Schlagwort: organisationsentwicklung

Systemeversagen, oder: Ein Blick vom Beckenrand auf brüchige Kopplungen in der Sozialen Arbeit

Tags: , , , , , , , , ,

Als eine Art Präambel schicke ich dem Beitrag eine Warnung vorweg: Er passt nicht in die Kategorie „Blogbeitrag“, denn ich liefere keine einfachen „Handlungsschritte“. Vermutlich entspricht er auch nicht der Logik von Beiträgen, die „schnell und gut“ gefunden werden, sei es durch Suchmaschinen oder KI. Außerdem ist der Beitrag bewusst ausführlich, wahrscheinlich sogar zu ausführlich. Er ist eher eine Standortbestimmung als eine Checkliste und somit die Verschriftlichung meiner „Beobachtungen vom Beckenrand“. Mit diesen möchte ich selbst reflektieren und einen Dialog ohne vorschnelle Vereinfachungen ermöglichen. Der Beitrag verfolgt die These, dass zunehmende Krisenerfahrungen in Organisationen der Sozialen Arbeit nicht auf das Versagen einzelner Akteure – ob Menschen oder Organisationen – zurückzuführen sind, sondern vielmehr Ausdruck dauerhaft überlasteter und damit zunehmend brüchiger Kopplungen in der Sozialen Arbeit zwischen nicht mehr funktionierenden Kostenträgern und den ebenfalls hoch belasteten Leistungserbringern sind, die von den Kostenträgern abhängig sind.

Konkret habe ich vor Kurzem mit der Geschäftsführung eines großen Jugendhilfeträgers gesprochen. Im Gespräch wurde deutlich, dass sie zunehmend feststellen, dass die Regelsysteme des kommunalen Trägers nicht mehr so stabil aufgestellt sind, wie man es aus der Vergangenheit gewohnt war. Ein Symptom dafür sei beispielsweise, dass es vermehrt zu längerfristigen Nicht-Erreichbarkeiten bei öffentlichen Stellen, beispielsweise beim ASD, komme, wodurch Fallzuständigkeiten unklar blieben. Und selbst wenn Stellen besetzt sind, handelt es sich oft nur um kurzfristige Besetzungen oder um Berufsanfänger:innen.

Das Ganze führt in der fallabhängigen sowie in der fallunabhängigen Arbeit nachvollziehbar zu erheblichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten.

Aus meiner Sicht ist das kein Einzelfall. Auch andere Institutionen und Organisationen sehen sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, die das Sozialwesen insgesamt an die Grenze der Funktionsfähigkeit führen.

Klingt dramatisch? Ist es auch. Am Schluss versuche ich deswegen, etwas optimistisch ein paar Hebel in den Blick zu nehmen, was doch getan werden könnte.

Aber der Reihe nach…

Systemeversagen allerorten

Ab und zu schreibe ich ja Beiträge, die eher einem Blick in die Glaskugel gleichen und in denen es um die Zukunft der Sozialen Arbeit geht (bspw. hier). Dass ich jedoch einmal einen Beitrag zur Zukunft der Sozialen Arbeit mit den technischen Details von Militärfahrzeugen beginnen würde, hätte ich auch nicht gedacht:

Der Blick darauf, dass die Bundeswehr seit Jahren versucht, Soldaten, Fahrzeuge und Waffensysteme digital miteinander zu vernetzen, zwei Techniker aber 400 Stunden für den Einbau eines Funkgeräts in einen einzigen Panzer brauchen und das Funkgerät aufgrund von Softwareproblemen dann trotzdem nicht funktioniert, lässt Fragen aufkommen:

  • Warum wurden Funkgeräte gekauft, die sich technisch kaum oder nur mit riesigem Aufwand in die Fahrzeuge integrieren lassen?
  • Warum sind die Softwareprobleme – wenn es um Digitalfunk geht – nicht vorher aufgefallen?
  • Ich bin ja (aus Gründen) ein Freund externer Beratung, aber: Wer genau bekommt wofür genau die zusätzlichen 156 Millionen Euro, die das Verteidigungsministerium für externe Unterstützung ausgeben will, um die Probleme mit dem Digitalfunk in den Griff zu bekommen?

Was hat das mit der Zukunft der Sozialen Arbeit zu tun?

Meiner Meinung nach liegen die Probleme der Bundeswehr in einer Fülle von Regelungen, Gesetzen, bürokratischen Hürden und nicht funktionierenden Kooperationen verschiedener Bereiche innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, die eigentlich zusammenarbeiten müssten. Ebenso zerklüftet wie die Bundeswehr ist laut Georg Cremer der Sozialstaat:

„Für jede Leistung ist, überspitzt gesagt, eine andere Behörde zuständig. Und wenn dann Leistungen gegenseitig angerechnet werden müssen, wird es kompliziert. Wenn etwa Menschen nicht wissen, wer für ihr Anliegen zuständig ist, Antragsverfahren sie überfordern oder die Abklärung von Zuständigkeiten die Hilfe verzögert” (ZEIT Nr. 47/2025, 4. November 2025).

Das Ganze wird noch anschaulicher, wenn das ifo Institut den Versuch der Quantifizierung aller Sozialleistungen im „Haus der sozialen Hilfe und Förderung“ mit Asterix und Obelix auf der Suche nach Passierschein A38 im „Haus, das Verrückte macht“ vergleichen (hier). Das ifo Institut hat 502 Sozialleistungen identifiziert und versucht, daraus einen gesetzesübergreifenden Überblick zu generieren, betonen aber, dass nicht gewährleistet werden kann, dass diese Liste abschließend und vollständig ist: “Es ist durchaus möglich, dass bestimmte Leistungen übersehen wurden.”

Wortwörtlich „unfassbar“, oder?

Das Unfassbare führt in der Bevölkerung zu dem Gefühl, dass „irgendetwas nicht mehr funktioniert“. Dieses Gefühl erklärt auch die Aussage von Harald Welzer, dass das Chaos bei der Deutschen Bahn mehr Schaden an der Demokratie angerichtet hat als echte Demokratiefeinde (00:01:12).

In der Gesellschaft kommt das Gefühl auf, dass Systeme nicht mehr funktionieren, was auch von Aladin El-Mafaalani hier im Podcast auf den Punkt gebracht wird mit der Aussage, dass „alle Systeme, alle (…) Veränderungen vornehmen” müssen (02:11:49).

Die Menschen haben das Gefühl, dass diejenigen, die dafür verantwortlich sind, es auch nicht in den Griff bekommen. Also werden Idioten gewählt, die einfache, aber immer falsche Antworten auf komplexe Fragen liefern!

Und ähnlich ist es mit einem etwas spezifischeren Blick auf die Gesundheits- und Sozialwirtschaft.

Anstatt aber auf einzelne Player – Einrichtungen, einzelne Organisationen der Sozialwirtschaft zu blicken, müssen wir den Problemfokus erweitern und versuchen, das Ganze in den Blick zu nehmen.

Einzelsystembetrachtungen

Die einleitenden Ausführungen richten den Blick stets nur auf ein einzelnes System, beispielsweise die Bundeswehr, die Sozialgesetzgebung oder die Bahn. Gleiches gilt meist auch für Berichte über Organisationen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft.

Die Pflegeeinrichtungen stehen vor dem Zusammenbruch. Die Jugendämter stehen vor dem Kollaps. Die Einrichtungen der Jugendhilfe kommen mit einem zunehmend schwierigeren Klientel nicht mehr zurecht und so weiter.

Es wird jeweils nur ein soziales System bzw. eine Organisation in den Blick genommen. Das reduziert Komplexität und es ist journalistisch einfacher aufzubereiten mit Überschriften wie „Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?” (hier) oder „Altwerden unbezahlbar: Die Pflege vor dem Kollaps“ (hier).

Katastrophen – hier und da. Und ja, ein großer Teil meiner Arbeit beschäftigt sich mit dem Versuch, die Katastrophen in den jeweiligen Organisationen abzuwenden, neue Lösungen zu suchen und zu versuchen, die real existierenden Probleme zu verringern.

Genauso zeigt der Blick in die jeweiligen Organisationen aber, dass dort Tag für Tag alles dafür getan wird, deren Überleben sicherzustellen. Das gelingt unter den herausfordernden Bedingungen der Sozialwirtschaft häufig (und nicht erst seit gestern) durch mehr oder weniger „brauchbare Illegalitäten“ (vgl. ausführlich Kühl, 2020), also durch das bewusste Abweichen von den formalen Strukturen.

Dieses Abweichen ist für das Funktionieren sozialer Organisationen hoch funktional und damit eben brauchbar illegal (vgl. spezifisch für Organisationen der Sozialwirtschaft Epe, 2022).

Ein Blick in die jeweiligen Organisationen zeigt außerdem, dass die Funktionsfähigkeit gerade dann, wenn die formalen Strukturen an ihre Belastungsgrenze kommen, über Personen aufrechterhalten wird. Mitarbeitende machen Überstunden, entscheiden individuell, was nicht mehr getan werden kann, oder nehmen im Extremfall Kinder, die von Kindeswohlgefährdung bedroht sind, mit zu sich nach Hause.

Der These des Beitrags folgend will ich hier aber einmal herauszoomen und nicht einzelne Player, sondern das Gesamtsystem Soziale Arbeit und die Kopplungen zwischen den Playern betrachten.

Den Problemfokus erweitern, oder: das Gesamtsystem Soziale Arbeit

Erst mit dem Herauszoomen wird es richtig komplex. Denn dann kommt das sozialwirtschaftliche Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigten ins Spiel. Kurz zur Wiederholung:

  • Kostenträger sind die Institutionen, die die finanziellen Ressourcen für die Erbringung sozialer Dienstleistungen bereitstellen. Neben Sozialämtern, Kranken- und Pflegekassen oder der Bundesagentur für Arbeit können auch Stiftungen oder andere Finanzierungsquellen als Kostenträger definiert werden. Die Kostenträger legen die Rahmenbedingungen fest, unter denen soziale Dienstleistungen erbracht werden. Dazu gehören die Art und der Umfang der Leistungen, die Zielgruppen und die verfügbaren finanziellen Mittel.
  • Leistungserbringer sind Personen oder Organisationen der Sozialen Arbeit, die die tatsächlichen sozialen Dienstleistungen erbringen. Dazu zählen staatliche Behörden (beispielsweise Jugendämter), hauptsächlich aber die freien Träger der Sozialwirtschaft (private, freigemeinnützige Träger, privatfreiberufliche Anbieter und privatgewerbliche Anbieter). Die Leistungserbringer arbeiten gemäß den gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien der Kostenträger, um die auf sozialpolitischen Entscheidungen basierenden Dienstleistungen zu erbringen. Die Existenz von Organisationen der Sozialen Arbeit ist somit von diesen Entscheidungen abhängig – „und dies sowohl hinsichtlich der elementaren Existenzmöglichkeiten (Finanzierung) als auch hinsichtlich der politisch gesetzten Bedingungen für die Leistungserbringung“ (Gesmann, Merchel, 2021:33).
  • Zu nennen sind schließlich die Leistungsberechtigten, also die Klient:innen, Nutzer:innen oder Empfänger:innen sozialer Dienstleistungen – die Personen oder Gruppen, die die sozialen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Sie haben das Recht auf Zugang zu den von den Kostenträgern finanzierten und von den Leistungserbringern bereitgestellten sozialen Dienstleistungen. Sie können (und werden zunehmend – beispielsweise beim BTHG) in den Entscheidungsprozess über die Art und den Umfang der Unterstützung einbezogen werden.

Die Betrachtung der einzelnen Ecken des Dreiecks ist nachvollziehbar. Es wird jedoch erst interessant, wenn die Perspektive auf das „Dazwischen“ verändert wird, auf die strukturellen Kopplungen der Klient:innen mit den Leistungserbringern, vor allem aber auf die strukturellen Kopplungen der Leistungserbringer mit den Kostenträgern.

Mit struktureller Kopplung ist gemeint, dass sich das beobachtete System „auf Dauer auf einige Ereignisse in seiner Umwelt (z. B. auf Leistungen anderer Systeme in seiner Umwelt) einstellt und seine eigene Struktur daran ausrichtet“ (Hoegl, F., 2022, S. 262). Registriert ein System also ein für es irritationsrelevantes Ereignis in einem gekoppelten System, wird mit systemspezifischer Formenbildung darauf reagiert: „Geschieht Relevantes dort, geschieht auch etwas hier und umgekehrt“ (ebd.).

Die Kopplungen zwischen den hier betrachteten Ecken des sozialwirtschaftlichen Dreiecks lassen sich als enorm feste Kopplungen, besser sogar als Abhängigkeiten bezeichnen:

Organisationen der Sozialwirtschaft sind von relevanten Ereignissen bei den Kostenträgern abhängig, ebenso wie Klient:innen von Ereignissen bei den Leistungserbringern abhängig sind. Sie können nicht nur, sondern müssen kooperieren.

Einrichtungen der stationären Jugendhilfe müssen beispielsweise mit Jugendämtern kooperieren, da sie von deren Entscheidungen abhängig sind, die Kosten für die Unterbringung eines Jugendlichen zu übernehmen. Genauso erfordern dringende Fälle schnelle Absprachen zwischen Jugendamt und Einrichtung. Noch deutlicher wird die Notwendigkeit der Kooperation, wenn die Aufgaben des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) betrachtet werden:

Der ASD ist „verantwortlich für die Gestaltung einer sachgerechten Jugendhilfeinfrastruktur und die Implementierung einer zielorientierten und funktionierenden Steuerung von Kooperationsbeziehungen/professionellen Netzwerken sowie das Management der Schnittstellen in den Bereichen Prävention, Hilfe und Kontrolle bei Erziehungsproblemen und Kindeswohlgefährdung zu den Trägern der freien Jugendhilfe sowie zur Schule, zum Gesundheitswesen und zur Bundesagentur für Arbeit” (hier). Ebenso deutlich wird die Notwendigkeit der Kooperation bei der wirtschaftlichen Jugendhilfe. Als Fachdienst im Jugendamt ist sie für die Bereitstellung der finanziellen Mittel für den jeweils festgestellten Jugendhilfebedarf nach dem SGB VIII sowie für die Steuerung der verwaltungstechnischen Abläufe im Rahmen der Hilfegewährung fachlich und rechtlich zuständig, wie es hier heißt.

Mit anderen Worten:

Um ihr Überleben zu sichern, sind Einrichtungen der Jugendhilfe auf eine gelingende Kooperation angewiesen und somit vom Funktionieren der Jugendämter abhängig. Gleiches gilt für stationäre Altenhilfeeinrichtungen, die auf eine gelingende Kooperation mit den Pflegekassen angewiesen sind. Auch Einrichtungen der Eingliederungshilfe sind auf gelingende Kooperation angewiesen, da sie von den jeweiligen Trägern der Eingliederungshilfe abhängig sind.

Und gleichzeitig sind die Kostenträger von funktionierenden Leistungserbringern abhängig, da die Kostenträger die Leistungen nicht selbst erbringen können. Um im Beispiel zu bleiben kann das Jugendamt das Kindeswohl nur schützen, wenn es Einrichtungen gibt, die Kinder in Obhut nehmen oder in denen Jugendliche stationär untergebracht werden können. Kurz:

Beide Player müssen miteinander kooperieren.

Zur Unwahrscheinlichkeit gelingender Kooperation

Der zunächst allgemeine Blick auf Kooperation zeigt jedoch, dass Kooperation grundsätzlich unwahrscheinlich ist, wie Stefan Gesmann hier im Vortrag „Das Jugendamt (bzw. der ASD) und seine Kooperationspartner aus systemischer Perspektive“ (o.J., Folie 2) als These einführt.

Gesmann begründet die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kooperation zusammenfassend wie folgt (ebd., Folie 31):

  • „Kooperationssysteme sind soziale Systeme und damit Kommunikationssysteme.
  • Damit der Prozess der Autopoiese im „Gang“ bleibt, müssen sich Kooperationssysteme abgrenzen. Zudem sind sie zwecks Reduktion von Komplexität auf Kommunikationsmuster angewiesen.
  • Die Etablierung von Kommunikationsmustern (und damit das Gelingen von Kommunikation) wird in Kooperationssystemen erschwert durch
    • tendenziell eher lose Kopplung von Aktionen und Akteuren,
    • die sehr unterschiedlichen „Eigenlogiken“ (…) [der kooperierenden Systeme],
    • das Fehlen des Mediums Macht als regulierende Größe,
    • die sich nur schwerfällig entwickelnden informalen Spielregeln (Kopplung erfolgt nur temporär + Personen wechseln),
    • die zahlreichen Irritationen, die im Zuge der nötigen Rückkopplungsschleifen entstehen.“

Bei „Kooperationsnotwendigkeiten“ bzw. Abhängigkeiten, wie sie im Verhältnis der Leistungserbringer zu den Kostenträgern bestehen, treffen alle genannten Punkte ebenfalls zu. Die ohnehin unwahrscheinliche Kooperation wird jedoch noch unwahrscheinlicher bzw. funktioniert nicht mehr, wenn ein Kooperationssystem (in diesem Fall die Kostenträger) die Kooperation aufgrund fehlender oder ständig wechselnder Mitarbeitender nicht mehr aufrechterhalten kann.

Hinter den brüchigen Kopplungen in der Sozialen Arbeit: Ein strukturelles Phänomen

Die beobachtbaren Instabilitäten sind, wie die Ausführungen zeigen, systemweite, strukturelle Phänomene und Symptome überlasteter und sich grundlegend verändernder Systeme.

Deutlich wird, dass Organisationen – und damit Leistungserbringer ebenso wie Kostenträger – keine statischen Gebilde sind, sondern lebendige, soziale Systeme. Sie reagieren kontinuierlich auf Veränderungen in ihren jeweiligen Umwelten, um ihr Überleben zu sichern.

Verschieben sich die Rahmenbedingungen – beispielsweise durch demografischen Wandel, Fachkräftemangel, veränderte Fallkonstellationen, zunehmende Komplexität der Aufgaben, politische Sparvorgaben oder gesetzliche Änderungen mit dahinter schlummernden Bürokratiemonstern –, versuchen Organisationen zunächst, dies durch interne Anpassungen zu kompensieren. Wie oben bereits angedeutet, übernehmen Personen und Teams zusätzliche Aufgaben, straffen Prozesse, setzen Prioritäten neu usw.

Solange die Kompensationsfähigkeit und damit die Belastbarkeit noch ausreicht, bleibt das System nach außen hin funktionsfähig. Doch die Anpassungsstrategie hat Grenzen.

Mit zunehmender Belastung werden die – in Organisationen der Sozialwirtschaft ohnehin kaum vorhandenen – Puffer (Slack Resources) aufgebraucht, Redundanzen verschwinden und die Anpassungsfähigkeit nimmt ab. Was früher flexibel aufgefangen werden konnte, führt nun zu Verzögerungen und Ausfällen. Das System gerät an den Rand seiner Funktionsfähigkeit – oder sogar darüber hinaus. Die sichtbaren Symptome wie Nicht-Erreichbarkeit, unklare Zuständigkeiten, Personalfluktuation und Verzögerungen sind Ausdruck dieses Erschöpfungszustandes.

Entscheidend ist jedoch das Verständnis, dass die Probleme nicht am „Versagen“ einzelner Personen liegen, sondern an den Verhältnissen, unter denen diese agieren müssen.

Kurzfristige Appelle an „bessere Erreichbarkeit” oder die Forderung nach „besserer Bezahlung” mögen nachvollziehbar sein, greifen aber zu kurz. Sie behandeln Symptome, ohne die zugrunde liegenden Strukturprobleme zu adressieren.

Selbst kurzfristig mehr Personal – wo auch immer dieses herkommen soll – hilft wenig, wenn die Fluktuation hoch bleibt, die Einarbeitung in die hochkomplexen Arbeitsfelder unzureichend ist und sich die Systemüberlastung damit einfach auf eine größere Zahl von Personen verteilt.

Sieben Hebel, oder: Brüchige Kopplungen in der Sozialen Arbeit handlungsfähig gestalten

Wie oben bereits geschrieben, soll der Beitrag meine Beobachtungen widerspiegeln und keine „Rezepte“ liefern. Problembeschreibungen sind gut und wichtig. Ich bin auch kein Freund davon, immer und unmittelbar „lösungsorientiert“ zu agieren, sondern möchte zunächst die Probleme verstehen.

Das sollte mit den vorherigen Ausführungen aber geschehen sein. Die darauffolgende Frage lautet:

Wie können die Beteiligten – Leistungserbringer auf der einen und Kostenträger auf der anderen Seite – ihre Handlungsfähigkeit bewahren, wenn notwendige Kopplungen zunehmend brüchig werden?

Antwortmöglichkeiten liegen sicher nicht in einer noch stärkeren Kompensation durch die ohnehin enorm belasteten Mitarbeitenden, sondern in der bewussten Gestaltung der Rahmenbedingungen. Mit den folgenden sieben „Hebeln” versuche ich, einen Orientierungsrahmen dafür zu skizzieren:

Hebel 1: Systemgrenzen klären – Verantwortung bewusst definieren

Der erste Schritt ist die Klärung der Systemgrenzen. Die Beteiligten – Leistungserbringer ebenso wie Kostenträger – müssen sich deutlicher als bislang bewusst machen, was zu ihrem Auftrag gehört und was nicht, und dies aktiv definieren. Dadurch wird die jeweilige Verantwortung der Organisation klarer. Das klingt zunächst simpel, ist in der Praxis jedoch nicht nur komplex, sondern auch emotional aufgeladen.

