auf die Leistung zu erklären und nicht bezogen auf die Person. Wenn die Person gewürdigt wird („Der Klaus ist ein toller Typ!“) erhöht dies den Status des Gewürdigten zulasten des Status anderer Teammitglieder.

Entsprechend gilt es, den Einsatz der Mitarbeiter:innen, ihre Leistungen bezogen auf eine konkrete Aufgabe anstatt die „Person als Ganzes“ zu würdigen.

Wenn wir an dieser Stelle einmal rauszoomen und die Stellung der Berufe des Gesundheits- und Sozialwesens in der Gesellschaft betrachten, wird es aus meiner Sicht spannend: Im Verhältnis zu anderen Berufen ist der Status, die Wertschätzung sozialer Berufe leider nicht dort, wo sie sein sollte.

Selbst eine Pandemie hat nicht geholfen, die nicht nur system-, sondern überlebensrelevanten Berufe in ihrem Status wirklich anzuheben. Klar, in politischen Sonntagsreden wird zwar die Bedeutung von Erzieher:innen betont, die Wichtigkeit der Pflege mit viel Klatschen unterstrichen oder die Soziale Arbeit insgesamt hervorgehoben.

In der Realität der Aufwertung sozialer Berufe passiert jedoch wenig. Im Gegenteil: Aktuelle Einsparungsnotwendigkeiten setzen zuerst am Kontext Kultur, spätestens dann aber am Sozialen an. Freiwillige Leistungen können wir sowieso abschreiben, aber auch gesetzlich vorgeschriebene soziale Dienstleistungen kommen massiv unter Druck.

Dass nicht unbedingt viele Menschen einen sozialen Beruf ergreifen und sich der Fachkräftemangel auch durch fehlenden Status des gesamten Berufsfelds verschärft, liegt auf der Hand.

Wieder reingezoomt in die Arbeit in Deinem Team stellen sich Fragen wie:

  • – Wie ist Dein Status bezogen auf die anderen Mitarbeiter:innen?
  • – Werden Deine Leistungen durch Deine Führungskraft angemessen gewürdigt?
  • – Werden die Leistungen bspw. durch Angehörige, durch Eltern, gewürdigt?
  • – Wie kann es Dir in Deinem aktuellen Umfeld gelingen, Deinen „Status“ zu erhöhen?

Und als Führungskraft sind es ähnliche Fragen:

  • – Wo würdigst Du die Personen anstatt deren Leistungen?
  • – Welche positiven Leistungen der Teammitglieder kannst Du erkennen, die dringend gewürdigt werden sollten?
  • – Wo feiert ihr Eure gemeinsam erreichten Erfolge?
  • – Wie gehst Du mit bspw. tariflich bedingten Unterschieden in Deinem Team um (Assistenzkräfte, Referent:innen…)?

Certainity – Sicherheit

Jeder Mensch braucht einen sicheren Rahmen, grundlegend erfüllte Bedürfnisse, ohne die ein Leben nicht möglich ist. Maslows Bedürfnispyramide setzt nicht umsonst nach den physiologischen Bedürfnissen das Bedürfnis nach Sicherheit auf Ebene 2.

Im Kontext der (Zusammen-)Arbeit gilt genauso, dass Abläufe eine gewisse Stabilität und Vorhersagbarkeit haben müssen, damit Lernen, Kooperation und gute Zusammenarbeit überhaupt möglich sind und nicht Angst und Unsicherheit überwiegen.

Wichtig dabei ist, dass nicht jede:r Mitarbeiter:in das gleiche Bedürfnis nach Sicherheit hat. Manche Mitarbeiter:innen kommen durch die kleinsten Veränderungen an die Grenze des Aushaltbaren, wohingegen eine gewisse Unsicherheit bei anderen erst die Neugier weckt.

Wieder rausgezoomt sehen wir in den globalen und nationalen Entwicklungen einen enormen Anstieg schneller Veränderungen, Dynamik und Komplexität – VUCA, ick hör dir trapsen. Das löst bei vielen Menschen den Ruf nach „klaren Antworten“, nach Sicherheit und Vorhersagbarkeit aus, ohne diese Antworten und damit Sicherheit geben zu können. UNsicherheitsbewältigungskompetenz oder auch Ambiguitätstoleranz ist gefragt, wird aber im Bildungssystem wenig gefördert, was zu den aufsteigenden rechtsextremen Tendenzen und einer Krise der Demokratie führt.

Zurückgezoomt in soziale Berufe kann man einerseits sagen, dass die Jobsicherheit enorm hoch ist:

Um unter den aktuellen Bedingungen bspw. als Erzieher:in oder Pflegekraft gekündigt zu werden, sind schon einige Anstrengungen erforderlich. Ob das für die Organisationen immer gut ist, wage ich zu bezweifeln, aber das ist ein anderes Thema.

Direkt im Beruf, in der Interaktion mit dem Klient:innen, in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen oder auch alten Menschen ist die Unsicherheit andererseits enorm groß:

Wenn ich an meine eigene Zeit in der stationären Jugendhilfe und der Arbeit mit männlichen Jugendlichen denke, gab es Situationen, die von körperlicher Bedrohung geprägt waren – das Gegenteil von Sicherheit. Und meine Frau, die als Erzieherin und Heilpädagogin in einer Kita arbeitet, muss sich jeden Tag auf das einstellen, was vor Ort zum jeweiligen Zeitpunkt neu passiert – es ist nie sicher, was passiert.

Als Teamleitung und Führungskraft folgt daraus, dass es gerade in sowieso unsicheren Settings darauf ankommt, soweit wie es eben geht einen “sicheren”, vorhersagbaren und verlässlichen Rahmen der Zusammenarbeit zu gestalten. Unsicherheit, Chaos und fehlende Verlässlichkeit senken das Sicherheitsempfinden und werden als Bedrohung empfunden.

Es gilt, möglichst klare klare Spielregeln, feste Rahmenbedingungen oder auch „Leitlinien für die Arbeit im Team“ zu formulieren, die regeln, wie zusammengearbeitet wird. Ich finde es ehrlich gesagt immer wieder faszinierend, dass diese einfachen Möglichkeiten in den Teams sozialer Organisationen kaum berücksichtigt werden.

Autonomie

Die dritte Dimension im SCARF Modell – Autonomie – scheint im Gegensatz zu stehen zum Bedürfnis nach Sicherheit. Aber Menschen sind autonome Wesen. Menschen wollen ihr Umfeld frei gestalten und kontrollieren. Es geht weniger um ein „entweder – oder“, als um ein „sowohl, als auch“: Menschen wollen sowohl ihre Arbeit frei gestalten und über hohe Entscheidungsspielräume verfügen und gleichzeitig ein Sicherheitsempfinden haben.

Auch wenn es kaum erwähnenswert ist, ist wieder darauf hinzuweisen, dass es natürlich unterschiedliche Menschen mit unterschiedlich ausgeprägtem Bedürfnis nach Autonomie gibt.

An dieser Stelle will ich kurz rauszoomen auf die Ebene der Profession und Disziplin Sozialer Arbeit: Gemäß der internationalen Definition Sozialer Arbeit der IFSW ist Aufgabe Sozialer Arbeit u.a. die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Hier geht es also explizit darum, den Handlungsspielraum der Menschen zu erweitern und Möglichkeiten der Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu schaffen.

Und zurück in die Tiefen des operationalen Alltags könnte man in sozialen Berufen ja annehmen, dass – wenn die Sicherheit kaum gegeben ist – zumindest Autonomie und Selbstbestimmung, Wahlfreiheit, Mitbestimmungsmöglichkeiten usw. in besonderem Ausmaß gegeben sind, oder?

Wer aber einmal Zeit mit kleinen Kindern verbracht hat, weiß, dass oft genau das Gegenteil Realität ist:

In der Arbeit mit Menschen geht es eben nicht darum, selber zu entscheiden, sondern emphatisch den Weg mitzugehen, der vom Gegenüber eingefordert bzw. gerade benötigt wird. Kurz: Wenn Fritzchens Windel voll ist fällt Ottos Glas herunter und gleichzeitig haut Paula dem Emil auf’s Maul, weil es ihr Eimer ist oder zumindest werden soll.

Für Führungskräfte und Teamleitungen gilt entsprechend, dass es relevant ist, die Mitarbeiter:innen zumindest dort partizipieren zu lassen, wo dies möglich ist. Insbesondere ist es relevant, Beteiligungsmöglichkeiten in der Entwicklung von Zielen und Zwecken und der oben angesprochenen Rahmenbedingungen der gemeinsamen Arbeit zu schaffen. Wenn auf diesen Ebenen ebenfalls Fremdbestimmung vorherrscht, fühlen sich die Mitarbeiter:innen komplett – genau – fremdbestimmt.

Relatedness – Verbundenheit

Verbundenheit beschreibt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe – das “Wir Gefühl”.

Andreas Diehl schreibt, dass die Verbundenheit als „der wichtigste Faktor im SCARF Modell“ angesehen werden kann:

„Denn die moderne Hirnforschung zeigt, dass der Ausschluss aus einer Gruppe die gleichen neuronalen Netzwerke aktiviert wie physischer Schmerz. Das mag evolutionsbiologische Gründe haben, schließlich war der Ausschluss aus der Sippe vor ein paar tausend Jahren ein fast sicheres Todesurteil.“

Andreas Diehl

Daraus resultiert, dass Menschen Gruppen gründen und sich diesen zugehörig fühlen wollen. Neue Menschen, der Wechsel in ein anderes Team und natürlich eine Kündigung werden als Bedrohung wahrgenommen. Das erklärt auch, warum es so wichtig ist, Räume und Zeiten zu schaffen, in denen Menschen „einfach so“ und scheinbar belanglos beieinander sein können: Kaffeeecken, Weihnachtsfeiern, gemeinsames Ablästern uvm. sind dafür da, genau diese Verbundenheit herzustellen – in allen und vielleicht sogar noch mehr in sozialen Arbeitskontexten.

