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Learnings aus sechs Monaten Selbständigkeit – ein kurzer Rückblick

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Heute – der Tag, an dem ich die ersten Worte dieses kleinen Rückblicks schreibe – ist der 01. Juli 2022. Inzwischen sind sechs Monate meiner Selbständigkeit vergangen. Ich feiere ehrlich gesagt nicht, sondern stehe aufgrund wieder einmal kompletten Versagens der Deutschen Bahn (sorry, aber anders kann ich es gerade nicht ausdrücken) am Bahnhof, in Offenburg, um genau zu sein. Ich bin auf der Rückfahrt von einem tollen Führungskräfteworkshop einer sozialen Organisation und nutze die mir „geschenkte“ Zeit (ich würde dieses Geschenk gerne zurück geben) um kurz innezuhalten, nachzudenken und zu reflektieren, was denn eigentlich in den letzten Monaten geschehen ist.

Offiziell gekündigt habe ich ja bereits im September 2021. Auch wenn das schräg klingt – die Welt war irgendwie in Ordnung und der Mut, zu kündigen, war größer, als das Bedürfnis nach der gefühlten Sicherheit, zu bleiben. Dann kam die nächste Corona-Welle und im Februar 2022 erlebten wir eine Zeitenwende – Krieg in Europa. Hinzu kommt die Klimakatastrophe, deren Auswirkungen täglich zu spüren sind, aber durch unser Politik nicht oder völlig unzureichend in Angriff genommen werden. Tankrabatt, Alter, wie bescheuert ist so eine Idee? Zusammenfassend:

Unglaublich, beängstigend, belastend und unfassbar verunsichernd. Aber nicht nur für mich, sondern für alle, für jede und jeden, für Kinder, Jugendliche, Eltern, Familien, für die Gesellschaft und die Welt.

Learning 1: Unsicherheitsbewältigungskompetenz

Basierend auf den obigen Entwicklungen bin ich ziemlich fest davon überzeugt, dass wir alle, jede und jeder, unsere Gesellschaft und unsere Welt als Ganzes lernen müssen, mit Unsicherheit auf völlig anderem Niveau als bislang erfahren umzugehen. Reicht das Gas im Winter? Schließen die Schulen wieder? Was machen irgendwelche politischen Entscheider, die überhaupt nicht mehr einzuschätzen sind? Ist unsere Lebensmittelversorgung gesichert? Haben wir noch Klopapier und können wir uns das noch leisten?

Es gilt, Unsicherheitsbewältigungskompetenz zu entwickeln.

Und der Schritt in die Selbständigkeit ist in dieser auf vielen Ebenen unsicheren Gesamtsituation mein krass kompaktes Unsicherheitsbewältigungskompetenzselbstlernprogramm:

Kommt ein nächster Auftrag rein? Reicht das Geld am Ende des Monats? Wie genau gehe ich mit meinen Belegen um? Ach ja, sowas wie das Finanzamt gibt es ja auch noch. Und, und, und…

Ganz ehrlich:

Der erste Monat war nicht lustig. In der Zeit ist es mir gelungen, alte Bewältigungsstrategien zu beleben und wieder erfolgreich mit dem Rauchen anzufangen. Komplett blöde Idee… Und erst ab dem Zeitpunkt der Akzeptanz der permanenten Unsicherheit ist in mir, in meinem Schlaf, in meiner Stimmung, in allem zwar nicht vollständige, aber immer mehr Ruhe eingekehrt. Und…

Learning 2: Es kann funktionieren

…Ruhe ist auch eingekehrt, weil ich festgestellt habe, dass Kunden meine Leistungen angefragt haben:

In recht kurzer Zeit haben sich die Auftragsbücher (so nennt man das, oder?) soweit gefüllt, dass ich darauf basierend sagen kann: Wenn es so weiter läuft, wie es aktuell läuft, kann ich IdeeQuadrat weiter betreiben.

Es kann funktionieren und dieses Gefühl ist einfach nur geil (sagt man nicht mehr, oder?).