In vielen Organisationen der Jugendhilfe (um ein Beispiel herauszugreifen) gibt es beispielsweise eine ausgeprägte Kultur des „Auffangens von allen”.

Diese Haltung ist grundsätzlich wertvoll. Sie entspringt der professionellen Identität der Menschen in der Sozialen Arbeit, die tief verankert ist und Gott sei Dank „helfen wollen”. Sie ist damit Ausdruck der Verantwortung der Mitarbeitenden gegenüber der jeweiligen Klientel – im Beispiel gegenüber den Kindern und Jugendlichen.

Wenn diese „organisationale Grundhaltung” jedoch dazu führt, dass systematisch Aufgaben übernommen werden, die eigentlich in der Verantwortung anderer Systempartner liegen, wird sie aus Perspektive der Organisationen dysfunktional und aus Perspektive der Mitarbeitenden ungesund. Nicht umsonst sind die Burnout-Raten in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft extrem hoch (und weiter steigend).

Ein praktisches Beispiel: Ein Träger der Jugendhilfe stellt fest, dass sich Hilfeplanverfahren massiv verzögern, weil der ASD überlastet ist. Die Fachkräfte beginnen, die Koordination zu übernehmen, Termine vorzubereiten und Protokolle zu schreiben – Aufgaben, die formal beim Kostenträger liegen.

Kurzfristig funktioniert das System besser. Mittelfristig führt die Zuständigkeitsverschiebung jedoch zu einem neuen Muster und damit zur neuen Normalität. Langfristig hat der Leistungserbringer zusätzliche Aufgaben informell und dauerhaft übernommen, ohne dass dies reflektiert, vereinbart oder finanziert wurde.

Systemgrenzen zu klären bedeutet nicht, sich zu verweigern oder bestehende Verantwortung abzulehnen. Es bedeutet vielmehr, bewusst zu entscheiden, welche zusätzlichen Aufgaben temporär übernommen werden können, ohne die Kernaufgaben zu gefährden und/oder die Mitarbeitenden zu überlasten. Diese Entscheidungen müssen transparent kommuniziert werden: gegenüber den Mitarbeitenden, gegenüber dem Kostenträger und gegenüber den Adressaten der Hilfe.

Ein Instrument kann dabei eine systematische „Aufgaben-Inventur“ sein:

  • Welche Tätigkeiten führen wir aktuell aus?
  • Welche davon gehören zu unserem vereinbarten Auftrag?
  • Welche sind Kompensationsleistungen für Systemausfälle?

Ziel ist, Klarheit zu schaffen, sich bewusst werden über Verantwortlichkeiten und die Grundlage für bewusste Entscheidungen zu bilden, anstatt in eine schleichende Überlastung zu laufen.

Hebel 2: Irritationen deuten – Probleme als Signale verstehen

Wenn selbst dort, wo „früher” brauchbare Illegalitäten stabilisiert haben, Abläufe nicht mehr funktionieren, liegt die naheliegende Interpretation nahe:

Es gibt ein Problem, das gelöst werden muss!

Fraglich ist jedoch, ob das offensichtlich wahrgenommene Problem nicht nur ein Symptom für „echte” Probleme dahinter ist. Die unmittelbaren Störungen und Probleme sind häufig Signale für tieferliegende Veränderungsnotwendigkeiten im jeweiligen System.

So signalisiert die wiederholte Nicht-Erreichbarkeit einer bestimmten Stelle beim Kostenträger beispielsweise möglicherweise keine individuelle Überlastung, sondern eine strukturelle Unterbesetzung. Daneben kann ein Problem auch in der Fehlbesetzung von Stellen liegen, was zu Überforderung und in der Folge zu häufigem Personalwechsel führt. Anstatt offene Stellen nur schnell nachzubesetzen, sollte man sich daher fragen, wie eine langfristige Kopplung von Person und Organisation wahrscheinlicher werden kann. Geht es um das Onboarding, die Arbeitsplatzattraktivität oder um unklare Zuständigkeiten, die mit Rollenkonflikten einhergehen?

Diese Signale wahrzunehmen und zu hinterfragen, bedeutet, einen Schritt zurückzutreten, zu beobachten und zu fragen:

  • Was sagt das Problem über das System?

Anstatt frustriert zu sein, dass „der ASD schon wieder nicht reagiert“, lohnt es sich, folgende Fragen zu stellen: Was könnte die wiederkehrende Nicht-Reaktion über die aktuelle Situation und die aktuellen Herausforderungen des ASD aussagen? Welche Rückschlüsse können wir daraus für unsere eigene Strategie und Arbeitsweise ziehen?

Diese Beobachtung 2. Ordnung oder – mit anderen Worten – die Beobachtung der eigenen Beobachtungen (hier mehr dazu) verändert die Position der Organisation fundamental und eröffnet Möglichkeiten:

Aus passiv Betroffenen werden aktive Beobachter der Beobachtungen. Daraus lassen sich Muster erkennen und in veränderte Handlungsstrategien übersetzen.

Ein Leistungserbringer, der erkennt, dass die Instabilität beim öffentlichen Träger strukturell bedingt und mittelfristig anhaltend ist, wird andere Entscheidungen treffen als einer, der von temporären Ausnahmesituationen ausgeht.

Noch konkreter können regelmäßige Reflexionsrunden im Leitungsteam durchgeführt werden, in denen nicht nur über einzelne Problemfälle, sondern auch über beobachtbare Muster in der eigenen Organisation sowie beim Kostenträger gesprochen wird:

  • Welche Irritationen treten wiederkehrend auf?
  • Was könnten sie signalisieren?
  • Welche Hypothesen haben wir über die Systemdynamiken?

Diese Deutungsarbeit ist anspruchsvoll und erfordert Raum, Zeit und eine Kultur, in der Unsicherheit und Nicht-Wissen artikuliert werden dürfen.

Hebel 3: Kooperationen neu strukturieren – tragfähige Kontaktarchitekturen schaffen

Wie oben ausgeführt, ist eine Kooperation unwahrscheinlich. Wenn dann auch noch einzelne Ansprechpersonen auf Seiten der Kooperationspartner nicht mehr verlässlich erreichbar sind, ist es nicht hilfreich, die bisherigen Kommunikationswege intensiver zu nutzen. Stattdessen sind neue Kooperationsstrukturen zu gestalten, um wieder tragfähige Kontaktarchitekturen zu etablieren, die auch unter instabilen Bedingungen funktionieren.

Dies kann konkret die Abkehr vom Prinzip der Einzelfallsteuerung zugunsten strukturierter Austauschformate bedeuten. Anstatt bei jedem Anliegen die individuelle Zuständigkeit zu klären, können beispielsweise wenige, dafür aber feste Jour-Fixe-Termine mit dem Kooperationspartner etabliert werden, in denen verschiedene Fälle gebündelt besprochen werden. Dadurch kann die Zahl der Kontaktversuche reduziert und die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, tatsächlich ins Gespräch zu kommen und gemeinsame Entscheidungen zu treffen.

Denkbar ist auch die Bildung von „Kooperationstandems“, bei denen je zwei Personen auf Träger- und Leistungserbringerseite füreinander die primären Ansprechpartner sind – mit klarer Vertretungsregelung. Dies schafft Redundanz und verhindert, dass Personalwechsel oder Urlaub zum unmittelbaren Kommunikationsausfall führen.

Zu betonen ist, dass neue Strukturen nicht automatisch zu mehr Bürokratie führen müssen. Im Gegenteil können klare, ritualisierte Austauschformate oft effizienter sein als der scheiternde Versuch, die formal richtige Ansprechperson bzw. dauerhafte, aber ebenfalls nicht mehr verlässlich funktionierende Umwege zu finden. Entscheidend ist dabei, dass die neuen Strukturen gemeinsam mit den Kooperationspartnern (also von Kostenträger und Leistungserbringer) vereinbart und nicht einseitig eingefordert werden. Es ist notwendig, in den Dialog zu treten und zu klären, welche Formate für beide Seiten tragfähig sind.

Manche Organisationen und vor allem die Mitarbeitenden in den Organisationen der Sozialwirtschaft haben auch gute Erfahrungen mit „Eskalationspfaden“ gemacht. Gemeint sind damit klar definierte Wege, wie vorgegangen wird, wenn reguläre Kommunikationswege nicht mehr funktionieren:

  • Wer wird informiert?
  • In welchem Zeitraum?

Dies nimmt Druck aus komplexen, akuten Situationen und gibt den Mitarbeitenden Orientierung und Handlungssicherheit.

Hebel 4: Selbstbestimmt agierende Teamarbeit stärken – interne Routinen und Entscheidungsstrukturen festigen

Je instabiler das Umfeld und die Funktionsfähigkeit der Leistungserbringer ist, desto wichtiger wird die interne Stabilität. Organisationen, die klare Regeln, Prozesse, Routinen und Entscheidungswege (und damit Rollen und Zuständigkeiten) haben, können äußere Turbulenzen besser abfedern als solche, deren interne Ordnung diffus ist.

In diesem Kontext bedeutet es zunächst, selbstbestimmt agierende Teamarbeit zu stärken, indem interne Entscheidungskompetenzen geklärt und – sofern notwendig – erweitert werden:

  • Welche Entscheidungen können und sollen in der Organisation selbst getroffen werden, ohne auf externe Rückmeldungen warten zu müssen?

Dies kann die Handlungsfähigkeit erheblich steigern und Abhängigkeiten verringern.

Es geht gleichzeitig um die Festigung von Regeln und Routinen bzw. die klare Definition von Abläufen für Standardsituationen, die transparente Beschreibung von Kommunikations- und Entscheidungswegen sowie die Strukturierung von Besprechungsformaten.

Regeln und Routinen wirken zwar „bürokratisch”. Sie wirken jedoch gleichzeitig wie ein Stabilisator und ermöglichen effizientes und effektives Handeln, auch unter Stress. Den Mitarbeitenden wird damit Orientierung und Sicherheit gegeben. Ein Blick in die Funktionsweise von sogenannten „Blaulicht-Organisationen“ wie Feuerwehren, Polizei und Rettungsdiensten lohnt sich hier. Diese Organisationen reagieren auf Krisen. Deutlich wird, dass diese nicht „ungeplant selbstorganisiert”, sondern sehr klar durchorchestriert agieren (müssen), um in der Krise funktionsfähig zu bleiben.

Zum vierten Hebel noch ein abschließender Punkt: Ein oft unterschätzter Aspekt ist die Stärkung kollegialer Beratungsstrukturen. Interne Formate der Fallreflexion, der Supervision und der kollegialen Beratung sollten nicht nur in Krisen, sondern ganz allgemein Standard sein. Ja, ich weiß, dass das in vielen Organisationen so ist. Ich kenne aber auch Beispiele, in denen Supervision aufgrund der Kosten nur sehr spärlich in Anspruch genommen werden darf. Die Kosten, die durch fehlende Supervision (oder auch methodisch-professionelle kollegiale Beratung) entstehen, werden jedoch kaum dagegen aufgewogen.

Praktisch kann dies auch bedeuten, die Investitionen in Fortbildung und Methodenentwicklung im eigenen Team auszubauen, interne Wissensmanagementsysteme aufzubauen, Reflexionsräume zu schaffen und regelmäßige Supervision für selbstbestimmt agierende Teams zu etablieren.

Hebel 5: Unsicherheit als Kompetenzrahmen begreifen – Räume für Reflexion und Deutung schaffen

In instabilen Kontexten wird Unsicherheit zum Dauerzustand. Die klassische Erwartung an „die eine starke Führungsperson“ – Orientierung geben, Entscheidungen treffen und Sicherheit vermitteln – stößt an ihre Grenzen, wenn die Zukunft nicht prognostizierbar ist und sich die Rahmenbedingungen ständig ändern.

Hier kann ein Perspektivwechsel helfen: Unsicherheit wird dabei nicht als zu überwindendes Problem, sondern als neuer Handlungsrahmen verstanden. Dieser andere Blick ist übrigens nicht nur in Organisationen der Sozialwirtschaft hilfreich, sondern würde auch unserer Gesellschaft insgesamt guttun.

Die dahinterliegende Kompetenz für Führungskräfte besteht nicht mehr darin, alle Antworten zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, Entwicklungen zu beobachten, Hypothesen zu bilden, zu testen und die Ergebnisse zu überprüfen, um dann gemeinsam mit dem Team tragfähige und flexible Wege zu entwickeln.

Dazu sind jedoch die in Hebel 4 angesprochenen organisationalen Reflexionsräume notwendig, in denen Unsicherheit artikuliert werden darf. Führungskräfte, die eigene Zweifel und Nicht-Wissen transparent machen, verunsichern unter Umständen. Sie erhöhen jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Kultur entwickelt, in der auch Mitarbeitende Unsicherheit äußern können, ohne dass ihre Kompetenz oder Professionalität infrage gestellt wird.

Aus dieser Offenheit kann die Fähigkeit einer Organisation wachsen, gemeinsam komplexe Situationen zu verstehen und angemessen zu handeln.

In der Praxis können regelmäßige Reflexionsrunden helfen, in denen nicht über einzelne Fälle, sondern über Dynamiken und Muster gesprochen wird. Auch hier kommen Supervisionen oder Beratungssettings ins Spiel, die nicht nur individuelle Belastungen, sondern auch systemische Fragestellungen bearbeiten. Ebenso können gemeinsame Klausurtage hilfreich sein, bei denen nicht das nächste Thema abgearbeitet, sondern Raum für das Heraustreten, das Beobachten und die strategische Reflexion geboten wird – ohne unmittelbaren Handlungsdruck.

Unsicherheit als Kompetenzrahmen bedeutet, dass man sich von der ohnehin illusorischen Vorstellung vollständiger Kontrolle verabschieden sollte: Organisationen können ihre Umwelt nicht kontrollieren, aber sie können Fähigkeiten entwickeln, um besser auf Veränderungen zu reagieren. Diese Fähigkeit, die sich vielleicht am besten mit dem Begriff der „organisationalen Resilienz” zusammenfassen lässt, ist in instabilen Zeiten wertvoller als jeder noch so detaillierte Fünfjahresplan.

Hebel 6: Iterativ handeln – temporäre, lernorientierte Lösungen statt starrer Konzepte

Zwar wurde oben die Bedeutung von Regeln in Krisen beschrieben. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns in Organisationen ausschließlich auf klassische Planungsinstrumente verlassen, die von einer prognostizierbaren Zukunft ausgehen. Das mechanistische Vorgehen, bei dem man die Situation analysiert, ein passendes Konzept entwickelt und umsetzt und anschließend das Ergebnis evaluiert, funktioniert in stabilen Umwelten gut. In instabilen Kontexten führt es jedoch zu Frustration, da sich die Situation bereits verändert hat, bevor das Konzept entwickelt, geschweige denn umgesetzt werden konnte.

Hier kann das bereits angesprochene iterative, auch „agile” Vorgehen helfen. Dabei geht es darum, schnelle, temporäre Lösungen zu entwickeln, auszuprobieren, auszuwerten und anzupassen.

Anstelle eines perfekt durchdachten Gesamtkonzepts werden begrenzte, überschaubare Schritte unternommen, aus denen gelernt werden kann. „Good enough for now and safe enough to try“ lautet der Leitsatz – nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus der Einsicht, dass die Wirkung von Interventionen in komplexen Systemen nie vollständig vorhersagbar ist.

Konkret wäre denkbar, statt eines umfassenden neuen Kommunikationskonzepts für den jeweiligen Kooperationspartner zunächst einen wöchentlichen Telefontermin für drei Monate zu etablieren und dabei zu beobachten:

  • Funktioniert das?
  • Was verändert sich?
  • Was lernen wir?

Auf Basis dieser Erfahrungen kann entschieden werden, ob das Format beibehalten, angepasst oder ersetzt wird.

Iteratives Handeln erfordert den Mut zum Experimentieren und zum gemeinsamen Lernen. Fehler dürfen nicht als Versagen Einzelner interpretiert werden, sondern müssen als Erkenntnisquelle betrachtet werden. Anstatt an eine „Fehlerkultur” zu appellieren, sind Strukturen zu schaffen, in denen Experimente erlaubt sind und aus Fehlern gelernt werden darf.

Praktisch bedeutet das kürzere Planungshorizonte, häufigere Überprüfungen und mehr Flexibilität in der Ressourcenplanung. Budgets sollten nicht für das gesamte Jahr festgelegt werden, sondern quartalsweise überprüft und angepasst. Darüber hinaus sollten alle Konzepte, Dokumente, Regelungen, Vereinbarungen usw. als „Living Documents“ verstanden werden, die regelmäßig aktualisiert werden.

Hebel 7: Übergreifende Lagebilder für gemeinsames Verständnis schaffen – Austausch ermöglichen und Muster sichtbar machen

Ich komme gerade von der Jahrestagung des „Bündnisses katholischer Träger der offenen Ganztagsbildung im Erzbistum Köln“ in Köln zurück. Aus systemtheoretischer Perspektive habe ich dort auf die Gestaltungsmöglichkeiten organisationaler Resilienz von Teams und Trägerorganisationen der offenen Ganztagsbildung geschaut. Allein die Darstellung, dass in diesem Kontext nicht nur die Kopplungen des sozialwirtschaftlichen Leistungsdreiecks relevant sind, sondern auch die Schule als „Player” hinzukommt, führte bei einigen Teilnehmerinnen zu einem Aha-Erlebnis.

So wurde unter anderem deutlich, dass die Leistungserbringer – in diesem Fall die Teams und Einrichtungen der OGS – viele ähnliche Herausforderungen erleben, aber wenig voneinander wissen. Dafür gibt es entsprechende Veranstaltungen. Übergreifend lässt sich die Perspektive dahingehend erweitern, dass es verbandsintern einige Verständigungsinitiativen gibt – dafür sind die Verbände als Mitgliedsverbände da. Verbandsübergreifend gibt es jedoch nicht mehr viele solcher Räume.

Ähnlich ist es auf Seiten der Kostenträger: Ihnen ist bewusst, dass sie ähnliche Herausforderungen haben, und oftmals sind sie sich auch bewusst, dass ihre bisher etablierten Strukturen an die Grenze der Funktionsfähigkeit kommen.

Und – um das Beispiel OGS aufzugreifen – gehe ich davon aus, dass auch innerhalb des Systems Schule oder zumindest innerhalb vieler Schulen klar ist, dass Systeme – das Bildungssystem oder die jeweilige Schule – an Belastungsgrenzen zunehmend deutlich werden.

All dies wird sogar in Zeitungsartikeln und damit nach außen verdeutlicht: Jugendämter schreiben Brandbriefe (bspw. hier), in Einrichtungen der Jugendhilfe ist es ähnlich (bspw. hier) und aus Schulen finden sich ähnliche Artikel (bspw. hier).

Jeder kämpft für sich mit Überlastung, Nichterreichbarkeit, Zuständigkeitsproblemen und Verzögerungen. Diese Vereinzelung ergibt sich aus meiner Sicht aus dem fehlenden Verständnis der jeweiligen Herausforderungen und der Funktionslogiken der Systeme untereinander.

Das ist ineffizient und verschenkt Potenziale.

Mit „kollektiven Lagebildern” meine ich, dass Leistungserbringer aus ähnlichen Handlungsfeldern und Kostenträger zunächst einmal unter sich zusammenkommen, um ihre Beobachtungen auszutauschen und gemeinsame Deutungen zu entwickeln. Dabei geht es noch nicht um Lösungen, sondern vorerst um übergreifende Fragen wie:

  • Was sind wiederkehrende Muster?
  • Wo sind Engpässe?
  • Welche Lösungsansätze haben sich bei wem bewährt?
  • Welche Veränderungen in der Landschaft beobachten wir, und was bedeutet das für unsere Strategie?

Dieser systeminterne Austausch schafft Entlastung durch Solidarisierung („Wir sind nicht allein mit diesen Erfahrungen“) und liefert handlungsrelevantes Wissen, das die Grundlage für abgestimmte Handlungsstrategien bildet.

Werden ähnliche Probleme innerhalb des Systems identifiziert und offen angesprochen, kann gemeinsam auf „die andere Seite“ (Kostenträger bzw. Leistungserbringer) zugegangen werden – nicht als Anklage, sondern als Angebot zur gemeinsamen Problemlösung. Dies ist wirksamer als individuelle Beschwerden und signalisiert die Bereitschaft zu konstruktiver Kooperation im Sinne des gemeinsamen Auftrags, nämlich der bestmöglichen Versorgung der Klienten.

Praktisch kann dies bedeuten, dass sich zunächst regionale Foren der Kostenträger und Leistungserbringer bilden. In diesen Foren finden moderierte Reflexionsrunden statt, die nicht fachthemenbezogen sind, sondern dem Austausch und dem gegenseitigen Verständnis dienen. Im zweiten Schritt ist dann die jeweils andere Seite zu beteiligen, um ein systemübergreifendes Verständnis zu schaffen und zu schärfen.

Wichtig ist, dass diese Formate nicht zu weiteren Gremiensitzungen werden, in denen entweder nur gejammert oder hinter verschlossenem Visier das gegenseitige Versagen vorgeworfen wird. Aus meiner Sicht ist eine Moderation relevant, damit die Austauschforen strukturiert und lösungsorientiert gestaltet werden. Moderation kann dabei helfen, konstruktiv zu bleiben, Muster herauszuarbeiten und vom Problem zur Lösung zu gelangen.

