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Die Gallup Studie – the other way round…

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Wahrscheinlich kennt inzwischen jede*r die Gallup Studie? Diese misst – ja, was eigentlich? Sie misst – so die Aussagen auf der Homepage – seit 2001 wie hoch der Grad der emotionalen Bindung der Mitarbeitenden an ihren Arbeitgeber ist und damit ihr Engagement und die Motivation bei der Arbeit. Naja, hier ließen sich schon einige Fragen stellen, aber ich will es mal so stehen lassen.

Bezogen auf die jüngsten Ergebnisse – die Gallup Studie 2021 – werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Beschäftigte und den deutschen Arbeitsmarkt untersucht und, so Gallup, „folgende Aspekte vertieft:

  • Wechselbereitschaft & Arbeitsmarkt: Zahl der Beschäftigten auf Jobsuche erreicht Spitzenwert – Kündigungswelle bald auch in Deutschland?
  • Dauer-Stresstest Corona: Burn-out-Gefahr nimmt zu
  • Recruiting: HeadhunterInnen verstärkt auf Jagd nach Talenten
  • Schutzimpfung emotionale Bindung: Wie Unternehmen und Führungskräfte dem Wettbewerb um Talente entgegensteuern können“

Bei der Studie kommen dann über die Jahre hinweg ähnlich Ergebnisse heraus, die sich in der berühmten Grafik zeigen (die ich hier aus Urhebergründen nicht zeigen darf 😉

Aber die Grafik ist leicht erklärt:

Mit leichten Schwankungen bewegt sich die Anzahl der Mitarbeitenden mit hoher emotionaler Bindung immer irgendwo um die 15% (der „grüne“ Wert), die Anzahl der Mitarbeitenden mit geringer Bindung bei etwa 70 % (gelber Wert) und die Anzahl der Mitarbeitenden, die keine Bindung (roter Wert) mehr aufweisen, bei etwa 15 %. Grün, gelb, rot; 15 – 70 – 15.

Easy.

Keiner hat Bock zu arbeiten!?

Die verbreitete Lesart ist:

„Oh mein Gott, nur 15% unserer Mitarbeiter*innen sind emotional stark gebunden.“

Und ja, angesichts der Zeit, die wir auf Arbeit verbringen, ist das ein beängstigend niedriger Wert:

Eigentlich haben 85% der Menschen nicht wirklich Bock, die Arbeit zu verrichten, die sie verrichten.

Aber welche Lesart könnte noch angelegt werden?

Vorüberlegungen aus globaler und nationaler Perspektive sowie der Perspektive der Sozialwirtschaft

Dazu ein paar kurze Vorüberlegungen aus globaler und nationaler Perspektive sowie der Perspektive der Sozialwirtschaft:

Globale Ebene

Global betrachtet sind die Ausführungen von Otto Scharmer immer wieder mehr als lesenswert.

In seinem neuesten Beitrag (der dankenswerterweise auch in einer Übersetzung vorliegt) schreibt Scharmer, dass wir in einer Zeit des beschleunigten Zusammenbruchs und Kollapses leben:

„Wir sehen die Symptome dafür in der Verschlechterung unseres Ökosystems, die im Falle von Überschwemmungen und Dürren oft als “die schlimmste seit 1.000 Jahren” beschrieben wird. Wir sehen es an der Destabilisierung des Klimas, dem Absinken des Grundwasserspiegels, dem Verlust des Mutterbodens und dem alarmierenden Verlust der biologischen Vielfalt. Wir sehen die Symptome des Zusammenbruchs der sozialen Systeme in einem erhöhten Maß an Polarisierung, Ungleichheit, Rassismus, Gewalt und Krieg sowie in den Anfängen der klimabedingten Massenmigration.“

Scharmer bietet in dem Beitrag auch Lösungswege an.

Demnach gilt es unter anderem (aber prioritär) „unsere Systeme für Bildung und lebenslanges Lernen um[zu]gestalten. Während wir uns vielerorts vom Auswendiglernen zu stärker lernerzentrierten Modalitäten entwickelt haben, konzentriert sich die Bildung weiterhin auf individuelles Lernen und den Aufbau von Kapazitäten. Wir sind weit entfernt von Bildungsmodellen, die die Fähigkeit zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft aufbauen“ (ebd.).

Übrigens fand ich die Episode des Podcasts „Hotel Matze“ mit Ulrike Herrmann, die die Frage stellt, wie wir uns vom Kapitalismus befreien können, unglaublich spannend. Ihre Idee ist die Rückkehr ins Jahr 1978 und zur britischen Kriegswirtschaft.

Klingt komisch, ist aber eine mehr als hilfreiche, vor allem realistische Betrachtung des Zustands unserer Welt.

Nationale Ebene

National betrachtet sehen wir in und nach der Pandemie sowie befeuert durch den Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden, hochkomplexen Fragen der Energiesicherheit ein Erstarken rechter Parteien. Die Wahlergebnisse in Niedersachsen, bei denen die Deppen von der AfD ihr Ergebnis seit der letzten Wahl – ohne Inhalte, Ideen und Lösungen – fast verdoppeln konnten, sprechen hier eine deutliche Sprache.

Parallel dazu steuern wir durch die demographische Entwicklung in Deutschland auf einen massiven Arbeitskräftemangel zu, der zum einen das Problem mit sich bringt, dass in einigen Branchen eben die Arbeitskräfte fehlen. Zum anderen ist aber völlig offen, wie sich auf Basis der in den nächsten Jahren massiv steigenden Anzahl von Rentner_innen und einer gleichzeitig abnehmenden Anzahl von Arbeitsnehmer_innen das Rentensystem in irgendeiner Weise aufrechterhalten lässt.

