Mitarbeiterbefragung – echt jetzt?

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In letzter Zeit kommen einige Anfragen zur Durchführung von Mitarbeiterbefragungen. Die Hintergründe dafür sind unterschiedlich: Die eine, kleine Organisation will ein Bild über die „Stimmung im Haus“, die andere Organisation will die bisherigen Mitarbeiterbefragungen auf den Prüfstand stellen, da diese bislang als Tool im Kontext der Entwicklung einer wie auch immer gearteten Organisationskultur betrachtet wurde, mit viel Aufwand, aber ohne nennenswerten Erfolg. Ein weiterer Grund für die Durchführung einer Mitarbeiterbefragung ist die Feststellung enormer Mitarbeiterfluktuation und die Hoffnung, darüber Gründe herauszufinden, wie man der Fluktuation entgegen wirken kann.

Aber machen Mitarbeiterbefragungen überhaupt Sinn? Wo liegen Chancen und Herausforderungen – mit einem expliziten Blick auf Organisationen der Sozialen Arbeit? Und wenn sie Sinn machen – wann ist ein guter Zeitpunkt für Mitarbeiterbefragungen? Aber vor allem: Wie ist ein gutes Vorgehen zu gestalten?

tl;dr: Ja, eine Mitarbeiterbefragung macht Sinn, wenn sie zielgerichtet und möglichst schlank ist sowie zu echten Veränderungen führt.

Im Beitrag hier will ich diese Fragen in den Blick nehmen. Vielleicht helfen Dir meine Anregungen ja für Deine Organisation?!

Warum und wozu lässt sich die Mitarbeiterbefragung einsetzen?

Ich habe oben schon einige Gründe angeführt, warum Mitarbeiterbefragungen sinnvoll sein können (!). Aber hier noch etwas systematischer:

Welche Gründe lassen sich anführen, eine Mitarbeiterbefragung durchzuführen? Dazu hier einige Ideen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Motivation und Engagement

Über eine gut angelegte Befragung lassen sich Zusammenhänge zwischen den von den Mitarbeiter*innen wahrgenommenen Arbeitsbedingungen und dem Engagement, der Einsatzbereitschaft und dem Gestaltungswillen herstellen. Aus den Ergebnissen lassen sich dann gezielte Maßnahmen ableiten, wie die Motivation der Mitarbeiter *innen aufrecht erhalten werden kann (ich bin davon überzeugt, dass es nicht gelingt „Motivation zu fördern“, sondern darauf ankommt die vorhandene Motivation nicht zu zerstören).

Identifikation

Insbesondere in Zeiten massiven Fachkräftemangels, der ja leider in sozialen Organisationen an vielen Stellen eins der Hauptprobleme ist, steht die Frage im Raum, wie es gelingen kann, eine Identifikation der Mitarbeiter*innen mit der Organisation zu generieren, um damit die Mitarbeiter_innen zu halten. Aktuelle Studien zeigen zudem, dass die Identifikation mit der Organisation so gering ausgeprägt ist, wie nie zuvor. Entsprechend sinnvoll kann es sein, herauszufinden, was die Mitarbeiter an der Organisation schätzen: Was fördert die emotionale Bindung mit der Organisation und seinen Dienstleistungen? Was steckt hinter dem Wunsch, für das Unternehmen zu arbeiten? Und wo liegen natürlich auch die Aspekte in der Organisation, die Identifikation verhindern?

Fluktuation

Eng verknüpft mit dem vorherigen Punkt ist die Frage, warum die Fluktuation in der Organisation überdurchschnittlich hoch ist. Gibt es bei den Mitarbeiter_innen das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, keine Wertschätzung durch Führungskräfte zu erfahren, keine Perspektiven zu haben? Die damit einhergehenden Unzufriedenheiten führen zu Resignation, zur Ablehnung von Verantwortung, zum Rückzug innerhalb der Mitarbeiterschaft, zum nachlassenden Engagement, zur Absinken der Kreativität und Innovationsfähigkeit der Organisation.

Psychische Belastung

Das Sozialwesen steht auf Platz 1, wenn es um die Burnoutgefahr im Beruf geht. Herzlichen Glückwunsch. Entsprechend relevant sind Fragen nach psychischen Gefährdungen in der Organisation und vor allem Maßnahmen zur Reduzierung der psychischen Belastungen.

Orientierung an den Nutzer_innen

Der Zweck einer Organisation ist die bestmögliche Generierung sozialer Wertschöpfung. Die Erfassung und Entwicklung der Mitarbeiterzufriedenheit ist damit kein Selbstzweck. Vielmehr geht es darum, einen guten Job im Sinne der Nutzer_innen zu machen. Entsprechend relevant können Fragen sein, die dazu dienen, herauszufinden, welche Aspekte der Organisation, welches Führungsverhalten und welche Kommunikationskultur die Orientierung an den Bedarfen der Nutzer_innen fördert.

Akzeptanz für Veränderungsprozesse

Wir wundern uns immer wieder über „Widerstände“ der Mitarbeiter_innen gegenüber Veränderungen. Dazu nur zwei Gedanken:

Zum einen sind Veränderungsinitiativen ohne Widerstand nicht relevant genug. So streben Menschen in der Regel nach Stabilität und Sicherheit. Und Veränderung bedeutet immer Instabilität. Wenn man aber „so weiter machen kann wie vorher“ oder man „die nächste Sau im Dorf“ schon entspannt aussitzen kann, ist der Aufwand gegenüber dem Ertrag der Veränderungen nicht gerechtfertigt. Veränderung soll nun mal etwas ändern.

Zum anderen bedarf es für gelingende Veränderung immer ein Verständnis der Mitarbeiter_innen für den Zweck der Veränderung: Warum und wozu machen wir das hier? Wo sind die auslösenden Faktoren, die Veränderung notwendig werden lassen und was ist die Vision der Veränderung, wo soll es hingehen? Hier können Mitarbeiterbefragungen hilfreich sein, herauszufinden, wie veränderungsbereit die Mitarbeiter_innen sind und wie gut es den Führungskräften gelingt, Veränderungen zu initiieren, zu kommunizieren und zu begleiten. Führungskräfte haben im Kontext von Veränderungen auf allen Ebenen eine wichtige Vermittlungs- und Überzeugungsfunktion.

Organisationsstrategie

Das Problem von Organisationsstrategien ist nicht deren Entwicklung, sondern die Umsetzung der Strategien. Entsprechend relevant ist es, die Umsetzung in den Blick zu nehmen und festzustellen, wie die Strategie von Führungskräften und Mitarbeiter_innen erlebt, gelebt und umgesetzt wird. Aber wie überzeugt sind die Führungskräfte und die Mitarbeiter_innen von den Zielen und Strategien? Kennen die Mitarbeiter_innen die Strategie überhaupt? Gibt es ein Grundvertrauen in die Strategie und die Führung der Organisation, die die Strategie zu verantworten hat?

Führung

Die Wechselbereitschaft ist enorm hoch. Das hat u.a. viel mit Führung zu tun, auch wenn es deutlich zu kurz gegriffen ist, zu behaupten, dass die Mitarbeiter_innen wegen der Führungskräfte die Organisationen verlassen. Spannender ist hier der Blick darauf, welche Strukturen der Organisation bedingen, dass Führungskräfte so führen können, dass es zum Wechsel der Mitarbeiter_innen kommt.

Aber unabhängig davon ist spannend, das Führungsverhalten in Befragungen in den Blick zu nehmen: Durch welches Führungsverhalten werden die Mitarbeiter_innen in ihrer Motivation gebremst? Was demotiviert in der Organisation am Meisten? Passt die Arbeitsorganisation, die Strukturen und Prozessen oder Kollaboration im Team und der Organisation (abteilungsübergreifend) zur Aufgabe? Das sind Aspekte, die durch die Führungskräfte beeinflusst werden können und damit Ansätze für Verbesserungen liefern.

Innovationskultur

Als hier abschließender Grund für Mitarbeiterbefragungen will ich den Aspekt der Innovation betonen, wobei ich Innovation ganzheitlich als „Lernen“ der Organisation, als Fortschritt betrachte und nicht nur aus Perspektive der Entwicklung von neuen Angeboten und Dienstleistungen.

Mitarbeiterbefragungen können unter diesem Fokus die Offenheit für neue Ideen und Entwicklungen in der Organisation in den Blick nehmen. So ist nachvollziehbar, dass das Engagement und die Identifikation sinkt, wenn eine innovationsfeindliche Kultur gelebt wird. Entsprechend sind Fragen nach Innovationshindernissen (bspw. dysfunktionaler Umgang mit Fehlern, eine ausschließlich auf das „Bewährte“ setzende Haltung von Führungskräften, ein nicht vorhandenes Innovationsmanagement) relevant, die Optionen für Verbesserungsmaßnahmen offenlegen.

Herausforderungen von Mitarbeiterbefragungen

Deutlich wurde:

Es gibt einige Gründe, warum Mitarbeiterbefragungen sinnvoll sein können. Fallen Dir noch mehr ein? Dann teile Deine Gedanken doch gerne hier in den Kommentaren.

Damit liegen die Chancen von Mitarbeiterbefragungen auf der Hand:

Gut gemacht (dazu unten mehr) können Mitarbeiterbefragungen gerade in größeren Organisationen viele wichtige Hinweise liefern, wo Handlungs- und Entwicklungsbedarf besteht.

Aber gibt es auch Herausforderungen?

Aber hallo. Insbesondere ist hier die strategische und inhaltliche Positionierung der Mitarbeiterbefragung (Wozu genau dient die Befragung?), der Folgeprozess (Wie geht’s weiter?), sowie die Fragebogenentwicklung (Was fragen wir eigentlich?) zu nennen.

Hier etwas ausführlicher:

Herausforderung 1: Wozu genau dient die Mitarbeiterbefragung?

Bei meiner kleinen Umfrage auf Twitter zeigt sich ein spannendes Bild bezogen auf die Sinnhaftigkeit von Mitarbeiterbefragungen:

https://twitter.com/HendrikEpe/status/1515942019767873539

(Danke an alle Antwortenden).

Klar ist aber: Wenn das Ziel der Befragung nicht feststeht, machen Befragungen keinen Sinn: Erst dann, wenn den Führungskräften und den Mitarbeiter_innen klar ist, warum was gefragt wird, wird ein Schuh draus. Dann wird es möglich, gezielte Fragen zu stellen, die echte Antworten und eine sinnvolle Auswertung dieser Antworten ermöglichen.

Dabei kann ein Ziel auch die allgemeine „Stimmung“ bzw. die Mitarbeiterzufriedenheit sein, wenn, ja wenn es dann zu Maßnahmen kommt, die dazu dienen, aus der allgemeinen Stimmung spezifische Ansatzpunkte für Veränderungen und Verbesserungen abzuleiten.

Herausforderung 2: Kein Folgeprozess

Ich selbst durfte in meinem vorherigen Berufsleben an einigen Befragungen teilnehmen. Diese fanden bspw. zum Zweck der Zertifizierung für ein bestimmtes QM-Framework statt. Aber halt: Ist der Zweck der Zertifizierung der Organisation ausreichend? Natürlich nicht: Eine Befragung der Mitarbeiter_innen, um die Zertifizierung durch irgendwelche externen Zertifizierer (ich habe das neun Jahre beruflich gemacht…) zu erreichen, darf nicht der Zweck der Befragung sein.

Der Zweck der Befragung muss immer der echte und konkrete Wunsch nach Entwicklung und nach Verbesserung und damit nach echter Veränderung sein.

Wenn also der Folgeprozess nicht definiert bzw. gewollt ist und das Angehen der Veränderungen aus den Rückmeldungen der Mitarbeiter_innen nicht erfolgt, wird die Befragung zur Farce. Das kann man (einmal) machen, aber spätestens bei der zweiten Befragung ist den Mitarbeiter_innen klar, dass sowieso nichts passiert. Entsprechend werden die Mitarbeiter_innen (nicht) antworten.

Aber Obacht: Nur weil sich Klaus aus Abteilung 13 eine Blume auf dem Schreibtisch wünscht, muss nicht jeder Klaus in der Organisation eine Blume auf dem Schreibtisch bekommen. Anders ausgedrückt ist es notwendig, angelehnt an das erste Prinzip des Fachkonzepts Sozialraumorientierung https://www.socialnet.de/lexikon/Sozialraumorientierung) zwischen Wunsch und Wille zu unterscheiden: „Ein Wunsch wird zu einem handlungswirksamen Willen, wenn ein Mensch ihn verwirklichen will.“

Damit rückt die Frage in den Vordergrund, was im Hintergrund, hinter dem Wunsch von Klaus nach der Blume auf dem Schreibtisch steht. Welche spezifischen Bedarfe lassen sich aus dem Wunsch ableiten? Wo finden sich Muster, die zu Veränderungen führen sollten? Wie können die Mitarbeiter_innen die Veränderungen selbstbestimmt initiieren?

Herausforderung 3: Die Fragestellungen gehen am Ziel vorbei

Es gibt die qualitative Sozialforschung, also die die Erhebung nicht standardisierter Daten und deren Auswertung. In der qualitativen Sozialforschung befassen sich Wissenschaftler_innen seit Jahrzehnten damit, Fragen zu stellen und dann Antworten zu generieren, die den Fragen entsprechen. Genutzt werden – unter anderem – auch Fragebögen, die teilweise in Interviewform, teilweise aber auch schriftlich genutzt werden.

Kurz: Die richtigen Fragen zu stellen, diese dann auszuwerten und daraus Rückschlüsse zu ziehen, ist nicht einfach. Und entsprechend hoch ist die Wahrscheinlichkeit, Fragen zu stellen, die zwar gut klingen und die auch beantwortbar sind. Die Antworten jedoch sind nicht mehr angemessen auswertbar, um zu wirklich nutzbringend Ergebnissen zu gelangen. Ein Beispiel:

Die Geschäftsführung veranlasst eine Mitarbeiterbefragung. Ziel ist „ein Stimmungsbild aus der Belegschaft“ (im Beispiel hier etwa 50 Personen) zu bekommen. Und da ließe sich doch wunderbar beim „Befinden“ ansetzen, oder? Fragen sind bspw.: “Ich erhalte genug Anerkennung von meiner Führungskraft!”, “Meine Führungskraft interessiert sich für mich als Person!”, “Ich habe Freunde und Bekannte im Büro!” (Zu beantworten jeweils auf einer Skala von „trifft voll und ganz zu“ bis hin zu „trifft überhaupt
nicht zu“).

Ist das Befinden der Mitarbeiter_innen relevant? Vielleicht ist es nett zu wissen, „wie es den Mitarbeiter_innen geht“ und es mag auch erstrebenswert sein „glückliche Mitarbeiter_innen“ zu haben, aber Glück und Befinden sind abhängig von drölfzig Faktoren, auf die die Organisation oder die Führungskräfte begrenzt Einfluss haben. Wichtiger aber ist, dass diese Faktoren kaum Auswirkungen auf die soziale Wertschöpfung der Organisation haben. So kann ich zwar komplett glücklich sein in meinem Leben und in meinem Job und gleichzeitig komplett an der eigentlichen Aufgabe vorbei arbeiten.

Viel relevanter sind bspw. Fragen danach, ob die Mitarbeiter_innen ein Verständnis der Ziele und Strategien der Organisation haben und sich mit diesen Zielen verbunden fühlen. Verbundenheit ist dann bspw. auch mit Blick auf das Team relevant: Sind es nette Leute, oder gelingt es, mit diesen Menschen wirklich etwas zu reißen? Gelingt es, dass sich das Team gegenseitig unterstützt? Steht beim Team die bestmögliche Erledigung der gesetzten Aufgaben im Vordergrund? Wie gesagt, Bier trinken am Abend mit den Kumpels ist super, aber darum geht es in der Organisation nicht primär. Abschließend hier noch ein Aspekt, der relevanter ist als das „Wohlfühlen“. Die „Leistungsfähigkeit“ der Mitarbeiter_innen ergibt sich aus mehreren Faktoren, die sich vielleicht im Konzept des „Flows“ treffen: Es geht darum, eine Aufgabe auszuführen, die nicht zu überfordernd und nicht zu unterfordernd ist. Passen also die Fähigkeiten zur Aufgabe? Hinzu kommt hier natürlich noch, ob die Mitarbeiter_innen die Möglichkeiten haben, sich in der Aufgabe weiterzuentwickeln, Informationen zu bekommen usw…

Es wurde hier hoffentlich deutlich, dass einige Anforderungen an Befragungen zu stellen sind, um zu wirklich aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen und damit die Möglichkeiten des Tools Mitarbeiterbefragung wirklich nutzen zu können. Aber wie gelingen jetzt gute Mitarbeiterbefragungen?

Der Prozess der Mitarbeiterbefragung

Aus meiner Perspektive ähneln sich alle Konzepte rund um Entwicklung und Verbesserung, ob Scrum, PDCA oder auch das Vorgehen zur Gestaltung von Mitarbeiterbefragungen mehr oder weniger. Natürlich haben sie jeweils völlig andere Zielsetzungen, aber im Grunde geht es um a) Planung, b) Durchführung, c) Retrospektive (bzw. hier die Auswertung der Ergebnisse) und d) Anpassung. Im Fall der Mitarbeiterbefragung lässt sich die Anpassung weiter in das Feedback an die Mitarbeiter_innen sowie die Generierung, Umsetzung und Bewertung von sich aus den Ergebnissen ergebenden Maßnahmen hinzu. Etwas ausführlicher:

a) Planung
Wie bereits erwähnt steht vor der Durchführung der Befragung die Frage nach der Zielsetzung. Daraus leitet sich dann die Gestaltung von Fragen und dem Vorgehen der Befragung (design) insgesamt ab. Außerdem ist schon zu Beginn das follow up, also der Prozess der Umsetzung der sich aus den Antworten ergebenden Maßnahmen in den Blick zu nehmen.

b) Durchführung
Bzgl. der Durchführung steht vor allem die Frage des Zeitraums im Fokus: Wann soll die Befragung starten? Wie lange ist die Rückmeldephase? Wann geschieht die Auswertung? Wann geht es danach weiter? Länger jedoch als zwei bis drei Wochen sollte die Rückmeldezeit nicht sein, ggf. sogar deutlich kürzer. Wichtig sind Aspekte wie Urlaubszeiten, Zeiträume mit einer höheren Krankheitsrate sowie Phasen mit erwarteter hoher Auslastung, die eine Beantwortung im Alltag erschweren.

c) Auswertung der Ergebnisse
Dies ist der Schritt der Auswertung der anonymisierten Daten. Je nach Umfang der Befragung und der Anzahl der Mitarbeiter_innen macht es Sinn, die (Durchführung und) Auswertung digital umzusetzen. Relevant ist hier die Aufbereitung der Antworten sowie die Zusammenführung der Antworten in mögliche Hypothesen, die als Grundlage für die zu treffenden Maßnahmen herangezogen werden.

d) Feedback
Zunächst ist es relevant (aber eigentlich selbstverständlich), den Mitarbeiter_innen zu vermitteln, dass ihr Feedback wahrgenommen und behandelt wird. Ohne diesen und die folgenden Schritte kann man das Engagement für zukünftige Befragungen aus naheliegenden Gründen vergessen… Wie die Rückmeldung der Ergebnisse erfolgt, ist abhängig von der jeweiligen Befragung (Umfang, Dauer, Anzahl der MA). Spannend ist bspw. die Frage, ob alle Mitarbeiter_innen unabhängig der Hierarchiestufe alle Ergebnisse bekommen, oder ob es da Unterscheidungen geben sollte. Ich plädiere jedoch immer für Transparenz (oder warum sonst führt man die Befragungen durch?). Gerade mit Fokus auf soziale Organisationen kann es Sinn machen, die Ergebnisse der Befragungen nicht nur schriftlich zurückzumelden, sondern mit angeleiteten Gruppengesprächen zu reflektieren, wodurch wiederum die Beteiligung an den e) Veränderungsmaßnahmen gesteigert werden kann.

e) Veränderungsmaßnahmen
Auch wenn es aus meiner Perspektive echt schräg ist, aber: Diese Phase kommt immer noch zu kurz. Das kenne ich leider auch aus eigener Erfahrung. Da werden dolle Befragungen gestartet, die teuer und aufwendig sind (was sie nicht sein müssen…) und dann werden die Missstände und mögliche Ansatzpunkte für Veränderungen nur ausfindig gemacht, aber nicht angegangen? Unfassbar, aber Realität. Für mich macht es Sinn, am Ende des Fragebogens immer die Frage einzubauen: „Basierend auf Deinen Antworten: Welche Hypothesen zur Verbesserung würdest Du aufstellen (Wenn wir XY machen, verbessern wir Z!)?“ Außerdem lohnt es sich immer, nachzufragen, was denn der nächste Schritt sein könnte: „Was wäre aus Deiner Perspektive der nächste Schritt, um wirkliche Verbesserungen in unserer Organisation zu erreichen?“. Und es natürlich klar, dass die Ergebnisse der Befragung in Management- und Teamrunden besprochen werden und nicht mal eben so 1 zu 1 umgesetzt werden können. Aber die Zusammenführung der Ergebnisse muss zu konkreten Handlungsempfehlungen führen, die dann umgesetzt werden (es sei denn, Du arbeitest in der absoluten Traumorganisation, wo es absolut nichts zu verbessern gibt…). Wichtig ist außerdem, dass zwischen Befragung und Umsetzung der ersten Veränderungen nicht zu viel Zeit vergeht. Sonst verpufft jegliche Energie, sich auf die Veränderungen einzulassen (und wir wundern uns über Wiederstände…).

f) Bewertung
Wie (eigentlich) immer steht am Ende des Prozesses die Bewertung bzw. Evaluation. Wichtig sind mir hier zwei Bewertungen: Zum einen die Bewertung der Befragung insgesamt (Was ist gut gelaufen? Was muss bei der nächsten Befragung anders, besser werden?). Zum anderen ist natürlich auch die Umsetzung der sich aus der Befragung ergebenden Maßnahmen bzw. der getroffenen und getesteten Hypothesen zu bewerten:

Hat sich tatsächlich etwas verbessert?