Aus meiner ganz individuellen Perspektive stelle ich mir hier die Frage, wo denn meine Verbundenheit herkommt? Eine Idee ist, dass ich mich – neben meiner kleinen Familienherde – beruflich sehr, sehr verbunden fühle zu meiner Aufgabe, meiner Passion, meiner Möglichkeit, mich mit Dingen zu befassen, auf die ich tief im inneren richtig Bock habe. Und trotzdem brauche ich immer wieder den Austausch mit Menschen, die ganz ähnliche Arbeit machen – Grüße an die Fraggles-Runde – oder auch den „belanglosen“ Austausch bspw. beim IdeeQuadrat Check In – reinschauen lohnt sich 😉

Und hier habe ich beschrieben, wie es gelingen kann, eine Kultur der Verbundenheit in Deiner Organisation zu erzeugen.

Fairness

Fairness ist beschreibt den in uns Menschen tief verankerten Wunsch nach Gerechtigkeit.

Das im Beitrag von Andreas Diehl beschriebene Ultimatumspiel zeigt eindrücklich auf, dass wir uns eher selbst schaden, als Ungerechtigkeit zuzulassen.

Du kennst es schon, ich zoome mal kurz wieder raus:

Die Anerkennung sozialer Berufe, die in unserer Gesellschaft auch mit Bezahlung einhergeht, zeigt, dass es mit der Fairness nicht weit her ist. Überlebensrelevante Berufe werden im Verhältnis zu Bullshit-Jobs (ich weiß, etwas überspitzt ausgedrückt) nicht fair honoriert. Mehr noch: Es gibt Studien, die darlegen, dass Berufe mit den höchsten Gehältern keinen gesellschaftlichen Mehrwert liefern bzw. diesen sogar zerstören. Der gesellschaftliche Impact einer Pflegekraft ist weit höher als der eines Investmentbankers, was im Gegensatz zu deren Bezahlung steht.

Zurück ins Team ist es hochgradig relevant, klare Erwartungen, Ziele und Spielregeln zu etablieren, die für alle Mitarbeiter:innen möglichst fair und gerecht sind. Andreas Diehl schreibt:

Sobald Entscheidungen einen Hauch von Willkür tragen oder nicht ausreichend begründet sind, mag es vorkommen, dass Mitarbeiter mit Entzug und Widerstand reagieren.“

Entsprechend gilt es, transparent mit Informationen umzugehen, Mitarbeiter:innen aktiv einzubeziehen und teambasierte Entscheidungen zu treffen. Dies zahlt wiederum auf Status und Autonomie ein.

Neue Formen der Zusammenarbeit und das SCARF Modell

Interessant ist ja, dass an allen Ecken und Enden daran gearbeitet wird, Organisationen zeitgemäß und bedarfsgerecht zu gestalten, mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu etablieren, die interne Komplexität in Organisationen über die Gestaltung selbstbestimmt agierender Teams zu erhöhen usw. Ich bin selbstverständlich der Letzte, der etwas dagegen hat 😉

All diese Bemühungen verändern jedoch – sofern sie ernstgemeint sind und echte Musterwechsel erfolgen sollen – die Art der Zusammenarbeit:

Das, was bisher galt, gilt zukünftig nicht mehr oder zumindest nicht mehr so ganz. Wenn man das SCARF-Modell in den Hintergrund legt, wundert es nicht, dass Mitarbeiter:innen mit Widerstand auf die neue Situation, auf angeblich neue, moderne Arten der Zusammenarbeit reagieren – egal in welchem Arbeitskontext.

Wenn man außerdem die Besonderheiten sozialer Organisationen und die Besonderheiten sozialer Arbeit berücksichtigt, wird deutlich, dass der alleinige Ruf nach „mehr Agilität“, nach Eigenverantwortung der Mitarbeiter:innen und Co. nicht immer der Weisheit letzter Schluss ist:

Wenn die Mitarbeiter:innen an der Basis tagtäglich mit enormer Unsicherheit konfrontiert sind, macht es bspw. Sinn, anstatt einfach nur mehr Unsicherheit und Eigenverantwortung zu verlangen, Sicherheit in den Rahmenbedingungen, im „Wie“ der gemeinsamen Arbeit zu schaffen.

Konkret habe ich oben die Idee der Leitlinien für die Zusammenarbeit im Team aufgeführt:

Über klar vereinbarte Regeln und Vorgehen und die Einforderung der Einhaltung dieser Regeln wird die Unsicherheit auf Seiten der Mitarbeiter:innen zumindest in den Bereichen gesenkt, in denen dies möglich ist:

  • – Was ist das Ziel unserer Arbeit?
  • – Welche Werte leiten unser Handeln?
  • – Wer im Team hat welche Rolle und Zuständigkeiten?
  • – Welche Prozesse können wir wie gestalten?
  • – Wo ist Zeit für persönlichen Austausch, wo arbeiten wir aber konkret an Ergebnissen?
  • – Wie werden Entscheidungen getroffen?

Das widerspricht überhaupt nicht den agilen Arbeitsweisen, im Gegenteil:

Agilität braucht klare Strukturen.

Die Arbeit mit dem SCARF-Modell im Team

Das SCARF-Modell eignet sich super für Teamentwicklungen und die Gestaltung der Zusammenarbeit.

Denkbar ist, dass sich zu Beginn eines Workshops und der Vorstellung des Modells jede:r Mitarbeiter:in bezogen auf die fünf Bereiche zum aktuellen Zeitpunkt einordnet. Daraus wird auch deutlich, welches Bedürfnis für wen im Team welche Bedeutung hat. Daran anschließend wird (anonym oder offen) abgefragt, wie denn für jede:n die optimale Situation aussehen würde – ein klassischer Soll-Ist-Abgleich.

Im Anschluss diskutiert ihr die Ergebnisse im Team.

Wie Andreas Diehl sehr passend schreibt:

„Damit erhältst Du nicht nur einen Spiegel deiner Teamdynamik, sondern siehst als Führungskraft, welche Faktoren unter Umständen mehr Aufmerksamkeit benötigen. Vor allem aber stärkt das die Verbundenheit im Team. Denn plötzlich sieht jeder, dass es den anderen genauso geht.“

Außerdem kann das Modell eine spannende Grundlage für Mitarbeiter:innengespräche sein, die tiefer gehen als das übliche, strategisch orientierte Blabla…

Die individuelle Arbeit mit dem SCARF-Modell

Neben der Arbeit im Team und die Möglichkeiten, die sich daraus für die Teamgestaltung ergeben, ist das Modell auch für die Betrachtung der eigenen beruflichen Situation sehr hilfreich:

Wie steht es in Deinem beruflichen Kontext um

  • – Status,
  • – Sicherheit,
  • – Autonomie,
  • – Verbundenheit und
  • – Fairness?

Und was kannst Du tun, um einen vielleicht für Dich nicht passenden Bereich zu verbessern? Dazu hilft es wenig, von heute auf morgen zu kündigen oder Dir große, neue Ziele zu setzen, ohne zu wissen, wie Du diese erreichen kannst.

Hilfreicher ist es oft, zu überlegen, welche kleinen Schritte Du jetzt tun kannst, um Verbesserungen zu erreichen:

  • – Welche Mittel hast Du jetzt zur Verfügung?
  • – Wen kennst Du, der/die Dir vielleicht einen Schritt weiterhelfen kann?
  • – Welche neuen Ideen und Möglichkeiten, welche neuen Ressourcen ergeben sich daraus?

Ich für meinen Teil habe durch die Selbständigkeit den Bereich „Sicherheit“ natürlich maximal reduziert, was meinen inneren Sicherheitsbeauftragten immer wieder zur Verzweiflung bringt. Aber was kann ich jetzt, heute, mit den vorhandenen Mitteln tun, damit dieser trotzdem befriedigt wird? Zum Beispiel Blogbeiträge schreiben 😉

Ach ja, es kann auch Sinn machen, außerhalb Deines Berufs zu schauen, ob Du Deine Bedürfnisse besser erfüllen kannst: Vielleicht gibt Dir die Vorstandschef im Kaninchenzuchtverein das, was Du im Beruf nicht findest?

Motivation behalten

Zusammenfassend ist das SCARF-Modell sehr gut geeignet, auf die Bedürfnisse zu schauen, die es braucht, um die Motivation aufrecht zu erhalten – aus beiden Perspektiven:

  • – Als Führungskraft kannst Du darauf schauen, was es in Deinem Team braucht, damit Deine Mitarbeiter:innen motiviert bleiben.
  • – Und Du selbst kannst für Dich schauen, was Du brauchst, damit Du Deine Motivation im Job nicht verlierst.

Dabei gilt es immer, auch die Rahmenbedingungen im Blick zu halten, die Deine aktuelle Tätigkeit beeinflussen. Die Rahmenbedingungen sind manchmal gestaltbar, manchmal aber auch nicht.

Aber genau daraus kannst Du dann ableiten, was es für Dich und Dein Team zum aktuellen Zeitpunkt braucht.

In diesem Sinne: Frohes Schaffen! 😉

Danke, oder: Weihnachtsretro 2022

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Mit dem letzten Beitrag im Jahr 2022 will ich Dir einfach nur Danke sagen! Und ja, ich will auch einmal auf das Jahr 2022 – also zurück – schauen. Aber zuerst einmal:

Danke!

Danke dafür, dass Du meine Beiträge liest. Und noch mehr Danke dafür, dass wir (je nach Leser_in) zusammen gedacht, gelacht, gemacht haben. Für mich ist das großartig, an vielen Stellen sogar unglaublich.

Warum?

Das will ich im Folgenden anhand einer kleinen Retrospektive des Jahres 2022 erläutern. Und nein, ich will nicht auf die herausfordernden Seiten des Jahres blicken – gerade weil die Probleme uns von allen Seiten anspringen.

Denn in einem Weihnachtsgruß (danke an dieser Stelle an alle Weihnachtsgrüßler_innen) stand der Satz

„Resignation ist keine Option!“

Aber los jetzt, wie war das oder besser: mein Jahr 2022?

Was war richtig gut?

Punkt 1: Das Jahr aus Perspektive von IdeeQuadrat.