Solche Formate erfordern Ressourcen – Zeit, gegebenenfalls externe Begleitung, Bereitschaft zur Teilnahme – aber sie zahlen sich aus durch effektivere Zusammenarbeit und geteilte Problemlösungskompetenz.

Fazit, oder: Brüchige Kopplungen in der Sozialen Arbeit dynamisch stabilisieren

Respekt, wenn es Ihnen gelungen ist, bis hierher zu lesen. Die herausfordernden Beobachtungen des „Systemversagens” erfordern aus meiner Sicht jedoch mehr als kurzfristige Lösungen.

Der Versuch, neue Probleme mit alten Lösungen anzugehen, wurde schon von Einstein als Wahnsinn erachtet. Es braucht also ein echtes Überdenken und Neugestalten bisheriger Systeme. Dies erleben wir nicht nur in der Sozialwirtschaft, sondern es lässt sich auch wunderbar auf das Gesundheits-, das Bildungs- oder das Rentensystem übertragen.

Wir brauchen in all diesen Systemen mehr als Reparatur. Prozessinnovation, also die Veränderung und Optimierung bestehender Prozesse, reicht nicht mehr aus. Wir brauchen Veränderungen zweiter Ordnung, also die Veränderung von Mustern, die ein System zur Reduktion von Komplexität herausgebildet hat, oder sogar Veränderungen dritter Ordnung.

Gemeint sind damit (bspw. hier von Ruth Seliger) Veränderungen der hinter den Mustern liegenden Konstruktionen und damit Veränderungen der „Grundwerte und Prinzipien, die den ‚Bauplan‘ (…) bilden“ (ebd.). Veränderungen dritter Ordnung bedeutet einen Paradigmenwechsel. Seliger schreibt sehr passend:

„Unsere Sprache suggeriert, dass Transformation einen ‚Gegen-Stand‘ beschreibt, ein ‚Ding‘, das man erkennen könnte. Aber Transformation ist kein ‚Ding‘, sie entsteht durch Tätigkeiten von Menschen, die etwas – sich selbst, ihre Organisation, die Gesellschaft – verändern. Es gibt nur den Prozess des Transformierens“ (ebd.).

Aus dieser Perspektive liefert auch dieser Beitrag keinen „3-Punkte-Plan“, kein Rezept und auch keine für alle Organisationen der Sozialwirtschaft in allen Bundesländern und Arbeitsfeldern gleichermaßen geltende Beschreibung aktueller Zustände. Er ist vielmehr eine Zusammenfassung meiner wiederholt an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Gesprächen gemachten Beobachtungen – meine Beobachtung 2. Ordnung, sozusagen.

Vielleicht lässt sich die zentrale Beobachtung, die sich durch die Überlegungen zieht, in folgendem Satz zusammenfassen:

Resilienz entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Klarheit.

In einer Zeit, in der sich die Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft fundamental verändern, ist der Versuch, diese Veränderungen zu kontrollieren oder zu steuern, bzw. sie durch verstärkte Kompensation auf dem Rücken einzelner Mitarbeitender aufzufangen, zum Scheitern verurteilt.

Was stattdessen – aus meiner Sicht – besser trägt, ist Klarheit: Klarheit als Person, Organisation, System und systemübergreifend über eigene Grenzen, Zuständigkeiten, Aufgaben und Befugnisse sowie über Systemdynamiken und damit über interne und externe Struktur- und Funktionslogiken.

Die zunehmende Brüchigkeit und Instabilität der für gelingende soziale Arbeit notwendigen Verbindungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern ist kein vorübergehendes Resultat bedauerlicher Umstände, sondern Ausdruck tiefgreifender Transformationsprozesse im Gesamtsystem.

Diese Transformation wird anhalten – die Instabilität wird zur neuen Normalität. Entscheidend ist nicht, „wann alles wieder wie früher wird”, sondern das Lernen, in dieser Instabilität handlungsfähig zu bleiben.

Erste Antworten liegen nicht im Aktivismus, sondern zunächst im Beobachten und Wahrnehmen sowie der Reflexion der gemachten Wahrnehmungen.

Aufbauend auf den Wahrnehmungen der sich zeigenden Muster können Organisationen dann beginnen, Systemgrenzen zu klären, Irritationen und Muster als Signale zu deuten, Kooperationen neu zu strukturieren, Selbstorganisationsfähigkeiten zu stärken, Unsicherheiten als Möglichkeiten zu begreifen, iterativ zu handeln und kollektive Lagebilder zu schaffen.

Daraus – so vielleicht eine Hoffnung – kann „dynamische Stabilität“ entstehen, die es Organisationen – Kostenträgern wie Leistungserbringern – ermöglicht, kontinuierlich mit Veränderungen umzugehen.

Zum Schluss noch eine Schiffsmetapher, die gerne genutzt wird:

Dynamische Stabilität lässt sich mit einem Segelschiff vergleichen, das durch geschickte Navigation auch bei schwerem Seegang seinen Kurs hält – im Unterschied zum Anker, der Bewegung verhindert.

Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität in sozialen Organisationen als Herausforderung für die Organisationsentwicklung. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet-in-sozialen-organisationen/
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2021): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Zweite Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Hoegl, F. (2020): Kopplung. In: v. Wirth, Kleve, H. (Hrsg., 2022): Lexikon des systemischen Arbeitens. Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie. 2. Auflg., Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH. S. 262 – 263.
  • Kühl, S. (2020): Brauchbare Illegalität.Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt: campus Verlag.

Was ist Organisationskultur – eine Einführung

Tags: , , , , , , , ,

Wahrscheinlich ist Dir schon aufgefallen, dass sich Organisationen der Sozialwirtschaft nicht einfach verändern lassen, oder? Aber woran liegt das? Neben den üblichen Beharrungskräften in Organisationsentwicklungsprozessen – wie bspw. dem Widerstand der Mitarbeitenden gegen Veränderung oder dem Drang sozialer Systeme nach Stabilität – verfolge ich hier die These, dass dafür auch und insbesondere die ausgeprägte Organisationskultur von Organisationen der Sozialwirtschaft verantwortlich ist. Aber: Was ist Organisationskultur?

Im Folgenden gehe ich dieser Frage aus systemtheoretischer Perspektive nach. Das ist aus meiner Sicht wichtig, weil (fast) immer, wenn über Probleme in Organisationen gesprochen wird – seien es Reibungen in der Zusammenarbeit, mangelnde Veränderungsbereitschaft oder Konflikte zwischen Teams und Abteilungen – der Begriff der „Organisationskultur“ sehr schnell fällt: „Wir müssen die Kultur verändern, damit wir…!“ oder „Wir brauchen eine andere Führungskultur, damit wir…!“

Mit dem „Flutschbegriff Kultur“ bzw. Organisationskultur hat jede:r ein eigenes Bild im Kopf, alle stimmen irgendwie zu und die Kommunikation „flutscht“ weiter – ohne das klar ist, was genau der Begriff eigentlich meint. Und vor allem wird nicht deutlich, was denn mit dieser „Organisationskultur“ eigentlich gemacht bzw. wie diese beeinflusst werden kann.


P.S.: Auch dieser Beitrag ist entstanden, weil ich in Workshops und Fort- und Weiterbildungen immer wieder ähnliche Ausführungen rund um die Frage der Organisationskultur mache und es sich – vielleicht – lohnt, sie hier zum Nachlesen zu hinterlassen. Der Beitrag knüpft an den Beitrag „Was sind Organisationen – eine Einführung“ an. Und wahrscheinlich werde ich perspektivisch weitere Auszüge aus Workshops und Fortbildungen (z.B. zu den Besonderheiten sozialer Organisationen) hier niederschreiben.


Organisationskultur – was ist das eigentlich?

Wie gesagt: Fast immer, wenn über Probleme in Organisationen gesprochen wird – seien es Reibungen in der Zusammenarbeit, mangelnde Veränderungsbereitschaft oder Konflikte innerhalb oder zwischen Teams und Abteilungen – fällt der Begriff der „Organisationskultur“ sehr schnell. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, lohnt ein vertiefender Blick auf Organisationskultur aus systemtheoretischer Perspektive.

In populären Managementdiskursen und selbst der Organisationswissenschaft wird Organisationskultur unterschiedlich definiert und häufig auf grundlegende Annahmen, „Haltungen“, das Mindset der Mitarbeitenden“, die im Leitbild dargestellten Werte, Artefakte, das „Organisationsklima“ oder gar das Verhalten einzelner Personen reduziert (Kühl, 2018: 8). Systemtheoretisch gedacht, greift das aber zu kurz.

Um der Organisationskultur aber näher zu kommen, ist einführend wieder auf die drei Seiten der Organisation (Schauseite, formale Seite und informale Seite) und die vier verschiedenen Typen formaler Organisationsstrukturen (Zweckprogramme, Konditionalprogramme, Kommunikationswege und Personal) zu verweisen. Genauer beschrieben habe ich das im Beitrag „Was sind Organisationen – eine Einführung“.

Mit Blick auf die Organisationskultur müssen die sog. Entscheidungsprämissen genauer betrachtet werden.

Entscheidungsprämissen – was ist das schon wieder?

Das ist recht einfach erklärt:

Immer dann, wenn mehrere Menschen versuchen, miteinander auszukommen, bilden sich gegenseitige Erwartungen heraus. Eine Erwartung ist bspw., dass man sich in der Schlange an der Kasse nicht vordrängelt, alle Menschen in einem Workshop mehr als eine Unterhose tragen, sich beim Betreten eines Raums kurz grüßen oder während eines Gesprächs nicht dauernd auf’s Handy schauen.

„Könnte man als Mensch nicht auf diese Stützen sozialer Erwartungen – man könnte auch sagen: auf diese sozialen Strukturen – zurückgreifen, wäre das Leben ziemlich kompliziert, wenn nicht gar unmöglich“ (Kühl, 2018a: 10).

Die sozialen Erwartungen definieren aber nicht, wie genau man zu handeln hat, sondern liefern immer einen gewissen Spielraum: Man kann auch nicht grüßen, sich vordrängeln oder nur mit (oder sogar ohne) Unterhose zum Workshop gehen. Man muss dann aber die Konsequenzen tragen.

Soziale Erwartungen können sich in zwei Formen ausbilden – „entweder, indem über diese Erwartungen durch ein Management, einen Gesetzgeber oder ein Familienoberhaupt entschieden wird oder indem sich die Erwartungen, ohne dass sie jemals klar entschieden werden, allein durch Imitationen und Wiederholungen einschleichen“ (ebd.). Hier kommen also Entscheidungen ins Spiel.

Entscheidungsprämissen sind dann die grundlegende Entscheidungen, die als Voraussetzung (Prämisse) für dann folgende Entscheidungen verwendet werden. Sie schränken die Auswahlmöglichkeiten für weitere Entscheidungen ein, ohne jedoch die folgenden Entscheidungen ganz genau festzulegen. Kurz gesagt sind Entscheidungsprämissen die Spielregeln, die das Spiel (nicht nur in Organisationen) regeln (vgl. näher hier).

Mit dem Blick auf Organisationen, auf die drei Seiten und die vier verschiedenen Typen formaler Organisationsstrukturen werden diese Entscheidungsprämissen und damit die Spielregeln deutlich:

Darüber wird definiert, was in einer Organisation als erwartbar gilt.

Und wenn über das, was als erwartbar gilt, nicht formal entschieden wurde, sind wir bei der Organisationskultur.

Organisationskultur sind die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen

Diese „nichtentschiedenen Entscheidungsprämissen“ sind – im Gegensatz zu den Verhaltenserwartungen, über die formal entschieden wurde (formale Seite) – auch eine Form von Struktur:

Es sind Verhaltenserwartungen, über die nicht entschieden wurde, sondern die sich durch häufige Wiederholungen ausgebildet haben: Erst dann, wenn ein bestimmtes Verhalten nicht nur bei eine:r einzigen Mitarbeiter:in als „Ausnahme“ beobachtet werden kann, sondern sich als erwartbar eingeschlichen und etabliert hat, hat es den Status einer informalen Erwartung und wird damit zur „Kultur“.

Als Beispiel wird die Nutzung des kurzen Dienstweges erst dann zur Kultur, wenn dieser immer wieder genommen wird. Genauso wird die Nicht-Einhaltung von gemeinsamen Vereinbarungen im Team erst dann zu einer „Kultur der Unverbindlichkeit“, wenn die Vereinbarungen wiederholt nicht eingehalten werden.

Wenn man noch etwas genauer hinschaut, muss Organisationskultur im Sinne der „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ noch weiter auseinander genommen werden – und zwar in a) Entscheidungsprämissen, „die prinzipiell unentscheidbar sind und sich deswegen grundsätzlich einer Überführung in eine entschiedene Entscheidungsprämisse entziehen, und in b) Entscheidungsprämissen, die nicht entschieden sind, aber prinzipiell entscheidbar wären“ (ebd., 17):

Zu a): Prinzipiell unentscheidbare Entscheidungsprämissen werden bspw. deutlich, wenn Organisationen versuchen, „Herzlichkeit“ im Umgang mit Angehörigen, die „Innovationskultur“ oder den „wertschätzenden Umgang“ untereinander anzuordnen. All das mag vielleicht toll klingen – formal entscheidbar ist das alles nicht.

Zu b): Prinzipiell entscheidbar ist hingegen all das, was von Seiten der Organisation auch in formale Mitgliedschaftsbedingungen gegossen und bei Nichteinhaltung sanktioniert werden kann bzw. könnte. Als Beispiel kann (und wird meistens) der genaue Arbeitsbeginn klar festgelegt werden. Wenn dieser jedoch nicht festgelegt ist, kann sich eine „Kultur“ einschleichen, in der die Mitarbeitenden „kommen, wann sie wollen“ – mit allen damit einhergehenden positiven und negativen Effekten. Genauso kann die Kultur der Verbindlichkeit über die Festlegung von Sanktionen bei Nichteinhaltung beeinflusst geregelt werden. Konkret lässt sich zum Beispiel festlegen, dass die Vereinbarungen für alle transparent festgehalten werden und in jeder Teamsitzung gemeinsam überprüft wird, ob die Vereinbarungen eingehalten wurden.

Die Unterscheidung zwischen nichtentschiedenen, aber prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen und prinzipiell unentscheidbaren Entscheidungsprämissen mag wie „Haarspalterei“ klingen, ist aber wichtig, da erst darüber deutlich wird, wo in Organisationen bzw. Teams und Abteilungen welche Möglichkeiten zur Beeinflussung der Organisationskultur liegen.

Wichtig ist außerdem, dass in Organisationen immer eine wie auch immer geartete Organisationskultur existiert. Denn selbst dann, wenn alle prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen tatsächlich entschieden wurden, verbleiben die prinzipiell unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als Organisationskultur. Ach ja:

Der Versuch, alle prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen tatsächlich zu entscheiden, führt zu überformalisierten Organisationen, in denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich die Mitarbeitenden auf den „Dienst nach Vorschrift” zurück ziehen. Und der reine Dienst nach Vorschrift ist die bekanntermaßen effektivste Streikform. M.a.W. wäre „eine vollkommen transparente und formalisierte Organisation, die keine Spielräume hätte, informell Entscheidungen zu treffen, (…) nicht existenzfähig“ (Merkes/Eidenschink, 2021: 78).

Noch einmal kurz zusammengefasst folge ich hier dem Gedanken von Kühl (2018: 30): Organisationskultur wird demnach als die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen definiert.

Mir gefällt daran neben der Präzisierung des Begriffs auch, dass über diesen Blick auf Organisationskultur deutlich wird, dass eine Organisation auch mehrere, teils ganz verschiedene Kulturen und nicht nur die eine Organisationskultur haben kann. Denn je nach Team, Bereich, Standort etc. können andere Entscheidungsprämissen nicht entschieden sein.

Und diese Kulturvielfalt wird vielen Menschen, die mit den oftmals hochgradig dezentral organisierten Organisationen der Sozialwirtschaft zu tun haben, bekannt vorkommen.

Möglichkeiten zur Beeinflussung der Organisationskultur

Was lässt sich in Organisationen bewusst entscheiden und damit gestalten? Gehört die Organisationskultur dazu? Falls das nicht so einfach sein sollte: Welche Ansatzpunkte und Möglichkeiten haben Führungskräfte und Organisationsentwickler:innen, um trotzdem Einfluss auf die Organisationskultur zu nehmen?

Dazu ist wieder hilfreich, die schon angesprochenen vier verschiedenen Typen von Organisationsstrukturen, die nicht umsonst in der Systemtheorie als entscheidbare Entscheidungsprämissen bezeichnet werden, zu unterscheiden:

  1. Zweckprogramme: Programme legen fest, „was man in einer Organisation tun darf und was nicht” (ebd.). Sie lassen sich untergliedern in Konditionalprogramme und Zweckprogramme. Zweckprogramme legen fest, welche Ziele oder Zwecke erreicht werden sollen. Hier geht es um die in der Organisation oder im Team festgelegten Zwecke, von mir aus auch um die „Mission“. Die Mittel zur Erreichung der Zwecke werden nicht näher definiert und es werden auch keine genauen Prozesse beschrieben, die aufzeigen, wie die Ziele bzw. Zwecke zu erreichen sind.
  2. Konditionalprogramme definieren hingegen, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird. Kurz formuliert sind alle vorgegebenen und (meist) verschriftlichten Regeln und Prozesse („Wenn X passiert, ist Y zu tun!“) Konditionalprogramme.
  3. Kommunikations- oder Entscheidungswege zeigen sich in den Organigrammen und legen fest, wer wem etwas sagen bzw. entscheiden kann, ohne dass dies angezweifelt wird. Beispiele für Entscheidungswege sind Hierarchien, Mitzeichnungsrechte oder auch Teams, Abteilungen oder die Kommunikationswege in temporär gebildeten Projektgruppen.
  4. Personal: Organisationen können darüber entscheiden, wen sie einstellen, entlassen, weiterbilden oder intern versetzen. Diese Personalentscheidungen sind wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen in der Organisation. Denn es macht für künftige Entscheidungen einen Unterschied, welche Person (mit welchen Kompetenzen) eine bestimmte Stelle besetzt.

„Programme, Kommunikationswege und Personal lassen sich als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen“ (Gesmann, Merchel, 2021, 37).

Wenn aber nur über Programme, Kommunikationswege und Personal entschieden werden kann, folgt daraus, dass über die Kultur nicht direkt und formal entschieden werden kann:

Kurze Dienstwege oder neue Ideen können ebenso wenig angeordnet oder strukturell verankert werden wie der regelmäßige Besuch der Currywurstbude zur Mittagspause, das „agile Mindset” der Mitarbeitenden, der wertschätzende Umgang oder die Verbindlichkeit in der Einhaltung von Vereinbarungen. Und selbst die Erarbeitung von toll klingenden Leitbildern oder die Durchführung von „Kulturworkshops“ vermitteln allerhöchstens eine Steuerungsillusion, verändern die Kultur aber kaum – wenn überhaupt. Möglich ist hingegen die Beobachtung von Kultur.

Auf dieser Beobachtung aufbauend können Rahmenbedingungen geschaffen bzw. Entscheidungen getroffen werden, die die Entwicklung von gewünschten Kulturen begünstigen (oder auch behindern). Dazu gehört z. B. die Wahrnehmung von und der Umgang mit expliziten und impliziten Regeln, die Entscheidung über Kommunkationswege (bspw. der Abbau formaler Hierarchien oder die Zusammenlegung von Teams) oder auch die Entscheidung darüber, welche Person welche Rolle in der Organisation übernimmt.

All das wiederum hat dann Auswirkungen auf die Organisationskultur. Fraglich ist nur, welche Auswirkung genau…

Fazit und die Kultur von Organisationen der Sozialwirtschaft

Deutlich wurde, dass der etwas nüchterne Blick der Systemtheorie auf Organisationskultur und das Verständnis von Organisationskultur als die „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ hilfreich sein kann. Denn er macht deutlich, was Kultur ist und wie diese beeinflusst werden kann – ohne jedoch in unrealistische Steuerungsphantasien abzugleiten. Denn:

Beeinflussen heißt nicht „Vorgeben“, sondern eher Verführen: Über die Gestaltung der Formalstruktur lässt sich versuchen, die Kultur in die gewünschte Richtung zu bewegen. Und dazu ist es immer wieder nötig, zu beobachten, zu entscheiden und die getroffenen Entscheidungen umzusetzen – Führung eben.

Falls Du Dich für die Besonderheiten der Kultur von Organisationen der Sozialen Arbeit interessierst, empfehle ich zum Weiterlesen den Beitrag rund um die dominierende Informalität.

Quellen

  • Gesmann, Stefan, und Joachim Merchel. Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2019.
  • Kühl, S. (2018): Organisationskultur. Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive. Managementforschung 28, S. 7 – 35.
  • Kühl, S. (2018a): Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Merkes, Ulrich, und Klaus Eidenschink. Entscheidungen ohne Grund – Organisationen verstehen und beraten Eine Metatheorie der Veränderung. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021.

Fünf Schritte zur gelingenden Teamarbeit trotz Fachkräftemangel

Tags: , , , , , , ,

Die Arbeitswelt wandelt sich. Begriffe wie „agiles Arbeiten“, „Selbstorganisation“ und „New Work“ prägen den Alltag – auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. Doch was ist darunter zu verstehen und vor allem: Was hilft, damit Organisationen der Sozialen Arbeit gelingende Teamarbeit trotz Fachkräftemangel ermöglichen können?