Zeitpunkt und Rhythmus der Mitarbeiterbefragung

(Fast) abschließend noch kurz der Blick auf die Überschrift des Beitrags:

Mitarbeiterbefragung – echt jetzt?

Ich glaube, wir haben das „echt“ geklärt:

Ja, Mitarbeiterbefragungen können Sinn machen, wenn sie als Projekt gut designt sind und daraus echte Entwicklung und Veränderung erfolgt. Ist dies nicht der Fall und wird die Mitarbeiterbefragung nur gemacht, „weil man das halt so macht“ (oder irgendwelche Zertifizieren irgendwelche Nachweise brauchen). In diesem Fall solltest Du tunlichst die Finger davon lassen.

Mitarbeiterbefragungen sind dann „pures Gift“, wie Florian hier so passend schreibt:

Offen ist dann aber noch die Frage, wann eine Mitarbeiterbefragung Sinn macht und wie häufig diese durchgeführt werden sollte.

Aus meiner Sicht bietet sich der aktuelle Zeitraum sehr gut an:

Wir sind irgendwie mehr oder weniger durch diese Pandemie gekommen (auch wenn ich diese Zeilen in Quarantäne tippe) und die Organisationen bereiten sich auf ein wie auch immer geartetes „Neues Normal“ vor.

Und genau hier macht es Sinn, auf die positiven wie negativen Erfahrungen der letzten Monate bzw. mehr als zwei Jahre zu schauen. Ich mache gerade recht häufig Retrospektiven, in denen wir entweder im Team oder der Gesamtorganisation (je nach Größe und Fokus) den Zeitraum der Pandemie in den Blick nehmen, um zu reflektieren, welche Veränderungen der letzten Jahre positiv und welche negativ waren, welche neuen Arbeitsweisen und Prozesse beibehalten werden sollten und welche dringend geändert werden müssen.

Ebenso wie die Retrospektive kann eine Mitarbeiterbefragung zum jetzigen Zeitpunkt ein guter (erster) Ansatz sein, um Schritte hin zu Veränderungen auf dem Weg in dieses „neue Normal“ zu finden. Um jedoch zu wirklich nachhaltigem Erfolg zu kommen, sollten Mitarbeiterbefragungen regelmäßig durchgeführt werden.

Regelmäßig kann jährlich bedeuten. Im Sinne der kontinuierlichen Entwicklung kann es aber auch Sinn machen, in deutlich kürzeren Abständen (halbjährlich oder quartalsweise) kurze Einblicke in die Entwicklungen der Organisation aus Perspektive der Mitarbeiter_innen zu bekommen. Sogenannte „Pulsumfragen“, die auf wenigen, einfach zu beantwortenden Fragen basieren, bieten die Möglichkeit, regelmäßig schnelle Antworten beinahe in Echtzeit zu bekommen, wodurch entsprechend frühzeitig reagiert werden kann.

Im Kontext sozialer Organisationen bin ich jedoch skeptisch, ob die Organisationskultur zu dieser Art der Befragungen passt. So stelle ich fest, dass die Mitarbeiter_innen zwar gerne und häufig die „mangelnde Wertschätzung“ seitens der Führungskräfte beklagen, sich jedoch bei zu viel Interesse schnell „kontrolliert“ fühlen. Hier gilt es, gut abzuspüren, welcher Rhythmus für die Organisation passend ist.

Hinzu kommt, dass die Mitarbeiter_innen nicht dauernd am Schreibtisch sitzen und sich auf jede neue Befragung freuen. Im Gegenteil agieren viele soziale Organisationen am Rande der Belastungsgrenze (und darüber hinaus), so dass für dauernde Pulsbefragungen keine Zeit (und in Teilen auch keine technischen Möglichkeiten) existieren.

Außerdem geht es – um es hier erneut zu betonen – ja nicht um die Befragung als Selbstzweck, sondern um echte Verbesserung der Strukturen, Strategien, Prozesse etc., damit die Organisation ihren Zweck bestmöglich erfüllen kann.

Entsprechend sollte der Fokus bei Mitarbeiterbefragungen (nicht nur) in sozialen Organisationen auf der Ableitung von handlungsleitenden Hypothesen und der zielgerichteten Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen liegen.

Kurz: Mitarbeiterbefragungen zielgerichtet und eher selten, aber regelmäßig und vor allem verbunden mit einem Fokus auf die Umsetzung der abgeleiteten Maßnahmen.

Mitarbeiterbefragung – Fazit und Besonderheiten in sozialen Organisationen

Wie bereits angesprochen können Mitarbeiterbefragungen ein sehr gutes Instrument sein, um Feedback der Mitarbeiter_innen zu bekommen. Das gilt jedoch nur, wenn diese zielgerichtet durchgeführt, ausgewertet und die abgeleiteten Maßnahmen auch angegangen und umgesetzt werden. Denn: Mitarbeiterbefragungen sind kein Selbstzweck (und dienen auch nicht der Befriedigung von Zertifizierer_innen). Befragungen mit diesem Fokus werden als Farce aufgefasst. Eine mangelnde Beteiligung ist dann nicht verwunderlich.

In sozialen Organisationen gilt es, zum einen die Rahmenbedingungen der Arbeit nicht aus dem Blick zu verlieren (Wann besteht überhaupt die Möglichkeit der Beantwortung?) und zum anderen den Austauschaspekt über die Ergebnisse nicht zu vernachlässigen (Diskussion in Gruppen, Ableitung von Hypothesen, Umsetzung von Maßnahmen).

Abschließend (wirklich!) noch mein Plädoyer (auch wenn dieses nicht zur Länge des Textes passt ;-):

Die Mitarbeiterbefragung und der damit einhergehende Gesamtprozess sollten so schlank wie möglich gehalten werden!

Neben den begrenzten Ressourcen sozialer Organisationen geht es nicht um die Befragung an sich, sondern um die Ableitung passender Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Wertschöpfung der Organisation.


Wie steht es um Mitarbeiterbefragungen in Deiner Organisation? Sinnvoll? Lasse doch gerne einen Kommentar hier, wie es bei Dir läuft…

P.S.: Und bei Interesse stehe ich Dir natürlich gerne für die Entwicklung passgenauer Befragungen für Dein Team oder Deine Organisation zur Verfügung. Meld‘ Dich einfach und wir schauen, ob ich Dir helfen kann.

Mein OKR Set für das 2. Quartal 2022

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Ich wollte Euch ja auf dem Laufenden halten über die Entwicklungen zur Umsetzung meiner Strategie auf dem Weg in meine Selbständigkeit. Außerdem ist die Darlegung meines OKR Set ein Committment, eine höhere Verpflichtung für mich selbst (hoffentlich)… Zur Strategieumsetzung versuche ich, das Framework OKR – Objectives and Key Results – zu nutzen. Hier findest Du nähere Infos dazu, falls es Dich interessiert.

Vorab noch einmal eine kurze Darlegung, wie ich meine OKR für mich strukturiere.

Meine Struktur der OKR

Zur Erklärung der folgenden Struktur: Ich untergliedere meine Objectives nach den Fokusbereichen, die ich für IdeeQuadrat angehen will:

  1. New Social Work: Das betrifft mein Kerngeschäft. Konkret sind darunter meine Aktivitäten und Angebote zur Organisationsentwicklung zu verstehen, aber auch Themen und Ziele, die IdeeQuadrat allgemein betreffen (bspw. Geschäftsmodell, Marketing, Wertversprechen und Co.).
  2. New Social Learning: Das betrifft alle Aktivitäten zum Aufbau von offenen und internen Weiterbildungsangeboten, die ich mit IdeeQuadrat realisieren will. Ideen gibt es einige und im Zuge des 1. QT 2022 auch erste Umsetzungen, was mich sehr freut…
  3. New Social Projects: Das betrifft alles um mein zukünftiges Angebot zur Begleitung von Organisationen bei der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von Projekten und neuen Dienstleistungen wie bspw. der Begleitung bei der Entwicklung von eigenen Weiterbildungsformaten. Aller Voraussicht nach werde ich hier aus Ressourcengründen (noch) keine Priorität drauf legen (können).
  4. Private: Ich habe für mich noch einen Bereich „Private“ eingerichtet, der sich um meine persönliche Entwicklung im Rahmen der Selbständigkeit dreht. Denn, soviel steht fest: Selbständigkeit bedeutet vor allem die Übernahme von Eigenverantwortung und innere Auseinandersetzung mit den kleinen und großen Monstern in mir selbst, ohne mein sonstiges Privatleben komplett aus den Augen zu verlieren.

Zu jedem Bereich versuche ich jeweils ein Objective mit entsprechenden Key Results zu definieren. Hinzu kommen dann die Projekte, mit denen ich das Objective umsetzen und die Key Results erreichen will.

Ob das alles so gelingt und ob ich immer alle Objectives teile (vor allem zum 4. Punkt ;-), weiß ich noch nicht. Das ist meine unternehmerisch-künstlerische Freiheit, die ich mir herausnehme…

Fokus New Social Work

Objective 1: Das Wertversprechen von IdeeQuadrat ist klar definiert, so dass meine Kunden die Vorteile der Zusammenarbeit mit IdeeQuadrat unmittelbar erkennen.

Key Result 1: Ich habe meine Angebote aus den letzten zwei Jahren hinsichtlich des Kundennutzens ausgewertet.

Key Result 2: Ich habe mit mindestens drei Kunden gesprochen, warum sie meine Dienstleistung in Anspruch genommen haben.

Key Result 3: Ich habe mit mindestens drei Partner*innen gesprochen und deren Feedback eingeholt zu dem, was mein Wertversprechen ist.

Fokus New Social Learning

Objective 2: Über ein für meine Kunden passendes Angebot schaffe ich eine kontinuierlichere Einnahmesituation.

KR1: Ich analysiere mindestens drei Webseiten verschiedener Anbieter in meinem Kontext hinsichtlich deren Angebots.

KR2: Ich spreche mit mindestens drei Kund*innen über sinnvolle, längerfristige Angebote.

KR3: Ich entwickle und teste ein MVP.

Fokus New Social Projects

Das Objective bleibt auch im 2. QT 2022 noch offen…

Fokus Private

Objective 3: Es gelingt mir, Freiberuflichkeit, individuelle Bedürfnisse und Familie besser unter einen Hut zu bringen.

KR1: Ich nehme mir täglich eine Auszeit – zum Denken, Lesen, Schreiben, Bewegen…

KR2: Ich halte mir die Wochenenden möglichst frei von beruflichen Terminen.

KR3: Ich belebe ein Hobby.

Erkenntnisse zu meinem OKR Set für das 1. Quartal 2022

Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem letzten Quartal (und damit 1. QT 2022) ableiten? Was habe ich gelernt? Das will ich am Ende immer kurz darlegen, um auch reflektieren zu können, was mit die Arbeit mit diesem OKR Set gebracht hat.

Kurz zusammengefasst bin ich enorm happy, wie das erste QT 2022 gelaufen ist. Damit hätte ich nicht gerechnet. Die anfänglichen Unsicherheiten haben sich durch Anfragen, Aufträge, spannende Gespräche, mein eigenes Learning und vieles mehr sicherlich nicht aufgelöst (was sie wohl nie tun werden), aber der Flow ist da. Und das ist ziemlich geil, wenn ich dieses Wort hier mal nutzen darf…

Gleichzeitig ist ein Learning für das aktuelle 2. QT 2022, dass ich mich öfter mit meinem Zielen befassen muss. Im Zuge meines Weekly Reviews will ich in Zukunft auch immer einen Blick auf mein OKR Set werfen, um festzustellen, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Denn im alltäglichen Doing, im operativen Gehuddel, gerät das große Ganze leicht aus dem Blick.

Außerdem ist Arbeit schön und gut (und für mich tatsächlich ein enorm wichtiger Teil in meinem Leben). Aber es ist nicht alles. Die alte „Work-Life-Balance“ (im Wissen, dass auch Work mein Life ist), geht schnell verloren, wenn man sich mit voller Kraft dem Beruf widmet. Leidenschaft heißt nicht umsonst Leidenschaft… Hier hoffe ich, in den kommenden Wochen und Monaten besser zu werden.

Jetzt bin ich sehr gespannt, wie es in drei Monaten aussieht, ich werde berichten…


P.S.: Im Beitrag zu den Objectives and Key Results findest Du auch ein OKR Canvas, das ich zur Entwicklung auch meiner OKR genutzt habe.

Und hier kannst Du Dich in den Newsletter eintragen, um die Entwicklung fast live und in Farbe zu verfolgen 😉

Wie es gelingt, eine Kultur der Verbundenheit zu etablieren (und welche Rolle Verbindlichkeit dabei spielt)

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Es ist schon spannend, oder? Viele Unternehmen versuchen über Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Organisationskultur, über großartig klingende Leitbilder, intensive Mitarbeitergespräche, über aufwendige Befragungen der gesamten Belegschaft und viele weitere Aktionen die Verbundenheit zur eigenen Organisation und zur eigenen Arbeit im Alltag zu erhöhen. Der Aufwand, den viele – auch soziale – Organisationen in diesem Bereich betreiben, ist hoch. Und dann kommt eine Pandemie, eine echte, ernsthafte Krise, die alles von den Mitarbeiter*innen, den Führungskräften und der gesamten Organisation abverlangt. Und ganz aktuell kommt auch noch der Ukraine-Krieg hinzu. Dabei ist noch unklar, was uns und Ihnen abverlangt werden wird. Zweifelsohne waren die Anstrengungen in der Krise mehr als belastend. Und sie sind es immer noch. Aber: Die Verbundenheit zur Organisation in der Krise steigt – zumindest kurzfristig. Wie aber kann es gelingen, diese Verbundenheit langfristig zu behalten und eine Kultur der Verbundenheit zu gestalten?

Dazu findest Du hier einige Gedanken, die ich als Impuls auf einer Führungskräfteklausur eines großen, sozialen Trägers einbringen durfte.

Arbeiten im Krisenmodus

In meinen Gesprächen und Beratungen in vielen Organisationen konnte ich feststellen, dass Zusammenhalt und Verbundenheit im Team, in der Abteilung, in der Gesamtorganisation in dieser Krise zugenommen hat.

Die Arbeit im Krisenstab, der regelmäßige, schnelle Austausch, auch Entscheidungen, die noch vor wenigen Wochen, Monaten, geschweige denn Jahren undenkbar gewesen wären, haben gezeigt, dass es in der Krise zählt, zusammenzustehen! Die aktuellen, dramatischen politischen Entwicklungen zeigen Ähnliches auf europäisches Ebene: Eine höhere Solidarität und ein höheres Gemeinschaftsgefühl gab es selten. Selbst die totgeredete NATO ist lebendiger denn je (auch wenn ich ko… könnte, dass ein Krieg und die damit einhergehenden massiven Massnahmen Auslöser dafür sind).

Klar ist aber: In der Krise müssen, können und wollen wir gemeinsam das Chaos bewältigen!

Ja, natürlich, das ist auch pauschal und funktioniert längst nicht immer!

Natürlich gab und gibt es auch gegenteilige Entwicklungen:

Homeoffice, digitale Arbeit und digitale Führung, – gerade im sozialen Bereich waren wir das nicht gewohnt –  führten, schlecht umgesetzt, auch zu Entfremdung und offener oder versteckter Distanzierung.

Und aktuell erlebten wir in der Gesellschaft Spaltungstendenzen, ein Auseinanderdriften mehr oder minder sachlich begründeter Meinungen, angefeuert durch die Debatten um die „richtigen“ Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie.

Innerhalb der Organisationen spitzen sich die Diskussionen zu, wenn es um die einrichtungsbezogene Impfpflicht geht. Wir beobachten:

Teams driften auseinander, Menschen, die vorher gemeinsam (und oft gut) miteinander gearbeitet haben, sprechen nicht mehr miteinander, beschimpfen sich, können oder wollen die Haltungen und Meinungen der jeweils anderen Seite nicht verstehen.

Lebensrelevanz

Hier will ich aber bei den positiven Auswirkungen der Krisenbewältigung bleiben (nicht: den positiven Auswirkungen der Krise. So finde ich den Ausspruch der „Krise als Chance“ ziemlich unpassend, da die Auswirkungen zu dramatisch sind und waren).

In vielen Gesprächen und Beratungen, die ich mit Menschen und in den unterschiedlichsten Sozialen Organisationen geführt habe, wurde in den letzten Monaten sehr klar erkannt und bekannt:  

Jetzt müssen wir ran, jetzt sind wir, die Mitarbeiter*innen und die Führungskräfte im Sozialwesen, gefordert. Jetzt, in der Krise, ist es Zeit, die uns anvertrauten Menschen in unseren Organisationen, Mitarbeiter*innen, vor allem aber unsere Klient*innen bestmöglich zu schützen und zu unterstützen!

Diesbezüglich hat sich – nicht zu Unrecht – der Begriff der „Systemrelevanz“ unserer Branche etabliert.

Da kann man schon mal klatschen, finde ich… ;-/

Dieser “neue” Begriff der Systemrelevanz trifft die Aufgabe zwar schon recht genau, aber aus meiner Sicht ist er zu schwach, sowohl in der Aufgabenbeschreibung wie in seinem Aufmerksamkeitswert:

Natürlich sind soziale Organisationen dafür da, das System, die Gesellschaft am Laufen zu halten (der Hinweis auf das Triple-Mandat Sozialer Arbeit sei hier nur kurz angeführt).

In vielen Fällen und gerade in stationären Einrichtungen der Arbeit mit Menschen mit Behinderung, mit alten Menschen und auch in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geht es um mehr als Systemrelevanz.  Hier geht es um weit mehr:

Es geht um “Lebensrelevanz“!

Ja, und häufig geht es in unseren Organisationen sogar um “Überlebensrelevanz”!

Menschen in Sozialen Berufen haben in den letzten beiden Jahren mit aller Kraft versucht, das Überleben der anderen sicherzustellen. Das ist weit mehr als Systemrelevanz.

Und oft waren sie sich in dieser Aufgabe sehr nah, sehr miteinander verbunden.

Was aber liegt hinter der häufig spürbaren, häufig gewachsenen Verbundenheit in der Krise? Was bedingt, dass plötzlich alle oder zumindest fast alle Menschen in der Organisation „an einem Strang“ gezogen haben und dann auch noch in eine Richtung?

Was führt zur Verbundenheit in der Krise?

Ein Aspekt liegt auf der Hand: Im Vordergrund steht die gemeinsame Aufgabe. Der Zweck des Handelns in der Krise ist klar. In der Krise wird unmittelbar deutlich, um was es geht. Es geht um mehr als um einen beliebigen Job!