Ja, wir reden in good old Germany nicht über Geld und Du wirst hier auch nicht mehr erfahren als die Tatsache, dass es mir gelungen ist, meine Familie auch mit selbständiger Arbeit nicht verhungern zu lassen. Das ist natürlich völlig untertrieben: Es war ein geschäftlich gutes Jahr (wenn wir mal das Finanzamt außen vorlassen…). Und das ist, vor allem wenn ich an den Beginn des Jahres denke, unglaublich. Dazu aber später mehr.

Dass es ein gutes Jahr war resultiert natürlich aus Dir, aus Euch, aus den Menschen, mit denen ich zusammen arbeiten durfte. Und die Menschen waren wirklich immer richtig gut.

Jede*r, mit dem ich zusammenarbeiten durfte, hatte das Bedürfnis, Dinge in die Hand zu nehmen, die eigene Organisation zu entwickeln, andere Menschen über Veranstaltungen zu inspirieren, dazu anzuregen, über den Tellerrand des mehr als herausfordernden Business as Usual hinauszuschauen.

Richtig gut war auch die Entscheidungen, eigene, kleine Online-Workshops durchzuführen. Auch darüber habe ich viele neue Menschen kennengelernt und konnte hoffentlich einige Ideen weitertragen, die dann in der eigenen Organisation Wurzeln schlagen und zu echter Entwicklung führen.

Und richtig gut ist es, jetzt einige Tage innehalten zu können und nicht zu arbeiten 😉

Was habe ich gelernt?

Ich habe gelernt…

…wie unfassbar großartig die Arbeit ist, die in vielen Einrichtungen und Organisationen trotz herausfordernder Bedingungen geleistet wird.
…dass es 2022 leider besser war, das Auto anstatt den Zug zu nehmen.
…dass es nicht reicht, Veränderung einseitig zu betrachten, sondern immer das komplexe, zu verändernde System mit allen Facetten mitgedacht werden muss.
…besser meinen eigenen, dunklen Seiten und tief verborgenen Ängsten begegnen zu können, ohne gleich wegzurennen.
…mehr Vertrauen in mich und die Menschen um mich herum zu haben.

Ich habe das Jahr 2022 mit dem Versuch einer Vorausschau, mit meiner Strategie 2025 gestartet, die unter dem Titel „Verführungen am äußeren Rand der Panikzone“ stand.

Dazu lässt sich zusammenfassend sagen, dass ich 2022 Gott sei Dank aus der Panikzone in die Lernzone gelangt bin. Nein, die Lernzone ist nicht meine Komfortzone.

Und das ist gut so.

Was hat mir gefehlt?

2022 hat mir schon an manchen Tagen das Vertrauen in mich und meine Entscheidung gefehlt. Ich habe mich selbständig gemacht. Krasser Scheiß! Von vielen Menschen habe ich gehört, wie mutig das gewesen wäre.

Ich habe dann immer geantwortet, dass der Grat zwischen Mut und Wahnsinn ziemlich schmal ist – vor allem dann, wenn man nicht nur für sich da ist, sondern für eine Familie mit drei Kindern Verantwortung trägt.

Gefehlt hat mir an manchen Stellen Unterstützung dahingehend, dass es so viele große Themen zu bearbeiten gibt, die aber allein nicht angegangen werden können, da die zeitlichen Ressourcen dafür fehlen. Zum einen heißt es hier Abstand nehmen und sich auf den eigenen Circle of Influence zu fokussieren.

Zum anderen bleiben Gedanken, Ideen, Visionen, wie IdeeQuadrat sinnvoll, gut und sicher wachsen und sich entwickeln kann.

Und noch ein ähnlicher, aber übergreifender Aspekt, der mir gefehlt hat:

In meinem letzten Newsletter habe ich mich über die bei Kund_innen fehlenden Ressourcen für wirklich nachhaltige Veränderung aufgeregt.

Um aber von der Funktionsoptimierung zum Prozessmusterwechsel (vgl. Kruse, 2020, 24ff), zum Neuen, zu innovativem Handeln gelangen zu können, braucht es Mut zum Risiko. Es gilt, die Unsicherheit in Phasen der Instabilität auszuhalten. Prozessmusterwechsel gelingen dann, wenn Systeme in aus der Stabilität in „kritische Instabilität“ (vgl. ebd., 61) versetzt werden und von dort aus Neugestaltung stattfinden kann (der Beginn der Pandemie war ein gutes Beispiel).

Um die Phasen der Unsicherheit, der kritischen Instabilität auszuhalten und bewältigen zu können, sind jedoch wiederum Ressourcen notwendig, wenn gleichzeitig zur Neugestaltung der „Laden am Laufen gehalten“ werden soll. Und diese Ressourcen fehlen angesichts der zu 120% ausgelasteten Systeme, sozialen Organisationen, Einrichtungen an vielen Stellen.

Das ist nur zum Teil eine Frage der Prioritäten der Mittelverwendung der Organisationen. Es ist vor allem eine Frage der angemessenen Finanzierung sozialer Dienstleistungen. Diese muss es ermöglichen, einen angemessenen Overhead für wirksame Personal- und Organisationsentwicklung bereitzustellen.

Abschließend hat mir mit Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen (immer noch) gefehlt, dass unsere Branche angemessen in der öffentlichen Wahrnehmung berücksichtigt wird. Angesichts der Polykrisen unserer Zeit und der Möglichkeiten der Sozialwirtschaft, in diesen Krisen echte Lösungen zu bieten, ist das dramatisch.

Die fehlende Aufmerksamkeit ist sicherlich ein hausgemachtes Problem: Politische Kommunikation, Selbstvermarktung, „einen auf dicke Hose machen“ liegt uns nicht unbedingt und wird auch im Studium nicht vermittelt. Die Sozialwirtschaft tut Gutes, redet aber nicht darüber.

Und dann kommen „Social Entrepreneurs“, deren Beitrag zur Innovation sozialer Dienstleistungen ich in keinster Weise in Abrede stellen will, die aber mit „einfachen Lösungen“ wunderbar an die Politik andocken können. Politik braucht kurze Antworten, Politik braucht Lösungen, die medienwirksam „rausgehauen“ werden können. Da passen komplexe, systemische Herangehensweisen nicht so geil (wahrscheinlich ein Wort, das niemand mehr nutzt, außer so GenXler).

Hier müssen wir in Zukunft nachlegen.

Wonach sehne ich mich?

Ich will diesen letzten Punkt nicht vertieft besprechen. So müsst ihr Euch darauf einstellen, auch einen Beitrag zum Ausblick für 2023 zu lesen. Das kommt dann aber im Januar 😉

Nur ein paar Gedanken:

Angesichts des oben Geschriebenen sehne ich mich 2023 nach mehr Vertrauen in meine Entscheidungen.

Und ich sehne mich danach, meine „Work-Life-Balance“ besser in den Griff zu bekommen. Darin, im Ausgleich, im Finden der guten Mitte zwischen Anspannung und Entspannung, in der Verbindung aus Ying und Yang war ich noch nie gut. In der Selbständigkeit ist das nicht unbedingt von Vorteil 🙂

Ich sehne mich auch danach, Ideen, Möglichkeiten, Gedanken, Methoden, Herangehensweisen, Fragen zu den mich beschäftigenden Themen tiefer durchdenken zu können. So habe ich gelernt – ein Punkt für oben – das es einen Unterschied gibt zwischen Arbeit und bezahlter Arbeit. Ich liebe es, zu schreiben, zu denken, zu verbinden, zu recherchieren, um darüber zu Antworten zu kommen, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich waren. Hier würde ich gerne mehr reingehen.

Und jetzt sehne ich mich danach, abzuschalten, rauszukommen, Family und Weihnachten zu genießen, die Rauhnächte zu erleben und das, was war, loszulassen, offen zu werden, mich wieder zu sammeln und auf das Neue zu fokussieren.

Habt eine gute Zeit, gesegnete Weihnachten, einen guten Start ins Jahr 2023! Und noch einmal:

Danke!

P.S.: Die Grafik oben ist von meiner Tochter, K1 😉

Quellen

Kruse, Peter, Andreas Greve, und Frank Schomburg. Next practice – erfolgreiches Management von Instabilität: Veränderung durch Vernetzung. 9., um Ein Geleitwort erweiterte Auflage. Offenbach: GABAL, 2020.

Das GRPI-Modell zur Teamentwicklung

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Bei meiner Arbeit in sozialen Organisationen habe ich es in den allermeisten Fällen mit Teams zu tun. Und wiederum in den allermeisten Fällen geht es darum, die Zusammenarbeit der Menschen in den Teams zu verbessern – durch die Einführung von Strukturen der Selbstorganisation, durch das Finden eines gemeinsamen Zwecks, durch die Entwicklung von Leitlinien, die Klarheit und Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit schaffen sollen, und so weiter und so fort… Doch vor der Einführung neuer Strukturen, Methoden etc. steht die Frage: Wo liegen eigentlich genau die Probleme, die gelöst werden sollen? Um diese Frage zu beantworten, verwende ich unter anderem gerne das GRPI-Modell.

Dieses einfache, aber wirkungsvolle Modell möchte ich im Folgenden vorstellen. Dabei werde ich zunächst erläutern, was das Modell ist, um dann zu beschreiben, wie ich damit arbeite. Vielleicht ergeben sich daraus hilfreiche Optionen für die Arbeit in Deinem Team und/oder Deiner Organisation?

GRPI-Modell – was ist das eigentlich?

Das GRPI-Modell wurde 1972 von dem amerikanischen Organisationstheoretiker Richard Beckhard entwickelt. Das Modell kann verwendet werden, um die Ursachen von Problemen und Störungen in Teams zu diagnostizieren.

Auf der Grundlage dieser Diagnose kann dann die Effektivität, Produktivität, Qualität und Effizienz von Teams verbessert werden.

Das Modell betrachtet die vier Schlüsseldimensionen Ziele (Goals), Rollen (Roles), Prozesse (Processes) und Beziehungen (Interpersonal Relationships), die aus Beckhards Sicht zu Konflikten in Teams führen, wenn sie nicht klar und transparent sind.