Es kann inhaltlich funktionieren, es kann in unserer Familienstruktur funktionieren, es kann insgesamt funktionieren. Und vielleicht kann es sogar größer werden, wenn es mir gelingt, neben der operativen Arbeit in Projekten der Organisationsentwicklung, neben den Workshops, Moderationen und Co. Zeit zu finden, um strategisch an der Entwicklung von IdeeQuadrat zu arbeiten. Aber…

Learning 3: Arbeit ist nicht Arbeit

…es gibt einen Unterschied zwischen Arbeit und bezahlter Arbeit – und beides ist hoch relevant. In den letzten drei Monaten bin ich aufgrund der operativen Arbeit in Beratungsprojekten und Co. kaum dazu gekommen, die von mir eigentlich angestrebten OKR für QT2 auch nur ansatzweise zu erfüllen.

Die strategische Arbeit an der Entwicklung von IdeeQuadrat hat im letzten Quartal einfach mal pausieren müssen. Ich war unterwegs, hier und dort, oft zu weit, oft mit dem Zug, dann immer mit Verspätung, ausgefallenen Zügen und häufig ätzenden Mitfahrer*innen.

Ich bin aber alles in einer Person – Marketing, Vertrieb, Entwicklung, Produktion… Und Entwicklung, Innovation, die Arbeit an (im Gegensatz zu in) meinem (noch) kleinen System IdeeQuadrat sollte den gleichen Anteil der Arbeit einnehmen. Und daneben…

Learning 4: Work-Life-Balance

…gibt es ja auch noch ein Leben, gefüllt mit Familie, drei Kids, meinem Körper, Entspannung Erholung, Einkaufen, Elternabenden und allem, was in unserem oft viel zu vollen Leben dazu gehört.

Vor noch einem halben Jahr war ich davon überzeugt, dass das Konzept „Work-Life-Balance“ aus meinem Wortschatz gestrichen ist. Das New Work Mantra des Work-Life-Blending – des Verwischens der Grenzen zwischen Arbeitswelt und Privatleben, so dass beide Lebensbereiche ineinandergreifen – macht ja total Sinn, denn es gibt nur ein Leben.

Aber es ist so, dass es gravierende Unterschiede gibt zwischen dem vormals für mich „normalen“ Angestelltendasein („angestellt“, lustiges Wort) mit – etwas verkürzt – Homeoffice, Arbeitswegen, Kaffeepausen, sinnlosen Meetings und dem Aufregen über Vorgesetzte (ebenfalls lustiges Wort), dem Start einer Selbständigkeit und der hoffentlich zunehmenden Entspannung, der Erfahrung und der Ruhe in der dann fortschreitenden Routinisierung meiner eigenen Prozesse und meiner selbständigen Arbeit.

Diese Entwicklung, das Lernen braucht Zeit, vor allem, wenn es nicht um das Neulernen von irgendwelchem Wissen oder das „mehr oder weniger“ bereits bekannter Handlungsweisen, sondern um das radikale Umlernen und damit auch Verlernen von Handlungsweisen geht. New Work braucht New Learning, wie es ein Buchtitel auf den Punkt bringt.

Theoretisch formuliert ist der Sprung in die Selbstständigkeit für mich „Wandel 2. Ordnung“:

Wenn sich der Wandel 1. Ordnung auf einzelne Dimensionen und Aspekte, auf einzelne Ebenen meines Handelns beschränkt und damit eher quantitativ ist (mehr oder weniger desselben) und damit ohne Paradigmenwechsel vonstatten geht, ist Wandel 2. Ordnung mehrdimensional:

Wandel 2. Ordnung umfasst mehrere Ebenen, betrifft radikal – an der Wurzel – und grundlegend die Qualität meines Handelns. Wandel 2. Ordnung geht mit einem Paradigmenwechsel einher, ist tiefgreifend und als auf vielen Ebenen transformativ zu bewerten.