Die Diskussionen über das gemeinsame Ziel sind damit obsolet. Denn das gemeinsame Ziel liegt unmittelbar, offen-sichtlich, schmerzlich sichtbar vor uns: Krisenbewältigung! Wir müssen gemeinsam gut durch die Krise kommen!

Spannende Frage in diesem Zusammenhang:

Trägt das Fundament unserer wechselseitigen Beziehungen – auch in der Krise?

Ohne eine stabile Beziehungsbasis besteht die Gefahr, dass sich die Menschen in der Krise nicht auf das gemeinsame Ziel fokussieren, sondern einzig und allein auf die Rettung der eigenen Haut.

Hier lassen sich auch persönliche, innerfamiliäre Entwicklungen feststellen: In der Krise hat das engste Umfeld, haben Familie und Freunde Priorität. Das sind die Menschen, zu denen man die engste Beziehung hat.

Hier ein kleiner Filmausschnitt, den Du vermutlich kennst: Es ist die Schlussszene aus dem Film „Der Club der toten Dichter“.

Der Clip zeigt, wie stabil das Fundament der Beziehung der Schüler zu ihrem Lehrer ist. Ohne diese Basis, ohne die tiefe, innige Beziehung wäre niemand aufgestanden! Niemand hätte sich den formalen Vorgaben, den Regeln widersetzt!

Der Filmausschnitt zeigt aber auch, dass es manchmal notwendig, ja, unumgänglich ist, Dinge anzusprechen, die nicht der Regel, nicht der Kultur, nicht dem Mainstream entsprechen.

Nur dann, wenn es möglich ist, Dinge anzusprechen, die im tiefen Inneren verborgen liegen, kommt alles zur Sprache, was wichtig ist, um eine Situation, eine problematische Aufgabe, ja auch eine Krise gemeinsam zu bewältigen.

Wie lässt sich Verbundenheit über die Krise hinaus in der täglichen Arbeit gestalten?

Für den Arbeitsalltag als Führungskraft ist es wichtig, von Machbarkeitsfantasien Abstand zu nehmen:

Verbundenheit ist nichts, was sich gesteuert herstellen lässt!

Beziehung lässt sich nicht verordnen – unabhängig von der Position in der Hierarchie, unabhängig von “formalen” Macht.

Führungsaufgabe ist vielmehr, die Bedingungen und Strukturen zu gestalten, in denen Beziehung, in denen Verbundenheit erlebt und neu gelebt werden kann!

Und eine der Grundbedingungen für gelingende Beziehung der Menschen untereinander ist es, psychologisch sichere Gesprächsräume – Dialogräume zu schaffen.

Mit Dialogräumen – ich habe das im verlinkten Beitrag ausführlich beschrieben – meine ich Räume und Zeiten, in denen sich die Mitarbeiter*innen psychologisch sicher fühlen, Dinge anzusprechen, die ggf. nicht dem Mainstream, ggf. nicht der offiziellen Linie der Organisation entsprechen.

In derartigen Räumen und Zeiten muss es möglich sein,

  • Fragen zu stellen,
  • neugierig zu sein,
  • eigene Fehler zuzugeben,
  • unbequeme Informationen zu teilen,
  • oder auch Position gegen einen Vorschlag einer hierarchisch übergeordneten Person, Gruppe oder Stelle zu beziehen.

In den Dialogräumen ist es notwendig, echtes Zuhören gelingen zu lassen.

Zuhören bedeutet hier mehr, als den Fokus (nahezu) ausschließlich auf Daten und Fakten zu legen. Natürlich ist es auch im Bereich der “Daten und Fakten” wichtig, bewusst Unterschiede und Widersprüche zum Gewohnten wahrzunehmen und zu versuchen, diese mit gewohnten Mustern zu verknüpfen. Ganz klar: die sachliche Auseinandersetzung über Daten und Fakten öffnet das (logische) Denken. Dies ist aber nur die erste Ebene.

Die relevante (und leider oft zu wenig beachtete) Ebene des Zuhörens ist die Öffnung des Fühlens. Hier kommt Empathie ins Spiel und der Versuch, den Anderen wirklich, man könnte auch sagen: vollständig wahrzunehmen.

Erst wenn das Konkurrenzdenken überwunden wird, wenn das gemeinsame Lernen in den Vordergrund rücken, können die Beziehungen der einzelnen Stakeholder und das größer werdende Vertrauen einen echten Dialog auf Augenhöhe und – in seiner Folge –  vor allem gegenseitiges Verstehen ermöglichen.

Aus der Öffnung des Fühlens und des damit einhergehenden gegenseitigen Verständnisses der Menschen können dann neues Handeln, neue Ideen, echte Weiterentwicklung, tatsächlicher Fortschritt entstehen.

Hier wiederum der Hinweis auf die Theorie U, in der dieses Vorgehen umfassend dargelegt ist.

Konkret bedeutet dies, dass es – vor allem, aber nicht nur in konfliktbehafteten Situationen – Regeln bedarf, an die man sich in den Gesprächen verbindlich halten muss. Es gilt, den Mitgliedern eines Teams vorab definierte und damit für alle gleiche Redeanteile zuzugestehen – unabhängig von der hierarchischen Position.

Das kann in gesonderten Runden sein, in explizit einberufenen, zu bestimmten Themen stattfindenden Dialogräumen. Das kann aber auch im Alltag, bspw. in den gemeinsamen Teamsitzungen sein.

Hier lohnt sich eine Abwandlung des für Paare konzipierten „Zwiegesprächs, das nach festen Regeln jedem Partner feste und gleiche Redeanteile zuweist, um in verzwickten Situationen wieder zueinander finden zu können.

Agile Arbeit in einer Kultur der Verbundenheit verbindlich gestalten

Abschließend lohnt sich noch einen Blick auf die aktuellen Diskussionen rund um agiles Projekt-Management, agile Führung und die Arbeit in zunehmend selbstbestimmt agierenden Teams:

In den aktuell alle Bereiche unseres Lebens tangierenden dynamischen und komplexen Veränderungen, auf privater, beruflicher wie sich auf gesellschaftlicher Ebene, ist es entscheidend, schnell und anpassungsfähig zu agieren.

Die Entwicklungen der Pandemie in den letzten beiden Jahren haben die sowieso schon vorherrschende Veränderungsgeschwindigkeit auf noch mal ein neues Level gehoben und der Krieg in der Ukraine zeigen, dass wir ganz bestimmt nicht in ruhigere Zeiten kommen werden.

Und gerade in diesen komplexen Settings, wo der Weg zum Ziel ebensowenig klar ist wie das Ziel selbst, lohnt sich agiles Arbeiten.

Voraussetzung für agile Arbeit sind (mindestens) zwei Aspekte, die ich hier betonen will:

Zum einen ist Kern agilen Arbeitens, sich in kurzen Iterationen, Schleifen lernend voranzubewegen.

Nicht mehr das vorab definierte Ziel steht im Vordergrund und muss auf Teufel komm raus erreicht werden, sondern die Anpassung an sich verändernde Bedingungen und das schnelle Nachsteuern und Reagieren auf neue Entwicklungen ist relevant.

In der Projekt- und Angebots-, aber auch in der Organisationsentwicklung reden wir von Iterationen, die nur ein paar Wochen umfassen, in der Strategieentwicklung und -umsetzung können die Schleifen auch Quartale oder noch etwas längere Zeiträume umfassen. Wichtig ist, nach den Zeitintervallen Retrospektiven durchzuführen und gemeinsam zu lernen!

Zum anderen ist relevant, dass die für die selbstbestimmte Arbeit innerhalb der Zeitintervalle festgelegten Bedingungen, Regeln und Vorgaben verbindlich von allen Beteiligten eingehalten werden. Dabei stellen sich bspw. folgende Fragen, die vorab zu klären sind:

  • Wann werden die Fortschritte überprüft?
  • Wann finden Retrospektiven statt?
  • Wann werden Ergebnisse geteilt?
  • Über welches Medium kommunizieren wir unsere Arbeit?
  • Wer entscheidet über Änderungen?

All dies ist vorab zu klären und dann verbindlich einzuhalten.

Das heißt nicht, dass diese Regeln und Vorgaben in Stein gemeißelt sind und nicht mehr verändert werden dürfen. Aber für einen wiederum vorab definierten Zeitraum müssen sich alle Beteiligten verbindlich an die vorab definierten Regeln halten. Sonst kommt es zur Beliebigkeit.

Beliebigkeit aber macht es unmöglich, Fortschritte und Auswirkungen der Arbeit auf bestimmte Ursachen zurückzuführen. Beliebigkeit führt dazu, dass irgendwer irgendwas irgendwie macht und daraus vielleicht – vielleicht aber auch nicht – Entwicklung geschieht.

Interessant ist noch ein Blick auf die sog. Scrum-Werte, also Werte, die grundlegend für ein „Funktionieren“ der Methode Scrum sind und für ein guten Umgang miteinander und für (psychologische) Sicherheit sorgen sollen. Die fünf Scrum-Werte sind:

  • Mut,
  • Fokus,
  • Offenheit,
  • Respekt und
  • Verbindlichkeit.

Damit soll der angesprochenen Beliebigkeit innerhalb der selbstbestimmt agierenden Teams, die die Methode Scrum nutzen, entgegnet werden.

Denn Beliebigkeit führt vor allem dazu, dass die Verbundenheit zur Arbeit und zu den Menschen im beruflichen Umfeld leidet.

Wenn ich mich nicht mehr auf das verlassen kann, was vorab ausgemacht wurde, verliere ich das Vertrauen – in die Menschen, die Arbeit, die Organisation. Und verloren gegangenes Vertrauen untergräbt jede Beziehung und damit die Annäherung an Verbundenheit!

Sehr schmerzlich haben wir das, diesen Bruch und das damit einhergehende fehlende Vertrauen in den letzten Wochen auf internationaler Ebene erleben dürfen. Alle vorab definierten Regeln wurden gebrochen.

Damit wurde jegliche Verhandlungsoption aufgegeben und jegliches Vertrauen zerstört.

Eine Kultur der Verbundenheit entwickelt sich durch Verbindlichkeit

Abschließend will noch einmal zusammenführend:

Die Herstellung von Verbindlichkeit, das Einhalten von Vorgaben, gilt – neben dem agilen Arbeiten – auch für die vorab beschriebenen Gesprächsräume. Sie machen es möglich, sich trotz auch massiver Meinungsverschiedenheit wieder näher zu kommen, wieder zu einer gemeinsamen Verbundenheit zu kommen. 

Zu dem, was wirklich zählt!

Verbundenheit braucht Verbindlichkeit gegenüber vorab gemeinsam definierten Regeln und Strukturen, die einen Rahmen schaffen, wie wir miteinander sprechen und Zusammenarbeit gestalten wollen. Daraus entwickelt sich eine trag- und zukunftsfähige Kultur der Verbundenheit in Organisationen.


P.S.: Was tust Du in Deiner Organisation, um eine Kultur der Verbundenheit herzustellen? Schreib es doch kurz in die Kommentare, würde mich sehr freuen!

Und wenn Du auf der Suche bist nach jemandem, der einen inspirierenden Impuls auf der nächsten Veranstaltung Deiner Organisation hält, dann sprich mich gerne an und wir schauen, was ich für Dich tun kann.

Wie neues Lernen und die Gestaltung der Zukunft mithilfe der Theorie U gelingen kann

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Im Rahmen des letzten #BarcampFR22, dem Barcamp Lernräume, das am 19.03.2022 endlich wieder in Präsenz an der PH Freiburg stattfinden konnte, durfte ich eine Session beisteuern. Die mich leitenden Gedanken und Fragen will ich hier mit Euch teilen. Und für die ganz Eiligen unter Euch: Es ging um die Frage, wie es gelingen kann, neues Lernen und überhaupt Zukunft mithilfe der Theorie U von Otto Scharmer zu gestalten.

Hintergrund der Fragestellung war die Feststellung, dass es in Organisationsentwicklungsprozessen in der Regel um die reaktive Lösung von akuten Problemen geht.

https://twitter.com/HendrikEpe/status/1505077467723317253

Sehr selten aber geht es um die proaktive Gestaltung von etwas Neuem – aus der entstehenden Zukunft heraus. Das klingt vielleicht noch etwas unkonkret? Deswegen hier ein paar Erläuterungen, wenn auch nicht umfassend, dazu:

Was ist die Theory U?

Die Theory U wurde vom deutschen Aktionsforscher Otto Scharmer, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrt und forscht, entwickelt.

Der Impuls zur Entwicklung der Theory U basiert auf der Erfahrung von Scharmer, dass verhältnismäßig viele Veränderungsprozesse nicht gelingen. Selbst die aktuell stark propagierte (und auch aus meiner Sicht hochgradig relevante) system(theoret)ische Sichtweise auf Veränderungsprozesse scheint oftmals nicht mehr ausreichend zu sein, um echte Veränderung nachhaltig zu gestalten.

Ausgangspunkt der Überlegungen zur Theory U ist der „blinde Fleck“, der den meisten Veränderungsprozessen zugrundeliegt. Scharmer verdeutlich dies am Werk eines Künstlers, dessen Werk man aus der Perspektive des Ergebnisses (Bild) oder des Entstehungsprozessen (man kann den_die Künstler_in beim Malen beobachten) betrachten. Der Zeitpunkt jedoch, an dem der_die Künstler_in zu malen beginnt (die leere Leinwand, Zeitpunkt der „Intuition“) bleibt als blinder Fleck verdeckt.

Für Veränderungsprozesse gilt analog, dass das, was zu tun ist, gut zu beobachten ist, ebenso das „wie“. Aber der innere Ort, die Quellen unseres kreativen Denkens und Handelns, bleiben verdeckt.

Dieser blinde Fleck und damit die Idee, sich aus diesen „inneren Quellen“ heraus in die „im Entstehen begriffene Zukunft“ einzufühlen, ist Kern der Theorie U.

Otto Scharmer hat für dieses Einfühlen in die im Entstehen begriffene Zukunft den Begriff des Presencing erfunden – eine Wortschöpfung aus „presence“ (dem „ganz präsent“ sein) und dem „sensing„, dem Spüren.

Presencing – wie kommen wir dorthin?

Die Theorie U nennt sich Theorie U, weil der Prozess einem U gleicht:

Es gibt die linke Seite des U, in dem es – kurz gefasst – darum geht, nicht mehr „einfach“ auf Herausforderungen zu reagieren und damit die altbekannten (und oftmals hinderlichen) Muster der Vergangenheit zu wiederholen.

Über die tiefgehende, neugierige Beobachtung und das echte Einfühlen in die Situation, die Menschen, die Organisation oder die anstehende Herausforderung wird es – so Scharmer – möglich, die eigenen Denkmuster, Haltungen und vorschnellen Lösungsoptionen wirklich infrage zu stellen und Neues zu entwickeln.

Erst dann, wenn es gelingt, sich mit dem Quellort – dem inneren Ort – zu verbinden, von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann, wird es möglich, die Herausforderungen der Zukunft adäquat und mit nachhaltigen Optionen anzugehen. Diesen Ort bezeichnet Scharmer als presencing.

Die rechte Seite des U hingegen nimmt dann die Praktiken des Prototypings, des Entwickelns und „ins Leben bringen“ der Optionen, die sich auf der linken Seite durch „die Praktiken des Öffnen“ gezeigt haben, in den Blick.

Wiederum sehr kurz gefasst geht es hier darum, die Optionen zu verdichten um darüber ins Handeln zu kommen, Prototypen des Neuen zu entwickeln und auszuprobieren, oder: Das Neue ins Leben zu bringen.

Zusammenfassend in den Worten von Otto Scharmer:

„Theory U is three things (1) a framework, (2) a method, and (3) a movement.“

(Scharmer, 2018, 131)

Wie gesagt, diese Zusammenfassung ist viel zu kurz, um auch nur annähernd abbilden zu können, wie umfassend und tiefgehend die Auseinandersetzung mit der Theorie U sein kann.

Dazu habe ich unten einige Quellen verlinkt, die bei der tiefergehenden Auseinandersetzung dienlich sein können.

Zwei Herausforderungen der Theorie U

Im Folgenden will ich auf die Thesen eingehen, die ich im Barcamp zugrunde gelegt habe:

In Fragen der Organisationsentwicklung, der Veränderung von sozialen Organisationen, von Schule und dem Bildungssystem als Ganzes, in der Transformation auch anderer gesellschaftlicher Systemen (Wirtschaft, Gesundheit, Landwirtschaft, Politik…) bewegen wir in der Regel nur auf den „sichtbaren“ Ebenen der Veränderung:

Konkret a) reagieren wir in den meisten Fällen, ohne uns tiefergehende Gedanken gemacht zu haben. Seltener arbeiten wir b) an den Strukturen, die zu verändern sind. In noch selteneren Fällen arbeiten wir an c) den Prozessen, wodurch zumindest wirklich anderes Handeln notwendig werden würde. Und in den seltensten Fällen gelingt es uns, d) unser Denken, unsere Annahmen von Handeln, von Zukunft, von dem, was richtig ist, wirklich Infrage zu stellen. Und die Theorie U geht noch eine Ebene tiefer: In beinahe keinem Fall gelingt es und e) uns mit der im entstehen begriffenen Zukunft zu befassen und davon ausgehend ins Handeln zu kommen.

Daraus folgt, dass viele Veränderungsprozesse in Organisationen, Systemen und der Gesellschaft, genauso aber auch in unserem ganz individuellen Handeln scheitern (ja, auch individuell ist die Betrachtung der Theorie U hoch spannend), da wir nur an der Oberfläche der Herausforderungen kratzen, hier ein wenig Strukturen und dort ein paar Prozesse verändern. Aber schon unser Denken und damit die Option, dass es vielleicht komplett anders sein könnte, wird vernachlässigt.

Und auf die letzte Ebene, die Verbindung, das Presencing, kommen wir so gut wie nie.

Und ganz ehrlich – mir geht es in meinem Leben ganz genau so. Ich bleibe im Alten (das nicht immer nur schlecht sein muss) verhaftet, nehme die Lösungen aus der Vergangenheit für Probleme der Zukunft und wundere mich kontinuierlich, warum es denn so wenig voran geht…

Und gleichzeitig – darüber haben wir dann in der Session ausführlich gesprochen – bleibt die Frage:

Wie kommen wir denn dahin, auf diese fünfte Ebene, die Ebene des Presencing? Wie kommen wir zum „Quellort – unserem inneren Ort – von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann.“

In der Diskussion auf dem Barcamp wurde deutlich, dass es individuell, also als Einzelperson, noch gut gelingen kann:

Meditation, Ruhe, Natur, Hineinspüren in die eigenen Gefühlswelten usw. sind hier gute Optionen, die wirkungsvoll sein können, sofern man den Mut aufbringt, hinschauen und -fühlen zu wollen.

Deutlich herausfordernder ist dies jedoch bei Fragen des „System change“ – der Transformation ganzer Systeme und damit auch der wirklich tiefgehenden Organisationsveränderung. Wie schon angedeutet:

Die Führung der Organisation sieht zwar Probleme, bewegt sich (aus oftmals nachvollziehbaren Gründen) aber nur auf den oberen Ebenen des Prozesse:

Es erfolgen unmittelbare Reaktionen auf Probleme, manchmal erfolgt Strukturveränderung, manchmal auch die Entwicklung neuer Prozesse und Vorgehensweisen, selten kommt es zu wirklich neuem Denken und kaum kommt es zum Hinspüren in die im Entstehen begriffene Zukunft.

Herausforderung 1: Verhaften in bekannten Logiken

Dieses Verhaften in den bereits bekannten Denk- und Handlungslogiken bezeichne ich als Herausforderung 1: Wir kommen auf der linken Seite des U gar nicht in die Tiefe, um die eigentlichen Probleme anzugehen.

Und das liegt gar nicht an den nicht vorhandenen Methoden, auch kollektiv auf diese Ebenen vordringen zu können. So finden sich unter diesem Link bspw. einige der Tools, die im Presencing-Institut angeboten werden

Das Problem beginnt auf den Ebenen der Entscheider_innen, die ihr „Problem“ gelöst haben wollen. Aus Ressourcengründen soll dies möglichst schnell gehen, was – insbesondere in sozialen und Bildungseinrichtungen angesichts der angespannten Finanzierungssituation sowie operativem Druck – auch nachvollziehbar ist.