Zu dieser Frage haben Marion Kleinsorge und ich den folgenden Beitrag verfasst und hoffen, damit praxisnahe Antworten zu liefern, um den herausfordernden Alltag in Deiner Einrichtung bzw. Deinem Team positiv zu beeinflussen.

New Work – was steckt dahinter?

Wenn von „New Work“ die Rede ist, denken viele an Digitalisierung, Homeoffice oder ortsunabhängiges Arbeiten. Im Kontext der Sozialen Arbeit spielt das kaum eine Rolle: Oft verfügen Mitarbeitende nicht einmal über eine eigene dienstliche E-Mail-Adresse. Ihre Arbeit findet fast ausschließlich in der direkten Interaktion mit Klient:innen, Kolleg:innen, Angehörigen… statt.

Relevanter sind hier „New Work Dimensionen“ wie sinnstiftende Arbeit, Selbstorganisation, -bestimmung und -wirksamkeit, der Bedarf nach flexiblen Arbeitszeiten und die Möglichkeit, aktiv mitzugestalten. Damit sind wir mitten im Alltag von Organisationen der Sozialen Arbeit angekommen.

Problematisch wird es aber dann, wenn „New Work“ missverstanden wird: Wenn Organisationen New Work als reiner Fokus auf die Mitarbeitenden verstehen und beginnen, sich primär um ihre – hoch individuellen – Wünsche zu drehen, gerät der eigentliche Zweck – die Arbeit mit und für benachteiligte Menschen – aus dem Blick. Das gefährdet langfristig das Überleben der jeweiligen Einrichtung.

INFOBOX New Work:
Der Name Frithjof Bergmann ist historisch eng mit dem Konzept der „Neuen Arbeit“ verbunden. Mit “New Work” lieferte Bergmann in den 1980er Jahren einen Gegenentwurf zum Kapitalismus, verstanden als Abkehr von der klassischen Lohnarbeit (hier mehr dazu). Von seinen bis heute visionären Ideen ist vor allem der Satz geblieben, dass Menschen das tun sollten, was sie „wirklich, wirklich tun wollen“. Dieser Satz hat viel zu dem heute populären Bild von New Work beigetragen, das sich mit der Gestaltung von “selbstorganisierten und sinnstiftenden Organisationen, in denen es den Mitarbeitenden gut geht“, zusammenfassen lässt. Unter diesem Bild findet sich dann eine Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten – vom Kickertisch über zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten bis hin zu „agilen Organisationen“. Klassische Merkmale von Organisationen haben es dagegen heute schwer: Hierarchien, klare Prozesse und einzuhaltende Regeln gelten als nicht mehr zeitgemäß – auch wenn sie nach wie vor ihre Berechtigung haben.

Statt also beliebig „irgendwas mit New Work“ zu implementieren oder gar „New Work Washing“ zu betreiben, gilt es, (nicht nur) in Zeiten des Fachkräftemangels die formale Team- und Organisationsstruktur zu gestalten.

Im Folgenden wird zunächst der Blick auf den Zweck von Organisationen der Sozialen Arbeit gerichtet, um darauf aufbauend konkrete Gestaltungsmöglichkeiten der formalen Organisationsstruktur aufzuzeigen – mit dem Ziel, gelingende Teamarbeit trotz Fachkräftemangel zu ermöglichen.

Wozu brauchen wir eigentlich Organisationen der Sozialen Arbeit?

Die Soziale Arbeit bzw. konkret Organisationen der Sozialen Arbeit fördern – so jedenfalls die Definition der Sozialen Arbeit – gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen (vgl. hier). Das ist hochgradig komplex.

Die Komplexität erhöht sich aber weiter, wenn die Arbeit „an der Basis“ in den Blick rückt:

Soziale Arbeit findet fast immer unmittelbar im direkten Kontakt mit den Menschen statt. Der direkte Kontakt jedoch ist kaum planbar und hoch individuell – jedes Kind ist anders, jede:r Jugendliche hat ihre individuellen Bedarfe, jeder Sozialraum ist anders. Das führt dazu, dass Mitarbeitende an der Basis der Sozialen Arbeit immer spontan entscheiden müssen. Sie agieren in “diffuser Allzuständigkeit” (vgl. hier, S. 166) zwischen den formalen und informalen Regeln, Mustern und Vorgaben der Organisation, den individuellen Anforderungen der Klient:innen und den Erwartungen der Gesellschaft.

Wie aber lassen sich Strukturen für diese hoch komplexen Arbeitswelten sinnvoll gestalten?

Strukturen funktional gestalten

Organisationsstrukturen dienen grundsätzlich dazu, Komplexität zu reduzieren. Das wird bspw. bei Stellenbeschreibungen deutlich. Hier ist geregelt, welche Aufgaben, wie lange und mit welchem Gehalt zu erledigen sind. Wenn jede:r Mitarbeiter:in täglich neu entscheiden würde, was, wie, wann und für welches Entgelt gearbeitet wird (oder auch nicht), wäre das Chaos vorprogrammiert.

Es lassen sich insgesamt vier “Bereiche formaler Strukturen” – sog. Entscheidungsprämissen – definieren, über die in Organisationen bewusst entschieden werden kann (vgl. näher z.B. hier):

  • Ziele und Zwecke (Wozu sind wir da? Was wollen wir erreichen?) verdeutlicht z.B. über das Leitbild oder die Organisationsstrategien
  • Entscheidungswege (Wer darf was entscheiden?) verdeutlicht z.B. über das Organigramm; Abteilungen, Teamstrukturen, Verantwortlichkeiten
  • Regeln und Prozesse (Wenn A passiert, ist B zu tun!) verdeutlicht z.B. über QM-Prozesse; Festlegung von Zeiten für Teambesprechungen
  • Personal (Welche Person übernimmt welche Aufgabe), verdeutlicht z.B. über Stellenprofile oder die Verteilung der Aufgaben innerhalb des Teams

Bis vor wenigen Jahren war es den Einrichtungen möglich, gute Personalentscheidungen bereits im Einstellungsverfahren zu treffen: Es wurde die Person eingestellt, die “am besten ins Team passt” oder “die eine zur Organisation passende pädagogische Haltung hat”. Auf diese Weise konnten motivierte, verantwortungsbewusste und fachlich kompetente Fachkräfte gewonnen und damit die Qualität gesichert werden. Diese Auswahlmöglichkeit ist in Zeiten des Fachkräftemangels kaum noch gegeben, da die Auswahl an geeigneten Personen sehr eingeschränkt ist (vgl. näher z.B. hier).

Da die Ziele und Zwecke oftmals klar sind (bzw. vom Team selbst nicht geändert werden können), folgt daraus, dass die Entscheidungswege (Zuständigkeiten) sowie die Regeln und Prozesse übrig bleiben, um darüber die Teamarbeit trotz Fachkräftemangel gelingend und damit “funktional” zu gestalten.

Fünf Schritte zur gelingenden Teamarbeit trotz Fachkräftemangel

Um eine möglichst hohe Qualität der erbrachten Leistungen zu gewährleisten, ist vor allem Klarheit auf allen Ebenen und in allen Rollen erforderlich. Dies wird erreicht durch Klarheit über das “Wozu” (Zweck der gemeinsamen Arbeit), die Erwartungen an Haupt- und Nebenrollen (Verantwortlichkeiten), den Verzicht auf Unnötiges und die Klärung von Regeln und Abläufen. Hilfreich sind die folgenden fünf Schritte:

  1. Das “Wozu” klären: Im ersten Schritt geht es darum, sich der gemeinsamen professionellen Grundhaltung bewusst zu werden und zu beschreiben, wozu es die Einrichtung gibt: Für wen sind wir da? Welchen Mehrwert wollen wir bieten? Wie machen wir das konkret? Neudeutsch spricht man hier vom „Purpose“, der ganz spezifisch für das Team und/oder die Einrichtung die Daseinsberechtigung beschreibt.
  2. Hauptrollen klären: Dann ist transparent zu machen, was von den Mitarbeitenden in ihrer jeweiligen Rolle (als Leitung, Erzieher:in, Kindheitspädagog:in, Kinderpfleger:in oder auch als ungelernte Kraft) erwartet wird. Sicherlich haben alle Erwartungen an die eigene Rolle und auch an die Rolle der anderen. Problematisch wird es, wenn die Erwartungen unklar sind und voneinander abweichen. Unausgesprochene, sogenannte informale Erwartungen führen zu Frustration – auf beiden Seiten. Deshalb braucht es klare Rollenbeschreibungen, in denen Aufgaben (Was genau ist in der Rolle zu tun?), Befugnisse (Was darf die Rolle entscheiden?) und Verantwortlichkeiten (Wofür ist die Rolle verantwortlich?) definiert sind.
  3. Nebenrollen klären: Der Versuch, den Betrieb trotz Fachkräftemangel aufrechtzuerhalten, führt häufig dazu, dass vor allem Leitungskräfte ihre Leitungsaufgaben vernachlässigen, um im pädagogischen Alltag “einzuspringen”. Dies wird sich nicht gänzlich vermeiden lassen. Durch die Klärung und Verschriftlichung der Erwartungen an die “Hauptrollen” (s.o.) wird deutlich, dass Aufgaben ggf. auch von anderen Mitarbeitenden übernommen werden können. Darüber hinaus ist es sinnvoll, einzelne Aufgaben in “Nebenrollen” (Mandate bzw. Verantwortungsbereiche) zusammenzufassen und zu festzulegen, wer im Team für das jeweilige Mandat verantwortlich ist, welche Aufgaben mit dem Mandat einhergehen und welche Entscheidungsbefugnisse im Mandat liegen.
  4. “Unnötiges” klären: Es wird nicht möglich sein, alle Aufgaben wie bisher weiterzuführen. Deshalb sollte auch Klarheit hergestellt werden über das, was nicht mehr leistbar ist. Hier hilft der Blick auf das Konzept der Exnovation – verstanden als Pendant zur Innovation und Grundlage jeder Weiterentwicklung. Hier geht es darum, Raum für Neues zu schaffen – oder vielleicht auch nur darum, konkrete Ansatzpunkte zu finden, was in Zukunft weggelassen werden kann, um überhaupt wieder Luft zum Atmen zu bekommen.
  5. Den Rest klären: Damit ist gemeint, zu beachtende ‘Grundregeln’ (Regeln und Prozesse) transparent zu machen. Das beginnt bei Zeiten für Teambesprechungen, geht über die Struktur der Besprechungen oder die Frage, wer moderiert und dokumentiert, bis hin zur Frage, wie Entscheidungen im Team getroffen werden. So werden Teamsitzungen effizienter, es ist klar, wer Protokoll schreibt, und es werden schnell gute und verbindliche Entscheidungen getroffen.

Das Team-Handbuch als Orientierung

Die Ergebnisse dieser Klärungen sollten in einem Team-Handbuch schriftlich festgehalten werden. Damit wird Orientierung für bestehende Mitarbeitende gegeben, die Einarbeitung neuer Mitarbeiter:innen erleichtert und Konflikte reduziert, da klarer zwischen Rolle und Person unterschieden werden kann: Statt die ganze Person zu kritisieren, kann die Kritik auf die Rolle fokussiert werden (Peter hat in seiner Rolle als Erzieher die formalen Erwartungen nicht erfüllt). Darauf aufbauend können konkrete Lösungen erarbeitet werden, wie die Rollenerwartungen in Zukunft besser erfüllt werden können.

Damit es praxistauglich bleibt, sollte das Team-Handbuch möglichst schlank gehalten werden. Außerdem ist es wichtig, dass die darin formulierten Leitlinien und Regeln der gemeinsamen Teamarbeit nicht “in Stein gemeißelt” sind, sondern regelmäßig (z.B. jährlich) aktualisiert werden. Denn Rahmenbedingungen ändern sich ebenso wie die Zusammensetzung des Teams und Regeln von gestern sind morgen nicht mehr unbedingt hilfreich. Deshalb sollte bereits bei der Erarbeitung und Verabschiedung des ersten Entwurfs vereinbart werden, wann genau eine Überprüfung und Überarbeitung ansteht.

Befreiende Strukturen für gelingende Teamarbeit – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels

Zusammenfassend ist der Fachkräftemangel nicht wegzudiskutieren und führt dazu, dass es immer schwieriger wird, genügend (und geeignetes) Personal für die eigene Einrichtung zu finden. Statt jedoch mit falsch verstandenen “New Work”-Maßnahmen und orientierungsloser Selbstorganisation um neue Mitarbeitende zu werben, plädieren wir für die Gestaltung klarer Strukturen der gemeinsamen Zusammenarbeit.

Diese Strukturen bilden den Rahmen, innerhalb dessen ein sicheres, vertrauensvolles und wertschätzendes Miteinander möglich wird, das von kontinuierlicher individueller und gemeinsamer Entwicklung geprägt ist. Teams in Organisationen der Sozialen Arbeit, die auf dieser Basis zusammenarbeiten, werden zu starken Teams und bieten – auch in Zeiten des Fachkräftemangels – beste Voraussetzungen für gute Arbeit.

Auf den ersten Blick scheint dies dem populären Verständnis von New Work zu widersprechen. Doch auf den zweiten Blick schaffen Strukturen Sicherheit – eine Sicherheit, die neue Freiheiten und Freiräume in der hochkomplexen Sozialen Arbeit ermöglicht.

Daraus können im besten Fall sogar neue Nischen entstehen, um neue Probleme wahrzunehmen und Raum für zukünftige Lösungen zu bieten.


P.S.: Hier findest Du unseren Podcast, in dem wir aktuell eine Staffel zum Thema Fachkräftemangel aufnehmen. Viel Spaß beim Hören!

Rezension „Führung managen“

Tags: , , , , , , ,

Die Führungsdebatte wird seit Jahren dominiert von Ratgebern, die Führungsstile propagieren, Persönlichkeitsmodelle bewerben und Tipps zur Optimierung individueller Führungskompetenzen geben. Doch was, wenn gute Führung weit weniger mit Charisma und Soft Skills zu tun hat, als oft suggeriert wird? Genau hier setzt das Buch „Führung managen. Eine sehr kurze Einführung“ von Stefan Kühl und Judith Muster (hier geht’s zum Buch) an, zu dem Prof. Stefan Gesmann und ich eine ausführliche Rezension (hier) verfasst haben.

tl;dr: Das Buch lädt zu einem radikalen Perspektivwechsel ein – weg vom Personenkult, hin zu den strukturellen Bedingungen von Führung.

Organisation statt Heroismus

Kühl und Muster argumentieren aus einer systemtheoretisch geprägten, organisationssoziologischen Perspektive, dass gelingende Führung nicht in erster Linie das Ergebnis individueller Fähigkeiten, sondern eine Reaktion auf strukturelle Erwartungsunsicherheiten innerhalb von Organisationen ist. Wo Abläufe nicht klar definiert sind, Programme Lücken lassen und Entscheidungswege unklar bleiben, entsteht Bedarf für Führung – unabhängig von der Führungspersönlichkeit. Daraus folgt:

Je klarer eine Organisation strukturiert ist, desto weniger Führung braucht es. Oder anders gesagt:

Organisationen können durch ihre Gestaltung den Bedarf an Führung gezielt reduzieren. Diese Überlegung macht das Buch besonders relevant für alle, die mit organisationalem Wandel, Komplexität und Steuerungsfragen konfrontiert sind – auch und insbesondere in der Sozialwirtschaft oder im öffentlichen Sektor.

Führung ist mehr als Top-down

Das Buch rückt von einem engen, hierarchisch geprägten Führungsverständnis ab. Führung, so Kühl und Muster, kann in drei Richtungen erfolgen: von oben (klassisch), lateral (auf gleicher Ebene) und – besonders spannend – „von unten“. Mitarbeitende beeinflussen ihre Vorgesetzten, indem sie Erwartungen formulieren, Kooperation anbieten oder eben verweigern (vgl. Unterwachung).

Führung ist also ein Wechselspiel – und funktioniert nur, wenn Gefolgschaft gegeben ist.

Diese Einsicht entlastet formale Führungskräfte von einem überhöhten Anspruch, immer alle Lösungen selbst parat zu haben. Gleichzeitig fordert sie sie heraus, Strukturen so zu gestalten, dass Orientierung entsteht – ohne alles kontrollieren zu müssen.

Das Mischpult der Organisation

Zentral im Buch ist das Modell des „Mischpults des Managements“. Es veranschaulicht, wie Organisationen mithilfe von drei strukturellen „Stellschrauben“ – Programmen, Kommunikationswegen und Personalentscheidungen – ihren Führungsbedarf steuern können. Wenn Aufgaben beispielsweise klar über Programme geregelt sind, Kommunikationswege eindeutig sind und das Personal gut auf die Organisation abgestimmt ist, sinkt der Bedarf an situativer Führung.

Das Mischpult zeigt: Führung ist nicht das erste Mittel der Wahl, sondern greift nur dann, wenn Strukturen nicht mehr greifen. Führung wird zur „Restkategorie“, zur Lückenfüllung – und das ist keineswegs negativ gemeint, sondern realistisch. Organisationen können nicht alles programmieren.

Doch sie können bewusst gestalten, wann und wo Führung notwendig wird.

Relevanz für die Soziale Arbeit

Gerade für Organisationen der Sozialwirtschaft, die stark personenzentriert arbeiten (hier mehr dazu), bietet das Buch eine wertvolle Denkhilfe. Denn Führung wird hier oft informell gelebt, wenig reflektiert und stark personalisiert. Kühl und Muster fordern dazu auf, diesen Automatismus zu hinterfragen. Wer Probleme zu sehr auf einzelne Personen zurückführt, übersieht strukturelle Ursachen und gerät schnell in endlose Schleifen von Coaching, Personalwechseln und Führungskräftetrainings. Es lohnt sich daher, den Blick auf die Organisation als Ganzes zu richten:

Welche Entscheidungswege sind etabliert? Wo fehlen klare Programme? Wie wirken Personalentscheidungen auf die Organisation zurück? Diese Fragen erweitern den Handlungshorizont und entlasten Führungskräfte zugleich.

Keine schnellen Rezepte – dafür nachhaltige Reflexion

Wer ein pragmatisches Führungskochbuch mit einfachen Rezepten erwartet, wird von diesem Buch enttäuscht sein. Kühl und Muster liefern keine Checklisten. Ihr Buch ist ein Impuls zur Reflexion: Es ist klar geschrieben, theoretisch fundiert und zugleich anschlussfähig für die Praxis. Es richtet sich an reflektierte Führungskräfte, Berater:innen und Organisationsentwickler:innen, die bereit sind, gängige Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.

Das Buch überzeugt durch analytische Tiefe, pointierte Argumentation und den Mut zur Komplexität. Gerade in Zeiten, in denen Führung häufig mit Coaching, Motivation und Authentizität gleichgesetzt wird, ist das eine wohltuende Irritation.

Fazit: „Führung managen“ beginnt bei der Organisation

Das Buch „Führung managen“ zeigt: Wer über Führung spricht, darf über Organisationen nicht schweigen.

Die Autor:innen brechen mit dem Mythos der allmächtigen Führungspersönlichkeit und rücken stattdessen die strukturellen Rahmenbedingungen ins Zentrum. Das ist nicht nur theoretisch klug, sondern praktisch hochrelevant – für jede Organisation, die sich ernsthaft mit Führung und Wandel beschäftigt.

Ein Buch, das weniger Antworten liefert als kluge Fragen stellt – und gerade deshalb gelesen werden sollte.

Hier geht’s zur vollständigen Rezension bei socialnet!

Kill a Stupid Rule, oder: Aufräumen mit unnötigem Ballast im Arbeitsalltag

Tags: , , , , , ,

Sätze wie „Das haben wir schon immer so gemacht.“ oder „Da musst du erst den Prozess 34a befolgen, damit das genehmigt wird!“ sind dir wahrscheinlich bekannt, oder? Ich bin ein Freund von Regeln, Prozessen und Routinen in Organisationen. Sie geben Sicherheit, schaffen Klarheit über den Rahmen, in dem gehandelt werden kann, und verhindern, dass wir uns täglich neu über unsere Aufgaben klar werden müssen. Das Problem ist nur: Wenn Routinen, Regeln und Prozesse lähmen, Kreativität bremsen, Motivation dämpfen und keinen Mehrwert für die eigentliche Arbeit mehr liefern, muss sich etwas ändern. Die einfache Methode „Kill a Stupid Rule“ setzt genau hier an:

Sie hilft Teams und Organisationen dabei, hinderliche Regeln, überholte Prozesse und ineffiziente Gewohnheiten zu identifizieren und mutig zu verabschieden, um wieder Luft zum Atmen zu bekommen.

Was ist „Kill a Stupid Rule“?

Die Methode ist ein strukturierter Ansatz, um unnötige Regeln, Routinen und Prozesse zu eliminieren. Dabei geht es nicht um eine blindwütige Regelzerstörung, sondern um bewusste Exnovation (hier mehr dazu) – also das gezielte Ausmustern von dem, was nicht (mehr) nützt. Ziele sind: mehr Freiraum, mehr Effizienz, eine Kultur der Mitgestaltung und vor allem der Fokus auf das Erledigen „echter Arbeit“ (im Gegensatz zu sinnloser Beschäftigung)!

Wie geht „Kill a Stupid Rule“?