Ich scherze immer mal wieder, dass ich ja nur noch 40 Jahre zu arbeiten habe und Holger macht sich Sorgen, dass bei seiner Verabschiedung kaum noch jemand in seiner Organisation arbeitet, der ihn verabschieden könnte 😉

Nein, ernsthaft: Da kommt was auf uns zu, was wir uns gesamtgesellschaftlich noch nicht vorstellen können.

Ebene der Sozialwirtschaft

Und bezogen auf die Sozialwirtschaft schreibt Joss Steinke auf Twitter:

https://twitter.com/JossSteinke/status/1578346691094192128

Das könnte man jetzt als überspitzt und zu hart betrachten.

Mein Eindruck hingegen aus verschiedenen sozialen Organisationen unterschiedlicher Arbeitsfelder unterstreicht die Aussage von Joss – nicht nur bezogen auf die Energiekrise:

Wenn die Menschen im sozialen Bereich nicht eine unglaublich hohe intrinsische Motivation und eine Gott sei Dank tief verwurzelte Berufsidentität mitbringen würden, die auf anderen als monetären Werten fußt, wäre der Zusammenbruch des Systems schon deutlich greifbarer als er von außen scheint.

Ach, und wer über geschlossene Kitas und die damit nicht mehr gegebene Möglichkeit jammert, gemütlich im Homeoffice zu arbeiten: Das ist die Zukunft! Vielleicht haben Oma und Opa ja Bock, die Kids wieder mehr zu nehmen?

Die Systeme am Rand des Zusammenbruchs

Was will ich sagen?

Ich will sagen, dass viele unserer Systeme auf globaler und nationaler Ebene ebenso wie einzelne Funktionssysteme unserer Gesellschaft am Rande des Zusammenbruchs stehen. Der kurze Hinweis auf einen Blick in den Iran sei hier noch gestattet. Das Akronym BANI kommt mir mal wieder in den Sinn.

Aber was hat das mit der Gallup-Studie zu tun?

Der Gedanke ist recht einfach:

In jeder Keynote (so heißen Vorträge in anderen Branchen) wird propagiert, dass wir „Organisationsrebellen“ bräuchten, die den Status Quo infrage stellen, um Innovation und echte Weiterentwicklung zu ermöglichen.

Die Organisationsrebellen sind aber nicht die Menschen, die sich mit den Zuständen, dem Bekannten, dem System, wie es ist, zufrieden geben.

Die Menschen im roten Bereich der Gallup Studie

Was wäre, wenn die Menschen im roten Bereich der Studie – die „emotional nicht Gebundenen“ – nicht die Menschen sind, die lieber entspannt ne Stunde früher Feierabend machen, sondern genau die Menschen sind, die sich eben mit den Zuständen nicht zufrieden geben?

Was wäre wenn es genau diese Menschen in den Organisationen sind, die die Systeme zu hinterfragen?

Was wäre, wenn es sich lohnt, den Fokus anstatt auf die „grünen, emotional hoch Gebundenen“ auf die „emotional nicht Gebundenen“ zu richten und deren Energie und Ideen zu nutzen, an der Veränderung der Systeme zu arbeiten?

Vielleicht – und das ist eine reine Vermutung – haben die Menschen im roten Bereich ja Antworten, die sich dringend zu hören lohnen? So ist klar:

Nur „dagegen“ sein, ist kein Weg. Es braucht Ideen, neue Lösungen, komplexes Denken und Handeln, es braucht (soziale) Innovationen und die „Hoffnung, dass es besser wird“.

Antworten, die sich zu hören lohnen

Daher der Hinweis:

Schaut auf die Menschen, die emotional nicht gebunden scheinen. Vielleicht sind sie viel mehr gebunden als angenommen. Nur eben nicht an das Bestehende.

Schaut auf die Menschen, die anscheinend „gegen die Organisation“ arbeiten. Verurteilt diese Menschen nicht vorschnell, sondern geht mit ihnen in ernsthafte Gespräche, in einen Dialog „auf Augenhöhe“.

Versucht, wirklich zuzuhören und offen zu sein für andere Sichtweisen.

Vielleicht haben die Menschen Antworten, Ideen, Lösungen, die bislang Tabus und blinde Flecken bleiben konnten, heute und morgen aber dringend benötigt werden, um unsere Sozialsysteme, unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlage aufrechtzuerhalten.

New Work als abschließender Gedanke

Eine Auseinandersetzung – ich meine eine ernsthafte Auseinandersetzung – mit dem Konzept „New Work“ und den Ideen von Bergmann kann hier ebenfalls weiterhelfen.

„New Work“ ist eben gerade keine „Lohnarbeit im Minirock“, keine aufgehübschte Arbeitswelt, in der die Menschen mit Ideen von Homeoffice und Selbstverantwortung in den bestehenden Systemen weiter ausgequetscht werden.

New Work ist eine Abkehr insbesondere von dem bestehenden System der Lohnarbeit, das uns die Probleme eingebrockt hat, vor denen wir auf allen Ebenen unserer Gesellschaft stehen.

Bei New Work geht es um weit mehr als um die Frage, was die Menschen in den bestehenden Systemen „wirklich, wirklich tun wollen“. Es geht um die Gestaltung von neuen, völlig anderen, undenkbaren, utopischen Systemen, die unsere Lebensgrundlagen aufrechterhalten.

Und vielleicht können die Menschen im roten Bereich der Gallup Studie hierzu passende, neue Anregungen liefern.