Hinzu kommt, dass wir alle – und insbesondere Entscheider_innen in Organisationen ebenso wie in der Politik – in die im jeweiligen System vorherrschenden Systemlogiken, Muster, Strukturen, Regeln, Rituale… eingebunden sind. Kurz gesagt:

Das System akzeptiert nicht, sich in der jeweiligen Position anders zu verhalten. Sich anders zu verhalten wäre aber notwendig, um neue Wege hin zu echten Lösungen zu entdecken.

Beide Punkte – Ressourcenknappheit und Systemlogiken – zeigen aber auch auf, dass es nicht die „Menschen“ sind, die „verbohrt, traditionell, bürokratisch, langweilig, mutlos…“ sind, sondern dass es die Rolle im System ist, die den Menschen – vermeintlich – kaum andere Handlungsoptionen eröffnen. Anders gesagt:

Nicht der Chef ist doof, sondern in der Rolle des Chefs bleibt dem Chef – vermeintlich – nur diese eine Handlungsoption.

Damit bleibt die Herausforderung 1, wirklich in die Tiefe des U, hin zum Presencing, zu kommen.

Herausforderung 2: Die linke Seite des U können wir, die rechte Seite weniger

Kernkompetenzen der Arbeit mit Menschen und damit auch sozialer Arbeit ebenso wie Arbeit in Bildungskontexten ist (bzw. sollte sein), sich auf andere Menschen und Gruppen einlassen zu können. Wir können „zuhören“ (wobei meine Frau da manchmal andere Auffassungen hat als ich…), wir kennen den Begriff Empathie und wissen, dass bspw. Carl Rogers Empathie als eine der Grundhaltungen gelingender Beratung definiert hat (neben Kongruenz und Akzeptanz).

Wir kennen sogar systemisches Denken und Handeln, da sich nur über die Betrachtung des Gesamtsystems, in dem Menschen eingebunden sind, nachhaltige Veränderungen erzielen lassen.

Ich will damit sagen, dass es uns – sofern die Bedingungen, Zeit und Ressourcen dafür gegeben sind – „leicht“ fällt, sich auf die linke Seite des U einzulassen, Methoden der Öffnung zu praktizieren, in die Tiefe von Menschen und Systemen zu spüren usw. Das sollten wir gelernt haben.

Aber die rechte Seite fällt uns schwer.

Ich will gar nicht sagen, dass wir Neues gar nicht entwickeln können. In Beratungen zur Entwicklung von Innovationsmanagementsystemen frage ich immer gerne danach, was in den letzten Jahren in den Organisationen Neues auf die Beine gestellt wurde. Und es ist sehr augenöffnend, festzustellen, dass es eine ganze Menge neuer Projekte und Angebote ebenso wie Entwicklungsinitiativen gab.

Gerade soziale Organisationen sind immer wieder herausgefordert, neu auf sich verändernde Umwelten zu reagieren. Die aktuellen Situationen rund um die Pandemie ebenso wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine führen uns die Handlungsfähigkeit sozialer Organisationen und deren Fähigkeit, sich schnell auf neue Situationen einzustellen, eindrücklich vor Augen.

Aber die aktive Gestaltung „aus der entstehenden Zukunft heraus“ fällt uns schwer.

Das hat zum einen mit kaum vorhandenen Mitteln für die Zukunftsgestaltung zu tun: Soziale Organisationen haben kaum Budget, so etwas wie F&E – „Forschung und Entwicklung“ – aktiv zu betreiben. Nur größere Organisationen und Verbände haben entsprechende Ressourcen, auf die sie zugreifen können. Es fehlen sog. „Slack Ressources„, Puffer, die Neuentwicklungen aus der Organisation heraus möglich machen.

Hinzu kommt aber, dass wir es in sozialen Organisationen eher „gewohnt“ sind, zu reagieren, anstatt agil zu agieren. Die Muster der Gestaltung der Zukunft basieren auf langfristig geplanten, oftmals durch Projektgelder finanzierten Vorhaben, die wenig Offenheit für die aktive, wirklich anpassungsfähige Gestaltungen von Angebots- ebenso wie Prozess- und Strukturinnovationen lassen.

Gerade in der Projektarbeit muss das Ergebnis des Projekts vorab definiert und mit Meilensteinen hinterlegt werden. Agiles Arbeiten ist aber anders. Agiles Arbeiten setzt nicht vorab fest, was genau gestaltet werden bzw. wie das Ergebnis des Projekts am Ende aussehen soll.

Vielmehr geht es in der agilen Logik um die Gestaltung der Innovation im laufenden Prozess, um die Anpassung des Ergebnisses an die sich verändernden Bedarfe der Nutzer*innen. Nicht umsonst spricht Scharmer in der Theorie U vom „Prototyping“. Und Prototypen sind per Definition ein erster, zwar funktionsfähiger, aber immer weiterzuentwickelnder Versuch, Angebote, Prozesse, Geschäftsmodelle und ganze Organisationen neu zu gestalten.

Hier – in der Gestaltung dieser Prototypen – haben wir noch deutliche Luft nach oben. Es muss nicht feststehen, was am Ende herauskommt. Agilität – egal in welchem Kontext – bedeutet Anpassungsfähigkeit. Und damit auch die Anpassungsfähigkeit des Ergebnisses. Dieses muss nicht so aussehen, wie wir es uns als Expert_innen vorstellen, sondern so, dass es den Bedarfen der Nutzer_innen bestmöglich entspricht. Das gilt für Produkte, Angebote, Prozesse ebenso wie für die Transformation der Gesamtorganisation: Erfüllt die Art, wie die Herausforderung gelöst werden soll, die Bedarfe und den eigentlichen Zweck besser, als das bestehende Vorgehen?

Zusammenfassend Herausforderung 2: Wir müssen (weiter) lernen, agil im Besten Sinne und damit anpassungsfähig aus der entstehenden Zukunft heraus zu agieren, anstatt ausschließlich auf die auf uns einströmenden Herausforderungen zu reagieren.

Fazit, oder: Was tun, um Zukunft aus sich selbst heraus zu gestalten?

(c) Hendrik Epe

Abschließend will ich ein paar „Tipps“ mitgeben, wie es gelingen kann, „ins U abzutauchen“ und damit „Presencing“ zu ermöglichen sowie die Zukunft auch sozialer Organisationen aktiv, agil und damit anpassungsfähig aus der entstehenden Zukunft heraus zu gestalten.

  • Die Möglichkeiten sehen

Die aktuellen Herausforderungen lassen einen schnell in Resignation verfallen: Klima, Corona, Krieg und dann noch die zähe Entwicklung der eigenen Organisation führen zum Gefühl der Machtlosigkeit.

Wenn man den Blick jedoch wendet, zeigt sich ein anderes Bild: An vielen, kleinen und größeren Stellen zeigt sich, dass unglaublich viel Positives auf dieser Welt geschieht. Wenn wir den Blick abwenden von den Horrornachrichten der Welt hin zu dem, was du, ich und damit jede_r Einzelne gestalten kann, eröffnen sich Möglichkeiten des Handelns.

Das „Gelassenheitsgebet“ kann hier helfen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

  • Aus der Ferne betrachten

Um die Dinge zu sehen, die Du ändern kannst, hilft es oftmals, einen Schritt zurückzutreten und die Dinge, das System, die Organisation usw. aus der Ferne zu betrachten.

Wir sind oftmals gefangen in unserem täglichen Hustle, dass es uns schwer fällt, Situationen mit Abstand zu bewerten. Also:

Zurücktreten, innehalten, aus der Ferne betrachten, hinspüren, fühlen und reflektieren. Ach ja, das ist ja die linke Seite des U… 😉

  • Schreiben

Eine der (nicht nur) für mich wirkungsvollsten Strategien, um in die Tiefe zu gehen und meine eigenen Gedanken zu reflektieren, ist es, zu Schreiben. Deswegen auch der Blog hier 😉 Aber ernsthaft:

Schreiben verlangt, den eigenen Ideen und Gedanken auf den Grund zu gehen und diese zu sortieren. In den Ressourcen, die Scharmer für die Arbeit mit der Theorie U zur Verfügung stellt, gibt es das „Guided Journaling„. Es geht darum, angeleitet und an Fragestellungen orientiert, schnell und kompakt den eigenen, oft unbewussten Gedanken auf die Spur zu kommen. Vielleicht ist das ja eine Anregung, die auch Dir hilft.

  • Mutig handeln

Wenn die eigenen Möglichkeitsräume ausgelotet wurden (und es gibt immer Möglichkeitsräume), sollten diese genutzt werden. Das kann im ganz Kleinen beginnen:

  • Leave it

Wenn Du feststellst, dass gar nichts geht, kannst Du immer den Ort verlassen. Ja, ich weiß, mit allen Rahmenbedingungen, Herausforderungen, Unsicherheiten. Aber:

Wir haben die Freiheit, zu handeln. Wir müssen nur mit den Konsequenzen umgehen können. Das kostet noch mehr Mut und Überwindung. Einer meiner Lieblingssätze dazu lautet:

„Everything you’ve ever really wanted is on the other side of fear!

  • Gestalte das Neue

Wo, in Deinem Leben, Deiner Organisation, dem System, dass Du verändern willst, kannst Du mit einfachen Mitteln, ohne neue Ressourcen und in Deinem Verantwortungsbereich Neues gestalten? Auch hier lohnt es sich wieder, das Einfache in den Fokus zu nehmen:

Kannst Du das nächste Teammeeting anders gestalten? Kannst Du vielleicht mit einer Meditation beginnen? Kannst Du die Agenda anders vorbereiten? Müssen immer alle Menschen dabei sein, oder sind wirklich die Menschen bei der Teamsitzung, die etwas beizutragen haben?

Was geht einfach anders?

  • Lasse los und beginne zu verführen

Unsere Art, wie wir Arbeit, Organisationen und in vielen Teilen auch die Gesellschaft gestalten, basiert auf Steuerungsfantasien:

Wir haben die Fantasie, dass wir – wenn wir nur genug Pläne machen und lange Vorbereitungszeiten in Kauf nehmen, erfolgreich handeln können. Spätestens aber die Pandemie, der Krieg und die Klimakatastrophe haben gezeigt, dass Steuerung im klassischen Sinn nicht mehr möglich ist. Und auch die Arbeit mit Menschen in sozialen Organisationen, operativ an der Basis oder als Führungskraft von Teams und ganzen Bereichen, zeigt, dass Steuerung nicht funktioniert.

Anstatt Steuerung geht es vielmehr darum, das System in die gewünschte Richtung zu verführen.

Das gelingt über die Betrachtung der Herausforderung („Wo ist das Problem?“) und die Aufstellung von Hypothesen („Um das Problem zu lösen, können wir versuchen, XY zu tun!“). Die Hypothese ist dann über einen bestimmten Zeitraum zu testen und nach dem Zeitraum zwingend zu reflektieren: Haben sich positive Entwicklungen ergeben? Wenn nicht: Was können wir ändern?

Inspect and adapt, wie es im agilen Management so passend heißt.

Jetzt aber genug geschrieben. Ich hoffe, es waren einige interessante Gedanken dabei, die Dich auf dem Weg in die Zukunft aus der entstehenden Zukunft heraus begleiten können.

Und gerne stehe ich Dir zur Gestaltung des Neuen aus der Zukunft heraus zur Verfügung – für Dein eigenes Teams und Deine eigene Organisation – in der Hoffnung, unsere Systeme wirksam und zukunftsfähig zu gestalten. Freue mich auf Deinen Kontakt!

Und wenn die Informationen Dich in Deiner Arbeit weitergebracht haben freue ich mich, wenn Du mir davon berichtest – bspw. hier in einem Kommentar...

Quellen:

Beratung der Zukunft, BANI und die Kultur der Digitalität – ein paar Gedanken

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Der folgende Beitrag ist eine bearbeitete Version meiner Keynote zur Beratung der Zukunft, die ich auf dem Fachtag „Blended Counseling – Beratung, die ankommt!“ zum Modellprojekt HeLB – Helfen. Lotsen. Beraten. vom donum vitae Bundesverband am 16. März 2022 in Berlin halten durfte.

Ich will die Grundthese meines Impulses direkt an den Anfang stellen und dann erläutern, wie ich zu dieser These komme.

Meine These, die dem Impuls zugrunde liegt, lautet:

„Beratung der Zukunft verlangt nach Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!“

Jetzt reiben Sie sich vielleicht verdutzt die Augen und wundern sich über diese doch etwas triviale Aussage?!

Wirksame Beratung der Zukunft braucht Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!

Denn:

Wie sonst soll wirksame Beratung erfolgen?

Es ist doch selbstverständlich, dass die Beratenden über Resilienz verfügen müssen und damit über Fähigkeiten, sich von den oft emotional belastenden Beratungsgesprächen zu erholen bzw. gesund auf neue Herausforderungen, Themen und Veränderungen zu reagieren?

Resilienz kann zudem als Ziel von Beratung gedacht werden: Wirksame Beratung sollte unter anderem darauf abzielen, die Anpassungsfähigkeit des/der Beratenden auf belastende Situationen zu erhöhen.

Es ist doch auch selbstverständlich, dass wirksame Beratung nur durch Empathie gelingen kann. Schon Carl Rogers hat mit Blick auf die personenzentrierte Gesprächstherapie Empathie, das einfühlende Verstehen und nicht wertende Eingehen, als eine der zentralen Grundhaltungen beschrieben (vgl. Rogers, C.: Der neue Mensch, 1981).

Und es ist auch selbstverständlich, dass der Kontext, die Lebenswelten und Systeme, in denen die zu Beratenden eingebunden sind, nicht außer acht gelassen werden können und dürfen. Die isolierte Betrachtung nur der Person oder gar nur einzelner ihrer Verhaltensweisen lässt enorme Potentiale ungenutzt. Die Betrachtung der Kontextbedingungen jedoch kann dazu führen, dass das, was eben noch gestört wirkte, plötzlich genutzt werden kann.

Und auch der letzte Punkt – die Transparenz – ist nun wirklich nichts Neues in der Beratung. Erfahrene Berater_innen treffen sehr spontane Aussagen, Einschätzungen häufig „aus dem Bauch“ heraus, sie nutzen ihre Intuition, und das auch, wenn bestimmte Gründe vorliegen, die eine anders basierte Entscheidung nahelegen. Und dies, die auf Intuition basierte Entscheidung, sollte immer möglichst transparent dargelegt werden.

Mit den vier Begriffen der „Resilienz“, „Empathie“, „Kontext“ und „Transparenz“ sind Basiskompetenzen der Beratung beschrieben.

Aber was hat das jetzt mit der Zukunft, was hat das mit der digitalen Transformation bspw. der Kultur der Digitalität zu tun?

Die Zukunft ist BANI

Zunächst will ich dazu auf „die Zukunft“ schauen, sofern das überhaupt möglich ist.

Die meisten von Ihnen kennen sicherlich die Abkürzung „VUCA“ oder werden schon einmal von der VUCA-Welt gehört haben, in der wir leben?

Nur ganz kurz will ich VUCA beschreiben, dass die Welt, in der wir leben, von V = Volatilität, also schnellen Veränderungen, von U = Unsicherheit, von C = Complexity, Komplexität und von A = Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, geprägt ist.

Das Konzept und die dahinterliegenden Ideen sind immer noch aktuell und richtig, aber – auch wenn sie herausfordernd genug sind – sie reichen nicht mehr aus. Deswegen will ich Ihnen eine neue Abkürzung mitgeben, die aus meiner Sicht aktueller denn je ist. Die Abkürzung lautet BANI!

BANI steht für die englischen Worte

  • B:rittle (brüchig),
  • A:nxious (ängstlich, besorgt),
  • N:on-linear (nicht-linear) und
  • I:ncomprehensible (unbegreiflich)

Brittle = Brüchig:

Brüchig meint, dass von außen oftmals nicht feststellbar ist, dass Systeme, Häuser, Brücken, Staaten uvm. an die Belastungsgrenze kommen und plötzlich zusammenbrechen. Ein sprödes und brüchiges System in einer BANI-Welt kann die ganze Zeit signalisieren, dass es gut ist, dass es stark ist, dass es in der Lage ist, weiterzumachen, auch wenn es kurz vor dem Zusammenbruch steht. Sie kennen die Redensart „Alles gut!“ – die ich im Übrigen selbst sehr oft benutze…

Beispiele für die Brüchigkeit unserer Welt lassen sich an vielen Stellen finden. Brüchig sind bspw. Monokulturen, die durch den Befall eines einzelnen Schädlings von jetzt auf gleich zusammenbrechen. Ich selbst erlebe das gerade in meiner Heimat, dem Sauerland, geprägt von Fichtenmonokulturen, die durch den Befall des Borkenkäfers innerhalb von kürzester Zeit komplett absterben.

Borkenkäferwald im Sauerland (Bild von Lothar Epe)

Brüchig sind aber auch Werte, die als bislang feststehend galten. Der Krieg in Europa führt uns das vor Augen: Ja, die von Russland ausgehende Spannung an der ukrainischen Grenze war hoch, aber wer hätte wirklich mit einem Angriffskrieg der Russen gerechnet? Der Frieden in Europa war doch stabil? Und im individuellen Kontext zeigt sich, dass die Pandemie in vielen, eigentlich als gesund zu betrachtenden Menschen, die Belastungen so hochgefahren haben, dass diese – und hier insbesondere Frauen – zusammenbrechen. Coronabedingte Belastungsstörungen sind das Stichwort, mit dem Sie sicherlich privat oder in ihrer Arbeit konfrontiert sind.

Anxious = Ängstlich

Ängstlich meint, dass ein Gefühl der Hilflosigkeit um sich greift und – egal, was wir tun – es immer das Falsche sein kann. Jede Entscheidung kann potenziell katastrophal sein. Angst führt zu Passivität und Lähmung – und zur Verzweiflung:  keine Entscheidung treffen – eine falsche Entscheidung treffen. Und die Herausforderungen der aktuellen Zeit sind ja wirklich beängstigend. Es reicht die drei großen K zu nennen – Corona, Krieg und Klimakatastrophe 😉

Und diese Angst wird permanent geschürt durch das Medienumfeld und hier insbesondere die digitalen Medien: Ein Blick in die Trends auf Twitter lässt einen aufschrecken: Was ist wieder passiert? Wo, irgendwo auf der Welt, kommt die nächste Katastrophe auf uns zu? Sich dem zu entziehen, fällt unglaublich schwer, da Nachrichten in der digitalen Welt auf Klickzahlen angewiesen sind und negative Überschriften und Schreckensnachrichten deutlich häufiger geklickt werden als positive Nachrichten. Mal ehrlich: Wie lange hätten viele Nachrichten früher gebraucht, um in unserer analogen Timeline – also der Regionalzeitung – zu landen?

Non-linear = Nicht-linear

Nicht-linear lässt sich mit der Komplexität gleichsetzen: Kurz gesagt ist gemeint, dass Ursache und Wirkung von Ereignissen scheinbar völlig unzusammenhängend sind und die Auswirkungen oft unverhältnismäßig erscheinen. Insbesondere die Pandemie hat diese Nicht-Linearität deutlich gemacht: Das Ausmaß und der Umfang dieser Pandemie gehen weit über unsere bisherigen Erfahrungen hinaus. Die exponentielle Ausbreitung der Infektion, ausgelöst durch einen nicht sichtbaren Virus, war und ist immer noch unglaublich.

Aber auch die schon angesprochene Klimakatastrophe ist ein gutes Beispiel für Nicht-Linearität: Wir erleben jetzt und zukünftig zunehmend die Auswirkungen von unserem oftmals weit in der Vergangenheit liegenden Verhalten bzw. sind wir nur zu einem völlig unwesentlichen Teil an den massiven Auswirkungen schuld. Die Trägheit des Klimasystems ist gewaltig und die Auswirkungen der Veränderungen zeigen sich nicht sofort. Wenn, dann aber heftig: Die Flut im Ahrtal im letzten Jahr hat sich diesbezüglich wohl eingeprägt.