Die Methode verläuft in vier klaren Schritten:


1. Brainstorming – Hinderliche Regeln sammeln

Zuerst sammeln die Teilnehmenden alle Regeln, Routinen oder Prozesse, die im Alltag als störend oder überflüssig erlebt werden. Das können sein:

  • Formale Vorgaben (z. B. komplizierte Freigabeprozesse),
  • interne Bürokratie (z. B. doppelte Dokumentation),
  • oder unausgesprochene Gewohnheiten (z. B. unnötige Meetings).

Wichtig: Es geht ausdrücklich nicht nur um offiziell dokumentierte Regeln – sondern auch um informelle Verhaltensmuster.


2. Bewertung – Was bringt die Regel eigentlich?

Jede genannte Regel wird anhand einer 2×2-Matrix bewertet:

  • Wie einfach oder schwierig wäre es, die Regel abzuschaffen?
  • Wie hoch oder gering wäre die Wirkung, wenn sie wegfällt?

So entsteht ein klares Bild:

  • Regeln, deren Abschaffung leicht und wirkungsvoll ist, sind klare Kandidaten.
  • Andere brauchen vielleicht mehr Aufwand – könnten sich aber langfristig lohnen.

3. Diskussion & Priorisierung – Was nervt wirklich?

Im Team wird nun diskutiert:

  • Welche Regeln empfinden die meisten als wirklich hinderlich?
  • Welche kosten besonders viel Zeit, Energie oder Nerven – ohne entsprechenden Mehrwert?

Die Gruppe priorisiert die Top-Kandidaten für die Abschaffung oder Vereinfachung. Hier entsteht oft eine Dynamik, die zeigt: Viele erleben dieselben Stolpersteine – und sind bereit, gemeinsam etwas zu ändern.


4. Kill the Rule – Und jetzt: Handeln!

Am Ende geht es ans Eingemachte:

  • Welche Regeln können gestrichen oder angepasst werden?
  • Wer übernimmt Verantwortung für die Umsetzung?
  • Optional: Welche ersten Schritte starten wir sofort?

So bleibt es nicht beim Reden – sondern wird konkret.

Warum lohnt sich das?

Die Methode „Kill a Stupid Rule“ bringt weit mehr als nur schlankere Prozesse. Sie schafft ganz konkrete Entlastung im Arbeitsalltag, indem sie überflüssige oder belastende Regeln aus dem Weg räumt. Gleichzeitig fördert sie eine Kultur der Reflexion und des Mitgestaltens:

Mitarbeitende erleben, dass ihre Erfahrungen ernst genommen werden und dass sie aktiv zur Verbesserung beitragen können. Dadurch wächst das Gefühl von Eigenverantwortung und Gestaltungsspielraum. Nicht zuletzt ist die Methode ein sichtbares Zeichen für Veränderungsbereitschaft – sie zeigt, dass auch kleine Anpassungen eine große Wirkung haben können.

Wer bereit ist, Altes loszulassen, schafft Platz für Neues, Sinnvolles und Wirksames.

Besonders wirksam wird es übrigens dann, wenn die Methode regelmäßig – als neue Gewohnheit 😉 – etabliert wird. Denn:

Regelmäßig ein wenig aufräumen ist einfacher als die komplette Haushaltsauflösung.

Fazit: Kleine Schritte mit großer Wirkung

„Kill a Stupid Rule“ ist mehr als nur ein unterhaltsames Workshop-Format – es ist ein kraftvolles und gleichzeitig einfaches Werkzeug zur Selbstreflexion und aktiven Veränderung im Team und der Organisation. In vielen Organisationen haben sich im Laufe der Zeit Regeln, Prozesse und Routinen angesammelt, die niemand mehr wirklich hinterfragt. Manche davon waren vielleicht einmal sinnvoll, andere haben sich einfach „eingeschlichen“. Doch wenn sie heute mehr Aufwand als Nutzen verursachen, blockieren sie nicht nur die Effizienz, sondern auch die Motivation der Mitarbeitenden.

Die Methode lädt Teams dazu ein, genau hinzuschauen: Was machen wir eigentlich – und warum? Sie schafft einen sicheren Raum, in dem offen über Frustpunkte gesprochen und gemeinsam Lösungen entwickelt werden können. Gerade weil die Umsetzung oft direkt möglich ist, werden Ergebnisse sofort spürbar: mehr Klarheit, weniger Ballast und ein gestärktes Gefühl der Mitverantwortung.

Darüber hinaus wirkt „Kill a Stupid Rule“ oft wie ein Türöffner für weitergehende Veränderungen. Wer einmal erlebt hat, dass unnötige Regeln tatsächlich abgeschafft werden können, entwickelt Mut und Lust auf mehr: mehr Eigeninitiative, mehr Zusammenarbeit und mehr sinnstiftende Arbeit. In einer Zeit, in der Agilität, Partizipation und kontinuierliche Verbesserung entscheidende Erfolgsfaktoren sind, bietet diese Methode einen unkomplizierten, aber wirksamen Einstieg.

Kurz gesagt: „Kill a Stupid Rule“ ist ein pragmatischer und motivierender Hebel, um den Arbeitsalltag zu entstauben – und gemeinsam eine Organisation zu gestalten, in der nicht Bürokratie, sondern Wirksamkeit im Mittelpunkt steht.

Transparenzhinweis: Text teilweise mit KI generiert.

Zusammenarbeit im Team verbessern: Wie Du mit den Core Design Principles befreiende Strukturen schaffst

Tags: , , , , , , ,

Was brauchen Teams, damit die Teammitglieder gut und damit vor allem effektiv und effizient zusammenarbeiten können? Das ist – neben der Frage, was Organisationen brauchen, um ihren Zweck zu erfüllen – die zweite Kernfrage meiner Arbeit. Bei beidem – Organisationen wie Teams – kann es aber nicht darum gehen, die Menschen verändern zu wollen. Denn der Versuch, Menschen verändern zu wollen, ist massiv übergriffig. Wirkungsvoller ist es, den Kontext zu gestalten, die Strukturen und Rahmenbedingungen und damit die Verhältnisse gelingender Zusammenarbeit. Denn: Die Verhältnisse prägen das Verhalten. Wenn Du auch die Zusammenarbeit im Team verbessern willst, können die Core Design Principles (CDP’s) sehr wertvolle Hinweise auf die gestaltbaren Verhältnisse in Teams liefern.

Zusammenarbeit als Kern (und Herausforderung nicht nur) Sozialer Arbeit

In Organisationen der Sozialwirtschaft ist Zusammenarbeit mit anderen – Teamarbeit – Kern täglicher Arbeit. Ohne Zusammenarbeit geht nichts – in Pflege und Beratung ebenso wie in Kitas oder stationären Einrichtungen. Wenn dann noch der Blick auf die Kompetenzen, die wir für die Arbeit der Zukunft brauchen, gerichtet wird (sog. Future Skills, bspw. hier), zeigt sich, dass Zusammenarbeit nicht nur an der sozialarbeiterischen Basis wichtig ist, sondern Kollaboration für alle Branchen, Berufe und Bereiche enorm bedeutsam ist und zunehmend werden wird.

Wenn Teams gut zusammenarbeiten, entsteht etwas Besonderes – ein gemeinsamer Sinn, kollektive Stärke, gegenseitige Unterstützung – vielleicht hast Du das schon selbst erlebt?!

Aber Zusammenarbeit ist genauso oft eine Herausforderung: Unterschiedliche Professionen, hoher Zeitdruck, Fachkräftemangel, starre Hierarchien und Bürokratie, Missverständnisse oder eben unklare Rahmenbedingungen führen zu Konflikten oder Ineffizienzen in Teams.

Daraus ergibt sich die Frage:

Wie kannst Du als Führungskraft (und wie kann ich als externer Berater) die Zusammenarbeit im Team verbessern?

Als (ein Teil einer doch etwas komplexeren) Antwort bin ich vor kurzem über die Core Design Principles (CDPs) gestolpert.

Zusammenarbeit im Team verbessern mit den Core Design Principles

Die Core Design Principles können vielleicht so etwas wie ein Kompass für gelingende Zusammenarbeit in Gruppen und Teams sein. Im Folgenden gehe ich näher darauf ein, was sich genau hinter den CDP’s verbirgt und wie Du damit arbeiten kannst. Vorab aber:

Woher kommen die Core Design Principles?

Mir ist es wichtig, dass das, was ich hier schreibe ebenso wie die Theorien, die mein Denken und Handeln prägen und genauso die Methoden, mit denen ich arbeite, nicht von irgendwem am grünen Tisch im Sinne einer Management-Mode erdacht sind, sondern praxiserprobt und idealerweise wissenschaftlich überprüft sind. Und das, würde ich behaupten, ist bei den CDP’s der Fall.

Denn sie basieren auf den Arbeiten der Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom, die übrigens die erste Frau war, die 2009 den Wirtschaftsnobelpreis bekommen hat.

Sie arbeitete an der Frage, „wie sich Menschen organisieren, um gemeinschaftlich komplexe Probleme zu lösen. Sie analysierte, wie institutionelle Regeln sich auf Handlungen von Individuen auswirken, die bestimmten Anreizen ausgesetzt sind, Entscheidungen treffen (müssen), und sich zudem noch gegenseitig beeinflussen, und sie zeigte praktikable, gerechte und effiziente Lösungen für diese Probleme auf“ (hier mehr zu ihr und ihrer Arbeit).

Ihre Antwort fand sie durch die Analyse zahlreicher, erfolgreicher und gescheiterter Beispiele für die nachhaltige Bewirtschaftung lokaler Allmenderessourcen in Selbstorganisation weltweit – wie regionaler Bewirtschaftungsformen für Hochgebirgsalmen in der Schweiz und Japan sowie Bewässerungssystemen in Spanien und auf den Philippinen.

Auf dieser empirischen Forschung basierend entwickelte sie die Core Design Principles, die eine erfolgreiche Bewirtschaftung von sog. Common Pool Resources ermöglichen.

Und sie zeigte, dass die Gestaltungsprinzipien immer dann zu finden sind, wenn Zusammenarbeit wirklich funktioniert.

Sie übertrug dann – gemeinsam mit dem Evolutionsbiologen David Sloan Wilson – die Prinzipien auf alle möglichen Gruppen – nicht nur Dorfgemeinschaften und Allmenden, sondern auch auf Teams in Unternehmen, Non-Profit-Organisationen, Schulen oder Behörden (hier mehr dazu).

Daraus entstanden die acht Core Design Principles, die für die Analyse verschiedener Gruppenkontexte genutzt werden können.

Die 8 Core Design Principles für gelingende Zusammenarbeit

Jetzt aber endlich los mit den acht Core Design Principles – die ich sprachlich schon so angepasst habe, dass sie direkt(er) in Deinen Arbeitsalltag integriert werden können (und bei Interesse hier im Original):

  1. Gemeinsame Identität und gemeinsame Ziele: Alle Mitglieder identifizieren sich mit der Gruppe bzw. dem Team und verfolgen gemeinsame Ziele und Zwecke – wir wissen, wozu wir da sind!
  2. Kosten und Nutzen werden gerecht verteilt: Die Kosten und der Nutzen, die den Mitgliedern aus der Zusammenarbeit entstehen, stehen in einem proportionalen Verhältnis zueinander – jede:r hat das Gefühl, gerecht behandelt zu werden.
  3. Gerechte und gemeinsame Entscheidungsfindung: Alle Mitglieder sind in Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen und es ist transparent, wie Entscheidungen getroffen werden.
  4. Transparenz und Beobachtung des Fortschritts: Im Team herrscht Transparenz darüber, wer woran arbeitet und inwieweit die gemeinsamen Ziele erreicht werden.
  5. Angemessenes Feedback auf hilfreiches und nicht hilfreiches Verhalten: Es gibt angemessene Reaktionen auf Verhaltensweisen, um hilfreiches Verhalten zu fördern und nicht hilfreiches Verhalten zu unterbinden bzw. zu sanktionieren.
  6. Schnelle und faire Konfliktlösung: Es existieren Mechanismen für die schnelle und faire Lösung von Konflikten im Team.
  7. Autorität zur Selbstverwaltung: Die Gruppe bzw. das Team hat innerhalb der Organisation ein Mindestmaß an Rechten und die Freiheit, sich selbst (bezogen auf die Prinzipien 1–6) zu organisieren.
  8. Kollaborative Beziehungen mit anderen: Die Gruppe bzw. das Team ist nicht allein auf der Welt und geht kooperative Beziehungen mit anderen Teams bzw. Gruppen ein.

Warum die Prinzipien besonders in der Sozialwirtschaft wichtig sind

In Organisationen der Sozialwirtschaft läuft ohne Vertrauen und Zusammenarbeit nichts – egal ob in einer Wohngruppe, einem sozialen Dienst oder einer Kita.

Gleichzeitig erlebe ich in Teams an der Basis ebenso wie in Führungsteams bis hin zum Top-Management, dass die bewusste Gestaltung des Miteinanders und damit die Auseinandersetzung mit der Frage „Wie wollen wir zusammenarbeiten?“ nicht oder nur rudimentär beantwortet wird.

Vielleicht erwarten wir informell, dass Zusammenarbeit in der Sozialen Arbeit schon irgendwie gelingt, weil wir doch so wahnsinnig „sozial arbeiten“? Aber das Gegenteil ist der Fall:

Gerade dort, wo die diffuse Allzuständigkeit Sozialer Arbeit (vgl. Thiersch zit. n. Hollstein-Brinkmann 1993:166) in Verbindung mit einer in den Organisationen vorherrschenden „dominierenden Informalität“ (klick) zu enormer Unsicherheit und fehlender Orientierung führt, brauchen Menschen und Teams klare Strukturen der Zusammenarbeit, die sie stützen, Sicherheit und Orientierung bieten.

Über die Strukturen kann dann eine Kultur der Zusammenarbeit entstehen, die einerseits Sicherheit bietet und andererseits die für professionelle Soziale Arbeit notwendige Freiheit zulässt. Und hier können (u.a.) die CDPs helfen, Teams so zu gestalten, dass gelingende Zusammenarbeit nicht von Glück, vom Zufall oder von einzelnen, hochengagierten „Kümmerer:innen“, die den Laden schon am Laufen halten, abhängt. Die CDPs machen Zusammenarbeit bewusst gestaltbar und können bei der Bearbeitung der folgenden, vielleicht sogar typischen Herausforderungen helfen:

  • Fehlende gemeinsame Ausrichtung,
  • Unklare Rollen und Zuständigkeiten,
  • Spannungen und unausgesprochene Konflikte im Team oder zwischen Teams bzw. Abteilungen,
  • Entscheidungen, die „von oben“ getroffen werden, obwohl „oben“ in dem Fall gar keine Ahnung hat,
  • Motivationsverlust und hohe Fluktuation,
  • Neugestaltung oder -ausrichtung von Teams

So kannst Du die Core Design Principles nutzen, um die Zusammenarbeit im Team zu verbessern

Wichtig ist: Die CDPs sind kein reines Rezept, dass Du in Deinem Team 1:1 umsetzen musst, damit es läuft. Sie sind eher eine Art Landkarte oder Hintergrundfolie, mit der Du die Zusammenarbeit im Team beobachten, analysieren und anhand der folgenden Schritte verbessern kannst:

  • Schritt 1: Selbstreflexion! Nimm Dir etwas Zeit und frag Dich:
    • Haben wir einen klaren gemeinsamen Zweck? Wissen wir, wozu wir da sind? (P1)
    • Weiß jede:r, was seine Rolle(n), seine Aufgaben, seine Entscheidungsbefugnisse und Verantwortlichkeiten, sind und wie diese auf den Zweck einzahlen? (P1)
    • Hat jede:r das Gefühl, gerecht behandelt zu werden? Was heißt Gerechtigkeit eigentlich für uns? (P2)
    • Dürfen alle dann mitreden und -entscheiden, wenn sie betroffen sind (nicht jede:r ist immer von allem betroffen)? (P3)
    • Haben wir Entscheidungsmethoden etabliert, die zu tragfähigen Teamentscheidungen führen? (P3)
    • Wissen wir, wer im Team woran arbeitet? Ist Arbeit insgesamt und die zu erledigenden Aufgaben transparent für alle? (P4)
    • Feiern wir gemeinsam Erfolge, geben uns Rückmeldung und sprechen auch gemeinsam an, wenn sich jemand nicht an Regeln und Vereinbarungen hält? (P5)
    • Sind Mechanismen etabliert, wie wir mit Konflikten umgehen? (P6)
    • Innerhalb welchen (von „oben“) vorgegebenen Rahmens können wir uns bewegen? Haben wir als Team die Freiheit, das „Wie?“ unserer Zusammenarbeit gemäß den Prinzipien selbst zu gestalten? (P7)
    • Mit wem arbeiten wir zusammen? Welche Teams inner- und außerhalb der Organisation sind auf welche Ergebnisse von uns angewiesen und worauf sind wir angewiesen, um gut arbeiten zu können? (P8)

Schon die Beschäftigung mit diesen (oder ähnlichen) Fragen bringen oft spannende Erkenntnisse.

  • Schritt 2: Team-Workshop! Lade Dein Team ein, gemeinsam auf die CDPs zu schauen:
    • Druck die acht Prinzipien und die Fragen (oder den Beitrag hier) aus.
    • Lest sie gemeinsam durch.
    • Diskutiert: Was läuft bei uns gut? Wo gibt’s Luft nach oben?
    • Überlegt gemeinsam: Welches Prinzip wollen wir uns als Nächstes vornehmen und verbessern?
  • Schritt 3: Pilotphase starten! Pickt Euch ein oder zwei Prinzipien heraus – zum Beispiel „Entscheidungen gemeinsam treffen“ oder „Konflikte früh ansprechen“. Dann probiert aus, wie Ihr das konkret umsetzen könnt. Wichtig ist: ausprobieren, lernen, anpassen.
  • Schritt 4: Dranbleiben und Erfahrungen teilen! Dokumentiert, was gut läuft – und auch, was nicht klappt. Teilt Eure Erfahrungen mit anderen Teams oder in Leitungskreisen. So kann vielleicht sogar eine „bottom up“ Bewegung entstehen, die Eure ganze Organisation verändert…
  • Schritt 5: Reden ist Silber, Schreiben ist Gold! Anstatt auf der Ebene „Schön, dass wir drüber geredet haben!“ zu bleiben, hilft es für die weitere Zusammenarbeit enorm, ein „Teamhandbuch“ zu verschriftlichen: Haltet fest, was ihr gemeinsam verabredet habt. Haltet darin auch fest, in welchen regelmäßigen Zyklen ihr gemeinsam wieder auf das Handbuch schaut und dieses weiterentwickelt. Denn es werden sich immer Veränderungen ergeben.

Nutzt eure gemeinsamen Spielregeln aka das Handbuch immer – in Teamsitzungen, wenn Entscheidungen getroffen werden, wenn Neueinstellungen erfolgen und, und, und…

Zusammenarbeit im Team verbessern: Beispiele aus der Praxis

Ich begleite gerade ein (mehr oder weniger) neu geschaffenes Team einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung. Wie überall sind die Belastungen hoch, die Fluktuation ebenso. Inzwischen hat der erste Termin mit dem Team stattgefunden und wir werden jetzt – in den nächsten Runden – an dem gemeinsamen Zweck des Teams, an der Erarbeitung von Rollen, an gemeinsamen Regeln usw. arbeiten. Mein Ziel des Prozesses ist, gemeinsame Spielregeln zu erarbeiten, die in der herausfordernden Arbeit mit den Menschen mit Behinderung Orientierung bieten und damit Sicherheit schaffen.

Ein anderes Beispiel ist die Begleitung eines Führungsteams eines Komplexträgers (Führungsebene 1 und 2). Herausfordernd ist, dass jede Person in ihrer Rolle denkt und agiert und damit – nachvollziehbar – die lokalen Rationalitäten großen Platz einnehmen. Zweck des Führungsteams ist aber, gemeinsam auf das große Ganze zu schauen. In der Arbeit im Führungsteam gilt es also, die „Hüte zu wechseln“ und die eigenen Stärken für die Gesamtorganisation einzubringen. Auch hier geht es darum, so etwas wie eine „Geschäftsordnung“ für das Führungsteam zu erarbeiten und darin festzuschreiben, was der Zweck des Teams ist, wer welche Rollen einnimmt, wann wie welche Entscheidungen getroffen werden, wie mit Konflikten umgegangen wird usw.

Kurz gesagt geht es bei beiden Prozessen – aber auf unterschiedlichen Ebenen – darum, den Rahmen gelingender Zusammenarbeit zu gestalten. Innerhalb des Rahmens ist es dann möglich, frei zu agieren.

Fazit: Gelingende Zusammenarbeit braucht befreiende Strukturen

Die Core Design Principles zeigen: Gelingende Zusammenarbeit ist kein Glücksfall und damit allein abhängig davon, ob die Menschen „miteinander können“! Gelingende Zusammenarbeit ist vielmehr das Ergebnis von klaren, gemeinsamen Spielregeln.

Das ist wichtig:

Anstatt Spielregeln als Einschränkung von individueller Freiheit zu verstehen, braucht es die Einsicht, dass Teams und Gruppen immer nur aufgrund von Regeln funktionieren. Fraglich ist dann nur, ob die Spielregeln gemeinsam, bewusst und transparent gestaltet wurden oder ob sie irgendwie informal „wild wachsen“ und deshalb oft destruktiv wirken.

Bei der Entwicklung können die Core Design Principles einen wunderbaren Rahmen und damit ein Werkzeug bieten, um Zusammenarbeit zu reflektieren, zu stärken und weiterzuentwickeln.