Vereinfacht stellt das Modell folgende Fragen:

  • „Tun wir die richtigen Dinge?“ (Goals)
  • „Tun die richtigen Menschen die richtigen Dinge?“ (Roles)
  • „Tun wir die richtigen Dinge richtig?“ (Processes)
  • „Tun wir die richtigen Dinge miteinander richtig?“ (Interpersonal Relationsships)

Etwas differenzierter ist unter den vier Dimensionen Folgendes zu verstehen:

  • Goals (Ziele) fragt nach dem Zweck des Teams: Wozu existiert das Team und was ist seine Daseinsberechtigung? Was soll es erreichen? Hier geht es auch darum, wer die Stakeholder des Teams sind, d.h. wer was von den Ergebnissen des Teams hat.
  • Roles (Zuständigkeiten, Rollen) beschäftigt sich mit der Aufgabenverteilung im Team. Hier steht die Frage im Vordergrund, welche unterschiedlichen Rollen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten es im Team gibt und wie klar oder unklar diese formuliert sind?
  • Processes fokussiert auf die Arbeitsabläufe, Arbeitsweisen, Regeln und Vorgaben, an denen sich das Team in seiner Arbeit orientiert. Auch hier steht im Mittelpunkt, ob und wie klar diese Konditionalprogramme (Wenn-Dann-Regeln) formuliert sind und wie effektiv bzw. effizient sie sind.
  • Interpersonal Relations (Beziehungen) fragt nach der Atmosphäre im Team: Wie wird das Miteinander, der Teamgeist, der Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen bewertet und wo gibt es Interventionsbedarf?

Interessant an dieser Stelle finde ich die Überschneidung zu den Ergebnissen der Aristotle-Studie von Google, zu der Du hier mehr Informationen findest. Nur kurz:

In der Studie wurden rund 180 Google-Teams untersucht, um Muster zu finden, warum einige Teams scheitern, während andere Spitzenleistungen erbringen. Relevant für eine gute Zusammenarbeit im Team ist demnach, dass alle Teammitglieder zu Wort kommen und der Umgang miteinander respektvoll und von Sicherheit und Verlässlichkeit geprägt ist (Interpersonal Relationsships). Darüber hinaus sind Klarheit und Struktur sowie Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit wichtig (Goals, Processes, Roles).

Arbeiten mit dem GRPI-Modell

Zu Beginn habe ich geschrieben, dass ich das Modell in meiner Arbeit mit Teams implizit oder explizit verwende.

Implizit bedeutet, dass ich es bei bestimmten Themen einfach „im Kopf“ als Hintergrundfolie mitlaufen lasse:

  • Was ist das für ein Team, das ich hier vor mir habe?
  • Wo könnten Fragen liegen, die das Team beschäftigen?
  • Wie agieren die Teammitglieder miteinander?
  • Wo – an welcher Stelle des GRPI-Modells – liegen die größten Herausforderungen?

Auf dieser Basis entwickle ich Hypothesen, die ich durch gezieltes Nachfragen teste, um daraus bessere Handlungsoptionen für das Team, aber auch für mich zu generieren.

Explizit bedeutet, dass ich zu Beginn einer Zusammenarbeit das GRPI-Modell als Grundlage für die Teamanalyse verwende.

Dazu stelle ich – z.B. im Rahmen einer Teamklausur – das Modell in einem ersten Schritt kurz vor und erläutere den Nutzen und die im Folgenden dargestellten Fragestellungen. Es ist von Vorteil, dass das Modell leicht verständlich ist. Gleichzeitig ist zu betonen, dass es sich um ein Modell handelt und daher die komplexe Realität eines Teams nie vollständig erfassen kann.

Nach der Vorstellung des Modells werden die vier Dimensionen des Modells vertieft. Dies geschieht anhand der folgenden Fragen:

Goals

Unklare Ziele und ein unklares Verständnis der gemeinsamen Ausrichtung und des Zwecks – des „purpose“ – des Teams führen zu enormer Ineffizienz und bergen ein großes Konfliktpotenzial.

Daher ist es wichtig, ein gemeinsames Verständnis der Ziele und des Zwecks des Teams zu schaffen. Zu diesem Zweck sollte sich jedes Teammitglied zunächst allein, dann in Kleingruppen und schließlich im gesamten Team über folgende Fragen verständigen (methodisch bspw. mithilfe der Methode 1 – 2 – 4 – all aus den Liberting Structures):

  • Was ist der Zweck unseres Teams? Welchen Zweck wollen wir für wen erreichen?
  • Was genau soll das Ergebnis für die Nutzer_innen sein? Was wird sich für die Nutzer_innen verändert haben, wenn wir unser Ergebnis erreicht haben?
  • Wie werden wir unseren Fortschritt messen? Welche messbaren oder beobachtbaren Indikatoren legen wir fest?
  • Welche Ziele, die wir erreichen wollen, leiten sich aus dem Zweck ab? Wie unterteilen wir die Ziele in Unterziele? Wie und wie oft überprüfen wir unsere Ziele und Teilziele?
  • Stehen unsere Ziele und die Art und Weise, wie wir an ihnen arbeiten, noch im Einklang mit unserem Umfeld? Werden die Bedürfnisse und Erwartungen unserer Stakeholder erfüllt?
  • Stehen alle im Team hinter unseren Zielen?

Roles

Ein klarer Zweck und daraus abgeleitete Ziele allein reichen nicht aus, um wirklich gut zusammenarbeiten zu können.

Wenn die Struktur des Teams sowie die Rollen und Verantwortungsbereiche unter den Teammitgliedern nicht klar sind und außerdem nicht den Kompetenzen der Rolleninhaber:innen entsprechen, entstehen Probleme, Konflikte und Schuldzuweisungen.

Insbesondere stelle ich in der Arbeit mit Teams fest, dass Konflikte häufig auf sich überschneidende Verantwortungsbereiche zurückzuführen sind, die zu Machtkämpfen zwischen den Rolleninhaber_innen führen können.

Die Beantwortung der folgenden Fragen kann Klarheit in die Gestaltung der funktionalen Rollen und Verantwortungsbereiche im Team bringen:

  • Welche Aufgaben fallen bei uns an, um unsere Ziele zu erreichen? Tragen die Aufgaben dazu bei, unsere Ziele zu erreichen, oder beschäftigen wir uns hauptsächlich mit uns selbst bzw. mit organisationsinternen Bezügen?
  • Wer soll was tun? Wer ist für welche Aufgaben zuständig? Wer in unserem Team hat welche Befugnisse?
  • Sind unsere Rollen klar beschrieben und verstehen alle Teammitglieder ihre eigenen Rollen und Verantwortlichkeiten? Sind allen Teammitgliedern die Rollen und Verantwortungsbereiche der anderen Teammitglieder klar?
  • Sind alle Teammitglieder mit ihren Rollen und Zuständigkeiten zufrieden? Entsprechen die Rollen der einzelnen Teammitglieder ihren persönlichen Ambitionen (Wollen) und Fähigkeiten (Können)?

Processes

Unter den Prozessen sind alle formal beschriebenen (Routine-)Vorgänge (Konditionalprogramme) zu verstehen, die dem Team ermöglichen, Entscheidungen zu treffen, Konflikte zu lösen, Informationen auszutauschen etc.

Klar definierte und beschriebene Prozesse ermöglichen eine wirksame Zusammenarbeit bei der Problemlösung sowie eine offene Kommunikation.

Und die meisten Teams sozialer Organisationen, die ich kennenlernen durfte, verfügen nicht über ein klar definiertes Set an Prozessen, um ihre Routinetätigkeiten effizient zu organisieren.

Helfen können die folgenden Fragen:

  • Haben wir klar definierte Regeln und Verfahren für den Umgang mit dem Mehrwert der Norm (Routinen)?
  • Wie teilen und speichern wir Informationen (z.B. aus Teamsitzungen)?
  • Wie gehen wir vor, wenn wir uns in einer Frage nicht einig sind und keine gemeinsame Basis finden?
  • Wie stellen wir die „Schnittstelle“ zur Außenwelt her? Wie sammeln wir irritationsrelevante Informationen und geben sie weiter? Wie gehen wir mit Einmischungen von außen um?
  • Wie gut sind wir in der Lage, Regeln für nicht standardisierte Themen zu finden (Wertschöpfung der Ausnahme)?

Interpersonal Relations

Teams sind keine Maschinen und können daher nicht wie Maschinen gedacht, geschweige denn „gesteuert“ werden.

Die Art und Weise, wie die Teammitglieder miteinander und mit der Gemeinschaft umgehen, muss daher berücksichtigt werden. Dies hat einen großen Einfluss auf den Geist, die Atmosphäre, die Teamkultur, das emotionale Wohlbefinden und die allgemeine Effektivität des Teams.

Hier lohnt wieder der Blick auf die Studie von Google, die dem Thema „Umgang miteinander“ enorme Bedeutung zuweist, wenn es um das Funktionieren von Teams geht:

Wie oben bereits kurz angedeutet, hing der Erfolg der Teams und damit die gute Zusammenarbeit nicht von der Zusammensetzung der Teams oder dem Führungsstil der Vorgesetzten ab und auch nicht davon, ob ein bestimmter Persönlichkeitstyp in den Teams vorherrschte („Wir brauchen nur die richtigen Leute!“). Der Erfolg der Teams hing auch nicht davon ab, ob sie selbstbestimmt, mit flachen Hierarchien oder – ganz traditionell – streng „top down“ geführt wurden. Relevant für eine gute Zusammenarbeit im Team war der Studie zufolge, wie die Teammitglieder miteinander umgingen: In guten Teams kamen alle zu Wort, der Umgang miteinander war respektvoll und von Sicherheit und Verlässlichkeit geprägt. Klarheit und Struktur waren ebenso relevant wie Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit.

Damit rücken hier die folgenden Fragen in den Blick:

  • Wie gehen die Teammitglieder miteinander um?
  • Inwieweit unterstützen sie sich gegenseitig?
  • Gibt es eine solide Basis für gegenseitiges Vertrauen? Wie hoch ist das Vertrauen zwischen den Teammitgliedern?
  • Wie ist es um die psychologische Sicherheit im Team bestellt?
  • Wie respektvoll ist die Kommunikation zwischen den Teammitgliedern und zwischen Teammitgliedern und Führungskraft?
  • Wie ist die allgemeine Atmosphäre im Team?
  • Wie viele zwischenmenschliche Konflikte gibt es und wie wird damit umgegangen?