Incomprehensible = Unverständlich und unbegreiflich

Wir versuchen Antworten zu finden auf Ereignisse der Gegenwart, die uns selbst aber sinnlos und unlogisch erscheinen. Auch hier wieder die aktuellen politischen Ereignisse als Beispiel: „Warum hat Putin die Ukraine angegriffen?“ Für die meisten von uns ist es völlig unverständlich und unbegreiflich.

Ein anderes Beispiel sind aber auch hier die digitalen Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz, rund um Big Data, Blockchain oder das Metaverse.

Ein toller Beitrag zu BANI findet sich bei Stephan Grabmeier.

Chaos

Das Modell BANI als Beschreibung der Zukunft klingt zunächst resignativ, in Teilen gar apokalyptisch. Brüchigkeit, Angst, Nichtlinearität und Unverständlichkeit sind nicht unbedingt das, was wir uns in unserem Leben wünschen.

Aber der Blick zu unseren Sitznachbarn, der Blick in die Herausforderungen unserer Familien, der Blick in unsere Organisationen, der Blick in unsere Gesellschaft und der Blick über unsere Grenzen hinaus auf unsere Welt zeigt, dass BANI genutzt werden kann, um zunächst anzuerkennen, dass wir uns in einer neuen Phase, einer Umbruchphase, befinden könnten, in einem chaotischen Dazwischen.

Antonio Gramsci, italienischer Autor, bringt es gut auf den Punkt:

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“

Antonio Gramsci, ital. Autor, +1937

Was damals galt, gilt auch heute:

BANI gibt den Monstern, denen wir gerade begegnen, einen Namen, macht sie sprachfähig und damit – als erster Schritt – vielleicht weniger bedrohlich.

Den Monstern begegnen

BANI zeigt aber auch auf, wie wir den Monstern unserer Zeit begegnen können.

So folgt die Frage, wie wir mit der Brüchigkeit, Angst, Nichtlinearität und Unverständlichkeit in unserer Welt umgehen können.

Und Sie haben es vielleicht bereits erraten. Es schließt sich der Kreis zu meiner Ausgangsthese:

„Beratung der Zukunft verlangt nach Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!“

Wir können versuchen,

  • der Brüchigkeit mit Anpassungsfähigkeit und Resilienz zu begegnen;
  • der Angst mit echtem Zuhören, mit Empathie zu begegnen;
  • der Nichtlinearität mit einer Betrachtung des Kontextes zu begegnen;
  • der Unverständlichkeit mit Transparenz und dem Verlassen auf unsere Intuition zu begegnen.

Die Grundhaltungen und Werte, die Sie in der Beratung Ihrer Klient*innen an den Tag legen, können dazu dienen, dass wir nicht nur selbst in dieser oftmals chaotischen Welt irgendwie zurechtkommen, sondern diese Welt gestalten können.

Gestalten setzt jedoch Aktivität, unser aller Aktivität voraus.

Vitali Klitschko bringt es in diesen Tagen auf den Punkt, wenn er schreibt:

„Keine Demokratie ohne Demokraten!“

V. Klitschko

BANI und die Kultur der Digitalität

Jetzt warten Sie wahrscheinlich schon lange darauf, was meine ausführliche Vorrede und das Konzept BANI mit der Beratung der Zukunft in einer Kultur der Digitalität zu tun hat?

Ich nutze sehr bewusst den Begriff der „Kultur der Digitalität“, denn in den letzten Jahren dürfte jedem Menschen in unserer Gesellschaft klar geworden sein, dass das mit dieser Digitalisierung nicht mehr vorüber gehen wird.

Die digitale Transformation läuft, an manchen Stellen schneller, an anderen Stellen, in manchen Organisationen und Branchen, eher langsamer. Aber wir kommen nicht darum herum, die digitale Transformation zu akzeptieren und vor allem:

Diese aus unserer Perspektive zu gestalten.

Der Begriff der „Kultur der Digitalität“ zeigt jedoch, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen der „realen Welt“ und der „digitalen Welt“. Wenn Sie so wollen ist die Kultur der Digitalität der nächste Schritt nach der digitalen Transformation. Auf Wikipedia heißt es:

„Im Gegensatz zu den Begriffen der Digitalisierung oder der digitalen Transformation, die vor allem eine technologische Entwicklung bezeichnen, bezieht sich Digitalität viel stärker auf soziale und kulturelle Praktiken.“

Die Kultur der Digitalität

Und die Kultur der Digitalität basiert nach Felix Stalder darauf, dass die drei Ebenen Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität in den Blick genommen und unser Leben bestimmen werden.

Referentialität meint, dass zunehmend auch kulturelle Erzeugnisse digital verfügbar gemacht werden und damit neu kombiniert und weiter entwickelt werden. Als Beispiel werden Bücher digitalisiert, stehen damit breit zur Verfügung und die Inhalte werden genutzt, um in bspw. Blogbeiträgen verbreitet und erweitert zu werden. „Everything is a remix“, wie ein Freund von mir einmal gesagt hat.

Die skizzierte Rekombination von allem Möglichen findet in Gemeinschaft statt. Unsere Identität finden wir zunehmend weniger in klassischen Konstrukten wie Familie, Arbeitsplatz oder Vereinen, sondern zunehmend in persönlichen, digital-sozialen Netzwerken. Wahrscheinlich stellen Sie das an Ihren Klient*innen fest, vielleicht sogar an ihren eigenen sozialen Netzwerken?

Mit Algorithmizität beschreibt Stalder die wachsende Bedeutung der Beeinflussung unseres Lebens durch Algorithmen. Wenn Sie bspw. eine Suche bei Google eingeben, bekommen Sie ein anderes Ergebnis als ich, da die Algorithmen bereits von Ihrer Suchhistorie gelernt haben und so unsere Welt „für jeden User eigens generier[en]“ (S. 189). Dadurch gestalten die Algorithmen, wie wir denken und handeln, was wir konsumieren, welche Filme wir schauen, welche Werbung wir sehen und so weiter.

BANI und die Digitalität

Der Blick auf diese Kultur der Digitalität erzeugt wiederum die Gefühle, die Sie auch beim Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und damit auf BANI hatten:

Das fühlt sich oft alles ziemlich überfordernd, beängstigend, nichtlinear und unverständlich an, oder?

Aber noch einmal:

Wenn es Ihnen gelingt, auch in der Kultur der Digitalität der

  • permanent vorhandenen Brüchigkeit mit Anpassungsfähigkeit und Resilienz;
  • der sich bei Ihnen und bei Ihren Klient*innen zeigenden Angst mit echtem Zuhören, mit Empathie zu begegnen;
  • der Nichtlinearität mit einer Betrachtung Ihres Kontextes und der Kontexte Ihrer Klient*innen und
  • der Unverständlichkeit den Veränderungen durch die Digitalisierung mit Transparenz und dem Verlassen auf unsere Intuition zu begegnen,

dann wird die Gestaltung der Beratung der Zukunft möglich.

Das klingt noch etwas abstrakt.

Handlungsoptionen in der Kultur der Digitalität

Deswegen will ich versuchen, Ihnen abschließend noch ein paar konkrete Handlungsoptionen mitzugeben, die wiederum die vier Grundhaltungen aufgreifen:

Entwicklung von Anpassungsfähigkeit und Resilienz

Zur Entwicklung von Anpassungsfähigkeit und Resilienz in einer Kultur der Digitalität lohnt es sich, auf die drei Ebenen Umwelt, Person und Prozess zu schauen.

  1. Umwelt bedeutet, dass Sie überlegen sollten, wo Sie Unterstützung zum Thema Digitalisierung in Ihrem Umfeld bekommen können.
  2. Ihre persönliche Ebene umfasst die Notwendigkeit der eigenen Auseinandersetzung mit den sich in der digitalen Welt vollziehenden Entwicklungen. Sie können viel Lernen, Weiterbildungen, Veranstaltungen besuchen usw., um darüber Ihre persönlichen digitalen Kompetenzen zu erweitern. Dadurch wiederum steigt Ihre Erwartung an Ihre Selbstwirksamkeit ebenso wie Ihre Problemlösungsorientierung.
  3. Und die Prozessfaktoren zur Entwicklung von Resilienz in einer Kultur der Digitalität lassen sich dahingehend fassen, dass in den Herausforderungen der Digitalisierung Chancen und Möglichkeiten erkannt werden. Es bedeutet aber auch, das zu akzeptieren, was Sie selbst nicht verändern können und Ihre Konzentration auf das zu richten, was Sie zum jetzigen Zeitpunkt mit den vorhandenen Ressourcen gestalten können.

Umgang mit Angst

Für den Umgang mit Angst habe ich in einem vorherigen Beitrag empfohlen, in Dialogräume einzutreten und aus dem echten Zuhören Zukunft zu gestalten.

Ohne in die Tiefe gehen zu können, bietet die Theorie U von Otto Scharmer hier sehr hilfreiche Hinweise, Methoden und Tipps, die aus meiner Sicht perfekt zur Arbeit in der Beratung passen.

Wo aber gibt es in Ihrer Arbeit diese Dialogräume, die explizit die Herausforderungen der Digitalisierung thematisieren und wo Sie mit Ihren Kolleg*innen angstfrei über die Möglichkeiten und Risiken sprechen können? Formate wie bspw. Barcamps helfen hier enorm.

Umgang mit Nichtlinearität

Und auch für den Umgang mit Nichtlinearität und der oft überwältigend erscheinenden Komplexität haben wir in der Sozialen Arbeit Werkzeuge, die enorm hilfreich sind. Insbesondere will ich hier das systemische Denken hervorheben.

Systemisches Denken zeigt zum einen die Kontexte, in denen Sie und auch ihr Klientel eingebunden sind. Systemisches Denken zeigt zum anderen sehr eindrücklich, dass wir viele Entwicklungen und vor allem unsere Organisationen nicht steuern können.

Es gilt vielmehr, über Impulse in die sozialen Systeme zu versuchen, diese in eine gewünschte Richtung zu verführen. Welche Richtung dies im Bezug auf die Digitalisierung ist, sollten Sie immer an der Frage der Sinnhaftigkeit festmachen: Wo macht es Sinn, digitale Tools zu nutzen, wo können Sie wirklich davon profitieren? Wo aber auch nicht? Wo sind analoge Treffen und Gespräche wichtiger und zielführender?

Umgang mit Unverständlichkeit

Und jetzt wirklich abschließend können Sie der Unverständlichkeit begegnen, indem Sie das, was Sie tun, so transparent wie möglich machen – in Ihren Organisationen, in den Beratungen mit Ihrem Klientel und in Ihrem privaten Umfeld. Zur Transparenz gehört dann auch das transparente Eingestehen, etwas nicht zu wissen, unsicher zu sein und viele Entwicklungen nicht in der Hand zu haben.

Übrigens basieren alle „neueren Organisationskonzepte“ – agiles Arbeiten, selbstbestimmt agierende Teams, New Work, wenn Sie so wollen – auf Transparenz, die im Gegensatz steht zur Abschottung und zur Nutzung von Wissen als Machtinstrument.

Damit noch einmal zum Abschluss:

Beratung der Zukunft verlangt nach Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!

Nutzen Sie das, was Sie können!


P.S.: Sind Sie auf der Suche nach einem aktivierenden Impuls für Ihre Veranstaltung? Dann nehmen Sie doch direkt mit mir Kontakt auf und wir schauen, was ich für Sie tun kann!

P.P.S.: Sie können natürlich auch meinen Newsletter abonnieren und sich darüber inspirieren lassen 😉

Backcasting New Work, oder: Warum jetzt die richtige Zeit ist, die Zukunft in die Hand zu nehmen!

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Die eine Krise ist noch nicht vorbei, da steht die nächste Krise vor der Tür. Eine Pandemie mit weltweit bislang mehr als 6 Millionen Toten wird, so scheint es, obwohl sie noch nicht vorbei ist, abgelöst durch einen Krieg in Europa mit noch nicht absehbaren Folgen und unfassbarem Leid für die Menschen in der Ukraine. Politisch geraten bislang als sicher geltende Bedingungen ins Wanken. Die Bundeswehr soll 100 Milliarden Euro als Sondervermögen erhalten, um ihre desolate Ausstattung wieder auf Vordermann zu bringen. Absurde Geldmengen zur Verteidigung unseres Landes, an die wir uns spätestens seit „der Bazooka“ irgendwie schon gewöhnt zu haben scheinen. Bei diesen Geldmengen – vor allem aber beim Blick auf die auch durch Pandemien und Kriege nicht wartende Klimakatastrophe – blicke ich auf meine Kinder und frage mich, welche Welt wir hinterlassen, hinterlassen wollen? Und in dem Zuge einen Beitrag zu New Work, zur Blogparade #newworknow?

Macht das noch irgendwie Sinn?

“Er, der begehrt, aber nicht handelt, brütet die Pest.”

Wie kann man angesichts der Weltlage überhaupt einen halbwegs klaren Gedanken fassen, der dann auch noch (irgendwie) zukunftsgerichtet ist? Aber – noch einmal – der Blick auf die Kinder der Welt und meine Kinder im Besonderen erlaubt mir gar nichts anderes als optimistisch und zuversichtlich zu sein.

Was – bitteschön – sollen wir denn machen? Den Kopf in die Sandsäcke stecken und uns in Schützengräben verbuddeln und abwarten?

Oder ist nicht gerade jetzt, allen Krisen zum Trotz,  genau die richtige Zeit, die Zukunft in die Hand zu nehmen?

Ja, mir steckt die Belastung der letzten zwei Jahre, die Suche nach einer wie auch immer gearteten Sicherheit, nach Normalität zwischen Schreibtisch, Schule, Küche und Kindern verdammt tief in den Knochen. Noch dazu habe ich die sich in manchen Nächten mutig, in manchen Nächten wahnsinnig anfühlende Idee gehabt, mich in der Pandemie selbständig zu machen…

Alter, und jetzt soll genau die richtige Zeit sein, die Zukunft in die Hand zu nehmen? Geht’s noch?

Ich greife ins Regal hinter mir und ziehe das Buch „Die Freiheit leben“ heraus. Ja, auch dieses Buch ist von  Bergmann, diesem Frithjof Bergmann, der ja schon ein wenig zu New Work gesagt hat. Auf Seite 32 findet sich ein Zitat von William Blake:

„Er, der begehrt, aber nicht handelt, brütet die Pest.“

New Work heißt Handeln

Ich will nicht zum xten Mal wiederholen, dass sich hinter New Work weit mehr verbirgt als die Einführung digitaler Tools, die Möglichkeit von Homeoffice oder irgendwelche hippen Workspaces, die inzwischen selbst in der öffentlichen Verwaltung meiner sauerländischen Heimatstadt Einzug finden.

New Work findet vielmehr Niederschlag in jeder unserer Handlungen:

Im morgendlichen Aufstehen, im Weg zur Arbeit, der sich – bei mir zumindest – gewandelt hat von der täglich-sinnlosen Pendelei hin zum häuslichen Büro, in der Frage nach Vernetzungen in einer Kultur der Digitalität, in Fragen nach dem Sinn der eigenen Arbeit, der täglichen Aufgaben und „to-dos“.

„New Work is anything but finished!“

Noch einmal: Nur weil wir irgendein tolles Tool nutzen oder der Chef weiße Turnschuhe trägt, praktizieren wir kein New Work! Hybrid arbeiten – „wir dürfen jetzt auch 40% von zu Hause arbeiten“? Ernsthaft?

Das ist kein New Work, sondern unterstreicht vielmehr die Infantilisierung der Menschen und hält sie in der Unselbständigkeit. Vielleicht sogar mehr, als das vor den bisweilen lustigen Diskussionen rund um New Work der Fall war.

Schon vor sechs Jahren hat Cati Bruns in einem lesenswerten Beitrag aufgezeigt, dass New Work extrem viel mit „Selbständigkeit“ zu tun hat:

„Ob »New Work« in Zukunft wirklich die Arbeitswelt revolutioniert, hängt davon ab, wie ernst wir unsere Freiheiten wirklich nehmen. Es geht darum zu wissen, wie man leben möchte, darum, besser zusammenzuarbeiten und seine eigene Zuständigkeit wahrzunehmen, um eine neue Arbeitswelt mitzugestalten. Wer »New Work« will, muss sich etwas aus seiner Freiheit machen. Ansonsten bleibt Arbeit nur ein Job und »New Work« nur »New Office«.“

On the way to new world

Die zu Beginn angerissenen Herausforderungen, die uns – jede_n einzelne_n – unfassbar umhauen, Kraft kosten, sprachlos machen, die uns Angst machen bis hin zur Lähmung, lassen sich aber noch problemlos erweitern:

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Mangel an Pflegekräften führt zum Schluss, dass wir uns in (naher) Zukunft selbst pflegen müssen. Da hilft auch keine osteuropäische oder philippinische Pflegekraft, die immer wieder bemüht wird.

Ach ja, und während wir uns selbst pflegen, müssen wir auf die Enkel aufpassen, denn der Mangel an Fachkräften im Bereich von Erzieher_innen ist enorm und lässt sich ebenfalls nicht von heute auf morgen beheben. Und, mal ehrlich:

Der Glaube, dass “die Technik” das schon irgendwie richten wird, ist mit einem Fokus auf „das Soziale“ einfach nur naiv. Nein, wir haben heute keine Roboter, die Pflege übernehmen und wir werden diese auch zukünftig aller Voraussicht nach nicht haben – und das ist auch gut so!

Kurz:

Man könnte verzweifeln.

Backcasting New Work

Die bessere Alternative:

Wir beginnen damit, uns die Welt vorzustellen, die wir gerne hätten und überlegen dann von dort aus rückwärts , was wir heute dafür tun müssen, diese Welt zu gestalten.

Diese Technik – das Backcasting – ist nicht neu. Es geht, kurz gesagt, darum, den Ausgangspunkt der Betrachtungen nicht in der Gegenwart zu halten, sondern in die Zukunft zu verlegen.

Dazu ist zu Beginn ein mögliches, konkretes Zukunftsbild, eine Utopie im besten Sinne, zu erarbeiten:

Wie wollen wir im Jahr 2030, besser: im Jahr 2050, leben?

Wie wollen wir Bildung leben? Wie nachhaltig wollen wir wirtschaften? Wie wollen wir arbeiten? Was macht Sinn?

Aus den Antworten auf diese Fragen ergibt sich eine Utopie (oder mehrere). Und von dieser Utopie ausgehend werden im Backcasting die vorher notwendigen Schritte und Ereignisse bis in die Gegenwart skizziert.

Im Backcasting stellt sich also die Frage:

  • Was muss geschehen, um die Utopie Realität werden zu lassen und das Zukunftsbild zu erreichen?

Konkret kann man dann in den Jahren zurückgehen:

  • Was muss in zwanzig Jahren erreicht sein?
  • Was in zehn Jahren?
  • Was in fünf Jahren?
  • Und was im nächsten Jahr?

Und plötzlich steht man vor der Frage, was heute und morgen getan werden muss, wenn wir in einer erstrebenswerten Zukunft leben wollen.

Auf der Seite der Bundesakademie für Sicherheitspolitik heißt es in einem Beitrag vom 18. Mai 2021 zur Methode mehr als treffend:

„Durch ein zeitlich verändertes Eintreten bestimmter Ereignisse können politische Handlungsempfehlungen auf Grundlage dieser Methode flexibler, systematischer und damit möglichst zukunftssicher angepasst werden. So könnten zum Beispiel Friedensgespräche zwischen verfeindeten Parteien ein Zukunftsszenario darstellen, bei dem im Backcasting immer wieder die Frage gestellt wird, was davor grundlegend geschehen muss und wann der richtige Zeitpunkt dafür wäre.“

Link

Es wäre so zu wünschen, heute mehr denn je…

Aber spätestens an dieser Stelle, in dieser Backcasting-Denklogik, wird mit Blick auf New Work deutlich, dass New Workspaces, Homeoffice zu 40% der Arbeitszeit und Videokonferenzen am laufenden Band, etc., nichts mit New Work zu tun haben, sondern mit – ich darf das sagen 😉 – elitärem Scheiß.

New Work in der Logik, die leider heute im Wesentlichen im Vordergrund steht, ist nicht mehr als die Fortführung bisheriger, traditioneller Denk- und Arbeitswelten in anderer, chicerer Verpackung. New Work in dieser Logik muss man “sich leisten” können. New Work ist dann nur “Lohnarbeit im Minirock”, wie Bergmann selbst es treffend ausdrückte. Mir kommen spontan Schokoriegel in den Sinn:

Raiders heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix.