Deswegen: Druck die 8 Prinzipien aus und bring sie zum nächsten Teammeeting mit. Plane einen halben Tag als Workshop – intern oder mit externer Begleitung. Sprich mit anderen Leitungskolleg:innen darüber, wie sie die Zusammenarbeit erleben und in ihrem Team gestalten. Mach einen Selbsttest: Wie viele der CDPs sind in Deinem Team schon gelebt?

Und – wenn Du willst – begleite ich Dich und Dein Team gern. Sag einfach Bescheid!

Quellen:

  • Thiersch, zit. nach Hollstein-Brinkmann, H. (1993): Soziale Arbeit und Systemtheorien. Freiburg im Breisgau: Lambertus. S. 166.

Leitbildentwicklung in der Sozialwirtschaft: Wie es gelingt, Orientierung zu schaffen und mit Widersprüchen umzugehen

Tags: , , , , , ,

Aktuell bin ich in mehrere Prozesse eingebunden, in denen es um die Leitbildentwicklung in Organisationen der Sozialwirtschaft geht. Der Wunsch der Organisationen nach konsistenten und attraktiv formulierten Leitbildern ist nachvollziehbar. In einer zunehmend komplexen und dynamischen Welt stehen sie vor der Herausforderung, ihre Identität zu schärfen, ihrer Belegschaft und potenziellen Mitarbeiter:innen Orientierung zu bieten, gegenüber Klient:innen und anderen externen Stakeholdern gut dazustehen und gleichzeitig flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Aber:

  • Wenn Leitbilder die Lösung sind, was war eigentlich das Problem?

Und wie gelingt es, ein Leitbild zu schaffen, das nicht nur auf dem Papier existiert, sondern im Alltag gelebt wird?

Im Folgenden habe ich dazu meine Gedanken zusammengetragen: von der Frage, welche Funktionen Leitbilder erfüllen, über die Notwendigkeit von Leitbildern in Organisationen der Sozialen Arbeit bis hin zur Frage des aus meiner Sicht sinnvollen Vorgehens zur Entwicklung von Leitbildern.

Wozu eigentlich, oder: Die Funktion von Leitbildern

Auffällig ist:

Leitbilder sind in den allermeisten Organisationen vorhanden. Wenn man jedoch die Mitarbeiter:innen nach Inhalten des Leitbilds fragt, erntet man meist nur Schulterzucken, nervöses Kramen in Schubladen oder bestenfalls die Wiederholung von Floskeln, die in jedem Leitbild von Organisationen der Sozialen Arbeit vorkommen: „Also, bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt!”

Das wirft die Frage auf, ob sich der Aufwand der Leitbildentwicklung lohnt. Diese Frage kann jedoch nur beantwortet werden, wenn klar ist, welches Problem Leitbilder lösen sollen bzw. welche Funktion sie haben.

In Leitbildern werden zentrale Werte, das Selbstverständnis und manchmal die Ziele einer Organisation formuliert. Entsprechend lassen sich Leitbilder als „Wertekataloge einer Organisation” (Kühl, 2017: 12) verstehen, die Auskunft über die angestrebte Identität der Organisation geben sollen.

Sie „richten sich vorrangig an der Schauseite der Organisation aus, müssen dabei aber auf die formale und die informale Seite Rücksicht nehmen (vgl. ebd. 14, näher zur Unterscheidung von Schauseite, formaler und informaler Seite bspw. hier).

Kurz gesagt sollen Leitbilder als Kompass für Organisationen dienen und Mitarbeitenden, Klient:innen sowie externen Partnern Orientierung bieten. Klingt nach eierlegender Wollmilchsau:

Geht es jetzt um die Mitarbeitenden und somit um die Orientierung nach innen oder um die Klient:innen bzw. die Partner der Organisation, wie beispielsweise die Kostenträger? Denn interne und externe Interessengruppen haben ganz unterschiedliche Bedarfe, Wünsche und Hoffnungen.

Werteformulierungen in Leitbildern haben „hohe Konsenschancen” (Luhmann, 1972: 88 ff.), bei näherer Betrachtung sind sie jedoch ziemlich widersprüchlich.

Dazu ein Beispiel (zu dem hinzugefügt werden muss, dass die folgenden Zitate aus einem real existierenden Leitbild stammen, ich damit aber nicht sagen will, dass es sich um ein „schlechtes Leitbild” handelt. Ich will nur aufzeigen, wo die Herausforderungen und Widersprüche liegen.):

Die Aussage „Der Mensch steht im Mittelpunkt unserer Arbeit. Wir fördern und begleiten seine Entwicklung.” wird wohl jede:r unterstützen.

Im gleichen Leitbild steht dann, dass „betriebswirtschaftliche Unternehmensführung und ein hohes Qualitätsbewusstsein (…) für uns selbstverständliche Voraussetzungen für gute soziale Arbeit” sind. Auch diesem Wert (Wirtschaftlichkeit) kann zugestimmt werden, oder?

In Entscheidungssituationen wird es jedoch widersprüchlich:

Wenn Einrichtungen aus Gründen der Wirtschaftlichkeit geschlossen oder die Öffnungszeiten aufgrund des Fachkräftemangels verkürzt werden müssen, ist das zwar dem Wert „Wirtschaftlichkeit” folgend nachvollziehbar, widerspricht aber den Werten „Mensch im Mittelpunkt” bzw. „Nächstenliebe” (wie es gerne in Leitbildern konfessioneller Organisationen heißt).

Wenn in der Präambel zum Leitbild außerdem gesagt wird, dass die Wertformulierungen „verbindliche Grundlage unserer Arbeit” sind, möchte ich nicht in der Haut der Entscheider:innen stecken.

Kurz gesagt: Zu hoffen, dass Leitbilder die angestrebte Orientierung nach innen und außen tatsächlich bieten, ist zwar nachvollziehbar, stößt bei konkreten Entscheidungen jedoch auf Widersprüche.

Trotzdem wichtig, oder: Leitbilder in Organisationen der Sozialwirtschaft

Basierend auf den obigen Ausführungen könnte man jetzt zum Schluss kommen, dass keinen Sinn machen:

Wenn Leitbilder keine Orientierung bieten, brauchen wir sie doch nicht?!

Das ist aber – wenn man die Spezifika von Organisationen der Sozialen Arbeit in den Blick nimmt – deutlich verkürzt und nicht funktional. Denn:

Organisationen der Sozialen Arbeit müssen besonderen Wert auf ihre „Schauseite” legen, da „sie aufgrund ihrer spezifischen gesellschaftlichen und politischen Umweltkonstellationen gefordert [sind], im Hinblick auf unterschiedliche Interessenträger (…) Legitimation zu erzeugen und aufrechtzuerhalten sowie dadurch die eigene Organisation mit einem tragfähigen Vertrauenspotenzial ihrer Umwelt auszustatten“ (Gesmann, Merchel 2021:37f).

Das, was dahintersteht, lässt sich beispielsweise am Wert „Qualität” aufzeigen: Organisationen der Sozialen Arbeit können sich der Anforderung, qualitativ hochwertig zu arbeiten und Qualitätsmanagement zu betreiben, kaum entziehen. Gerade weil oftmals nicht kausal dargelegt werden kann, was in Organisationen der Sozialen Arbeit „wirklich wirkt”, sind sie darauf angewiesen, zu propagieren, dass sie qualitativ arbeiten und ein Qualitätsmanagementsystem vorhalten und nutzen. „Ob, in welcher Weise und Intensität aber intern Prozesse des Qualitätsmanagements realisiert werden, bleibt mit der Übernahme der Legitimationsanforderung höchst unklar und führt zu erheblichen Unterschieden, wie ein Blick in verschiedene Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt“ (ebd., S. 38).

Jetzt könnte man annehmen, dass es dann nur darauf ankommt, ein tolles Bild der Organisation nach außen zu zeigen und schicke Hochglanzbroschüren mit dolle klingenden Werten zu veröffentlichen, um darüber die eigene Existenz nach außen zu legitimieren. Aber auch das reicht nicht aus.

Denn auch wenn klar ist, dass „zwischen der nach außen gerichteten Fassade, mit der zu Legitimationszwecken ein Bild von der Organisation gezeichnet und vermittelt wird, und der in der Organisation wahrnehmbaren Realität wird in der Regel keine vollständige Deckungsgleichheit“ herrschen kann, müssen Organisationen der Sozialen Arbeit bemüht sein, „die Entkoppelung von Fassade und realer Erlebbarkeit nicht allzu groß werden zu lassen. Denn wenn die relevanten Akteure aus der Umwelt die Fassade als „scheinheilig” (…) erkennen, verliert das Schaufenster drastisch an Legitimationspotenzial“ (ebd.).

Und zu den „Akteuren aus der Umwelt“ gehören neben den Klient:innen und deren Angehörigen auch die Mitarbeiter:innen der Organisation. Und wenn die Akteure aus der Umwelt dann feststellen, dass das „Außen“ mit dem „Innen“ der Organisation so gar nichts zu tun hat, hätte man nur „das genaue Gegenteil der mit dem schönen Schaufenster beabsichtigten Legitimation“ (ebd.) erreicht – neben verärgerten Angehörigen, frustrierten Klient:innen und kündigenden Mitarbeiter:innen ggfs. ein Entzug der Betriebserlaubnis durch die Kostenträger und ein massiver Imageverlust in der Öffentlichkeit.

Und nu`? Oder: Leitbildentwicklung in der Sozialwirtschaft

Das sind ganz schön heftige Anforderungen an das Management von Organisationen der Sozialwirtschaft, oder?

Zu wissen, dass Wertformulierungen in Leitbildern bei konkreten Entscheidungen zu Widersprüchen und Frust führen können und gleichzeitig die Notwendigkeit zu haben, die eigene Arbeit und die Organisation nach außen zu legitimieren, kann ziemlich überfordernd wirken.

Aber Gott sei Dank sind widersprüchliche Anforderungen Alltag in Organisationen der Sozialen Arbeit und die Führungskräfte damit „Dilemmatamanagementprofis“ (vgl. näher Grunwald, 2022:92ff).

Wichtig ist nur, sich der mit der Leitbildentwicklung einhergehenden Dilemmata bewusst zu sein: Es ist wichtig, nicht der Vorstellung zu erliegen, dass Leitbilder „die Lösung für alles“ sind.

Die Mitarbeitenden werden nach erfolgter Leitbildentwicklung und -veröffentlichung immer noch Orientierung im Alltag suchen. Klient:innen und Angehörige werden immer noch frustriert auf für das Überleben der Organisation notwendige, aber eben nicht individuell passende Entscheidungen reagieren. Die Öffentlichkeit wird immer noch genau hinschauen (ggfs. sogar noch genauer), ob es denn legitim ist, wenn die Geschäftsführerin eines angeblich „sozialen“ Komplexträgers mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen einen BMW und keinen Ford Fiesta fährt. Und genauso werden die Kostenträger trotz aller Beteuerungen, dass doch so wahnsinnig qualitativ gearbeitet wird, immer noch mehr bürokratische Anforderungen stellen, um irgendwie „messbar“ zu machen, was mit den ganzen Geldern geschieht. Da kommt man nicht raus.

Trotzdem (oder gerade deswegen) sind aus meiner Sicht mehrere Aspekte in der Leitbildentwicklung hilfreich, die es zu beachten gilt:

Prozess mehr als Präsentation

Kühl (2017:68) schreibt, dass „die Verständigung über einen Wertekatalog zwischen Management und Mitarbeitern (…) im Prozess der Erstellung des Leitbildes und nicht im Moment der Präsentation“ erfolgt.

M.a.W.: Der Prozess der Leitbildentwicklung in der Sozialwirtschaft ist wichtiger als die Präsentation auf der Website, in Hochglanzbroschüren oder auf schicken Postern an Wänden.

Nachvollziehbar, aber mühsam. Denn anstatt allein im stillen Kämmerlein ein fertiges Leitbild zu erarbeiten und dann zu verkünden, geht’s um die partizipative Erarbeitung des Leitbilds, da ein Leitbild ein Produkt interner Kommunikationsprozesse ist. Es entsteht durch die Auseinandersetzung der Organisation mit sich selbst und ihrer Umwelt.​

Entsprechend relevant sind die Partizipationsmöglichkeiten am Prozess der Leitbildentwicklung.

Den Prozess effizient gestalten

Organisationen der Sozialwirtschaft sind keine StartUps mit ein paar Mitarbeitenden. Wir haben es oftmals mit „Konzernstrukturen“ zu tun, mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen, die dann auch noch sehr dezentral in häufig völlig verschiedenen Arbeitsfeldern tätig sind.

Partizipation kann in diesen Kontexten entsprechend nicht bedeuten, dass jede:r „seinen Senf“ von Beginn an zum Leitbild beitragen kann. Das wäre vielleicht spannend, aber wenig funktional geschweige denn effizient.

Entsprechend gilt es, Partizipation effizient zu gestalten. Für mich heißt das konkret, im ersten Schritt (wenn möglich) so etwas wie einen „KickOff“ durchzuführen – eine Großgruppenveranstaltung (bspw. Open Space), in der Eindrücke, Aussagen, Meinungen usw. gesammelt werden. Hier kann es nicht darum gehen, konkrete Aussagen zum Leitbild zu diskutieren, das sprengt den Rahmen.

Im zweiten Schritt werden die Ergebnisse des KickOffs durch eine idealerweise interdisziplinär zusammengesetzte Projektgruppe zu einem weitgehend ausgearbeiteten Leitbildentwurf zusammengeführt.

Der dritte Schritt ist dann, den Entwurf zur ernsthaften Diskussion zu stellen. Ich betone das „ernsthaft“, da Mitarbeiter:innen sehr schnell spüren, wenn es reine Informationsveranstaltungen sind und kritische Einwände und Anregungen folgenlos bleiben.

Von Werten zu Prinzipien

Neben der partizipativen Erarbeitung von für die Organisation passenden Werten ist die Ableitung von aus den Werten folgenden, handlungsleitenden Prinzipien relevant.

Prinzipien lassen sich als allgemeingültige und nicht verhandelbare Spielregeln oder Handlungsleitlinien für die Arbeit in Teams und Organisationen definieren, die sich aus den formulierten Werten ableiten.

Wichtig ist dann, die aus den Werten abgeleiteten Prinzipien zum einen möglichst präsent zu halten. In Teamsitzungen, Gesprächen unter Mitarbeiter:innen und Führungskräften ebenso wie in Gesprächen mit Klient:innen sollten die Prinzipien tatsächlich angewendet werden, um der Gefahr zu begegnen, ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie viele vergilbte Leitbilder vieler Organisationen:

Zwar existent, aber alles andere als lebendig.

Leitbildpyramide mehr als Leitbild

Der Begriff der Leitbildpyramide kommt aus dem Kontext der Strategiearbeit.

Unter einer Leitbildpyramide verstehe ich die Zusammenführung von der Vision, der Mission, den Werten, den Prinzipien und der Strategie(n) der Organisation an einem Ort (bzw. in einem Dokument).

Denn die Strategie(n) der Organisation sollten sich auf den bzw. die Zweck(e) der Organisation beziehen und damit darauf, wozu die Organisation existiert.

Und wenn man die Pyramide von unten betrachtet, ergeben sich über die Strategie(n) (hoffentlich) auch Orientierungen, wie die im Leitbild formulierten Werte mit Leben gefüllt werden.

Weiterentwicklung

Im Beitrag zur Strategieentwicklung in Organisationen der Sozialen Arbeit habe ich geschrieben, dass ich mir unschlüssig bin, ob Organisationen alle paar Jahre eine neue Strategie benötigen.

Selbstverständlich ist es sinnvoll, regelmäßig aus dem Alltag auszusteigen und zu überlegen, was in Zukunft für die eigene Organisation überlebenswichtig sein wird. Genau dazu dienen beispielsweise „Strategieklausuren“. Genauso wichtig ist es jedoch, kontinuierlich über die Zukunft nachzudenken und die Strategie(n) regelmäßig (z. B. jährlich) zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

Gleiches gilt auch für das Leitbild.

Es reicht aus meiner Sicht nicht aus, das Leitbild alle paar Jahre hervorzukramen, sich zu wundern und dann den Prozess der Leitbildentwicklung zu beginnen. Sinnvoller ist es, das Leitbild kontinuierlich und vor dem Hintergrund der aktuellen Bedingungen anzupassen.

Wenn ein Leitbild jedoch so genutzt wird, wie oben beschrieben, dann passiert das automatisch: Solange das Leitbild kontinuierlich im Fokus der Organisation bleibt und bei Neueinstellungen, Teamsitzungen, Entscheidungen usw. als Orientierung dient und nicht erst nach zehn Jahren hektisch hervorgeholt wird, erfolgen Anpassungen automatisch, da sich die Realität geändert hat.

Darüber hinaus empfehle ich, regelmäßige Zyklen der Überprüfung festzulegen und das Leitbild beispielsweise einmal im Jahr in der Leitungsklausur anzuschauen. Im Sinne einer Retrospektive sollte dann bewusst entschieden werden, ob und gegebenenfalls welche Anpassungen notwendig sind.

So bleibt das Leitbild ein lebendiges Dokument der Organisation.

Ehrlich sein

Wie ich oben geschrieben habe, gehen mit den Formulierungen von Werten oftmals Widersprüche einher (bspw. Wirtschaftlichkeit vs. Mensch im Mittelpunkt).

Anstatt so zu tun, als würden diese Widersprüche nicht existieren, und die formulierten Werte als „verbindliche Grundlage unserer Arbeit” darzustellen, macht es aus meiner Sicht mehr Sinn, die Widersprüche beispielsweise in der Präambel zum Leitbild bspw. wie folgt anzusprechen:

„Unser Leitbild formuliert Werte, die unser Handeln leiten und prägen sollen. Wir sind uns bewusst, dass einige dieser Werte in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen können, beispielsweise die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und dem Wohl des Einzelnen. Diese Widersprüche betrachten wir nicht als Problem, sondern als Ausdruck der Vielfalt und Komplexität unserer Aufgaben. Sie eröffnen Raum für ehrlichen Dialog und verantwortungsvolle Entscheidungen, die den jeweiligen Kontext berücksichtigen. Unser Ziel ist es, diese Spannungsfelder nicht zu ignorieren, sondern sie aktiv und bewusst auszubalancieren.“

Neben dem, dass die Mitarbeitenden gut mit Ehrlichkeit umgehen können, wird so auch dem Frust bei allen Stakeholdern vorgebeugt, der entsteht, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die einen der formulierten Werte verletzen.

Fazit, oder: Erfolgsfaktoren für die gelingende Leitbildentwicklung in der Sozialwirtschaft

Zusammenfassend solltest Du Dir immer die Frage stellen, welches Problem die angestrebte Lösung lösen soll. Das gilt nicht nur, aber auch für die Leitbildentwicklung in der Sozialwirtschaft.

Und die Befassung damit zeigt auf, dass Leitbilder gerade in Organisationen der Sozialen Arbeit wichtig und notwendig sind, die Hoffnungen auf Orientierung nach innen und außen jedoch meist nicht erfüllt werden können.

Das führt aber nicht dazu, die Leitbildentwicklung zu vernachlässigen, sondern dazu, sich über die Herausforderungen bewusst zu werden. So kann es gelingen, die Widersprüche in Möglichkeiten der bewussten Auseinandersetzung zu transferieren.

Und das wiederum hilft allen Beteiligten – Mitarbeitenden, Klient:innen, Kostenträgern und der Öffentlichkeit.

Das Leitbild kann so zu einem kraftvollen Instrument werden, das auch dazu beiträgt, die Organisationskultur mitzugestalten und die Qualität der Arbeit zu sichern.

Voraussetzung dafür ist ein effektiver, effizienter und partizipativer Entwicklungsprozess, der den Prozess der Arbeit am Leitbild ins Zentrum rückt und die Spezifika von Organisationen der Sozialen Arbeit berücksichtigt.

Wie ist es bei Dir: Kennst Du das Leitbild Deiner Organisation? Wie war der Prozess? Lass‘ doch gerne einen Kommentar hier auf dem Blog oder schreib‘ mir direkt per Mail.

Ach ja, und natürlich stehe ich Dir gerne zu Fragen rund um die Leitbildentwicklung in Deiner Organisation zur Verfügung.

Quellen:

  • Epe, H., Ottmann, S. (2024): Wirkungsorientierung als ein Leitprinzip in Leitbildern der Sozialen Arbeit. Zugriff am: 16.05.2025. Verfügbar unter: https://blog.soziale-wirkung.de/2022/12/21/wirkungsorientierung-leitprinzip-leitbild-soziale-arbeit/
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2021): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Handbuch für Studium und Praxis. 2. Auflage. Carl-Auer-Verlag.
  • Grunwald, K. (2022): Management sozialwirtschaftlicher Organisationen. Eine Einführung. Springer VS.
  • Kühl, S. (2017): Leitbilder erarbeiten. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Springer VS.
  • Luhmann, N. (1972): Rechtssoziologie. Rowohlt.