Nur ein kurzer Exkurs auf die Erfahrungen in eigenen Organisationsentwicklungsprozessen:

Wenn wir von Transformationsprozessen in Organisationen sprechen, dann sind damit – zumindest für mich – oftmals Wandlungsprozess 2. Ordnung angesprochen. Um bspw. von vormals klassisch strukturierten Teamstrukturen (mit einer Teamleitung etc.) zu selbstbestimmt agierenden Teams zu kommen, reicht es nicht, mehr oder weniger desselben zu machen, sondern an den grundlegenden Paradigmen des Teams zu arbeiten. Das geht nicht von heute auf morgen, geht mit Widerständen einher und braucht den Willen, durchzuhalten. Vor allem aber braucht es das intensive (Verl-)Lernen des Teams und jedes Mitglieds des Teams, um sich auf diese neuen Paradigmen einzulassen und dranzubleiben. Um dazu noch einen passenden Buchtitel zu droppen: „New Work needs Inner Work“!

Dieses Lernen, die innere Entwicklung – für mich und für die Organisationen und Teams, mit denen ich arbeiten darf – geht am Besten gemeinsam. Und deswegen bin ich in den ersten sechs Monaten meiner Selbständigkeit…

Learning 5: Netzwerk

…unglaublich dankbar über mein Netzwerk, das mich auf meinem Weg in die Selbständigkeit begleitet hat und immer noch begleitet.

An erster Stelle gehört hier meine Frau genannt, die mich, meine Ideen, meine Rastlosigkeit und Ungeduld, meine Unstrukturiertheit und mein Eichhörnchenmindset tagtäglich aushalten muss. Und – ganz ehrlich – insbesondere der erste Monat der Selbständigkeit, das sich neu Einlassen auf die Unsicherheit war die Hölle und hat mich und meine Family zwischenzeitlich an den Rand der Belastungsgrenze gebracht. Wir haben durchgehalten. Dafür an dieser Stelle meinen tiefsten Dank an Dich, liebe Kerstin.

In der Hoffnung, dass ich niemanden vergesse, danke aber auch an Euch! Ihr wart mir in den letzten Monaten enorm wichtig, auch wenn es vielleicht von meiner Seite nicht immer mit vollem Elan rückgespiegelt wurde: Svea, Raja, Juul, Mama, Papa, Bene, meine Fragglesrunde (Carlo und Jonathan), Jan, Philipp und Simon, Thomas, Benjamin und Katrin, Jo, Christian, Benjamin, Alper, Rüdi, Matze, Nici, Steffi, Thomas, Sabine, Gabriel, Sebastian, Holger, Ursel, Lena, Nicolas, Torsten, Heiner und, und, und…

Danke!

Und neben dem „informellen“ Netzwerk lohnt es sich, sich in einigen Fragen auch professionelle Unterstützung einzukaufen. Das muss(te) ich erst lernen (schon wieder lernen): Was kann ich selbst machen, wo kann ich Unterstützung bekommen und was kann ich einkaufen? Make – Support – Buy! Ein einfacher Dreiklang, aber in vielen Fällen enorm wichtig.

Und deswegen an dieser Stelle ein großes Danke an Nils, der mich in der Entwicklung meines Geschäftsmodells in den ersten Monaten begleitet hat. Falls Du mal nen guten Gründungsberater suchst, frag Nils – aber am Besten vor der Gründung und nicht dann, wenn Du gegründet hast – damit sparst Du richtig Kohle 😉 Ach ja…

Learning 6: Geld, oder: Was ist genug?

… da war ja was! Als Familie mit 5 Personen braucht man einen gewissen Umsatz an Geld. In der aktuellen Situation mit Inflation und Co. braucht man nicht weniger davon, das wissen alle. Aber für mich stellt sich mit Blick auf das liebe Geld zunehmend die Frage:

Was ist eigentlich genug?

So ist es als Selbständiger ja (theoretisch) möglich, sein Einkommen selbst zu gestalten: Mehr Aufträge annehmen = mehr Einnahmen = mehr Geld. Aber zwischenzeitlich kommen Gedanken hinzu wie: Wann habe ich Zeit nachzudenken? Wann habe ich Zeit, nur mal dazusitzen und den lieben Gott einen guten Mann (really?) sein zu lassen? Work-Life-Balance, you know? Was ist für mich, was ist für uns als Family genug? Was frisst uns auf? Ich finde diese Fragen sind alles andere als leicht zu beantworten. Hinzu kommt die immer währende Unsicherheit:

Geht es so weiter? Kommen weitere Aufträge, Anfragen? Brauche ich Rücklagen? Wie hoch müssen diese sein? Wann ist Ende? Was ist, wenn… Und so weiter und so fort.