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Probleme und Konflikte zwar in den allermeisten Fällen auf der zwischenmenschlichen Ebene auftreten, ihre Ursache aber fast immer in unklaren Strukturen, Abläufen oder Zielsetzungen des Teams haben.

Daher gilt der Grundsatz:

„change the System – not the people!“

Fazit

Ich hoffe, dass Dir das Modell und die Fragen helfen, Dein Team besser zu verstehen und vielleicht sogar die richtigen Interventionen an der richtigen Stelle vorzunehmen? Eine Rückmeldung zu Deiner Arbeit mit dem Modell würde mich sehr freuen – gerne direkt in den Kommentaren!

Eine Intervention kann sein, Leitlinien für die Teams zu erarbeiten. Dabei kann das GRPI-Modell gut als Gliederung dienen. Mehr zur Erarbeitung von Leitlinien in Teams findest Du hier.

Es hilft, die komplexe Realität zu vereinfachen und sprachfähig zu machen. Aber es ist nicht die Realität. Aus meiner Sicht eignet es sich sehr gut, um ein tieferes Verständnis für das Funktionieren und Nicht-Funktionieren von Teams zu gewinnen. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich dann Hypothesen ableiten, die zu Interventionsmöglichkeiten werden können, um den Dysfunktionalitäten zu begegnen.

Ich möchte aber noch einmal betonen, dass wir zwar dazu neigen, Probleme auf der gleichen Ebene lösen zu wollen, auf der sie sichtbar werden. Die Quelle der zwischenmenschlichen Konflikte zwischen Teammitgliedern und zwischen Führungskräften und Teammitgliedern liegt aber in den allermeisten Fällen auf einer anderen Ebene, und eben meist auf der G-, R- und/oder P-Ebene.

Daher ist es ratsam, bei der Analyse von Problemen, Konflikten und Dysfunktionen im Team das gesamte GRPI-Modell zu betrachten und nicht nur die Ebene, auf der sich das Problem manifestiert. Und das Problem beginnt sehr oft mit unklaren und nicht abgestimmten Zielen, unklaren Prozessen und/oder nicht transparenten Rollen und Verantwortungsbereichen.

Change the system – not the people!


Hast Du das Modell mal auf Dein Team übertragen? Und welche Ergebnisse haben sich gezeigt? Hinterlasse doch einen Kommentar, damit wir alle etwas von Deinen Learnings haben…

Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft, oder: Hört auf, zu suchen (und was stattdessen sinnvoll ist)!

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Was hat der Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft mit dem Klimawandel gemeinsam?

Aus meiner Sicht mindestens zwei Dinge:

Zum einen ist beides alles andere als ein neues Problem! Wir wissen spätestens seit dem Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972 (50jähriges Jubiläum – herzlichen Glückwunsch), dass und auch was da auf uns zukommt (die Erwähnung des Sommers 2022 spare ich mir mal). Und genauso wissen wir seit Jahren, was in Bezug auf den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft auf uns zukommt: Der demographische Wandel ist nicht neu. So liegt die Geburtenrate seit den 1970er Jahren unter der Sterberate. Was das bedeutet sehen wir heute in fast allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit. Ich selbst habe bereits 2017 einen Beitrag zum Thema hier verfasst (den ich heute so nicht mehr verfassen würde). Deutlich fundierter ist aber bspw. diese Promotion von Dr. Anja Warning, die sich bereits im Jahr 2012 mit dem „Fachkräftemangel und Fachkräfteengpässe in Deutschland: Befunde, Ursachen und Handlungsbedarf“ auseinandergesetzt hat.

Zum anderen haben wir nichts, zumindest nichts Wesentliches dagegen getan – nichts gegen die Klimakatastrophe und nichts gegen den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft. Bei beidem hätte es Lösungen gegeben. Der Umstieg auf erneuerbare Energien hätte nicht seit gestern (hat er?), sondern spätestens seit den 80er Jahren Priorität haben müssen. Genauso hätte es seit den 80er Jahren Bemühungen geben müssen, unser Sozialsystem und damit die sozialen Organisationen (und alles was damit zusammenhängt) umzugestalten. Haben wir nicht gemacht, beides. Und der Versuch, jetzt, hoppladihopp, etwas gegen den Klimawandel zu tun, ist zum Scheitern verurteilt.

Genauso ist der Versuch, den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft mal eben so zu beseitigen und neue Fachkräfte für die Soziale Arbeit zu bekommen, zum Scheitern verurteilt.

Nur ein Beispiel: Da nehmen Komplexträger mit mehreren Tausend Beschäftigten viel Geld in die Hand, um ausländische Fachkräfte zu gewinnen (eine mögliche Strategie). Konkret fliegen mehrere Mitarbeiter:innen in der Welt herum, um als Ergebnis 3 (in Worten: drei) neue Fachkräfte aus irgendeinem afrikanischen Land zu uns zu holen. Das Ganze macht aus Schauseitenperspektive Sinn („Schaut mal, wir tun was! „). Aus Effizenzgesichtspunkten ist es:

Quatsch!

Worauf ich hinaus will? Ganz einfach:

Wir sollten aufhören, so zu tun, als könnten wir den Klimawandel „abwenden“ genauso wie wir aufhören sollten, viel Hoffnung (und Ressourcen) in Gewinnung neuer Fachkräfte zu investieren.

Nein, damit will ich nicht sagen, dass es – mit Blick auf das Klima – keinen Sinn macht, politische Entscheidungen für die Zukunft (der Menschheit, nicht der Welt) zu treffen, Kartoffeln regional einzukaufen und weniger Auto zu fahren. Im Gegenteil: Ich sehe keine wirklich großen, politischen Initiativen geschweige denn Entscheidungen, die wirklich langfristig etwas an der Klimasituation verändern würden. Diese wären dringend notwendig.

Genauso wenig will ich sagen, dass – mit Blick auf den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft – jetzt alle Stellenausschreibungen beendet werden und soziale Organisationen nicht mehr an ihrer Arbeitgebermarke arbeiten sollten oder wir uns nicht mehr weiter um eine Steigerung des gesellschaftlichen Ansehens (und damit der Bezahlung) der Gesundheits- und Sozialberufe bemühen müssen.

Aber kurz- und mittelfristig: No Chance!

Da sind einfach keine Fachkräfte mehr. Unterstrichen wird dieser „Eindruck“ bspw. auch durch die aktuelle Studie von Hickmann und Koneberg (2022) „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“:

Das Bild zeigt die aktuelle Situation. Mit ein wenig „Blick nach vorne“ wird die Situation nicht besser, wie bspw. diese Studie hier darlegt, die bis zum Jahr 2026 die Fachkräftesituation in den Blick nimmt – und zwar für die Sozialen Berufe sehr sicher. Hier mal die Top-5 der Top-30 Engpassberufe bis 2026 basierend auf der verlinkten Studie:

Wir sollten endlich damit aufhören, darüber zu lamentieren, dass es keine Fachkräfte gibt. Absurd wird das Lamentieren übrigens dann, wenn – Stichwort quiet quitting – darüber gejammert wird, dass die neue Generation nicht mehr 100% unter den aktuellen Bedingungen arbeiten will – also 120 %.

Ja, ist doch logisch…

Und auch wenn es etwas pessimistisch klingt sollten wir uns darüber freuen, dass der Sommer 2022 der kälteste Sommer mit Blick aus der Zukunft war. Und genauso sollten wir uns darüber freuen, dass die Fachkräftesituation aktuell so gut ist, wie nie mehr in den nächsten Jahren.

(Wenn wir uns schon gerade freuen, ein weiterer lustiger Aspekt: Die Bundesregierung verspricht – neben der Absurdität des Rechts auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder im Jahr 2026 – in ihrer „5-Punkte-Strategie“ zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, die Möglichkeiten zur Kinderbetreuung weiter auszubauen! Kein Witz…).

Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft: Neu denken (und machen)

Die (kleine) Freude sollten wir zum Anlass nehmen, anstatt permanent am Status Quo zu hängen, damit zu beginnen, Alternativen zu dem zu entwickeln, wie wir aktuell Soziale Arbeit und Soziale Organisationen denken und strukturieren, um bestmögliche Soziale Arbeit leiten zu können.

Das klingt einfacher, als es im komplexen Alltag und unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen ist, keine Frage.

Aber es ist notwendig.

Für mich ergeben sich sehr konkrete Ansatzpunkte bezogen auf den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft, die aus organisationaler Perspektive für eine Soziale Arbeit der Zukunft und damit für eine #NewSocialWork angegangen werden können. Diese Punkte habe ich in den folgenden 8 Thesen zusammengeführt:

These 1: Qualität vor Quantität stellen!

Auf den ersten Blick klingt es hart:

Wir werden zukünftig nicht mehr alle Angebote und Dienstleistungen aufrecht erhalten können, wenn wir dazu nicht mehr eine ausreichende Anzahl an Mitarbeiter:innen haben. Wir werden Angebote einstellen müssen. Das wird auch dazu führen, dass Mitarbeiter:innen das, was sie bislang getan haben, nicht mehr tun können. Und es wird auch dazu führen, dass Nutzer:innen bislang vorgehaltene Angebote nicht mehr wahrnehmen können. Es gilt, Abschied zu nehmen.

Auf den zweiten Blick aber ist Loslassen hilfreich:

So ist es normal, dass Angebote, Produkte und Dienstleistungen – genauso wie Organisationen – einem Lebenszyklus unterliegen. Bedarfe von Nutzer:innen verändern sich und damit verändert sich auch die Frage des Überlebens von Angeboten. Faxgerätehersteller ebenso wie Hersteller von Filmen für die analoge Fotografie wissen das. Und ja, es gibt immer noch einige Firmen, Schulen und Verwaltungen, die gerne analoge Fotos per Fax verschicken würden – geht aber eben nicht mehr.

Entsprechend gilt es, das Angebotsportfolio Sozialer Arbeit kritisch in den Blick zu nehmen und genau abzuwägen, ob die Leistungen in der bereitgestellten Art und Weise weiterhin angeboten werden müssen.

Haben nicht manche Projekte und Angebote die Reifephase überschritten und werden als tote Pferde weiter geritten?