Schnittstellenmanagement in Organisationen der Sozialen Arbeit: Herausforderungen, Chancen und konkrete Umsetzung

Tags: , , , , , , ,

In Organisationen der Sozialen Arbeit treffen täglich zahlreiche Menschen, Teams und Fachbereiche aufeinander. Die Zusammenarbeit über Abteilungs- oder Organisationsgrenzen hinweg ist essenziell, um Klient:innen bestmöglich zu unterstützen. Doch genau hier entstehen häufig Reibungsverluste: Wer ist für welche Aufgaben verantwortlich? Warum macht die Personalabteilung schon wieder, was Personalabteilungen so machen? Wo verlaufen die Grenzen zwischen verschiedenen Zuständigkeiten? Und wie kann verhindert werden, dass wichtige Informationen verloren gehen oder doppelt bearbeitet werden? Es geht um die Schnittstellen und das professionelle Schnittstellenmanagement in Organisationen der Sozialen Arbeit.

Doch was genau bedeutet Schnittstellenmanagement und wie kann es in Deiner Organisation erfolgreich(er) umgesetzt werden? In diesem Beitrag findest Du einen Überblick über das Thema. Ich skizziere außerdem Herausforderungen und Chancen und stelle Dir zum Abschluss ein konkretes Vorgehen zur Optimierung von Schnittstellen in Deiner Organisation vor.

Warum ist Schnittstellenmanagement wichtig?

Schnittstellen sind Berührungspunkte zwischen verschiedenen Bereichen einer Organisation, zwischen Teams und Abteilungen, etwa zwischen Verwaltung und Fachkräften, zwischen stationären und ambulanten Angeboten oder zwischen Sozialarbeit und medizinischen Diensten. Schnittstellen bestehen aber auch zwischen der Organisation und externen Stakeholder:innen – Kostenträgern, der Politik etc. Überall dort, wo diese Übergänge nicht möglichst klar geregelt sind, können Missverständnisse, Doppelarbeit oder Effizienzverluste entstehen.

Ein professionelles Schnittstellenmanagement sorgt dafür, dass:

  • Prozesse funktionieren,
  • Informationen reibungslos fließen,
  • Verantwortlichkeiten klar definiert sind,
  • Ressourcen effizient genutzt werden und
  • die Qualität der Leistungen für die Klient:innen steigt.

Besonders in der Sozialen Arbeit, wo oft komplexe Fallkonstellationen bearbeitet werden und verschiedene Akteur:innen beteiligt sind, kann ein fehlendes oder schlechtes Schnittstellenmanagement zu erheblichen Problemen führen – mit negativen Folgen für Fachkräfte, Organisationen und nicht zuletzt die betreuten Menschen.

Herausforderungen im Schnittstellenmanagement

Warum gelingt es oft nicht, Schnittstellen effektiv zu gestalten? Typische Herausforderungen sind:

  1. Unklare Verantwortlichkeiten: Wer entscheidet was? Wer ist für welchen Prozessschritt zuständig? Ohne klare Regelungen kommt es zu Unsicherheiten, Doppelarbeit und zu Konflikten zwischen Teams und Abteilungen.
  2. Kommunikationsprobleme: Unterschiedliche Fachsprachen, fehlende Informationsweitergabe oder Missverständnisse erschweren die Zusammenarbeit.
  3. Kulturelle Unterschiede: Jede Abteilung oder Organisation hat ihre eigene Arbeitsweise und Werte – das kann zu Konflikten führen.
  4. Technische Barrieren: Unterschiedliche IT-Systeme, fehlende digitale Schnittstellen oder mangelnde Zugriffsmöglichkeiten behindern den Informationsaustausch.
  5. Fehlende Prozessübersicht: Ohne eine strukturierte Analyse bleibt oft unklar, wo genau es in der Zusammenarbeit hakt.

Prozesse und Prozessmanagement sind nicht unbedingt die Paradedisziplin sozialer Organisationen, das erlebe ich immer wieder. Die Herausforderungen, die sich an den Schnittstellen ergeben, sind in vielen Organisationen der Sozialen Arbeit Alltag – aber sie lassen sich bewältigen. Hier hilft es, das Thema systematisch anzugehen.

Möglichkeiten zur Umsetzung eines effektiven Schnittstellenmanagements

Um Schnittstellen erfolgreich zu gestalten, braucht es gezielte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen:

1. Analyse der bestehenden Schnittstellen

Der erste Schritt besteht darin, die relevanten Schnittstellen in der eigenen Organisation zu identifizieren. Dafür eignet sich eine systematische Bestandsaufnahme:

  • Wo entstehen Übergänge zwischen verschiedenen Teams oder Abteilungen (bspw. zwischen Fachabteilungen und dem Controlling)?
  • Welche Akteur:innen sind beteiligt?
  • Welche Probleme treten an diesen Punkten regelmäßig auf?

Ein gutes Werkzeug dafür (und für Schritt 2) ist eine Prozesslandkarte (hier findest Du eine Anleitung, wie das geht), in der alle relevanten Berührungspunkte visuell dargestellt werden.

2. Verantwortlichkeiten und Prozesse definieren

Sind die Schwachstellen identifiziert, geht es darum, klare Regelungen zu schaffen. Dabei helfen:

  • Erwartungsklärung, um die gegenseitigen Erwartungen der beteiligten Akteur:innen transparent zu machen und Aufgaben und Zuständigkeiten festlegen (bspw. mit dem „Marktplatz der Erwartungen„),
  • Prozessbeschreibungen, die Abläufe standardisieren, und
  • Kommunikationsrichtlinien, die den Informationsfluss sicherstellen.

Diese Vereinbarungen sollten nicht nur auf Papier existieren, sondern aktiv im Arbeitsalltag gelebt werden. Hier hilft es, direkt bei der Erstellung entsprechender Papiere Überarbeitungszyklen festzulegen (bspw. jährlich), damit die Papiere auf dem Schirm bleiben und immer weiter entwickelt werden.

3. Kommunikation und Zusammenarbeit fördern

Technische Lösungen allein reichen nicht – auch die menschliche Ebene muss berücksichtigt werden. Dazu gehören:

  • Regelmäßige Schnittstellenmeetings, um Probleme frühzeitig zu erkennen,
  • gemeinsame Workshops, in denen gegenseitiges Verständnis gefördert wird, Rollen geklärt und Veränderungen in den Teams aufgegriffen werden, und die Arbeit in
  • interdisziplinären Teams, die team-, abteilungs- und fachübergreifende Zusammenarbeit stärken.

4. Digitale Unterstützung nutzen

Effektives Schnittstellenmanagement kann durch digitale Tools erleichtert werden. Dazu gehören:

  • Gemeinsame Datenbanken, um den Informationsaustausch zu verbessern,
  • automatisierte Workflows, um Abstimmungsprozesse zu beschleunigen,
  • Kommunikationstools, die den Austausch zwischen Teams erleichtern,
  • digitale Whiteboards, die die Prozesse und Schnittstellen veranschaulichen.

5. Kultur der Zusammenarbeit etablieren

Letztlich entscheidet die Kultur der Zusammenarbeit darüber, ob Schnittstellen erfolgreich gemanagt werden. Kultur entwickelt sich aus den Strukturen (Zielen, Kommunikationswegen, Prozessen), die auf Zusammenarbeit ausgerichtet sein sollten. Aber auch die „Art der Kommunikation“ ist wichtig. So sollten Führungskräfte eine offene Kommunikation fördern, Verantwortungsbewusstsein stärken und Mitarbeitende aktiv in die Schnittstellengestaltung einbinden. Bei allem hilft es aber wenig, nur zu appellieren – gestalte vielmehr Strukturen, die das fördern. Denn nur wenn alle an einem Strang ziehen, funktioniert das System.

Konkretes Vorgehen zur Bearbeitung von Schnittstellen

Wie kannst Du bzw. (D)eine Organisation das Thema Schnittstellenmanagement konkret angehen?

Dazu habe ich hier mal ein erprobtes, aber nur sehr grobes Vorgehen skizziert, dass – je nach Ebene – für und mit den für die Prozesse und Schnittstellen Verantwortlichen angepasst und durchgeführt werden kann:

Schritt 1: Ist-Analyse

  • Erhebung der bestehenden Schnittstellen im Team, der Abteilung oder der Gedamtorganisation (bspw. durch Interviews, Workshops oder Prozessanalysen)
  • Identifikation von Problemen an Schnittstellen und möglichen Verbesserungspotenzialen
  • Erstellung einer Prozesslandkarte

Schritt 2: Zieldefinition

  • Festlegen, welche konkreten Verbesserungen erzielt werden sollen (z. B. schnellere Abstimmung, weniger Fehler, bessere Zusammenarbeit)
  • Definition von Erfolgskriterien

Schritt 3: Maßnahmenplanung

  • Entwicklung konkreter Maßnahmen zur Optimierung (z. B. neue Kommunikationswege, Standardisierung von Abläufen, technische Lösungen, Rollenklärung, Erarbeitung eines Organisationshandbuchs)
  • Verantwortlichkeiten und Zeitpläne festlegen

Schritt 4: Umsetzung und Begleitung

  • Einführung neuer und Veränderung bestehender Prozesse und Strukturen (Entscheidungen treffen!)
  • Schulungen und Workshops für Mitarbeitende
  • Regelmäßige Überprüfung der Maßnahmen und ggf. Anpassung (Retrospektiven)

Schritt 5: Evaluation und kontinuierliche Verbesserung

  • Überprüfung der Zielerreichung anhand definierter Kriterien
  • Sammlung von Feedback aus der Praxis
  • Kontinuierliche Anpassung und Optimierung der Schnittstellen

Fazit: Schnittstellenmanagement als Chance begreifen

Schnittstellenmanagement mag zunächst nach einer zusätzlichen und nicht nur lustigen Aufgabe klingen – kann aber bzw. können gute Schnittstellen den Arbeitsalltag enorm erleichtern. Denn wenn Du Schnittstellen gezielt analysierst, klare Zuständigkeiten schaffst und eine Kultur der Zusammenarbeit förderst, sorgt das für mehr Effizienz, weniger Reibungsverluste und am Ende des Tages eine bessere Versorgung der Klient:innen. Der Aufwand, den Du in die Schnittstellenarbeit steckst, lohnt sich, denn der Aufwand, der in nicht funktionierende Schnittstellen fließt, ist enorm.

Für Vorstände und Führungskräfte in der Sozialen Arbeit bedeutet das:

Schnittstellenmanagement ist strategische Aufgabe. Es lassen sich nicht nur interne Abläufe verbessern, sondern auch die Wirkung der (Sozialen) Arbeit insgesamt steigern.

Wie steht’s in Deiner Organisation um die Schnittstellen?

Wie du Widerstand in Veränderungsprozessen begegnen kannst

Tags: , , , , , , ,

Klima, KI, Fachkräftemangel, neue gesetzliche Vorgaben, knapper werdende Mittel, Nachfolge usw. Die Notwendigkeit zur Veränderung in den Organisationen der Sozialen Arbeit liegt auf der Hand. Ich will hier nicht das große, leider inzwischen überstrapazierte Wort „Transformation“ in den Mund nehmen. Aber dass sich etwas bewegen muss, dass sich etwas verändern muss, im Kleinen wie im Großen, das ist klar. Immer wieder und ganz aktuell in einem Lehrauftrag zum Thema Change Management taucht die Frage auf, wie man mit Widerstand in Veränderungsprozessen umgehen kann. Widerstand wird dabei vor allem als Hindernis für Veränderungsprozesse gesehen, das es zu beseitigen gilt. Ich möchte in diesem Beitrag aber auch die Funktion von Widerstand als Ausdruck aufkommender Probleme betonen, die aktiv angegangen werden sollten. Denn neben dem Umstand, dass wir „unser Veränderungsziel schnell erreichen wollen“, wollen wir ja irgendwie auch „die Mitarbeiter:innen bei der Zielerreichung mitnehmen“. Und beide Perspektiven sind wichtig! Im Folgenden soll daher ein Überblick über die Ursachen von Widerstand in Veränderungsprozessen, die Bedeutung des Umgangs damit und praktische Strategien zur erfolgreichen Umsetzung von Veränderungen in Organisationen der Sozialen Arbeit gegeben werden.

Obwohl schon viel zu diesem Thema geschrieben wurde, nutze ich den Blog hier zum einen als eigenen Reflexionsraum, in dem ich mich mit Themen und manchmal auch noch unausgegorenen Ideen auseinandersetze. Zum anderen dient der Blog aber auch als Material- und Methodensammlung, auf die Du bei deinen Fragen zurückgreifen kannst.

Widerstand in Veränderungsprozessen – eine Einführung

Grundsätzlich ist relevant, dass sich Organisationen als soziale Systeme „strukturell konservativ“ verhalten und erst dann verändern, „wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind, wenn sie die Grenze des Machbaren erreicht haben“ (Seliger 2022: 14f). Da Organisationen aber nicht im luftleeren Raum agieren, sondern in eine bzw. ihre sich verändernde Umwelt eingebunden sind, müssen Veränderungen entsprechend in der Organisation verarbeitet werden, da sich das soziale System Organisation sonst nicht und vor allem nicht selbst erhalten kann (vgl. näher bspw. hier).

Doch trotz der Notwendigkeit von Veränderungen lösen Veränderungsprozesse häufig Widerstände bei den Mitarbeitenden aus. Und es sollte klar sein, dass ignorierter oder falsch interpretierter Widerstand den Erfolg von Veränderungsprozessen erheblich beeinträchtigt (vgl. z.B. Schein, 2009). Die aktive Auseinandersetzung mit den Ursachen und Ausdrucksformen von Widerstand erhöht daher die Effektivität des Veränderungsprozesses und fördert zudem das Vertrauen und die Motivation der Mitarbeitenden.

Aber:

Was ist Widerstand?

Es ist wichtig zu verstehen, dass Widerstand ein natürlicher Bestandteil von Veränderungsprozessen ist, aber oft negativ konnotiert wird. Hier lohnt sich eine differenzierte Betrachtung.

Von Widerstand in Veränderungsprozessen kann dann gesprochen werden, wenn ein Veränderungsvorhaben aus zunächst nicht erkennbaren Gründen bei einzelnen Personen, Teams, Gruppen oder der gesamten Belegschaft auf Ablehnung stößt, nicht nachvollziehbare Vorbehalte hervorruft oder durch passives Verhalten unterlaufen wird.

Widerstand bedeutet also zunächst einmal Verweigerung von Engagement – eine bewusste oder unbewusste Reaktion, die sich auf die Sachebene (fachlich-inhaltlich), die Beziehungsebene („die Beteiligten sind doof“) oder die Zeitebene („zu schnell, zu langsam oder aktuell unpassend“) bezieht.

Widerstand wird häufig – und vor allem von der Gegenseite – als Hindernis wahrgenommen, erfüllt aber eine wichtige systemstabilisierende Funktion, die nicht nur negativ zu sehen ist: Er hilft, den Status quo und die Handlungsfreiheit zu erhalten. In diesem Sinne kann Widerstand sogar positiv interpretiert werden, da er zunächst die Frage aufwirft, ob die Veränderung des Status quo überhaupt sinnvoll, funktional und notwendig ist.

Widerstand als Ausdruck von Unsicherheit, Informationsdefiziten oder auch unbewältigten Ängsten bedeutet jedoch nicht, dass „nichts gelernt“ wird oder die Entwicklung stagniert.

Vielmehr kann Widerstand als Vorbote von Lösungen gesehen werden – als Signal, dass die eingeschlagene Richtung möglicherweise nicht als sinnvoll empfunden wird oder noch etwas fehlt. Es ist also eine Frage der Sichtweise der Führungskraft (oder auch des/der Berater:in), ob Widerstand als Blockade oder als Chance wahrgenommen wird.

Darauf aufbauend ist es dann entscheidend, wie mit Widerstand umgegangen wird. Für das Gelingen von Veränderungsprozessen ist es daher relevant, Widerstand nicht persönlich zu nehmen, sondern als Botschaft und Kommunikationsangebot zu verstehen. Widerstand ist ein Feedback, das darauf hinweist, dass (zumindest aus Sicht der widerständigen Mitarbeitenden) Anpassungsbedarf besteht – sei es in der Kommunikation, in den Zielen, im Tempo oder in den Vorgehensweisen und Methoden des Veränderungsprozesses.

Entsprechend interpretiert und genutzt, eröffnet Widerstand somit die Möglichkeit, den Veränderungsprozess zu reflektieren und weiterzuentwickeln.

Widerstand aus individueller Perspektive

Um Widerstand aus individueller Perspektive zu erfassen, ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, welche elementaren Grundbedürfnisse des Menschen erfüllt sein müssen, damit Menschen „gut arbeiten“ können. Hierzu ist aus meiner Sicht das SCARF-Modell (mehr dazu hier) passend, in dem die folgenden fünf elementaren Grundbedürfnisse des Menschen definiert werden:

– Status (Anerkennung)
– Certainty (Sicherheit)
– Autonomy (Selbstbestimmung)
– Relatedness (Verbundenheit) und
– Fairness.

Wichtig ist, dass die Ausprägung der Grundbedürfnisse bei jedem Menschen individuell ist. „Das heißt, was für den einen eine massive Bedrohung ist, mag Dich nur minimal bewegen. Oder umgekehrt“ (klick).

Mit Blick auf Veränderungsprozesse unter Bezugnahme auf dieses Modell wird deutlich, dass – als Beispiel – die Einführung neuer digitaler Tools die Sicherheit der Mitarbeiter:innen reduziert – z.B. aufgrund bislang nicht vorhandener Kompetenzen im Umgang mit den neuen Tools. Darüber hinaus sinkt aber auch der Aspekt „Status“ bzw. Anerkennung, da unklar ist, welche Leistungen als „anerkennenswert“ bewertet werden. Außerdem werden neue und gut ausgestattete Arbeitsumgebungen von anderen Mitarbeiter:innen vielleicht als unfair wahrgenommen. Und es kann auch sein, dass durch die digitale Transformation und die damit verbundenen neuen Anforderungen bisher feste Teams und Gruppen aufgelöst werden und damit die Bindung an das bisherige Team sinkt.

So ist es verständlich, dass Widerstände entstehen und beispielsweise die Einführung neuer digitaler Tools nicht von allen als „Heilsbringer“ erlebt und damit deutlich erschwert wird.

Unterschiedliche Geschwindigkeit, oder: Der Widerstandkanon

Bevor ich zu Ansätzen für den Umgang mit Widerständen gegen Veränderungsprozesse in der eigenen Organisation komme, möchte ich noch auf eine interessante Beobachtung hinweisen.

Zum Verständnis dieser Beobachtung zunächst ein Hinweis auf die im Zusammenhang mit dem Umgang mit Widerständen häufig verwendete Veränderungskurve nach Kübler-Ross/Streich vgl. bspw. hier.

Demnach durchlaufen Menschen (und auch Organisationen) in Veränderungsprozessen die folgenden 7 Phasen:

Phase 1: Schock
Phase 2: Ablehnung
Phase 3: Rationale Akzeptanz
Phase 4: Emotionale Akzeptanz
Phase 5: Lernen
Phase 6: Erkenntnis
Phase 7: Integration

Mir geht es hier nicht um das Modell als solches, sondern um die Erkenntnis, dass immer individuelle Unterschiede im Umgang mit Veränderungen zu berücksichtigen sind: Nicht alle Menschen durchlaufen die Phasen in der gleichen Reihenfolge, erleben sie auf die gleiche Weise oder auch in der gleichen Geschwindigkeit.

Und der Blick auf Veränderungsprozesse zeigt, dass diese häufig auf der Ebene der Geschäftsführung, des Vorstandes oder der Führungsebenen konzipiert bzw. angestoßen werden. Die Analyse des Ist-Zustandes und der Abgleich mit den gewünschten Soll-Zuständen ist Aufgabe des Managements, um daraus Entscheidungen über das weitere Vorgehen abzuleiten.

Wenn aber die Geschäftsführung die Notwendigkeit von Veränderungen erkannt und entsprechende Schritte eingeleitet hat, heißt das noch lange nicht, dass die darunter liegenden Ebenen – Bereichs-, Abteilungs- und Teamleitungen, geschweige denn die Mitarbeitenden – diese Notwendigkeit ebenfalls erkannt haben.

Vielmehr entsteht ein „emotionaler Kanon“ durch die Ungleichzeitigkeit der Auseinandersetzung mit der Veränderung:

Während z.B. die Geschäftsleitung schon in Phase 4 oder 5 der Veränderungskurve angekommen ist, hängt die Ebene der Bereichsleitungen noch in Phase 2 oder 3. Und die Mitarbeitenden stehen noch ganz am Anfang und sind geschockt, dass überhaupt eine Veränderung notwendig ist.

Kurz: Die einen sind schon durch und auf dem Weg der Integration, während die anderen noch in den ersten Phasen stecken. Von daher ist es naiv anzunehmen, dass alle Mitarbeitenden auf allen Ebenen die gleiche „Begeisterung“ für die Veränderung haben, nur weil jetzt darüber informiert wurde.

Möglichkeiten zum Umgang mit Widerstand in Veränderungsprozessen

Aber wie kannst Du nun konkret in Deiner Organisation mit Widerstand umgehen? Dazu hier einige praxisnahe Strategien:

1. Die eigene Rolle im Umgang mit Widerstand annehmen

Als Führungskraft trägst Du die Verantwortung für den Veränderungsprozess und die erfolgreiche Kommunikation im Veränderungsprozess. Das bedeutet, dass Du die Verantwortung trägst, die Mitarbeitenden nicht nur durch die Veränderung zu begleiten, sondern sie aktiv zu unterstützen.

Die Art und Weise, wie Führungskräfte mit ihren eigenen Widerständen und denen ihrer Mitarbeitenden umgehen, ist dabei ein zentraler Erfolgsfaktor. Denn Widersprüche zwischen den gegebenen Informationen und dem gezeigten Verhalten der Führungskraft fördern den Widerstand der Mitarbeitenden gegen geplante Veränderungen (vgl. Stabenow, 2018:3).