Ich kann selbständige Menschen inzwischen verstehen. Ich kann die Preise verstehen, die ein*e Handwerker *in für eine Arbeitsstunde verlangt. Ich kann die Tagessätze verstehen für (gute) Beratungsleistungen. Und ich wünsche mir, dass dieses Verständnis in Deutschland, im Land der Angestellten Verbreitung findet. Denn – so schreibt Cathi Bruns wieder einmal sehr passend:

„Machen wir uns nichts vor. Es gibt keine moderne Arbeitswelt und auch kein modernes Land, ohne Selbstständigkeit.“

Cathi Bruns

Fazit

Sechs Learnings – neben ungefähr 20351 weiteren Learnings. Lernen – Future Skill No. 1 – ist für mich Kern für das Gehen neuer Wege und damit auch als Kern meiner Lernreise Selbständigkeit. Das ist zumindest mein Eindruck.

Dabei gibt es auch Phasen, in denen Lernen keinen Spaß macht. Das ist manchmal so. Lernen, wie die Rechnung XY zu verbuchen ist, wie das Finanzamt wann auf was reagiert (die aktuellen Rückmeldezeiten sind krass, manchmal glaube ich, dass dort nur noch eine Person arbeitet, wenn überhaupt), welche Dinge ich alle nicht beachtet habe und besser hätte und so weiter, sind nicht nur lustig.

Auf der anderen Seite steht das für mich massiv überwiegende Lernen, das unfassbar spannend, aufregend, neu, toll, grandios ist. Und so fühlt es sich meine Selbständigkeit gerade an:

Unfassbar spannend, aufregend, neu, toll, grandios! Danke dafür!

Und abschließend noch ein Learning:

Es ist nie zu spät, neu anzufangen. Und meist ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt.


P.S.: Ich habe hier nicht über die in den letzten Monaten für mich unfassbar bereichernden Einblicke in unterschiedlichste Teams und Organisationen im sozialen Sektor – der „Sozialwirtschaft“ – geschrieben. Aber noch ein Gedanke dazu: Wir müssen als Gesellschaft aufpassen, dass wir dem Sektor in Zukunft die benötigte Aufmerksamkeit zukommen lassen. Die Menschen, für die Soziale Arbeit da ist, brauchen die Menschen, die Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, die in der Sozialwirtschaft arbeiten.

Die Fachkräfte in der Sozialwirtschaft sind oft jedoch nicht die Lautesten, nicht die Streikenden, nicht die in den sozialen Medien Pöbelnden, nicht die in der Öffentlichkeit Präsentesten, nicht die, für die Lobbyarbeit betrieben wird. Nein, die Menschen in der Sozialwirtschaft machen – unter oft schwierigen Bedingungen – ihren Job. Sie helfen Menschen und begleiten diese auf dem Weg zu Selbstbestimmung und Autonomie. Sie leben #RealNewWork. Tagtäglich.

Danke dafür!

Plädoyer für die eigene Freiheit, oder: Die Rolle des mittleren Managements im organisationalen Wandel

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In Vorträgen und Impulsen habe ich in den letzten Jahren immer wieder postuliert, dass es für echte, tiefgreifende Veränderung in Organisationen das Committment der obersten Führungsebene braucht. Meine These war, dass nur dann, wenn die oberste Führungsebene, Vorstand oder Geschäftsführung, die Veränderung mitträgt, Veränderung und Transformation gelingen kann. Auf meiner Folie stand meist „Ohne oben geht es nicht!“ Aber ist das wirklich so? Blockieren wir durch das Warten auf die große Transformation oder die Entscheidungen der obersten Führungsebene nicht vielmehr den nötigen Wandel? Macht es nicht vielmehr Sinn, in seinem eigenen Spiel- und Handlungsraum zu schauen, welche Veränderungen angegangen werden können? Oder anders formuliert: Welche Rolle spielt das untere und mittlere Management im organisationalen Wandel? Darum geht es in diesem Beitrag.