Na ja, vielleicht etwas überspitzt!

New Work aber war und ist mehr. New Work ist eine Vision zur Gestaltung der Gesellschaft und der Welt als Ganzes!

New Work kann damit ein mögliches positives Zukunftsbild sein, auf das es hinzuarbeiten lohnt!

New Work ist Sozialutopie – und war niemals etwas anderes, oder:

[bctt tweet="New Work bleibt New World."]

New Work bleibt New World!

Um diese New World Realität werden zu lassen, sind an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft Bemühungen zu unternehmen, sich gegenseitig wirklich zuzuhören, sind Dialogräume zu gestalten, in den Betrieben und Organisationen, auf allen Ebenen der Politik, in den Sozialräumen der Menschen, in ihren Lebenswelten und in den Familien. Im Zentrum sollte die Fragen stehen:

Wie wollen wir in Zukunft leben? Und was können wir heute tun, um die daraus entstehenden Utopien Realität werden zu lassen?

Aus dieser Perspektive passt dann auch der Hashtag zur Blogparade: Wenn wir New World wollen, müssen wir Now damit beginnen – #newworldnow – oder so ähnlich… 😉

Abschließend ist methodisch bspw. die Theorie U von Otto Scharmer hilfreich, die ausgehend von Zuhören und echtem Verständnis neue Optionen eröffnet, wie Zukunft gestaltet werden kann – ob in der Arbeitswelt allgemein, in Organisationen im Spezifischen – oder in allen anderen Welten, die uns und alle anderen umgeben.

Wir müssen aber gemeinsam diese New World gestalten, in kleinen Schritten, zuversichtlich, mit Mut und Ausdauer!


P.S.: Weitere Beiträge zur Blogparade #NewWorkNow findest Du auf der Übersichtsseite „Digitial.Now“

BTHG und Organisationsentwicklung, oder: Wie es gelingt, wirksame Organisationsstrukturen zu gestalten

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In der Zeitschrift „Neue Caritas“ schreiben Carsten Effert und Anne Huffziger von der Ambulantisierung des Stationären. Sie haben dabei das BTHG – das Bundesteilhabegesetz – im Blick. Wir wollen hier nicht in die Tiefen dieses neuen Gesetzes einsteigen. Wir behalten uns auch eine ausführliche Bewertung der Zielsetzung des BTHG vor. Vielmehr wollen wir aufzeigen, wie es Ihnen gelingen kann, die Herausforderungen der Angebots- und Organisationsentwicklung durch das BTHG gut zu bewältigen.

Wir – das sind diesmal Florian Acker und Hendrik Epe. Danke an dieser Stelle, lieber Florian, für Deine fachkundige Beteiligung am Beitrag.

Aber ganz ohne Bewertung des BTHG kommen wir nicht aus. Deswegen zu Beginn sehr kurz zwei Aspekte, die aus unserer Sicht mit Blick auf das BTHG nicht unter den Tisch fallen dürfen: 

Stärkung der Position der Klient_innen

Auf der einen Seite des BTHG steht eine enorm positive Zielsetzung: 

Der „Paradigmenwechsel von der Institutionenorientierung hin zur Personenorientierung“, wie die beiden Autor_innen im oben verlinkten Artikel schreiben, ist aus unserer Sicht hochgradig sinnvoll. Das BTHG soll die Teilhabe und damit die individuellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. 

Dies soll in der Praxis durch die Aufsplitterung der Betreuungsleistungen in Grund- oder Basismodule als Tagespauschale auf der einen Seite und auf der anderen Seite durch verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden, geschehen (vgl. ebd.). Kurz:

„Die Leistungserbringung und Finanzierung der besonderen Wohnformen erfolgen zukünftig über zwei Stränge: personenbezogene Fachleistungsstunden und Tagespauschalen.“

Auch die Stärkung der Position von Klienten ggü. den Leistungsträgern und Leistungserbringern durch eine unabhängige Teilhabeberatung ist mehr als notwendig. Die zusammenfassend als Personenorientierung bezeichnete Entwicklung ist mehr als notwendig und entsprechend positiv zu bewerten. Denn es geht nicht um die Aufrechterhaltung der Organisation, sondern um die bestmögliche Leistung für die bzw. jeden einzelnen Menschen – und das betrifft alle Arbeitsfelder Sozialer Arbeit. 

Einsparungen durch das BTHG?

Auf der anderen Seite wird in den betroffenen Organisationen deutlich, dass die Umsetzung des BTHG zum einen eine enorme bürokratische Aufgabe aka Bürokratiemonster ist und zum anderen als Einsparprogramm missbraucht wird.

Im zitierten Beitrag kommt dieser Aspekt nur an einer Stelle kurz durch, wenn es heißt, dass „es vermutlich zu einer deutlichen Ausdünnung der Personaldecke kommen“ wird.

Die Paradoxie des BTHG zeigt sich darin, dass auf der einen Seite damit geworben wird, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Leistungen sollen sich am individuellen Assistenzbedarf orientieren und passgenau erbracht werden. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber klar formuliert, dass durch die Reform des BTHGs die seit Jahrzehnten ansteigende Ausgabendynamik gebremst werden soll (vgl. Bt-Drs. 18/9522, S.3). Auf diesen Widerspruch kann man eigentlich nicht oft genug hinweisen. 

Als weiteres Beispiel für das Ziel der Einsparungen kann hier auch die neu eingeführte Differenzierung von „einfachen“  und qualifizierten Assistenzleistungen angeführt werden (vgl. § 78 Abs. 2 SGB IX).

Durch diese Differenzierung hat der Gesetzgeber erreicht, dass in der Eingliederungshilfe auch Nichtfachkräfte eingesetzt werden können bzw. sollen. Wenn also im Rahmen des Gesamtplanverfahrens Ziele für den Bewilligungszeitraum vereinbart werden, kann der Leistungsträger dabei Unterscheidungen treffen, bei welchen Zielen es sich um Assistenzfachleistungen (zu erbringen durch Heilerziehungspfleger_innen, Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen etc.) oder um „einfache“ Assistenzleistungen handelt. Die Intention ist klar:

Hierdurch können perspektivisch Kosten gesenkt werden.

Es kommen Inklusionsbemühungen im Schulsystem in den Sinn: Auch da wurden „Sonderschulen“ unter dem Deckmantel der Inklusion aufgelöste und die betroffenen Kinder in die Regelschulen verteilt, ohne für eine ausreichende Unterstützung der LuL zu sorgen. Diese waren mit dem Verhalten und den Besonderheiten der Kinder oftmals heillos überfordert, was – sehr diplomatisch ausgedrückt – sicherlich nicht überall zu Verbesserungen der Situation der Kinder mit Behinderung geführt hat. Aber es spart natürlich Kosten! 

Organisationsentwicklung im Zuge des BTHG ist Angebots- und Strukturentwicklung

Hier wollen wir wie gesagt die Bewertung des Gesetzes nicht in die Tiefe fortführen (falls Sie einen Experten mit inhaltlichem Fokus suchen, steht Ihnen Florian Acker mit Rat und Tat zur Verfügung), sondern die Notwendigkeit zur Angebots- und Strukturentwicklung hervorheben.  

Zur Notwendigkeit der Angebotsentwicklung

Das BTHG zwingt die Einrichtungen dazu, sich intensiv mit ihrem eigenen Leistungsangebot auseinanderzusetzen. So müssen sie zum einen wissen, welche neuen gesetzlichen Anforderungen an sie gestellt werden und zum anderen müssen sie das dann mit ihrem bestehenden Angeboten abgleichen und dann entsprechende Konsequenzen daraus ziehen. 

Angeführt werden kann hier z.B. die (vollkommen berechtigte) Wirksamkeitsdebatte in der Eingliederungshilfe. Begriffe wie z.B. „Wirksamkeit von Leistungen“ oder auch „Wirkungskontrolle“ wurde vom Gesetzgeber wortwörtlich z.B. im Vertragsrecht mit aufgenommen (vgl. z.B:  § 125, 128, 129 SGB IX). 

Allein deswegen besteht schon die Notwendigkeit für die Leistungserbringer, dass sie ihre bestehenden Angebote evaluieren und ggf. anpassen und gleichzeitig neue Angebote unter der Prämisse der Wirksamkeit gestalten müssen.

Zur Notwendigkeit der Strukturentwicklung

Im Beitrag von Effert und Huffziger wird richtigerweise der mit der Umstellung vom Stationären zum Ambulanten notwendige Change Management Prozess – wir sprechen lieber von Transformationsprozess – angesprochen: 

„Es muss für alle Beteiligten spürbar werden und sich ein konkretes Bild ergeben, was Personenzentrierung heißt. Insbesondere bei Fachkräften sollte es so gut wie nicht mehr vorkommen, dass diese ohne Klient(inn)en arbeiten. Es ist dabei eine wichtige Führungsaufgabe, die Mitarbeitenden sprichwörtlich in die „neue Welt“ mitzunehmen. Jahrelange Institutionenorientierung verschwindet nicht einfach aus den Köpfen, denn die alte Welt war nicht schlecht, sondern anders.“

Das ist ein sehr wichtiges und schwieriges Thema im Führungsalltag:

Gerade die langjährigen Mitarbeiter_innen in der Eingliederungshilfe (EGH) empfinden ihr bisheriges Tun und Handeln plötzlich als abgewertet. Hier braucht es viel „Fingerspitzengefühl“, um den Kolleg_innen deutlich zu machen, dass man die bisherige Arbeitsweise oder Erfolge nicht in Abrede stellt. Es gelten nun allerdings neue Anforderungen in der EGH, an denen man sich auszurichten hat.

Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass sich die Teamkonstellationen bereits dadurch geändert haben, dass mittlerweile Nichtfachkräfte angestellt werden (in manchen Einrichtungen ist die Anzahl der Nichtfachkräfte fast höher als die Anzahl von Fachkräften). 

Nach unserer Erfahrung ergibt sich bereits hierdurch Konfliktpotential, da durch die neuen Kollegen auch vieles in Frage gestellt wird (und manches durchaus zu Recht ;-). 

Hier wird es in Zukunft wichtig sein, dass intern Möglichkeiten geschaffen werden, um die Nichtfachkräfte entsprechend zu qualifizieren. Man tut gut daran, entsprechende Bildungskonzepte zu entwerfen und Möglichkeiten zu schaffen, die Mitarbeiter_innen gut in diesem Handlungsfeld zu qualifizieren.

Die notwendigen Anpassungen jedoch bleiben nicht auf Ebene des individuellen Verhaltenswandels bzw. Kompetenzaufbaus stehen. Es geht – basierend auf einer passfähigen Strategie zum Umgang mit den Entwicklungen des BTHG und der Entwicklung neuer Angebotsformate – um die Entwicklung von Strukturen, die zu Kulturentwicklung führt. 

Strukturentwicklung und BTHG

Aber wie kann die Strukturentwicklung bzw. die Entwicklung der Aufbauorganisation aussehen, wenn es gilt, die klassische Versäulung, die sich in den meisten Organisationen der Behinderten- bzw. Eingliederungshilfe findet, so zu transformieren, dass den Ansprüchen des BTHG Rechnung getragen werden kann? 

Wenn Leistungen in Grund- oder Basismodule auf der einen und in verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen angeboten werden, auf der anderen Seite aufgesplittet werden, gilt es, die bisherigen organisationalen Rahmenbedingungen und Strukturen hintenanzustellen und schnelle, individuelle Entscheidungen zu ermöglichen. Schnell und individuell reicht jedoch nicht. Es muss außerdem kompetenzübergreifend zusammengearbeitet werden.   

Nicht mehr die Abteilungen sind als Entscheidungsstrukturen relevant. Ab-Teilungen sind das Gegenteil der geforderten, ganzheitlichen Personenzentrierung und Lebenswelt- sowie Sozialraumorientierung. Die Menschen mit Unterstützungsbedarf erwarten flexible, angepasste „Leistungen aus einer Hand“. 

Konkret geht es um die konsequente Orientierung der Leistungsangebote am Sozialraum der Nutzer_innen. Damit geht eine Strategie des inklusiven Wohnens und Lebens einher. Nicht mehr der Bau von stationären Einrichtungen steht im Vordergrund, sondern der Aufbau von wohnortnahe Angeboten orientiert an der unmittelbaren Lebenswelt – im Gemeinwesen. Es geht auch um die Schaffung von Wahlmöglichkeiten, um individuelle, diverse Wohn- und Lebensformen zu schaffen.

Deutlich wird, dass die Fachlichkeit zur Gestaltung inklusiven Lebens in den Vordergrund rückt. Und deutlich wird auch die Ambulantisierung des Stationären:

„Durch das Herauslösen der Assistenz-/Fachleistungsmodule vollzieht sich der Übergang zu einem hybriden ambulant-stationären Setting“, wie es im Beitrag in der Neuen Caritas heißt. 

Selbstbestimmt agierende Teams und das BTHG

In der Begleitung von Organisationen in diesem herausfordernden Transformationsprozess wurde deutlich, dass sich die klassischen Abteilungsstrukturen (bspw. gegliedert in Wohnbereiche) auflösen müssen und es damit zu sich völlig neu formierenden Teamstrukturen kommt. 

Die Mitarbeiter_innen sehen in der Transformation die Möglichkeit, verstärkt selbstbestimmt im Sinne der Nutzer_innen agieren zu können. Hier finden Sie einen kleinen Auszug aus Rückmeldungen der Mitarbeitenden aus einem Transformationsprozess aus dem letzten Jahr. Im Kern stand an dieser Stelle die Frage, welche wesentlichen Chancen und Möglichkeiten sich aller Voraussicht nach durch die neue Struktur bezogen auf die Struktur der Organisation ergeben: 

  • „Flexibilität und selbstständiges Arbeiten“, 
  • „Vorhandene Instrumente (Führung/Personal etc.) nochmal kreativer gestalten. Neue Methoden bei Entscheidungsprozessen in Gruppen (kollegiale Beratungen)“, 
  • „Lernprozesse aufgrund multiprpfessioneller Teams werden angestoßen“… 

Schon aus diesen wenigen Rückmeldungen wird deutlich, dass die Transformation der Strukturen zum „Neulernen“ auf Ebene der Kommunikation und Kollaboration der Teams führt. Insbesondere sind dies für uns die beiden Fragen: 

  • Wie gelingt Führung dieser neuen, oftmals größeren Teams? 
  • Wie gelingt erfolgreiche Zusammenarbeit innerhalb der Teams, wenn diese „flexibler und selbständiger“ agieren? 

Ade Mikromanagement, oder: New Leadership im BTHG 

Führung und Zusammenarbeit müssen neu gedacht werden. Aber der Reihe nach: 

Was kommt auf Führungskräfte zu? Was ist deren Aufgabe? 

Für uns wird an dieser Stelle deutlich, dass Führungskräfte in den sich neu konstituierenden Teams nicht mehr für jeden Sch…nickschnack zuständig sein können. Die Komplexität aufgrund der Zunahme der Anzahl der Mitarbeiter_innen in den Teams steigt rasant. 

Wenn sich klassische, operative Führung fortführen würde, wären die Führungskräfte mit der Kommunikation im Kleinen vollkommen überfordert. Wenn jede_r Mitarbeiter_in mit jedem Anliegen zur Führung rennt, macht diese nichts mehr anderes als Brände löschen und brennt dabei selbst komplett aus. 

Führungskräfte sind in der neuen Struktur vielmehr dafür zuständig, die Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter_innen so zu gestalten, dass diese „ungestört“ und damit selbstbestimmt und flexibel im Sinne der Nutzer_innen – fachlich – agieren können. Führungskräfte sind gefordert, an der Organisation bzw. den Strukturen und Rahmenbedingungen zu arbeiten und nicht mehr in den Teams. 

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Basis sind diejenigen, die maßgeblich am Wertschöpfungsprozess beteiligt sind. Sie sind diejenigen, die die Assistenzleistungen erbringen und somit das Geld für die Einrichtungen verdienen. 

Das Management sollte daher doch das größtmögliche Interesse daran haben, dass diese Mitarbeiter_innen die bestmöglichen Rahmenbedingungen für ihre Arbeit vorfinden. Unserer Erfahrung nach ist dem häufig jedoch nicht so: Oft ist zu erleben, dass Mitarbeiter_innen im höheren Management meinen, dass sie die Bedürfnisse und Erfordernisse der Praxis besser kennen als die Mitarbeiter_innen an der Basis.

Es braucht eine Haltung des Vertrauens, um Verantwortung für den „Alltag“ in die Teams geben zu können. Es braucht ein Verständnis davon, dass Mitarbeiter_innen gerne arbeiten und ihre Leistungen für die Organisation auch dann einbringen, wenn sie nicht kontrolliert werden. Das Menschenbild der Theorie Y von McGregor kann hier hilfreich sein.

Welcome New Work, oder: New Collaboration im BTHG

Und wie gelingt jetzt Zusammenarbeit in den – meist sehr großen – Teams untereinander? Wie gelingt die Zusammenarbeit vor allem, wenn nicht wieder neue Strukturen von „Teamleitungen“ o.ä. installiert werden können, da diese die sowieso schwierige Finanzierung ins Wanken bringen würden?

Hier greifen die Merkmale selbstbestimmt agierender Teams, die wir in den folgenden sechs Schritten skizzieren: 

  1. Es gilt, im Vorhinein den Rahmen zu gestalten, innerhalb dessen die Teams selbstbestimmt entscheiden und agieren können. Hier ist immer zu bedenken, dass die neu konstituierten Teams ja in bestehenden Organisationen eingebunden sind und nicht „auf der grünen Wiese“ neu gegründet wurden. Entsprechend sind bspw. die Satzung der Organisation sowie – selbstverständlich – gesetzliche oder arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen einzuhalten. Aber auch finanzielle Mindestanforderungen, die für ein erfolgreiches Bestehen der Teams notwendig sind, sollten in der Rahmenvereinbarung, die bindend für das jeweilige Team ist, festgehalten werden.  
  2. Daran anschließend geht es an die Arbeit mit dem Team: Es ist der Zweck und die Vision des jeweiligen Teams zu definieren, um dessen „Nordstern“, dessen Ausrichtung festzulegen. Darüber, über diesen Nordstern, wird ermöglicht, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, die in die angestrebte Richtung gehen. 
  3. Der dritte Schritt besteht in der Sammlung und Clusterung aller anfallenden, über die grundlegend pädagogischen Aufgaben im Team hinausgehenden Aufgaben. Als Beispiele sind dies: Urlaubsplanung, Dienstplanung, IT, Atmosphäre im Wohnbereich uvm. 
  4. Schritt 4 ist die Definition von Mandaten, in denen die Verantwortlichkeiten und Aufgaben festgeschrieben werden. Bspw. macht ein Mandat „Interne Ansprechpartner_in“ Sinn, damit die Anliegen des Teams innerhalb der Organisation an die richtige Stelle kommen und Informationen aus der Organisation ins Team zurückgespielt werden. So ist es nicht zielführend, wenn „jede_r alles macht“. Die damit einhergehende Komplexität ist nicht handlebar. 
  5. Anschließend steht der Wahlprozess an: In diesem Prozess wählen die Teammitglieder die Person aus, die als für das jeweilige Mandat am Kompetentesten erachtet wird. Dabei besteht auch die Möglichkeit, sich selbst wählen zu können. Aus Erfahrung ergeben sich schon in diesem Schritt die ersten echten Learnings: Nicht mehr der_die Vorgesetzte entscheidet, wer was macht, sondern die Teammitglieder entscheiden selbst, wer die Aufgaben und Verantwortung im Sinne des Teams übernehmen sollte. 
  6. Schritt 6 ist dann die Umsetzung der neuen Mandate in der alltäglichen Arbeit. Das klingt einfach, ist in der Realität aber ein Paradigmenwechsel: Nicht mehr eine Person – der_die Vorgesetzte – entscheidet, sondern das Team bzw. die Verantwortlichen des jeweiligen Mandats im Rahmen der für das Mandat festgelegten Verantwortlichkeiten. Das muss geübt werden, da auch Konflikte und schwierige Entscheidungen nicht mehr „nach oben delegiert“ werden können. 