Dementsprechend ist hier eine offene und individuell reflektierte Haltung gegenüber dem Veränderungsprozess und dem eigenen Widerstand wesentlich:

  • Wie gehst Du mit Veränderung um?
  • Wie schätzt Du Deinen Widerstand gegenüber dem Prozess ein?
  • Wie gelingt Dir ein guter Umgang mit Deinen eigenen Herausforderungen?
  • Was gibt Dir Anerkennung, Sicherheit, Verbundenheit?

Dabei ist ein Blick auf die Zusammenarbeit innerhalb des Führungsteams hilfreich. Transparenz, regelmäßiger Austausch und ehrliche Reflexion über den Umgang mit Widerstand im Führungsteam sind unerlässlich, um einheitlich, klar und „authentisch“ zu handeln. So wird vermieden, dass widersprüchliche Signale gesendet werden, die die Verunsicherung der Mitarbeitenden verstärken können.

Kurz: Wer seine Verantwortung im Umgang mit Widerstand bewusst wahrnimmt und einen konstruktiven Umgang vorlebt, schafft die Basis für einen erfolgreichen Veränderungsprozess. Ein transparenter, reflektierter und lösungsorientierter Umgang mit Herausforderungen fördert nicht nur das Vertrauen der Mitarbeitenden, sondern stärkt auch die Resilienz der gesamten Organisation.

2. Verständnis für die Gründe des Widerstands entwickeln

Bevor Du Maßnahmen ergreifst, ist es essenziell, die Ursachen des Widerstands zu identifizieren. Häufig resultiert dieser aus:

  • Angst vor dem Unbekannten: Veränderungen erzeugen Unsicherheit (siehe SCARF-Modell) und können Ängste hervorrufen, sei es vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder vor neuen Aufgaben.
  • Mangel an Informationen: Unzureichende oder unklare Kommunikation führt zu Unsicherheit und Missverständnissen. Und da gelingende Kommunikation unwahrscheinlich ist, da sie verschiedene Hindernisse überwinden muss (Verstehensproblem, Distanzproblem, Erfolgsproblem, vgl. bspw. hier) ist das mit der Information gar nicht trivial.
  • Überforderung: Mitarbeitende sehen sich mit zusätzlichen Belastungen konfrontiert, was gerade in sowieso schon belasteten Organisationen zur kompletten Überforderung bis hin zu individuellem und organisationalen Burnout führen kann.
  • Fehlende Kompetenzen: Es besteht Unsicherheit darüber, ob die eigenen Fähigkeiten den neuen Anforderungen entsprechen. Denn neben dem „Wollen“, der Lust auf Veränderung, geht es auch immer um ein „Können“, also der Frage, ob sich die Mitarbeitenden kompetent fühlen (und sind), die neue Situation bearbeiten zu können.
  • Unpassendes Tempo: Das Veränderungstempo wird als zu schnell empfunden, wodurch Anpassungsschwierigkeiten entstehen – siehe Widerstandskanon.

Allein das Kennen der Gründe kann helfen, gezielt auf die Widerstände eingehen und entsprechende Unterstützungsangebote schaffen zu können. Das „Erkennen können“ setzt jedoch psychologische Sicherheit voraus, um überhaupt an die wirklichen Themen zu kommen.

3. Offene und transparente Kommunikation fördern

Trotz aller kommunikativen Herausforderungen bleibt eine klare und regelmäßige Kommunikation ein Schlüssel, um Unsicherheiten zu minimieren. Es geht darum, die Mitarbeitenden so früh wie möglich (nicht so früh wie möglich) über die geplanten Veränderungen, die Gründe und die erwarteten Auswirkungen zu informieren.

Dabei sollten verschiedene Kommunikationskanäle und -formate (Dialogräume, E-Mail, Podcast, Video…) genutzt werden, um sicherzustellen, dass alle erreicht werden. Und es versteht sich (fast) von selbst, dass nicht nur sachliche Aspekte kommuniziert werden, sondern auch die emotionale Seite berücksichtigt werden muss.

4. Mitarbeitende aktiv einbinden

Es hilft, die Mitarbeitenden von Anfang an in den Veränderungsprozess einzubeziehen und ihre Meinungen und Ideen einzuholen (vgl. Stabenow, 2018:3).

Dies kann durch Workshops, Dialog- und Feedbackrunden oder in Arbeitsgruppen geschehen. Eine aktive Einbindung fördert das Gefühl der Mitbestimmung und baut Widerstände ab. Zudem können so wertvolles Wissen und Erfahrungen der Mitarbeitenden genutzt werden, um den Veränderungsprozess effektiver zu gestalten.

Wichtig ist dabei, nicht nur so zu tun, als ob: Mitarbeitende merken sehr schnell, wenn es sich um eine reine „Scheinbeteiligung“ handelt und ihre Meinung zwar gehört, aber nicht weiter genutzt wird. Auch hier hilft eine klare Kommunikation: „Wir wollen Deine Meinung hören, aber es ist noch nicht entschieden, ob genau Deine Meinung in den Veränderungsprozess einfließt!“

5. Schulungen und Weiterbildungen anbieten

Stelle sicher, dass Deine Mitarbeitenden über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Biete gezielte Aus- und Weiterbildungen an, um Wissens- und Kompetenzlücken zu schliessen und Sicherheit im Umgang mit den neuen Aufgaben zu vermitteln. Dies erhöht nicht nur die Fachkompetenz, sondern auch das Selbstvertrauen der Mitarbeitenden und trägt letztlich zum Aspekt „Anerkennung“ des SCARF-Modells bei.

6. Emotionale Unterstützung bieten

Veränderungen können Stress und Unsicherheit auslösen. Zeige Einfühlungsvermögen und biete Unterstützung an, sei es durch Gespräche, Coaching oder externe Beratungsangebote. Ein offenes Ohr für die Sorgen und Ängste der Mitarbeitenden signalisiert Wertschätzung und stärkt das Vertrauen in die Führung.

7. Positive Aspekte der Veränderung betonen

Betone die Vorteile und Chancen der Veränderung. Zeige auf, wie die Neuerungen und Veränderungen den Arbeitsalltag erleichtern, persönliche Entwicklungsmöglichkeiten bieten oder die Organisation insgesamt stärken. Ein positiver Ausblick kann helfen, Vorbehalte abzubauen und Motivation zu schaffen.

Gleichzeitig ist es nicht verkehrt, auch die eigenen Unsicherheiten im Veränderungsprozess (soweit möglich) transparent zu machen: Auch Du wirst Unsicherheiten spüren, da Veränderungen in komplexen sozialen Systemen trotz aller Voraussicht und Planung nie „planmäßig“ verlaufen. Insbesondere die Veränderung formaler Strukturen (Ziele, Entscheidungswege, Prozesse, Personal) hat immer auch Auswirkungen auf die Kultur der Organisation, nur: Welche Auswirkungen genau, ist unklar.

8. Geduld und Flexibilität zeigen

Veränderungsprozesse brauchen Zeit und Energie. Sei geduldig und bereit, den Prozess anzupassen, wenn unerwartete Hindernisse auftauchen. Flexibilität und das Eingehen auf Feedback zeigen, dass du den Prozess ernst nimmst und bereit bist, gemeinsam Lösungen zu finden.

Fazit

Widerstand in Veränderungsprozessen ist kein Zeichen von Unwillen oder Sturheit. Basierend auf der Grundannahme des Konstruktivismus, nach der jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit erschafft – also konstruiert – agiert jede:r Mitarbeiter:in aus seiner individuellen Perspektive „rational“ – auch in Veränderungsprozessen.

Widerstand ist daher meist Ausdruck von Unsicherheit, Angst oder Überforderung. Nimmt man als Führungskraft diese Signale ernst und geht proaktiv darauf ein, kann es besser gelingen, den Veränderungsprozess positiv zu gestalten und tatsächlich Fortschritte zu erzielen.

Widerstand ist dann eher eine Chance zur Reflexion und Verbesserung als eine reine „Abwehr“.

Quellen:

  • Schein, E. H. (2009). Führung und Veränderungsmanagement. Zürich, Switzerland: EHP.
  • Seliger, Ruth (2022): Systemische Beratung der Gesellschaft. Strategien für die Transformation. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Stabenow, M. (2018). Widerstände im Change-Prozess erfolgreich überwinden. In F. C. Brodbeck (Hrsg.), Evidenzbasierte Wirtschaftspsychologie, (23). Ludwig-Maximilians-Universität München. http://www.evidenzbasiertesmanagement.de.

It’s the end of New Work as we know it…?! Oder: Wie Führung und die Gestaltung sozialer Organisationen in Zeiten des Fachkräftemangels gelingt!

Tags: , , , , , ,

Der Titel löst Fragen aus: Was ist New Work? Ist New Work am Ende? Wenn ja, warum? Und was hat Führung und die Gestaltung sozialer Organisationen mit dem Fachkräftemangel zu tun?

Antworten auf diese Fragen sind bedeutsam, um Organisationen der Sozialen Arbeit zukunftsfähig zu gestalten und damit – wieder angelehnt an das bekannte Lied „It’s the End of the World…“ von R.E.M. – doch zu einem „…and we feel fine!“ zu kommen.

Das gelingt – wenn man die Herausforderungen des Fach- und Arbeitskräftemangels in der Sozialen Arbeit in den Blick nimmt – weniger mit „New Work“ als mit „New Organizing“ verstanden als die durchgängige Professionalisierung von Organisationen der Sozialen Arbeit unter Berücksichtigung ihrer Spezifika.


Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift bethel>wissen der Stiftungen Sarepta und Nazareth. Hier kann die Zeitschrift als PDF heruntergeladen werden.


Was New Work ist und wie es verstanden wird

New Work meint a) die Sozialutopie der Abkehr von der klassischen Lohnarbeit. Frithjof Bergmann (1 – die Zahlen sind Klammern verweisen auf die Quellen am Ende) wollte damit einen Gegenentwurf zum Kapitalismus liefern. Hängengeblieben ist von seinen Ideen oftmals allein der Satz, dass Menschen das tun sollten, was sie „wirklich, wirklich tun wollen“.

Dieser Satz hat einen nicht unwesentlichen Anteil an dem heute populären Verständnis von New Work im Sinne der Gestaltung von Organisationen, die von einem „evolutionären Sinn“ getrieben sind, in denen Menschen „ihr ganzes Selbst einbringen“ können und „hierarchiefrei und selbstorganisiert auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten. Mit dieser aktuellen Vorstellung von New Work, die durch das Buch „Reinventing Organizations“ von Laloux (2) populär wurde, geht einher, dass klassische Aspekte, die Organisationen definieren, in Frage gestellt werden: Formale Hierarchien, Vorgesetzte, klare Prozesse, Regeln und Vorgaben haben nach dieser Vorstellung von New Work einen schweren Stand.

Die Auswirkungen des Fach- und Arbeitskräftemangels auf Organisationen der Sozialen Arbeit

Befeuert werden diese Vorstellungen von New Work durch den demografischen Wandel und den damit einhergehenden Fachkräfte- bzw. Arbeitskräftemangel, von dem insbesondere die Gesundheits- und Sozialwirtschaft massiv betroffen ist (3). Denn – so die gängige Vorstellung – wenn sich (potenzielle) Fachkräfte ihren Arbeitsplatz aussuchen können, müssen Organisationen alles tun, um sie zu „gewinnen und zu binden“. Die Gewinnung und Bindung erfolgt dann häufig dadurch, dass man die „Mitarbeitenden in den Mittelpunkt der Organisation“ stellt und ihnen alle erdenklichen Annehmlichkeiten zur Verfügung stellt – angefangen von Mitgliedschaften in Fitnessstudios über Jobräder bis hin zu (in sozialen Berufen begrenzten) Möglichkeiten, Arbeitszeit, -ort und -inhalt selbst zu bestimmen. Dies nährt jedoch „auf Seiten der Menschen die Illusion, dass sich die Organisation um ihre Anliegen und Wünsche herum entwickelt – also die Organisation sich in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter stellt“. Diese Illusion hat jedoch „katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (4).

Der sich durch den demografischen Wandel verschärfende Arbeitskräftemangel führt auch dazu, dass Organisationen der Sozialen Arbeit nicht mehr davon ausgehen können, sehr gut ausgebildete, hoch motivierte und engagierte Fachkräfte zu finden. Vielmehr geht es zunehmend darum, die anfallende Arbeit überhaupt bewältigen zu können. Dies führt in vielen Arbeitsfeldern (z.B. Eingliederungshilfe, Altenhilfe oder Erziehung) dazu, dass neben Fachkräften zunehmend auch nicht explizit ausgebildete Arbeitskräfte eingesetzt werden (müssen).

Daraus ergeben sich neue Herausforderungen, wenn die komplexen Besonderheiten der „Produktion“ personenbezogener sozialer Dienstleistungen berücksichtigt werden. Diese Dienstleistungen sind dadurch charakterisiert, dass sie a) immateriell, b) unteilbar und nicht speicherbar sind und immer c) die Einbeziehung der Klient:innen in die Dienstleistungserstellung erfordern. Darüber hinaus sind sie immer d) individuell in direkter Interaktion mit den Klient:innen zu erbringen (5). Kurz:

Soziale Arbeit ist hochgradig komplex und findet zum einen immer „selbstorganisiert“ in direkter Interaktion mit den Klient:innen statt. Zum anderen erfordert professionelle, d.h. wirklich gute Soziale Arbeit überdurchschnittlich ausgeprägte fachliche und soziale Kompetenzen, um die Komplexität der Arbeit mit Menschen bewältigen zu können. Die leider vielerorts vorherrschende Vorstellung „Soziale Arbeit kann jede:r“ ist völlig abwegig!

Problematisch für die Menschen in der Sozialen Arbeit und die Organisationen der Sozialen Arbeit wird es dann, wenn – wie skizziert – Soziale Arbeit zunehmend von Laien erbracht wird, die aufgrund der Komplexität Sozialer Arbeit häufig überfordert sind, und gleichzeitig immer höhere Anforderungen (z.B. an Wirkungsnachweise) seitens der Kostenträger gestellt werden, da die Aufrechterhaltung der Qualität Sozialer Arbeit kaum noch möglich ist.

Werden diese Überlegungen dann mit (falsch verstandenen) Vorstellungen von New Work im Sinne der skizzierten „hierarchiefreien, selbstorganisierten und auf Augenhöhe arbeitenden Teams“ in Verbindung gebracht, wird deutlich, dass eine Orientierung an den (sehr heterogenen) Bedürfnissen der unterschiedlich ausgebildeten Mitarbeiter innen für Organisationen der Sozialen Arbeit auf Dauer kein zielführender Ansatz ist.

Führung in komplexen Organisationen

Dies unterstreicht auch ein Blick auf „Führung“, verstanden als „erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten“ (6). „Führung“ bzw. die erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten wird aus dieser Perspektive erst dann notwendig, wenn die in der Organisation vorhandenen formellen oder informellen Erwartungen (dazu mehr hier) nicht ausreichen, um Kooperation zu ermöglichen.

Die “kritischen Momente” sind z.B. dadurch gekennzeichnet, dass die Mitarbeiter/innen unsicher sind, wie sie sich verhalten sollen, oder dass Unklarheit darüber besteht, ob die Situation richtig interpretiert wird, wer das Wort ergreifen soll oder ob sich die Situation zu einem Konflikt entwickeln könnte. Mit anderen Worten: Es bräuchte keine Führung, wenn es gelänge, eine „perfekt organisierte Organisation“ zu schaffen. Das ist aber völlig unrealistisch. Und die „perfekt durchorganisierte Organisation“ als „Heilsbringer“ wird noch unrealistischer, wenn man die skizzierten Spezifika Sozialer Arbeit hinzuzieht:

Da die „Produktion“ personenbezogener sozialer Dienstleistungen „an der Basis“ in direkter Interaktion mit den Klient:innen stattfindet und dieser Prozess hochkomplex und in Teilen chaotisch (im Sinne von nicht planbar) verläuft und nicht durch Vorgaben oder Prozesse gestaltet werden kann („Wenn die Klientin XY sagt, musst du Z sagen!“), sind kritische Momente – Momente der Unsicherheit und Unklarheit – der Sozialen Arbeit inhärent – denn man hätte immer auch anders handeln können.

Auch wenn diese Unklarheiten unmittelbar durch die eigene Entscheidung der Fachkraft in der jeweiligen Situation geklärt werden, braucht erfolgreiche Soziale Arbeit Führung – in diesem Fall Selbstführung, verstanden als die Kompetenz, in unklaren Situationen selbst Entscheidungen zu treffen. Dazu benötigen Fachkräfte der Sozialen Arbeit aber neben sozialer Kompetenz und Intuition auch Kompetenzen in verschiedenen relevanten Bereichen (u.a. Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Recht).

Und insbesondere (aber nicht nur) dann, wenn aufgrund des Fach- und Arbeitskräftemangels vermehrt Personen ohne entsprechende Ausbildung in der Sozialen Arbeit tätig sein werden, bedarf es der Führung, um in kritischen Momenten Einfluss nehmen und Entscheidungen treffen zu können. Da die Selbstführung hier aufgrund mangelnder Fachlichkeit an ihre Grenzen stoßen kann, muss die Einflussnahme zwangsläufig durch andere Instanzen erfolgen. Diese Instanzen müssen nicht notwendigerweise formale Vorgesetzte sein. Auch die Entscheidung „kritischer Momente“ im und durch das Team ist denkbar, sofern geeignete Entscheidungsmethoden (wie z.B. Konsent-Moderation, 8) eingesetzt werden.

Rahmenbedingungen gestalten und Erwartungen transparent machen

Wichtig bleibt aber, dass die Entscheidungen, wie Soziale Arbeit im Einzelfall und trotz Fachkräftemangel erfolgreich umgesetzt werden kann, so getroffen werden, dass sie den vorgegebenen und/oder von der Organisation gewünschten Standards entsprechen. Diese Standards müssen aber nicht immer wieder neu gemeinsam ausgehandelt werden. Vielmehr sind die Führungskräfte gefordert, diese Standards als Rahmenbedingung für die gemeinsame Arbeit zu setzen. Mit der Vorgabe allein ist es aber nicht getan: Führungskräfte tragen auch die Verantwortung für die Umsetzung und damit für die Einhaltung der von ihnen gesetzten Standards!

Damit dies möglichst konfliktfrei geschehen kann, empfiehlt es sich, die formalen Erwartungen an die jeweiligen Rollen (z.B. Führungskraft, Fachkraft und Nichtfachkraft) transparent zu machen und zu klären, was genau von welcher Rolle erwartet wird. Das Rollenverständnis hilft auch, Personen nicht „pauschal“ zu kritisieren, sondern auf die jeweiligen gemeinsam erarbeiteten und transparent gemachten Erwartungen an die jeweilige Rolle zu verweisen.

Fazit, oder: Wie Führung und die Gestaltung sozialer Organisationen in Zeiten des Fachkräftemangels gelingt

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich „the end of New Work“ nur auf die romantisierenden, oft illusionären Vorstellungen einer ganzheitlichen, radikal selbstorganisierten und auf Augenhöhe stattfindenden Sozialen Arbeit bezieht. Mit dem Ende von „New Work, wie wir sie kennen“ sollte auch das Ende der Illusion einhergehen, dass sich Organisationen um die Anliegen und Wünsche ihrer Mitarbeitenden herum entwickeln müssten.

Um den Herausforderungen des Fach- und Arbeitskräftemangels in der Sozialen Arbeit begegnen zu können, muss es in Zukunft statt um „New Work“ verstärkt um eine andere, funktionale Gestaltung von Organisationen der Sozialen Arbeit – von mir aus „New Organizing“ – gehen und damit um funktionale Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit – unter Berücksichtigung ihrer Spezifika.

Professionell und funktional meint insbesondere die Gestaltung von funktionalen Strukturen, die Trennung von Person und Rolle sowie die Etablierung von Führung, die in der Lage ist, in kritischen Momenten Verantwortung zu übernehmen, diese Momente zu analysieren, Entscheidungen zu treffen und für deren Umsetzung zu sorgen – in der Hoffnung, damit zu einem „…and we feel fine!“ zu kommen.

Quellen:

  • 1 Vgl. Bergmann, F. (2004): Neue Arbeit, neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
  • 2 Vgl. Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Verlag Franz Vahlen.
  • 3 Vgl. Hohendanner, Chr., Rocha, J., Steinke, J. (2024): Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor. Empirische Vermessung und Handlungsansätze. Oldenburg: De Gruyter.
  • 4 Wimmer, R., von Ameln, F. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, 211–216.
  • 5 Vgl. Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • 6 Muster, J. et al. (2020): Führung als erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten. Grundzüge, Implikationen und Forschungsperspektiven. In: Barthel, Chr. (Hrsg.): Managementmoden in der Verwaltung. Sinn und Unsinn. Wiesbaden: Springer Gabler. S. 285 – 305.
  • 7 Richter, T., Groth, T. (2023): Wirksam führen mit Systemtheorie. Kernideen für die Praxis. Carl Auer Verlag.
  • 8 Vgl. Rüther, Chr. (2022): KonsenT-Moderation. Gemeinsam effektiv auf Augenhöhe entscheiden. Ein Lehrbuch und Praxisleitfaden! Hamburg: Tredition.