Das Abwägen, ob Angebote sinnvoll sind oder nicht, kann und darf in sozialen Organisationen aber nicht allein an monetären Kennzahlen festgemacht werden. Soziale Organisationen sind – sofern sie ihren Auftrag ernst nehmen – mehr als Unternehmen, die ausschließlich auf Profit ausgerichtet sind.

Aus meiner Perspektive kommt hier die Frage der Wirkungsorientierung in den Fokus. Dazu schreibt Sebastian Ottmann sehr passend:

„In Zeiten von knappen Haushaltsmitteln und eventuell drohenden Kürzungen von Zuschüssen und Finanzierungen von Angeboten der Sozialen Arbeit wird es immer wichtiger, die Wirkung und Relevanz der Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit darzustellen.“

https://blog.soziale-wirkung.de/2022/07/13/relevanz-und-wirkung-angeboten-sozialen-arbeit-darstellen-sechs-tipps/

Wie gesagt: Nicht nur drohende Kürzungen der Mittel, sondern auch Mangel an Fachkräften erzwingen diesen Blick.

Kurz:

  • Welche Wirkung entfalten Ihre Angebote?
  • Und woran halten Sie trotzdem fest?

Ich kann hier nicht in aller Breite auf das Thema Wirkungsorientierung eingehen. Dazu ist meine dringende Empfehlung, den Blog von Sebastian in den Blick zu nehmen.

Und – im Vorgriff auf die nächste These – gilt es, „Exnovationskompetenz“ zu entwickeln. Exnovation, das Wort gibt es wirklich und es lohnt sich, sich einmal damit zu befassen (zum Beispiel über diesen Beitrag zum Thema Exnovation):

Was kann weg?

These 2: Innovationskompetenz entwickeln!

Das Abschmelzen des Angebotsportfolios, die Exnovation, allein kann aber nicht die Lösung sein.

Zwar ist weniger manchmal mehr, aber es gilt parallel, innerhalb (und vielleicht auch außerhalb) der (noch) herrschenden gesetzlichen Rahmenbedingungen neue, wirksame Ideen zum Leben zu erwecken und damit Innovationen zu ermöglichen.

Hierzu ein Blick in die Ergebnisse meiner im Jahr 2016 verfassten Master-Thesis, in der ich die Steigerung der Innovationskompetenz sozialer Organisationen explizit in den Blick genommen habe.

Darin definiere ich Innovation wie folgt:

„Unter einer Innovation wird die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen verstanden, die darauf ausgerichtet sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige Weise zu erreichen.“

Deutlich wird, dass sich Innovation und damit die Steigerung der Innovationskompetenz nicht ausschließlich auf die Neuentwicklung von Angeboten bezieht, sondern explizit auch auf den Blick in die Organisation, auf Strukturen, Strategien, Prozesse und Fragen der Neuorganisation von Führung und Zusammenarbeit innerhalb der Organisationen. Innovation ist damit ganzheitlich zu betrachten.

Innovation ist aber nicht immer das Große, Bahnbrechende, Krasse und „Disruptive“. Innovation kann auch das kleine Neue sein, das, was Sie vielleicht als „normal“ erachten.

Hier gilt es, hinzuschauen, wahrzunehmen und neue Möglichkeiten für wirksame Angebote ebenso wie für die Neugestaltung von funktionalen Strukturen und Prozessen zu testen – „in der Hoffnung, dass es besser wird“ (Wolf Lotter).

  • Was haben Sie in den letzten Jahren neu gestaltet?
  • Warum ist das gelungen?
  • Und wie können welche Innovationen dazu führen, wirkungsvoller zu arbeiten?

Mir fällt in vielen Organisationen auf, dass diese zwar von Innovation sprechen und auch willig sind, neue Wege zu gehen. Einen Prozess jedoch, wie aus einer Idee eine Innovation werden kann, haben wenige Organisationen. Hier habe ich beschrieben, wie die 4 Schritte zu einem lebendigen Innovationsmanagement aussehen können.

These 3: Organisationen an ihrem Zweck orientieren!

Die Kernfrage in der Arbeit mit sozialen Organisationen ist für mich:

„Passen die Strukturen der Organisation zum Zweck, den die Organisation verfolgt?“

Damit stehen zwei Dinge im Fokus meiner Beratungstätigkeit:

  • Welchen Zweck verfolgt die Organisation?

Und

  • Welche Strukturen weist die Organisation auf?

Hinter den Fragen stehen dann verschiedene komplexe Zusammenhänge: Bezogen auf die Strukturen zeigt allein die Unterscheidung von formalen und informellen Strukturen die sich eröffnende Komplexität. Und die Frage nach dem Zweck ist in sich hochgradig ausdifferenzierenden pluralistischen Organisationen, die unterschiedliche Arbeitsfelder bedienen (Komplexträger), nicht einfach und für alle Bereiche der Organisationen gleich zu beantworten.

Entsprechend gilt es, den Zweck nicht nur auf Ebene der Gesamtorganisation (bspw. im Leitbild), sondern auch innerhalb verschiedener Organisationsbereiche, Abteilungen, Arbeitsfeldern und auch Teams zu definieren:

  • Wozu sind wir (als Organisation, als Abteilung, als Bereich, als Team) da?

Aus der Beantwortung ergibt sich die Suche nach den für die jeweilige Einheit bestmöglich passenden – funktionalen – formalen Strukturen.

Dabei kann es – als ein Beispiel – für die Organisation funktional sein, selbstbestimmt agierende Teamstrukturen einzuführen (die nicht weniger Strukturen aufweisen, aber andere!).

Es kann – bei entsprechendem Zweck – genauso funktional sein, zunächst die Prozesse der jeweiligen Einheit zu analysieren, zu straffen und hinsichtlich komplexer und komplizierter Prozesse zu unterscheiden. Darüber lassen sich dann u.a. Digitalisierungsoptionen finden, die – wenn gut gemacht – Ressourceneinsparungen und Arbeitserleichterungen ermöglichen.

Noch einmal: Die Strukturen sollten funktional sein!

Für soziale Organisationen gilt übergreifend:

  • Wo, an welcher Stelle, in welchem Bereich, in welcher Abteilung und in welchem Team arbeiten wir funktional im Sinne des Zwecks der Organisation?
  • Wo zeigt sich „Verschwendung“ im Sinne von dysfunktionalen Strukturen, Arbeitsschritten und Prozessen?
  • Wo existieren nicht funktionale Fettpolster (Slack), die an anderer Stelle dringend benötigt und wirkungsvoller eingesetzt werden können?

These 4: Qualität und Kultur durch Strukturen gestalten!

Mit Blick auf den Fachkräftemangel steht im Raum, dass eine Aufweichung der Zugangshürden in soziale Berufe (bspw. durch die Einstellung von fachfremd ausgebildeten Menschen, durch die Abschaffung der Notwendigkeit, die staatliche Anerkennung vorzuweisen) zu einer abnehmenden Qualität Sozialer Arbeit führt.

Bevor ich meinen Gedanken ausführe: Auch aus meiner Sicht ist es erstrebenswert, wenn in Sozialen Berufen ausschließlich Menschen mit der bestmöglichen Qualifikation arbeiten würden. Dies sehe ich als unbedingt empfehlenswert an, da es in vielen Bereichen (bspw. Kita) um unser wertvollstes Gut – um unsere Kinder – und ingesamt ganz einfach um Menschen geht.

Aber so bitter es ist: Die Fachkräfte fehlen. Oft wird inzwischen nicht mehr von Fachkräfte-, sondern von Arbeitskräftemangel gesprochen. Die Einstellung von fachfremden oder weniger gut ausgebildeten Fachkräften als Arbeitskräfte ist die notwendige Konsequenz, um Angebote aufrecht zu erhalten (sofern sinnvoll, siehe oben).

Es bleibt keine andere Wahl, als Mitarbeiter:innen einzustellen, die wir uns hinsichtlich ihrer fachlichen Kompetenzen nicht „gewünscht“ haben. Hinzu kommt, dass Sie Menschen – selbst wenn sie die fachlichen Qualifikation erfüllen würden – hinsichtlich ihrer „Haltung“ oder ihrem „Mindset“ niemals einstellen würden, wenn Sie die Wahl hätten.

Die Wahl haben Sie aber oft nicht (mehr).

Theoretisch ausgedrückt verlieren damit Personalentscheidungen, die neben den Konditional- und Zweckprogrammen sowie den Kommunikations- und Entscheidungswegen als Strukturtypus von Organisationen (vgl. bspw. Kühl, 2016) fungieren, ihre Wirkkraft.

Entsprechend ist es notwendig, explizit auf die Gestaltung funktionaler formaler Strukturen in Ihren Teams und Organisationen zu achten:

Wenn Sie die Qualität Ihrer Angebote mit den vorhandenen Mitarbeiter:innen (Fach- wie Arbeitskräften) aufrecht erhalten wollen, müssen Sie die formalen Strukturen sehr klar gestalten:

  • Wer ist für was zuständig?
  • Welche Schritte sind – bspw. bei einer Eingewöhnung in der Kita – unbedingt einzuhalten?
  • Wie sind die Arbeitszeiten ausgestaltet?
  • Wie sind Vertretungsregelungen?
  • Wie verlaufen die formalen Kommunikationswege?
  • Und so weiter…

Die festgelegten formalen Strukturen, Prozesse und Abläufe (Konditionalprogramme) müssen übrigens nicht in Stein gemeißelt werden. Vielmehr sollten die Vorgaben in regelmäßigen Zeitabständen (Iterationen) in den Blick genommen und verbessert werden:

  • Wo hakt es?
  • Was passt – was nicht?
  • Wo ergeben sich Schwierigkeiten?
  • Welche sinnvollen Änderungen können wir vornehmen?

Denn es geht nicht darum, möglichst viele formale Vorgaben zu machen.

Es geht darum, funktionale formale Vorgaben zu machen, die Orientierung für Mitarbeiter:innen – unabhängig von ihren fachlichen Kompetenzen – ebenso wie Sicherheit für die Nutzer*innen bzgl. der zu erwartenden Leistung im komplexen Alltag bieten.