Führung selbstbestimmt agierender Teams

Auch wenn es schon angesprochen wurde: 

Aufgabe der Führungskräfte in dieser neugestalteten Angebots- und Organisationsstruktur ist es, die Teams dabei zu begleiten, Entscheidungen in Selbstorganisation treffen zu können, den Rahmen zu gestalten, in dem selbstbestimmtes Agieren der Teams möglich wird und die Strukturen immer weiter zu verbessern. Wie gesagt: 

Für Führungskräfte steht nicht mehr die Arbeit im Team im Vordergrund, sondern die Arbeit an den Strukturen, innerhalb derer die Teams selbstbestimmt agieren. 

Ebenfalls wiederholend ist zu betonen, dass die operative Arbeit in den Teams schnell zu einer Überforderung der Führungskräfte führen kann, da die Anzahl der Menschen in den Teams aufgrund der notwendigen Anpassungen oftmals sehr hoch sein muss. Die mit der Kommunikation einhergehende Komplexität ist dann kaum noch zu bewältigen. 

Entsprechend gilt es, intern oder extern Lern-, Unterstützungs- und Austauschmöglichkeiten für die Führungskräfte zu gestalten, damit die neue Aufgabe, die vielmehr moderierend als steuernd und kontrollierend ist, bestmöglich gestaltet werden kann. 

Fazit, oder: Die Chancen des BTHG nutzen

Abschließend hoffen wir, dass deutlich geworden ist, dass die durch das BTHG notwendig gewordenen Anpassungen Anpassungen an den Dienstleistungen, Produkten und Angeboten und gleichzeitig  strukturelle Anpassungen bedingen: 

Es ist zu überlegen, wie es gelingt, den Wandel insbesondere in stationären Settings hin zu einer “Ambulantisierung” zu vollziehen, um darüber möglichst wirksam Teilhabe für die Menschen zu ermöglichen. 

Unser Ansatz in diesem Kontext ist, die Chancen und Möglichkeiten selbstbestimmt agierender Teams zu nutzen, um die Führungskräfte zu entlasten und aus der operativen Arbeit zu nehmen und gleichzeitig die Kompetenzen der Mitarbeiter_innen in der unmittelbaren Arbeit bestmöglich im Sinne der Nutzer_innen einsetzen zu können. 

Dieser die Strukturen der Organisation betreffende Transformationsprozess hat dann den Kollateralnutzen, dass sich die Kultur der Organisation mit der Zeit verändert. Dabei darf nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass Transformation – egal welche – Ressourcen braucht und nicht zum Nulltarif und von heute auf morgen zu bekommen ist. 

Diese Zeit sollten Sie sich geben, um das BTHG nicht nur als Bürokratiemonster zu verstehen, sondern die darin für die Nutzer_innen, aber auch die für die Organisation liegenden Chancen im Hinblick auf eine wirkungsvollere Praxis nutzen zu können. 


Wir hoffen, dass Sie einige Anregungen mitnehmen konnten und freuen uns sehr über Ihre Kommentare.

Bei weiteren Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung. Oder Sie tragen sich zum IdeeQuadrat-Newsletter ein und verpassen sicher keinen Beitrag mehr.

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Dialogräume gestalten oder: Wie es gelingt, mit Angst, Unsicherheit und Spaltung umzugehen

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Die Pandemie ist alles andere als vorbei, da beginnen alte weiße Männer ihre Machtfantasien an der russisch-ukrainischen Grenze auszuleben. Das wirkt wie ein beleidigtes Kind, dem man im Sandkasten den Eimer geklaut hat. Die Klimakatastrophe zeigte im letzten Jahr mit krassen Überschwemmungen und in diesem Jahr mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 160 km/h, dass der Mensch der Erde ziemlich egal ist. Digitale Entwicklungen bedrohen ganze Branchen. Die individuell notwendigen Kompetenzen, um hier „mithalten“ zu können, sind in der Breite alles andere als entwickelt. Und in Teams, Organisationen und der Gesellschaft als Ganzes flammen Konflikte auf, die sich um den korrekten Umgang mit den Regeln und Vorgaben zur Bekämpfung der Pandemie drehen. Wie kann es gelingen, in diesen komplexen, sich permanent verändernden Zeiten den Kopf über Wasser zu halten? In meinen Augen müssen wir dazu wieder wirklich miteinander ins Gespräch kommen. Dazu will ich hier anregen, Dialogräume zu schaffen.

Was sind Dialogräume?

Als Dialogräume definiere ich Zeiten und Räume, in denen es möglich ist, angstfrei miteinander ins echte Gespräch zu kommen. Daraus resultiert gegenseitiges Verstehen. Und daraus wiederum resultieren neuen Handlungen zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft.

In dieser Definition sind ein paar Aspekte enthalten, die wir näher anschauen müssen. Zu klären ist insbesondere, was unter Zeit und Raum zu verstehen ist, wie viele Personen teilnehmen können, wie die Schaffung psychologischer Sicherheit gelingen kann und und wie echtes Zuhören gelingt.

Zeit und Raum

Dialogräume brauchen Raum und Zeit. Aber Dialogräume müssen nicht in super hip ausgestatteten Future-Offices stattfinden. Im Gegenteil geht es darum, das zu nutzen, was ist: Die Teamsitzungen, der gemeinsame Spaziergang um den Block, das Sofa zu Hause, den Gemeindesaal, das Café um die Ecke. Notwendig ist jedoch, sich Zeit und den möglichst ungestörten Raum für den Dialog zu reservieren.

Allein, zu zweit oder in der Gruppe

Redest Du auch manchmal mit Dir selbst? Und hörst Du Dir zu? Wirklich?

Mir gelingt das nicht besonders. Jeder in meinem inneren Team beansprucht die Bühne – vor allem in herausfordernden Zeiten. Das führt zu ziemlichem Lärm in meinem Kopf. Was ich damit sagen will:

Auch allein macht es Sinn, den eigenen Anteilen zu zuhören zu können. Dazu ist Ruhe nötig, Meditation, Wald, Rauskommen.

Ein Dialograum ist aber auch zu zweit wunderbar zu gestalten. Auch im Zwiegespräch, im Gespräch mit dem/der Partner_in, mit dem/der Kolleg_in, mit dem/der Vorgesetzten, ist Ruhe und Zeit notwendig, um Zuhören gelingen zu lassen. Zum letzten Punkt gibt es übrigens wenig Schlimmeres als standardisierte, angstbesetzte, jährliche Mitarbeitergespräche. Das ist kein Dialog.

Und auch in Teams, Organisationen und großen Gruppen gelingen Dialogräume, zu denen es wiederum Zeit, Ruhe und die Möglichkeit braucht, den anderen Teilnehmer_innen angstfrei zuhören und seine Gedanken und Gefühle äußern zu können.

Angstfreie Räume und psychologische Sicherheit

Zum letzten Punkt habe ich das Konzept der psychologischen Sicherheit in meinem letzten Newsletter bereits aufgegriffen:

Um in Teams und Gruppen das äußern zu können, was man wirklich denkt und fühlt, ohne Gefahr zu laufen, dafür abgestraft, komisch angeschaut, in eine Ecke gestellt zu werden, braucht es emotionale bzw. psychologische Sicherheit.

Psychologische Sicherheit ist „a sense of confidence that the team will not embarrass, reject, or punish someone for speaking up“, so Amy Edmondson, die an der Harvard Business School als Professorin für Führung und Management zu den Geheimnissen erfolgreicher Teams, dem Lernen in Organisationen und zur psychologischen Sicherheit lehrt und forscht.

Für psychologische Sicherheit in Teams sind insbesondere zwei Faktoren wesentlich (vgl. diesen Link hier):

  • Durchschnittlich ausgeprägte soziale Sensibilität. Jeder im Team ist in der Lage und willens wahrzunehmen, wie es dem Gegenüber gerade geht. Dadurch kann jede/r in der Regel angemessen auf diese wahrgenommene Befindlichkeit reagieren. Neudeutsch würde man von der Fähigkeit zu einer Begegnung auf Augenhöhe sprechen.
  • Gleichmässig ausgeprägte Redeanteile aller Teammitglieder. Am Ende des Tages sind alle ungefähr gleich häufig zu Wort gekommen und haben gleich grosse Redeanteile erhalten. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Art und Weise, wie Redeanteile von einer zur nächsten Person übergeben werden. Sprich, ob man sich traut und sicher fühlt, sich überhaupt zu Wort zu melden. Oder ob die innere Zensurstimme die Oberhand gewinnt, basierend auf einem Glaubenssatz wie, «da sage ich lieber nichts, damit es mir nicht so ergeht wie der Kollegin letzte Woche, über die seither hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird».“

Eigentlich einfach, oder? Naja, spätestens wenn es ans Zuhören geht, wird es etwas herausfordernd…

Zuhören

Im vorletzten Absatz habe ich das Zuhören angesprochen. Zuhören ist aber – das hat spätestens Otto Scharmer sehr eindrücklich auf den Punkt gebracht – nicht gleich Zuhören.

Scharmer unterscheidet die vier Ebenen des Zuhörens „Downloading, Seeing, Sensing und Presencing“, die ich hier nur skizzieren kann:

  1. Downloading: Downloading ist die erste Ebene des Zuhörens. Sie ist hilfreich für einfache, wiederkehrende Prozesse und Routinen, die sich bspw. in Checklisten, Anleitungen o.ä. zusammenfassen lassen. Downloading im Gespräch erkennt man bspw. An Äußerungen wie „Das wissen wir schon!“, „Kein Problem!“ bis hin zum „Hier ist die Lösung auf Deine Frage!“ Kurz: Es geht nicht um das Neue, sondern nur um die Bestätigung bzw. Ablehnung der eigenen Annahmen.
  2. Seeing: Seeing fokussiert auf die im Gespräch geäußerten Daten und Fakten. Man nimmt diese bewusst wahr und reflektiert Widersprüche zum Gewohnten. Man versucht außerdem, die Widersprüche mit eigenen, gewohnten Mustern und dem eigenen Wissen zu verknüpfen. Im sachlichen Gespräch findet eine Auseinandersetzung über Daten und Fakten statt. Das logische Denken dominiert. Aussagen auf dieser Ebene sind bspw. „Das kann nicht sein“ oder „Das stimmt so nicht! Die Statistik zeigt ganz andere Zahlen.“ Hier kommen Widerstände zum Ausdruck und automatisch kommt die Stimme des Urteils (richtig/falsch) zum Vorschein.
  3. Sensing: Auf dieser Ebene des Zuhörens kommt es zur Öffnung des Fühlens. Empathie kommt ins Spiel und der Versuch, den Anderen wirklich wahrzunehmen und „in seinen Schuhen zu gehen“. Hier dockt auch die erste Notwendigkeit zur Gestaltung der psychologischen Sicherheit an – die zumindest durchschnittlich ausgeprägte soziale Sensibilität zur Schaffung eines Klimas des Vertrauens. Auf dieser Ebene des Zuhörens wandert der Aufmerksamkeitsfokus nach außen, außerhalb der eigenen Person bzw. Situation (oder auch Organisation). Hier kann es gelingen, gemeinsam mit dem/den Gesprächspartner_innen von außen auf die eigene Person, Situation oder Organisation zu schauen. Die blinden Flecken im eigenen Denken werden sichtbar.
  4. Presencing: Im Scharmers Theory U ändert das Zuhören auf Ebene des Presencing nicht nur die Sichtweise, die Perspektive. Wenn es gelingt, auf dieser Ebene zusammenzukommen, ist das Ergebnis, „dass wir am Ende nicht mehr dieselbe Person sind, die wir zu Beginn des Gesprächs waren“, wie es in diesem umfangreichen Beitrag zu den vier Ebenen des Zuhörens heißt. „Man agiert auf einem höheren Aufmerksamkeitslevel, und dies ermöglicht uns tiefer an die Quelle unseres eigenen (oder auch organisationalen) Selbst heranzukommen. „Wer möchte ich (wirklich) sein?“ (und nicht welche Rolle möchte ich spielen) und „Wo möchte ich Nutzen und Sinn stiften?“ sind hier die beiden zentralen Fragen.“ Daraus resultieren dann wirklich neue Handlungen, die aus der Zukunft her Gegenwart gestaltet.

Hast Du die vierte Ebene schon mal erlebt? Wenn ja, freue ich mich riesig über einen Kommentar, wie es dir gelungen ist. Denn einfach und oft ist sie wohl nicht zu erreichen. Aber ohne die dritte Ebene, das emphatische Zuhören, wird echtes Verständnis und die Gestaltung der daraus neu resultierenden Möglichkeiten schwer werden.

Dialogräume konkret

Ja, die Gestaltung von Dialogräumen ist auf den ersten Blick voraussetzungsreich.

Aber wenn man pragmatisch herangeht, eröffnen sich Möglichkeiten. Dazu hier ein paar Fragen und Anregungen, die Dir vielleicht helfen, auf individueller Ebene, auf Paarebene, auf Teamebene, auf Organisationsebene und auch auf Ebene der Gesellschaft Dialogräume zu schaffen.

Individuelle Dialogräume

Wo und wann nimmst Du Dir echte Auszeiten, in denen Du Dir und den in Dir agierenden Anteilen aufmerksam zuzuhören? Ich selbst versuche regelmäßig zu meditieren, um zumindest ein wenig Ruhe in das Geplapper in meinem Kopf zu bekommen. Außerdem hilft mir Bewegung, Wandern und Sport, um Nachdenken und mir selbst zuhören zu können. Und ja, als Familienvater mit drei Kindern geht es leider nicht darum, das nächste Sabbatical zu planen, sondern „Miniauszeiten“ im Alltag zu integrieren. Heißt konkret: 15 Min. meditieren und regelmäßig Bewegung (whatever regelmäßig means).

Dialogräume als Paar

Familien sind von den Auswirkungen der Pandemie hart getroffen. Homeoffice, Geldsorgen, Alltagsbewältigung ohne schöne Rituale (Fasnet daheim ist keine Lösung), unregelmäßiger Besuch von Kindergarten und Schule, Angst vor der eigenen Erkrankung und der Erkrankung von Angehörigen bis hin zum innerfamiliär unterschiedlichen Umgang mit essentiellen Fragen der Pandemiebewältigung (Impfen ja oder nein?) treffen Paare mit und ohne Kinder hart. Unter dem Begriff des „Zwiegesprächs“ findet sich ein interessantes Konzept, das es ermöglicht, im ganzen Alltagsscheiß wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Lohnt sich…

Dialogräume im Team

Hier verweise ich auf das schon angesprochene Konzept der psychologischen Sicherheit. Im Team gilt es, hierarchieunabhängig auf die gleichen Redeanteile zu achten (vorausgesetzt, die durchschnittlich ausgeprägte Empethiefähigkeit stimmt, was ich aber bei den Leser_innen meines Blogs mal voraussetze 😉

Der verlinkte Beitrag gibt Dir Fragen an die Hand, die für die systematische Reflexion und Verbesserung der Dynamik im Team hin zu mehr psychologischer Sicherheit sinnvoll sind:

  • „Wie gut nutzt ihr das Team-Potenzial auf einer Skala von 1 (low performing) bis 99 (high performing) aus?
  • Welche Kraftquelle gibt dir ganz persönlich in diesem Team am meisten Energie?
  • Was kostet dich ganz persönlich in diesem Team am meisten Energie?
  • Was ist dein Beitrag zu den Kraftquellen und Energiefressern im Team? Wie beurteilen die anderen Teammitglieder deinen Beitrag?
  • Wie steht es um eure psychologische Sicherheit? Was ist der Beitrag jedes Teammitglieds zur psychologischen Sicherheit?“

Nehmt ihr euch regelmäßige Zeit und Raum, die Fragen in Eurem Team zu reflektieren?

Dialogräume in der Organisation

Hier greife ich die Idee von Sabine auf, die sie in einem der letzten „Werkraum Zukunft“ Veranstaltungen die Idee der Denkräume geäußert hat. Kurz:

Es braucht „Denkräume“ in unseren Organisationen, in denen es angstfrei möglich ist, über die Zukunft nachzudenken, zu sprechen und – vielleicht im Sinne der Theory U von Otto Scharmer – Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.

Oftmals reichen aber schon neue Formate wie gemeinsame Barcamps, die ohne Vorgaben Themen der Menschen in der Organisation öffnen. Ebenfalls hilfreich ist die Methode des Lean Coffee, die sehr schnell und kompakt abteilungsübergreifend neue Möglichkeiten der Kooperation innerhalb der Organisation eröffnen kann.

Dialogräume in der Gesellschaft

In einem der letzten Beiträge habe ich den Gedanken formuliert, dass die kommunalen Verwaltung eine Schlüsselrolle einnimmt, wenn es um New Work geht.

Unter New Work verstehe ich hier ganz explizit die Grundidee von Bergmann, der nicht von Organisationsentwicklung, sondern von der (sozialutopischen) Gestaltung der Gesellschaft spricht.

Und für die Gestaltung der Gesellschaft braucht es Begegnungs- und Dialogräume, die – so die These des Beitrags – von Seiten der kommunalen Verwaltung vor Ort gestaltet werden können (und müssen).

Es braucht vor Ort Dialogräume, in denen die Menschen aus dem Stadtteil, der Nachbarschaft, der Kommune wieder zusammen kommen können, um miteinander zu reden, sich zuzuhören und neue Ideen für ihren lebenswerten, zukunftsfähigen Sozialraum zu gestalten.

Zur Gestaltung und Begleitung der Dialogräume bedarf es neuer Kompetenzen auf Seiten der Mitarbeiter_innen in den Verwaltungen (oder die Einstellung von Menschen), damit entsprechend offene und damit unsichere Beteiligungsprozesse gestaltet, begleitet und „der Raum gehalten“ werden kann.

Hieraus, aus dieser „New Work Vision“ erwachsen auch, so zumindest meine Hoffnung, neue Optionen zur Bewältigung des Fachkräftemangels in den Verwaltungen.

Dialog in der Organisationsentwicklung

Noch ein Gedanke zum Abschluss, der mich in meiner Arbeit immer wieder tangiert:

Organisationsentwicklungsprozesse erzeugen Instabilität. Das hat bspw. Peter Kruse hier sehr lesenswert dargelegt. Instabilität erzeugt immer Unsicherheit. Und daraus wiederum folgt – völlig nachvollziehbar – Widerstand.

Entsprechend gilt es auch in Organisationsentwicklungsprozessen, Dialogräume zu schaffen, um die Ängste und Sorgen der von den angestrebten Veränderungen betroffenen Mitarbeiter_innen nicht nur zu hören, sondern daraus im besten Fall neue Optionen zur Gestaltung des Prozesses ableiten zu können.

Denn, auch das darf kein Geheimnis bleiben, jede Intervention in eine Organisation hat Vor- sowie Nachteile. Es gibt immer Gruppen, die am Status Quo leiden (sonst würden die Prozesse nicht angestoßen). Und gleichzeitig gibt es Menschen und Gruppen, die am Neuen leiden. Das lässt sich zwar nicht ändern, aber durch offenen, sicheren Dialog besprechbar machen.

Unsicherheit bewältigen im Dialog

Zum Ende greife ich noch einmal den Titel des Beitrags auf:

Die Anforderungen, Brüche und permanenten Veränderungen, die heute und in Zukunft an uns und vor allem an die nachfolgenden Generationen gestellt werden, sind unfassbar komplex, kaum überschaubar. Sie können vor allem nicht durch einfache „Schwarz-Weiß Antworten“ gelöst werden. Das macht Angst und löst massive Unsicherheiten aus – individuell, in Familien, in Teams, Organisationen und der Gesellschaft. Dies gilt vor allem, da wir den Umgang mit Komplexität in unseren formalen Bildungswegen nicht gelernt haben. Daraus folgt:

[bctt tweet="Wir müssen die Gestaltung komplexer Zukünfte ganz neu lernen. Das gelingt in Dialogräumen."]

Und zur Entwicklung der Kompetenzen zum Umgang mit Unsicherheit und zur Gestaltung komplexer Zukünfte braucht es das geschilderte, gesteuerte und oft auch begleitete Zusammenkommen. Wir brauchen Räume, in echten Dialog zu treten, Räume, sich zuzuhören, Gräben zu überwinden und gemeinsam neue Lösungen und damit soziale Innovationen zu entwickeln und umzusetzen. Und vielleicht zeigen sich durch die Dialoge sogar bislang verborgene Ressourcen zum Umgang mit Komplexität und Veränderung, die in der Vergangenheit bereits wirksam geholfen haben.