Dazu werde ich zunächst auf die Rolle der obersten Führungsebene in Veränderungsprozessen eingehen um dann zu argumentieren, warum den unteren und mittleren Führungsebenen eine besondere Verantwortung im kontinuierlichen Wandel zukommt. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für die eigene Freiheit.

Die Rolle der obersten Führungsebene in Veränderungsprozessen

Laloux schreibt in seinem immer noch beeindruckenden Buch „Reinventing Organizations“ (vgl. Laloux, 2014, 237ff), dass es zwei notwendige Bedingungen für echte Veränderung gibt:

„The research behind this book suggests that there are two ― and only two ― necessary conditions, in the following two spheres:

  1. Top leadership: The founder or top leader (let’s call him the CEO for lack of a better term) must have integrated a worldview and psychological development consistent with the Teal developmental level. Several examples show that it is helpful, but not necessary, to have a critical mass of leaders operating at that stage.
  2. Ownership: Owners of the organization must also understand and embrace Evolutionary-Teal worldviews. Board members that “don’t get it,” experience shows, can temporarily give a Teal leader free rein when their methods deliver outstanding results. But when the organization hits a rough patch or faces a critical choice, owners will want to get things under control in the only way that makes sense to them―through top-down, hierarchical command and control mechanisms.“

Andere Veröffentlichungen zum Thema Change und Veränderung sprechen ebenfalls vom „Erfolgsfaktor oberste Führungsebene“ (vgl. beispielhaft Eberhardt, 2013, 95). Und auch der Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten von Organisationskultur zeigt, dass, wenn „der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, (…) Veränderungen der Formalstruktur“ sind (Kühl, 2018), die Veränderungen der Formalstruktur formal zu beschließen sind. Und wer kann das tun? Die obere oder oberste Führung.

Wie häufig habe ich eine kleine Umfrage auf Twitter gestartet, die ebenfalls danach fragt, wer denn ausschlaggebend ist für gelingende Veränderungen in Organisationen:

https://twitter.com/HendrikEpe/status/1533375098576568320

Und, auch wenn die Frage zu unterkomplex ist, die Rückmeldungen zeigen wieder die besondere Bedeutung des obersten Managements (lest auch mal die Antworten unter dem Tweet, daraus ergibt sich ein differenzierteres Bild).

Wenn aber Laloux und viele andere Veröffentlichungen (und sogar Twitter!!!111!!!) die oberste Führungsebene als „make – or break factors“ (ebd., 238) definieren, ist zu fragen: Was genau ist das Ziel der dargestellten Veränderungen, was ist die Perspektive auf Veränderung?

Die Perspektive auf Veränderung

Laloux spricht – wenn er von „teal organizations“ spricht – von grundlegenden, tiefgreifenden Veränderungen in der Art, wie Organisationen funktionieren. Seine Ausführungen und die Beispiele wie Buurtzorg in den Niederlanden sind mehr als beeindruckend und – für mich zumindest – als erstrebenswerte Vision einer Arbeitswelt der Zukunft in jedem Veränderungsprozess als Hintergrundfolie mitzudenken.

Aber diese Hintergrundfolie einer erstrebenswerten „New Work“ zeigt das Bild großer Veränderungsprojekte, das Bild der Transformation der Grundlogik, wie wir in Organisationen arbeiten. Es geht in vielen Veröffentlichungen zum Thema Change, New Work und Transformation um enorme, langwierige und aufwendige Veränderungsprozesse, die die „DNA der Organisation“ verändern. Es geht um Veränderungen zweiter Ordnung – Systemveränderungen. Und auch eine Antwort auf meinen o.g. Tweet verdeutlicht dies.

So schreibt Alexander Krause:

Ich will diese Veröffentlichungen, Tweets und Berichte an dieser Stelle gar nicht Kleinreden: Die große Perspektive ist wichtig, hilfreich und notwendig, um eine Vorstellung von dem Möglichen, von dem zu bekommen, was erstrebenswert ist. Mit anderen Worten: Ohne die Arbeit an den Grundlogik unseres Arbeitens und Wirtschaftens werden wir keine tiefgreifenden Veränderungen erreichen.