Kleine Anekdote: Ich hatte vor Kurzem ein Gespräch, indem mein Gesprächspartner mit Blick auf den Fachkräftemangel von der „notwendigen „McDonaldisierung“ Sozialer Arbeit sprach. Auch wenn das Bild bei vielen sicher auf Skepsis stößt und der Vergleich an vielen Stellen hinkt:

McDonalds hat es geschafft, durch klare Prozesse und Strukturen, durch eindeutige Konditional- bzw. „Wenn – dann“ -Programme, eine verblüffend gleiche Qualität (ohne Wertung 😉 an egal welchem Standort anzubieten. Die Pommes schmecken überall gleich! Das gelingt nicht durch eine umfassende Ausbildung aller Mitarbeiter:innen, in der diese „auf die Spur gebracht werden“ oder durch die Vermittlung des „purpose“ von McDonalds. Das gelingt auch nicht durch Mitarbeiterbespaßungsprogramme und gratis Obst. Das gelingt durch die klare Vorgabe von Arbeitsschritten, durch eindeutige Konditionalprogramme bezogen auf das, was zu tun ist.

Aber – dazu später mehr – diese Konditionalprogramme („wenn – dann“) sind in Arbeitsfeldern Sozialen Arbeit aufgrund der immer individuellen Interaktionen nicht mal eben so zu gestalten.

These 5: Studium ebenso wie interne Aus- und Weiterbildung entwickeln

Angesichts der Schilderungen der anzunehmenden Entwicklungen der Personalsituation ist es notwendig, Studium, Aus- und Weiterbildung zu überdenken.

Ich bin großer Fan der generalistischen Ausbildung Sozialer Arbeit auf Bachelor-Ebene. Menschen in Sozialen Berufen brauchen den breiten Blick, das Systemdenken, die Vernetzungen… um das ganze Bild des Menschen und der Systeme, in denen Menschen leben, und nicht nur einen Teilbereich (Körper, Psyche…) oder ein einzelnes Funktionssystem (Recht, Politik, Wirtschaft, Medizin…) berücksichtigen zu können.

Sozialarbeiter:innen (ebenso wie Erzieher:innen) sind Spezialist:innen für das Generelle.

Das wird bspw. deutlich, wenn man die „Internationale Definition Sozialer Arbeit“ in den Blick nimmt, die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession definiert, die gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen fördert (bzw. fördern will).

Dahinter steht ein Menschenbild, eine professionelle „Haltung“:

Wir sind nicht die Expert:innen für die Lösung der Probleme der Menschen. Wir stärken die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen und befähigen sie darin, „es selbst zu tun“.

Wenn jetzt aber zunehmend Menschen als Arbeitskräfte ohne die notwendigen Fachkompetenzen und ggf. auch ohne bzw. mit einer anderen professionellen Haltung als Mitarbeiter:innen in die Organisationen kommen, sind die Professionellen gefragt, neben den fachlichen Fragen dieses sozialarbeiterische Menschenbild, diese professionelle Haltung Sozialer Arbeit in der Organisation mit Blick auf die Nutzer:innen aufrechtzuerhalten.

Die Fachkräfte sind aber darüber hinaus gefragt, nicht nur die Nutzer:innen sozialer Dienstleistungen, sondern auch die neuen Mitarbeiter:innen darin zu befähigen, „es selbst zu tun“.

Diese Haltung zur Befähigung zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie, die im Studium bezogen auf die Nutzer:innen bereits Standard ist (oder zumindest sein sollte), ist damit zum einen bereits im Studium auszuweiten auf die Haltung und auch auf Methoden und Kompetenzen zur Befähigung der neuen Mitarbeiter:innen in den Organisationen zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie.

Damit werden alle Fachkräfte zugleich auch Führungskräfte, was im Studium deutlicher als bislang zu betonen ist. Es gilt, im Studium neben dem Fokus auf die Nutzer:innen sowie deren Lebenswelten einen Fokus auf Organisation, Leitung und Führung ebenso wie auf Organisations- und Personalentwicklung zu legen. Kurz:

Das Organisationsbewusstsein der Fachkräfte Sozialer Arbeit ist zu stärken.

Denn: Fachkräfte Sozialer Arbeit müssen zukünftig verstärkt aktiv „als Führungskräfte“ in die Personalentwicklung der Mitarbeiter:innen, die nicht Fachkräfte sind, in den organisationalen Alltag eingebunden werden.

Daraus folgt neben der Weiterentwicklung von Studium und Ausbildung (was ziemlich lange dauern kann) auch die Notwendigkeit der Entwicklung der Personalarbeit innerhalb der Organisationen Sozialer Arbeit:

Es gilt, auch innerhalb der Organisationen und mit Blick auf das vorhandene Personal deutlich stärker zu analysieren und zu gestalten, wie die Fachkräfte in die Entwicklung der neuen Mitarbeiter:innen eingebunden werden können. Damit, um dies noch einmal zu wiederholen, werden alle Fachkräfte Sozialer Arbeit zu Führungskräften.

Wenn diese Entwicklung aktiv von den Organisationen – bspw. über entsprechend gestaltete Führungskräfteentwicklungsprogramme – angegangen wird, kann daraus ein Potential zur Mitarbeiterbindung erwachsen:

Es ergeben sich neue Aufgaben für die Fachkräfte in der Entwicklung der Mitarbeiter:innen. In der Fachsprache geht es um „job enrichment“ und damit um die qualitative Erweiterung des Aufgabenspektrums der Fachkräfte.

These 6: Führung leben!

A propos Führung:

Das mit den Strukturen ist ja nett, oder? Und wahrscheinlich haben Sie als Führungskraft an der ein oder anderen Stelle klare Vorgaben, Regeln und Prozesse und damit formale Strukturen und Konditionalprogramme eingeführt, um die Rahmenbedingungen und Arbeitsabläufe transparent zu gestalten?

Diese Gestaltung der Rahmenbedingungen – die Arbeit an statt in der Organisation – ist – so meine Auffassung – bereits ein Kern von Führung:

  • „Welche Strukturen und Rahmenbedingungen braucht es, damit unsere Organisation, mein Team etc. bestmöglich arbeiten kann?“

Führung dient dazu, formal bindende, manchmal auch unpopuläre Entscheidungen über die Rahmenbedingungen der Arbeit zu treffen, von denen andere tangiert werden.

Sonst bräuchte es keine Führung.

Die erste Frage bezogen auf Führung lautet damit:

  • Trauen Sie und Ihre Führungskräfte sich, Entscheidungen zu treffen, von denen andere betroffen sind?

Selbstverständlich können (und sollten an vielen Stellen) diese Entscheidungen gemeinsam, partizipativ im Team und nicht nur im stillen Kämmerlein vorbereitet werden.

Das Treffen der Entscheidungen kann dann entweder über Sie als Führungskraft direkt – top down – erfolgen oder aber – sofern funktional für den Zweck – gemeinsam im Team.

Dazu bedarf es dann aber ein Wissen über kollektive Entscheidungsmethoden, damit kollektive Entscheidungen nicht in bekannten, für alle frustrierende Minimalkonsense (Plural von Konsens ist Konsense, hab ich extra nachgeschaut…) enden.

Aber noch einmal: Sie als Führungskraft tragen die Verantwortung.

Offen bleibt damit jedoch, ob die durch Sie oder im Team vereinbarten formalen Regeln verbindlich eingehalten werden.

In vielen Gesprächen mit Mitarbeiter:innen und Führungskräften erlebe ich diesbezüglich ein „Verbindlichkeitsproblem“ in sozialen Organisationen:

Zwar sind (kollektiv oder klassisch) Vorgaben und Strukturen definiert und entschieden worden. Diese Entscheidungen werden jedoch – aus unterschiedlichsten Gründen – von den Mitarbeiter:innen nicht eingehalten.

Hier ist wiederum Führung gefragt:

  • Ist Führung in der Lage, die auf den ersten Blick unangenehmen Gespräche im Team zu führen und anzusprechen, dass Vereinbarungen nicht eingehalten wurden?
  • Gelingt es, die notwendige psychologische Sicherheit im Team herzustellen, um thematisieren zu können, warum wer (in welcher Rolle) was nicht zur Zufriedenheit erledigt hat?

Dabei ist relevant, zwischen Menschen und den Rollen der Menschen in der Organisation zu unterscheiden:

Nicht „der Klaus als Mensch“ ist doof, weil er seine Aufgaben nicht einhält. Aber Klaus erfüllt die an ihn gestellten Anforderungen in seiner Rolle (als Mitarbeiter, Führungskraft, QMB…) nicht.

Entsprechend gilt es hier, wieder auf die formalen Strukturen zu schauen:

  • Warum ist aus Sicht der Rolle (von Klaus) sinnvoll, dass bestimmte Strukturen, Regeln und Vorgaben nicht eingehalten werden? Sind diese vielleicht nicht funktional?
  • Was braucht es von der und für die Rolle, damit die funktionalen Vorgaben eingehalten werden können?

Und in allerletzter Konsequenz braucht es auch Wege, die Nichteinhaltung von funktionalen Vorgaben zu sanktionieren. Denn Organisationen sind nicht dazu da, dass sich die Mitarbeiter:innen in ihnen wohlfühlen und „machen können, was sie wollen“.

Organisationen sind dazu da, einen bestimmten Zweck bestmöglich zu erfüllen. Wenn die dazu notwendigen Bedingungen nicht erfüllt werden, kann die Mitgliedschaft in der Organisation – wie gesagt: in letzter Konsequenz – auch beendet werden.

These 7: Im und am Maschinenraum arbeiten!

Thomas Michl schreibt in einem „Gedankenblitz“ über die Notwendigkeit der Brücke, den Maschinenraum der eigenen Organisation zu verstehen:

„In der Organisation ist der Maschinenraum der Ort, an dem die Wertschöpfung geschieht und die Arbeit getan wird, die die Organisation legitimiert. Die Brücke der Organisation tut gut daran, dies sich immer vor Augen zuhalten und wertzuschätzen, indem sie den Maschinenraum mit größtem Respekt und seine Bedürfnisse ernst nimmt behandelt.“

Für soziale Organisationen gilt dies in besonderem Maße, da im Maschinenraum keine Maschinen, sondern Menschen (in ihren jeweiligen Rollen) arbeiten. Anders ausgedrückt:

Im Zentrum sozialer Dienstleistungen stehen individuelle und damit kaum standardisierbare, in der Regel immaterielle Interaktionen, deren Produktion und Konsumtion meist standortgebunden zusammenfallen (vgl. Gesmann, Merchel: 2019, 69).