Haben die Informationen Dich in Deiner Arbeit weitergebracht? Dann freue ich mich, wenn Sie mir davon berichten.

P.S.: Hier findest Du noch einen Beitrag, in dem ich 10 Strategien für den erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit darlege. Vielleicht hilft Dir auch das…

Rezension: Veränderungsmanagement in der Sozialwirtschaft

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Wie gelingt erfolgreiches Veränderungsmanagement in und von Organisationen der Sozialwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung des digitalen Wandels? Anhand von Fallbeispielen werden im Buch „Veränderungsmanagement in der Sozialwirtschaft. Praxisorientierte Personal- und Organisationsentwicklung in unruhigen Zeiten des digitalen Wandels“ Chancen wie auch Herausforderungen der digitalen Transformation für Organisationen und Mitarbeiter*innen in der Sozialwirtschaft aufgezeigt.

Dabei werden die Aspekte der Digitalisierung im Bereich Lernen und Entwicklung, Wissensmanagement und Zusammenarbeit explizit betrachtet. Ferner werden mögliche Auswirkungen auf die Organisationskultur berücksichtigt. Über die beschriebenen Fallbeispiele sollen „praxiserprobte Instrumente für ein gelingendes Change-Management im Rahmen von Best-Practice-Beispielen zur Verfügung gestellt und mit hilfreichen Praxistipps angereichert“ (1) werden.

Zielgruppe des Buchs auf Ebene der Entscheider*innen, Führungskräfte und Praktiker*innen in der Sozialwirtschaft.

Veränderungsmanagement in der Sozialwirtschaft – meine Bewertung

Das Buch lässt sich aus meiner Perspektive als praxisorientierter, grober Überblick über Möglichkeiten der Organisationsveränderung mit einem spezifischen Fokus auf die Beeinflussung der Organisationskultur verstehen. Dabei werden einige gute Ansätze zur Gestaltung von Veränderungsinitiativen aufgezeigt, die dem einen oder anderen Projekte sicherlich dienlich sein können.

Wünschenswert wäre an einigen Stellen die tiefergehende Betrachtung systemischer Perspektiven gewesen, um so die Steuerungsfantasien insbesondere mit Blick auf die Gestaltung der Organisationskultur in Grenzen zu halten.

Für Praktiker*innen, die einen ersten Überblick über die Themen Kulturveränderung in Verbindung mit möglichen Aufgabenstellungen aus dem umfassenden Kontext der Digitalisierung erhalten wollen, ist das Buch empfehlenswert.

Rezension auf socialnet

Die vollständige Rezension zum Buch findest Du bei socialnet unter diesem Link!

Und unter diesem Link kannst Du das Buch bei genialokal erwerben! 


P.S.: Lust auf Online-Workshops zur Entwicklung sozialer Organisationen? Dann schau mal hier vorbei! Vielleicht ist ja was für Dich oder Dein Netzwerk dabei?

4 Schritte zu einem lebendigen Innovationsmanagement

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Vor inzwischen 5 Jahren habe ich meine Master-Thesis zur Frage geschrieben, wie es Organisationen der Sozialwirtschaft gelingt, ihre Innovationsfähigkeit zu erhöhen. Es ging darum, organisationale Innovationskompetenz aufzubauen. Unter den Begriff der organisationalen Innovationskompetenz fallen dabei viele Aspekte, die ich – als Fazit der Arbeit – in zehn Thesen formuliert habe. Ich will diese hier nicht wiedergeben, sondern nur auf eine These eingehen. Diese These lautete: Organisationen der Sozialwirtschaft müssen ein Innovationsmanagement etablieren, das sowohl die Ebene des normativen, strategischen und operativen Managements als auch der Geschäfts-, Unterstützungs- und Vernetzungsprozesse abbildet.

Ich greife hier diese These auf, da mir immer wieder auffällt, dass es den Organisationen nach all den Jahren in der digitalen Transformation und angesichts der anstehenden Herausforderungen – allen voran der Etablierung echter ökologischer, aber auch sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit – immer noch schwerfällt, Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.

Viele Organisationen, Verbände, Bildungseinrichtungen und Kommunen verfügen nicht über ein System, in dem die Ideen, die bei den Mitarbeiter*innen gären, aber auch aus der Umwelt an die Organisationen herangetragen werden, so aufgegriffen werden, dass sie zu echten Innovationen – also umgesetzten Ideen – werden.

Innovation habe ich damals ganzheitlich definiert als die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen, die darauf ausgerichtet sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige oder bessere Weise zu erreichen.

Was ist Innovationsmanagement?

Zwischen Innovation und Management klafft eine Lücke: Innovation ist das Neue, das Unerwartete, oftmals das Zufällige. Innovation ist in den Worten von Wolf Lotter („Streitschrift für barrierefreies Denken“) „die Hoffnung, dass es besser wird.“

Diese Hoffnung lässt sich doch nicht managen, oder?

Mit Blick auf die Organisationen, die ich in meiner Arbeit begleite, ist es jedoch komplizierter: Sie sind ausgerichtet auf Stabilität. Das ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar und wichtig: Gerade die Arbeit mit Menschen braucht Zuverlässigkeit und Sicherheit. „Herumexperimentieren“ wird da zum (auch ethischen) Problem.

Hinzu kommt, dass sich soziale Organisationen in den 90er Jahren aufgrund gesetzlicher Anforderungen und ausgehend von Verwaltungsreformen – nicht freiwillig – ausgerichtet haben auf „neue Steuerungsmodelle“. Diese sind jedoch angelehnt an sehr klassische Vorstellungen von Management: Formale Hierarchien, Controlling und die heute immer noch vorherrschenden Vorstellungen von Qualitätsmanagement, Controlling, Prozessmanagement etc. sind Artefakte dieser Art der Organisationsgestaltung. Diese Art der Organisationsgestaltung wird jedoch in vielen Fällen von den Kostenträgern (Kommunen, Rentenversicherung etc.) eingefordert. Entsprechend sind neue Organisationsansätze immer unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu bewerten: Dürfen wir dies und jenes ausprobieren, ohne unsere wirtschaftliche Stabilität zu gefährden?

Ein Innovationsmanagementsystem dient vor diesem Hintergrund und unter den spezifischen Bedingungen sozialer Organisationen dazu, „neue Ideen zu entwickeln, zu fördern und einen Prozess zu gestalten, der ihre Durchsetzung sichert“ (Güntner, Langer, 2018, 823).

Wie aber kommen Sie zu einem (lebendigen und vor allem wirkungsvollen) Innovationsmanagement?

Dazu finden Sie im folgenden vier „Grundschritte“, die aus meiner Sicht unabdingbar sind:

1. Innovationsverständnis schaffen

Im Kern steht hier die Frage: Was ist Innovation für Ihre Organisation?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, die unterschiedlichen Innovationsarten und Innovationsgrade zu kennen und diese für die eigene Organisation zu spezifizieren. Hilfreich sind auch immer, die Ideen mit Beispielen zu hinterlegen, damit die Mitarbeiter*innen einen Vorstellung der Möglichkeiten haben.

Die oben angeführte Definition zeigt, dass Innovation auf den folgenden Ebenen ansetzt bzw. folgende Innovationsarten umfasst:

Produkt- bzw. Dienstleistungsinnovation: Entwicklung und Vermarktung neuer oder die Verbesserung bestehender Dienstleistungen.
Prozessinnovation: Entwicklung neuer oder Verbesserung bestehender Prozesse (die nach außen nicht zwingend sichtbar sind), die es ermöglichen, effektiver und/oder effizienter zu agieren.
Strukturinnovation: Entwicklung eines neuen oder die Verbesserung der bestehenden Organisationsstruktur mit dem Ziel der Steigerung der Wirksamkeit der Organisation.
Geschäftsmodellinnovation: Neuentwicklung oder Verbesserung der Art und Weise, wie Ihre Organisation seine Leistung erstellt, auf den Markt bringt und damit (finanzielle und soziale) Wertschöpfung generiert.

Relevant ist aber auch der Innovationsgrad. Hier kann unterschieden werden zwischen der:

  • inkrementellen Innovation, die einen bereits bedienten Markt betrifft und auf bekannten Vorgehensweisen aufbaut, es geht um Weiterentwicklung.
  • Entwicklung einer neuen Vorgehensweise, wobei der Zielmarkt aus Sicht der Organisation jedoch derselbe bleibt.
  • Entwicklung eines neuen Arbeitsfeldes mit bereits erprobten Vorgehensweisen.
  • radikalen Innovation, die sowohl ein neues Arbeitsfeld fokussieren und auf neuen Technologien/Vorgehensweisen basieren.

Sinnvoll zur Beantwortung der Frage, was Innovation für Ihre Organisation ist, ist die Beteiligung möglichst vieler Menschen der Organisation und auch externer Stakeholder. Dazu ist ein einführender Workshop sinnvoll, in dem die Notwendigkeit von Innovation dargelegt und die unterschiedlichen Möglichkeiten vorgestellt werden.

Ziel ist es, Innovationsarten und Innovationsgrade festzulegen und auf die Spezifika der Organisation anzupassen. Es macht hier auch Sinn, bereits laufende und geplante Projekte den Innovationsarten und – graden zuzuordnen.

2. Innovationsstrategie erarbeiten

Im zweiten Schritt ist ein Rahmen zu bestimmen, innerhalb dessen die innovativen Aktivitäten Ihrer Organisation stattfinden sollen (Innovationsfelder).

Weitere Schritte dieses Handlungsfeldes sind die Bestimmung von Zielen innerhalb des Rahmens sowie die Bestimmung des Vorgehens zum Erreichen der Ziele.

Mit diesen Entscheidungen sind die wesentlichen Eckpunkte einer Innovationsstrategie definiert.

Insbesondere sind folgende Fragen zu klären:

  • Wozu wollen wir Innovation?
  • Wo, in welchen Bereichen, wollen wir Innovation?
  • Was wollen wir neu gestalten oder verbessern?
  • Welche Ziele lassen sich daraus ableiten?
  • Wie wollen wir diese Ziele erreichen?
  • Was machen wir schon aktuell?

Hier wird deutlich, dass die Innovationsstrategie eng an die Organisationsstrategie andocken muss:

„Nur wenn ein Innovationsmanagement ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie ist, können die wichtigsten Phasen eines Innovationsprozesses (Ideengenerierung, Ideenpriorisierung, Konzeptualisierung, Implementierung) überhaupt an die entscheidenden Einflussfaktoren angebunden werden, an Organisation (organisationale Faktoren) und Mensch (personale Faktoren und Team)“ (ebd., 823f).

Strategie bedeutet aber auch, festzulegen, wo keine neuen Entwicklungen verfolgt werden. Bspw. lassen sich auch Geschäftsfelder finden, die zukünftig nicht weiter verfolgt werden sollen.

Hinsichtlich der Innovationsziele ist relevant, diese am Leitbild des Gesamtunternehmens zu orientieren. Unter Leitbild verstehe ich die Kombination aus Unternehmensvision, -mission, Werten und strategischen Stoßrichtungen. Diese Sichtweise basiert auf dem Framework OKR, in dem die Ziele nicht als smarte Ziele formuliert, sondern als „Mini-Visionen“ mit Key Results hinterlegt werden. Das Leitbild ist damit ein lebendiges Dokument, in dem der aktuelle Zustand und die zukünftige Ausrichtung der Organisation abgebildet wird.

3. How to, oder: Prozesse des Innovationsmanagements definieren

Wie oben definiert ist Ziel eines Innovationsmanagementsystems, die Entwicklung und Förderung von Ideen ermöglichen und einen Prozess zu gestalten, der zur Umsetzung der Ideen führt. Denn erst die Umsetzung macht Ideen zu Innovationen. Die Umsetzung muss jedoch so effizient und effektiv wie möglich erfolgen.

Die erfolgsversprechendsten Projekte sollen möglichst ressourcenschonend verfolgt werden. Entsprechend relevant ist es, für die einzelnen Schritte des Innovationsmanagements Prozesse zu gestalten. Diese müssen aufeinander abgestimmt und in ein integriertes Innovationsprozesssystem zusammengefasst werden. Hier sind auch Verantwortlichkeiten (Personen und Gremien) sowie Entscheidungsroutinen festzulegen.

Sinnvoll in diesem Schritt ist das Herangehen mit der schrittweisen Ermöglichung von sich zunehmend entwickelnden Ideen.

So kann der Innovationsprozess zunächst grob untergliedert werden in die beiden Phasen der

a) Ideenfindung: Nicht nur durch Duschen, sondern vor allem mithilfe unterschiedlicher Kreativitätstechniken, aber auch basierend auf Rückmeldungen aus der Umwelt, von Nutzer* innen, Angehörigen, Kostenträgern und weiteren internen wie externen Stakeholdern, werden Ideen für neue sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen generiert. Ein in der Phase sehr hilfreiches Tool ist für mich der Double Diamond Prozess, der den Kreativprozess visualisiert und damit ermöglicht, die Bedürfnisse der Nutzer*innen gezielt zu verstehen und für die Innovationsentwicklung zu nutzen. Der Double Diamond Prozess verläuft schrittweise vom Verstehen des Problems über die konkrete Definition des spezifischen Problems und das Entwickeln erster Lösungsansätze bis hin zu ersten, spezifischen Lösungen/Prototypen (vgl. b). Aber auch Design Thinking hilft in dieser frühen Phase zur Findung von Ideen. Insbesondere in dieser sowie in der Phase der Ideenumsetzung können Innovation Labs wertvolle Dienste leisten und Unterstützung liefern.

b) Ideenumsetzung: Im Vordergrund steht die Frage: „Wie kommen wir von der Idee zur neuen Lösung!?“ Neben klassischem Projektmanagement zur Begleitung der Innovationsprozesse sind die Methoden des agilen Projektmanagements hilfreich und handlungsleitend. Insbesondere ein Vorgehensmodell orientiert an der Logik von Scrum ist erfolgsvorsprechend, da nicht „im stillen Kämmerlein“ an der Umsetzung gearbeitet wird, sondern immer wieder der Kontakt zu den Nutzer*innen gesucht wird.

Für beide Phasen sind dann Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf strategischer, administrativer und operativer Ebene festzulegen.

Strategische Aufgaben betreffen strategische Entscheidungen (Erarbeitung und Entwicklung der Innovationsstrategie, Festlegung des Innovationsbudgets, Zuteilung von Ressourcen…). Auf den ersten Blick ist hier die Geschäftsführung gefragt. Bewährt hat sich jedoch, im Sinne des Open Innovation Ansatzes (vgl. bspw. Hanisch, Grau, 2020) ein Innovationsgremium einzurichten, in dem auch innovationsorienterte Mitarbeiter*innen, Mitarbeiter*innen (aus dem Innovation Lab) und ggf. weitere (externe) Stakeholder auf strategischer Ebene eingebunden werden. Dadurch erweitert sich der Blick auch auf die strategischen Fragen des Innovationsmanagements.

Auf administrativer Ebene ist festzulegen, wie der reibungslose Ablauf des Innovationsprozesses sichergestellt werden kann. Auf dieser Ebene kommen Innovations(prozess)manager*innen ins Spiel, die bspw. Die erste Prüfung eingereichter Ideen vornehmen und das Projektmanagement, Meetingmoderation etc. vornehmen können.

Operative Aufgaben umfassen die konkrete Durchführung der Innovationsprojekte. Die jeweiligen Projektverantwrtlichen sind hier die relevanten Personen.

Zur strategischen Steuerung der jeweiligen Innovationsprojekte hat sich bewährt, dass das Innovationsgremium iterativ (in regelmäßigen Abständen, bspw. quartalsweise) zusammenkommt und entscheidet, ob die angestoßenen Innovationsprojekte in die nächste Phase des Entwicklungsprozesses übergehen, weiterbearbeitet oder abgebrochen werden sollen.

Herausfordernd im sozialwirtschaftlichen Kontext ist die Festlegung von Kennzahlen als Entscheidungsgrundlage für das Innovationsgremium. Hilfreich ist in dem Kontext aber bspw. die Messung des Inputs (Wie hoch ist der bisherige Aufwand an Personal und Kosten?).

Diese Phase abschließend ist darauf zu verweisen, dass es nicht um Innovation um der Innovation willen geht. Im Zentrum muss immer der Impact, die Wirkung für die Nutzer*innen stehen.

Entsprechend ist das Innovationsmanagementsystem insgesamt in regelmäßigen Retrospektiven hinsichtlich des Funktionierens des Prozesses selbst (bspw. Anzahl der Ideen) und des Ergebnisses (Output) (bspw. Umsatz, neue Geschäftsfelder, neue interne Prozesse…) zu reflektieren: Erzielen wir mit dem, was wir beabsichtigen, echte soziale Wertschöpfung? Ist unser Innovationsprozess wirkungsvoll? Hier bietet sich an, den Rhythmus der regelmäßigen Überprüfung und Entwicklung der Innovationsstrategie zur Reflexion des Innovationsmanagementsystems insgesamt zu nutzen.

4. Innovationsmanagement in der Gesamtorganisation verankern

Die Umsetzung der ersten drei Schritte ist zwar nett, aber ein funktionierendes Innovationsmanagementsystem entsteht erst, wenn die erarbeiteten Prozesse tatsächlich gelebt werden. Dazu ist es wesentlich, das Thema Innovation und das erarbeitete Innovationsmanagementsystem möglichst flächendeckend und regelmäßig zum Thema in der Organisation zu machen.

Nicht nur bei konkreten Innovationsprojekten, sondern bspw. auch bei der Einstellung neuer Mitarbeiter*innen oder bei Teamsitzungen sollte der Wille zur Innovation und die vorhandenen Prozesse thematisiert werden.

Gerade zu Beginn der Einführung ist es wichtig, erkannte Herausforderungen im Innovationsmanagementsystem schnell in das System einzubinden. Dadurch wird zu Beginn ermöglicht, das erarbeitete System an die real herrschenden, in sozialen Organisationen oft enorm komplexen, Bedingungen anzupassen.

Zur Schaffung einer Innovationskultur ist es entsprechend relevant, die Ausrichtung auf Innovation und das Verständnis des dahinterliegende Systems transparent und verständlich für alle Mitarbeiter*innen zu gestalten.

Hilfreich ist es, ein möglichst partizipatives Kick-off Event zum Start der Nutzung des Innovationsmanagementsystems durchzuführen. Bewährt haben sich in größeren Organisationen außerdem Leitfäden, die das System mit den wesentlichen Eckpunkten erklären und damit für alle Beteiligten Innovation greifbar und umsetzbar machen.

Auch das regelmäßige Aufgreifen von Innovation und die Darstellung innovativer Projekte in den internen wie externen Veröffentlichungen (bspw. Zeitungsberichten, Jahresberichten, Mitarbeiterzeitschriften, Blogs, Intranet…) ist wichtig, um Innovation und Lernen als Haltung und Kultur tiergehend zu etablieren. Last but not least sind regelmäßige Schulungen zu neuen (Projekt-)Management-Methoden und innovationsfördernde Veranstaltungsformate wie Barcamps oder Lean Coffee hochgradig sinnvoll, um Ideen zu generieren und Innovation und die entsprechende Kultur in der eigenen Organisation immer weiter zu entwickeln.

Fazit, oder: Die eigenen Anforderungen im Blick halten

Bis hier hin durchgehalten? Respekt… Ich will abschließend auch nur noch mal betonen, dass die beschriebenen Schritte zu einem lebendigen Innovationsmanagement auf die eigene Organisation anzupassen sind.

So braucht ein Komplexträger mit mehreren Tausend Mitarbeiter*innen eine andere Verankerung als ein kleiner freigemeinnütziger Träger sozialer Dienstleistungen. Unabhängig davon aber können die einzelnen Schritte hilfreich sein, um die wesentlichen Aspekte eines lebendigen Innovationsmanagementsystems zu bedenken.


Ach ja, inzwischen gibt es einen eigenen kleinen Online-Kurs zu dem Beitrag. Hier findest Du mehr Infos.


Hat Ihre Organisation eine Idee davon, wie mit neuen Ideen umgegangen werden soll? Und ist diese Idee in einen strukturiertes Vorgehen und damit in ein Innovationsmanagement geflossen? Würde mich sehr interessieren…