Aus dieser Perspektive heraus erlebe ich jedoch mindestens zwei Herausforderungen:

Zum einen bleibt oft unklar, wo jenseits von einer Entwicklung des angestrebten Zielzustands genau angesetzt werden kann bzw. was im stressigen Arbeitsalltag – und hier spreche ich insbesondere aus der Perspektive oftmals völlig überlasteter sozialer Organisationen – zur großen, tiefgreifenden Veränderung geleistet werden kann.

Daraus wiederum resultiert ein mehrseitiges Problem: Mitarbeiter_innen und Führungskräfte auf unteren und mittleren Ebenen werden zwar in partizipativen Prozessen eingeladen, sich an Veränderung zu beteiligen. Sie bekommen hier und da auch Einblicke durch spannende Keynotes und Veranstaltungen zum Thema New Work – meist verbunden mit den Herausforderungen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten der digitalen Transformation – und dann bleibt unklar, was sie denn wie konkret umsetzen müssen.

Zwar sehen die Kaninchen die Schlange, aber bewegen fällt schwer.

Und die oberste Führungsebene kennt zwar die Schlange beim Vornamen, weiß also genau Bescheid, dass dringend der kulturelle, technologische und nachhaltige Wandel angegangen und umgesetzt werden muss, wartet aber zunehmend frustriert auf die Bewegung der Kaninchen aka der Mitarbeiter_innen und unteren und mittleren Führungsebene.

Und damit bewegt sich – nichts! Es bewegt sich nicht im Kleinen an der Basis und nicht im Großen an der „Spitze“. Alle machen weiter wie bisher.

Alle sind nur etwas frustrierter, da eigentlich jedem und jeder in der Organisation bewusst ist, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann und wird! Die Digitalisierung kommt nicht voran, die Veränderungen hinsichtlich des Fachkräftemangels nehmen keine Gestalt an, die Geschwindigkeit der Entscheidungen in der Organisation nimmt ab, die dringend nötigen Anpassungen bzgl. des Wegs zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit werden nicht angegangen, die Arbeitskultur bewegt sich weiter auf Ebene von Command and Control, die Konkurrenz schläft nicht und so weiter und so fort…

Zum anderen haben wir es in der Sozialwirtschaft nicht nur mit „uns selbst“ zu tun, sondern mit gesetzlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Organisationen mehr oder weniger bewegen können. Das soll keine Ausrede im Sinne von „Wir würden ja, dürfen aber nicht!“ sein. Es erschwert jedoch entweder den Anstoß zur Veränderung oder zwingt durch gesetzliche Anpassungen (bspw. BTHG, KJSG) zur Veränderung – gewollt oder nicht!

Perspektivwechsel, oder: Die Rolle des mittleren Managements im organisationalen Wandel

Wie wäre es aber, wenn wir die Perspektive wechseln. Wie wäre es, wenn wir nicht mehr das Warten auf die große Vision, die großen Entscheidungen, die radikale Transformation, die tiefgreifenden Wandel in der Art, wie wir arbeiten, in den Mittelpunkt stellen?

Was wäre, wenn wir selbst, jede_r auf seiner Ebene beginnt, Veränderungen zu initiieren?

Und wenn wir agile Management-Konzepte ernst nehmen, geht es doch nicht um den langfristig geplanten Wandel und das Erreichen eines vorab definierten Zielbilds. Es geht genau nicht darum, eine „agile Organisation“ oder „teal“ zu werden oder „unser Betriebssystem nach Holocracy“ zu strukturieren. Es geht um die „bewusste kontinuierliche Gestaltung organisationalen Wandels“ (Grunwald, 2022, 78).

Wenn Agilität für die anpassungsfähige, zeitgemäße, bedarfsgerechte und bewusste Gestaltung von Organisationen steht, dann ist immer wieder – kontinuierlich – zu prüfen, was denn auf welcher Ebene der Organisation notwendig ist, um anpassungsfähig, zeitgemäß und bedarfsgerecht agieren zu können.

Und hier kommen insbesondere die unteren und mittleren Führungsebenen, die Abteilungs- und Teamleitungen in den Blick:

Gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team, zu entscheiden, was notwendig und möglich ist.

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer_innen gestaltet werden können.