Daraus folgt, dass Standard- bzw. Konditionalprogramme („wenn – dann“) bezogen auf den Zweck, das „Wozu“ oder den Inhalt der Arbeit nur an wenigen Stellen funktional sind.

Das scheint sich auf den ersten Blick widersprüchlich zu den Ausführungen oben. Dort habe ich doch geschrieben, dass – aus unterschiedlichen Gründen – Konditionalprogramme hilfreich sein können? Und ja, sind sie auch:

Die Vorgabe von Konditionalprogrammen, von klaren Regeln und einzuhaltenden Standards ist wichtig, um das „Wie“ der Zusammenarbeit zu regeln.

Bezogen auf das „Wozu“ und das „Was“ und damit den Inhalt Sozialer Arbeit sind Konditionalprogramme (vorgegebene Prozesse) hingegen wenig zielführend.

Vielmehr kommt es darauf an, dass die Menschen den Zweck ihrer Arbeit kennen, möglichst gut zusammenarbeiten, die Herausforderungen sozialer Arbeit anerkennen und mit den Möglichkeiten der Gestaltung guter Zusammenarbeit von Menschen (in Teams oder Gruppen) vertraut sind.

Dies wird jedoch in unserer Branche oftmals einfach vorausgesetzt:

Wir gehen davon aus, dass Sozialarbeiter:innen schon irgendwie und irgendwoher wissen, wie gute Zusammenarbeit gelingt.

Und wir gehen davon aus, dass Leitungskräfte darin geschult wären, Teams in ihrer Zusammenarbeit zu (beg-)leiten. Wer Sozialarbeiter:in oder Erzieher:in ist, weiß dass doch, oder?

In meiner Arbeit mit Teams und Organisationen zeigt sich jedoch häufig, dass dies nicht immer der Fall ist.

Basics der Funktionsweisen sozialer Systeme, Basics in der Gestaltung von Teamarchitekturen, Basics in Führung und Leitung von Teams in den komplexen und herausfordernden Alltagssituationen sind nicht oder kaum vorhanden – was (siehe oben) auch nicht verwunderlich ist, da dies nur in geringem Umfang Teil der Ausbildung ist.

Aus diesem „Nichtwissen“ wiederum folgen Entscheidungen der Leitungskräfte, die – mit externem Blick mehr als nachvollziehbar – wunderbar dazu geeignet sind, jegliche Motivation der Teammitglieder zu zerstören.

Entsprechend gilt es, den Ort der sozialen Wertschöpfung, den Maschinenraum und damit die Arbeit in den Teams an der Basis viel genauer in den Blick zu nehmen:

  • Was ist Zweck der Arbeit?
  • Was passiert „an der Basis“?
  • Was brauchen die Mitarbeiter:innen an der Basis, um ihren Job möglichst gut erledigen zu können?
  • Wie gelingt es, den Zweck bestmöglich zu erfüllen?

Es gilt darüber hinaus, Führungskräfte in ihrer Arbeit zu begleiten und zu entwickeln.

  • Wie werden Ihre Führungskräfte in ihrer Arbeit begleitet?
  • Haben Sie Zeiten und Räume, in denen sich Führungskräfte über ihre Arbeit austauschen können?
  • Haben Sie funktionale Führungskräfteentwicklungsprogramme?

Es gilt außerdem, Teamentwicklungen zu begleiten, Architekturen und Strukturen für gute Zusammenarbeit zu entwickeln und alles daran zu setzen, dass die Motivation der Mitarbeiter:innen (und damit auch die Motivation der Führungskräfte) nicht zerstört wird.

Oder in den Worten von Thomas:

„Daher gilt: Ab in den Maschinenraum. Hingehen, Beobachten, aufmerksam Zuhören, Verstehen und Wertschätzen.“

Denn die Konsequenz bei Nichtbeachtung ist klar:

Die wenigen noch vorhandenen Mitarbeiter:innen suchen das Weite.

These 8: Banden bilden!

Abschließend noch ein über die eigene Organisation hinausgehender Blick:

Kooperation wird zwischen sozialen Organisationen recht groß geschrieben.

So sind viele Organisationen und Einrichtungen in Wohlfahrtsverbänden zusammengeschlossen. Kooperation und gegenseitige Zusammenarbeit fällt entsprechend leicht.

Hinzu kommt, dass soziale Probleme in den meisten Fällen nicht monokausal zu lösen, sondern komplex und damit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und anzugehen sind. Soziale Organisationen arbeiten – genau – mit Menschen und die Kooperation auf inhaltlicher Ebene ist notwendig, um den Menschen wirklich zu helfen.

Kooperation endet jedoch häufig da, wo die inhaltliche Ebene verlassen wird und es entweder um Geld („Welcher Verband bekommt den Zuschlag für welche Leistung?“) oder um Fachkräfte geht.

Dass Mitarbeiter*innen von einem Arbeitgeber zum anderen wechseln, wird nicht gerne gesehen. Teilweise gibt es bereits explizit ausgeschriebene Stellen, die bspw. Pflegekräfte von anderen Unternehmen abwerben sollen.

Anstatt jedoch gegeneinander zu arbeiten und sich die Fachkräfte streitig zu machen, macht es vielmehr Sinn, miteinander auch auf Ebene der Arbeits- und Fachkräftegewinnung und -bindung zu arbeiten.

Damit meine ich, dass Soziale Organisationen aus ihrem eigenen Denkraum heraus- und über den Tellerrand blicken und sich mit anderen – entweder fachlich ähnlichen oder regional an einem Ort befindlichen – Organisationen zu „Fachkräftenetzwerken“ zusammenschließen.

Dahinter steht die Überlegung, dass Fachkräfte aus unterschiedlichsten (persönlichen und anderen) Gründen die Organisation verlassen. Wenn es aber gelingt, einen Wechsel in eine andere Organisation (sofern Wechsel gewünscht ist) innerhalb des Netzwerks zu ermöglichen, ist die Person nicht ganz raus, sondern verbleibt zumindest innerhalb des Netzwerks.

Die Möglichkeit, innerhalb eines Netzwerks zu wechseln, setzt jedoch voraus, dass eine Kultur innerhalb der eigenen Organisation herrscht, in der ein Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. der Organisation nicht abgestraft wird, sondern als Chance zu Entwicklung (der Menschen und der Organisation) erlebt wird.

Anstatt also den:die wechselnden Mitarbeiter:in für den Wunsch zum Wechsel zu kritisieren und ihm:ihr Steine in den Weg zu legen, sollten Möglichkeiten geschaffen werden, auch den Gang aus der Organisation (und idealerweise in eine Organisation im Fachkräftenwetzwerk) positiv zu begleiten. Daraus folgt, dass Mitarbeiter:innen ja auch wieder zurückkommen können.

Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft – Fazit

Die in diesem viel zu langen Beitrag (Danke für Deine Zeit an dieser Stelle) angesprochenen Thesen – bezogen auf die Möglichkeit, dem Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft zu begegnen – sind sicherlich nicht vollständig. So bin ich bspw. nicht auf die Möglichkeit der „Ausweitung der Arbeitsmarktpartizipation“ durch Weiterbeschäftigung von älteren Mitarbeiter:innen eingegangen, was aber viele Organisationen bereits sehr erfolgreich umsetzen („Senior Experts“).

Auch bin ich nicht auf die Notwendigkeit eingegangen, über Lobbyarbeit das Image Sozialer Arbeit weiter zu verbessern – auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es eines anderen Ansehens Sozialer Berufe in der Gesellschaft und damit perspektivisch eine bessere Bezahlung braucht.

Ich bin auch nicht darauf eingegangen, dass es – davon bin ich zunehmend überzeugt – ein Aufbrechen der Versäulung in den Sozialgesetzbüchern braucht, um zu einer generalistischen und damit zurück zu einer wirksamen Sozialen Arbeit zu gelangen (vgl. dazu den Podcast mit Patrick Ehmann zur Integrierten Sozialberatung).

Aber die Veränderung des Images und das Aufbrechen der Versäulung in den Sozialgesetzbüchern sind nicht unmittelbar durch die Organisationen selbst beeinflussbar.

Mir geht es in dem Beitrag jedoch um einen anderen Blick auf die Herausforderungen des Fachkräftemangels und auf die in sozialen Organisationen vorhandenen Möglichkeiten zur Begegnung des Fachkräftemangels und der „Mitarbeiterbindung“ (ich mag das Wort nicht, da ich zumindest als Mitarbeiter nicht ge-, sondern eher verbunden sein will).

Daran zu glauben, dass sich kurzfristig etwas an der Quantität der gut ausgebildeten Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt ändert, ist so aussichtsreich, wie daran zu glauben, dass wir den Welthunger mit fünf Broten und zwei Fischen beenden. Die wundersame Fachkräftevermehrung wird kurz- und mittelfristig nicht stattfinden.

Die Suche nach neuen Fachkräften, die im gleichen System die gleiche Arbeit machen, ist entsprechend hoffnungslos.

Vielmehr gilt es, die Gestaltungsmöglichkeiten, die Organisationen haben, zu nutzen. Und die Gestaltungsmöglichkeiten liegen vornehmlich in der Gestaltung ihrer Strukturen und Rahmenbedingungen, unter denen Soziale Arbeit innerhalb der je spezifischen Organisation geleistet wird. Es gilt, sinnvolle Organisationsentwicklung zu betreiben.


Puh, ganz schön lang geworden. Aber was sind Deine Gedanken zum Thema? Hinterlasse doch hier gerne einen Kommentar! Würde mich sehr freuen…

Und falls Du Lust hast, für Deine Organisation zu schauen, ob bspw. die Strukturen funktional, können wir gerne dazu sprechen. Hier kannst Du direkt einen – natürlich völlig unverbindlichen – Termin mit mir ausmachen.

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