Hier kommt hinzu, dass die oberste Führungsebene – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort hat bzw. aufgrund der Komplexität der Organisation haben kann.

Zur Einordnung ist relevant, dass ich nicht den kleinen, freien Träger mit 20 Mitarbeiter_innen im Blick habe, sondern Komplexträger sozialer Dienstleistungen, die oftmals mit vielen hundert, teilweise auch mit mehreren tausend Mitarbeiter_innen lokal, regional und auch national die soziale Landschaft in unserem Land gestalten.

Aber selbst – um ein konkretes Beispiel zu nennen – bei einem Kita-Träger mit einigen Kitas und Kindergärten arbeiten an jedem Standort unterschiedliche Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen. Während ein produzierendes, mittelständisches Unternehmen erwarten kann und muss, dass – egal an welchen Standort – die gleichen Produkte in gleicher Qualität hergestellt werden, ist es in sozialen Organisationen so, dass die Rahmenbedingungen und damit die Umwelt der Organisation enorm relevant sind und nicht außer acht gelassen werden dürfen: Eine Kita in Freiburgs Nobel-Stadtteil Herdern unterliegt völlig anderen Herausforderungen als ein Kindergarten in einem Dorf im Schwarzwald oder einer Einrichtung in einem Brennpunkt-Viertel, obwohl alles Kindergärten sind.

Unter diesen Bedingungen darauf zu warten, dass die oberste Führungsebene die richtigen Entscheidungen trifft, um die Zusammenarbeit in jedem Team, in jeder Organisationseinheit zukunftsfähig zu gestalten, ist naiv und überfordert die Führung. Viel wichtiger ist, vor Ort, im Alltag, in der Vielfalt, Komplexität und Dynamik zu entscheiden, wie die jeweilige Einrichtung, der eigene Arbeitsbereich, das eigene Team, die Menschen bestmöglich den angestrebten Zweck erfüllen können. Und hier sind vor allem die Menschen auf den unteren und mittleren Führungsebenen, die Abteilungs- und Teamleitungen entscheidend.

Was es braucht

Die Ausführungen zur Rolle und Bedeutung des unteren und mittleren Managements sind – so hoffe ich doch – nachvollziehbar. Und gleichzeitig sehe ich in meiner Arbeit mit Organisationen und Menschen auf der unteren und mittleren Führungsebenen, mit Team- und Bereichs- oder Abteilungsleitungen einige Herausforderungen, die es anzugehen gilt, um kontinuierlichen Wandel zu ermöglichen.

Übergreifend fällt mir immer wieder auf, dass sich Führungskräfte auf der unteren und mittleren Führungsebenen, Team- und Bereichs- oder Abteilungsleitungen im operativen Alltag verlieren. Sie wurschteln und rödeln vor sich hin, oft mit dem bitteren Ergebnis des Burnouts oder dem Verlassen der Organisationen und des Arbeitsfeldes. Hinzu kommt, dass es zunehmend schwerer wird, überhaupt Führungskräfte für diese Ebenen zu gewinnen, wodurch wiederum der operative Druck steigt und die Menschen alles andere als erfüllende Arbeit machen. Der Anspruch von #RealNewWork – die Gestaltung einer Arbeit, die Menschen stärkt – wird zur Farce.

Was aber braucht es, damit Führung auf unterer und mittlerer Ebene zum einen wieder zu einer Arbeit wird, die die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“ und Führung zum anderen dazu beiträgt, den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen?

Hier könnte ich jetzt in eine detaillierte Beschreibung benötigter Kompetenzen für gesellschaftliche Entwicklungen, benötigtem Bewusstsein für die Besonderheiten sozialer Organisationen, benötigter sozialpolitischer Kompetenz, benötigter Dilemmatakompetenz, benötigtem systemischem und systemtheoretischen Denken und Handeln, benötigter Methodenkompetenz zur Gestaltung agiler Arbeit, benötigter Selbstkompetenz und damit übergreifend in die Beschreibung von Kompetenzen für zeitgemäße und bedarfsgerechte Führungskompetenz einsteigen. Das ist aber zu lang für einen Blogbeitrag.

Plädoyer für die eigene Freiheit

Vielmehr will ich den Beitrag mit einem „Plädoyer für die eigene Freiheit“ schließen.

Wenn Du Führungskraft auf unterer und mittlerer Führungsebene, Team-, Bereichs- oder Abteilungsleitung bist, plädiere ich dafür, dass Du Deine eigene Freiheit nutzt. Du entscheidest, wie die Zusammenarbeit vor Ort, in Deinem Team und mit den Dir anvertrauten Menschen ausgestaltet sein kann und sollte. Du hast Handlungsspielraum und Freiheit, zu entscheiden, immer. Sonst wärst Du keine Führungskraft.

Und selbst dann, wenn Du keine offiziell übertragene Führungsverantwortung trägst, selbst dann, wenn Du „nur“ Mitarbeiter_in in einer sozialen Organisation bist, hast Du die Freiheit, Impulse zu setzen, das System zu irritieren und Dinge anzuregen – und wenn sie noch so klein sind.

Freiheit setzt Mut voraus. Freiheit setzt den Mut voraus, Bestehendes anders zu sehen, neu zu denken und im Sinne des Zwecks der Organisation anders zu machen. Die Nutzung der eigenen Freiheit geht damit immer mit der Übernahme von Verantwortung einher.

Meine Erfahrung zeigt, dass die Übernahme von Verantwortung mehr als gewünscht wird. Die Angst also, von der oberen Führung „einen auf den Deckel zu bekommen“ ist unbegründet. Im Gegenteil wünschen sich die Verantwortlichen in allen mir bekannten Organisationen Mitarbeiter_innen, die Eigenverantwortung übernehmen.

Und selbst, wenn einmal etwas schiefgehen sollte: Was kann passieren? Denn ganz ehrlich: Du wirst nicht gekündigt, weil Du mutig warst und – begründet! – etwas Neues im Sinne Deiner Organisation, Deines Teams oder der Nutzer_innen ausprobiert hast. Falls doch:

Sei froh!

Denn Arbeit unter Bedingungen, die Autonomie und Selbstbestimmung nicht zulässt, macht keinen Sinn. Vor allem dann nicht, wenn Ziel jeglicher Sozialer Arbeit die Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung ist.

Quellen:

  • Eberhardt, D. (Hrsg., 2013): Unternehmenskultur aktiv gestalten. Praxisfälle aus Wirtschaft, öffentlichem Dienst, Kultur & Sport. Wiesbaden: Springer.
  • Grunwald, K. (2022): Management sozialwirtschaftlicher Organisationen. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer.
  • Kühl, S. (2018): Organisationskulturen beeinflussen (German Edition) (S.57). Springer Fachmedien Wiesbaden. Kindle-Version.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. Brüssel: Nelson Parker.

Beratung der Zukunft, BANI und die Kultur der Digitalität – ein paar Gedanken

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Der folgende Beitrag ist eine bearbeitete Version meiner Keynote zur Beratung der Zukunft, die ich auf dem Fachtag „Blended Counseling – Beratung, die ankommt!“ zum Modellprojekt HeLB – Helfen. Lotsen. Beraten. vom donum vitae Bundesverband am 16. März 2022 in Berlin halten durfte.

Ich will die Grundthese meines Impulses direkt an den Anfang stellen und dann erläutern, wie ich zu dieser These komme.

Meine These, die dem Impuls zugrunde liegt, lautet:

„Beratung der Zukunft verlangt nach Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!“

Jetzt reiben Sie sich vielleicht verdutzt die Augen und wundern sich über diese doch etwas triviale Aussage?!

Wirksame Beratung der Zukunft braucht Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!

Denn:

Wie sonst soll wirksame Beratung erfolgen?

Es ist doch selbstverständlich, dass die Beratenden über Resilienz verfügen müssen und damit über Fähigkeiten, sich von den oft emotional belastenden Beratungsgesprächen zu erholen bzw. gesund auf neue Herausforderungen, Themen und Veränderungen zu reagieren?

Resilienz kann zudem als Ziel von Beratung gedacht werden: Wirksame Beratung sollte unter anderem darauf abzielen, die Anpassungsfähigkeit des/der Beratenden auf belastende Situationen zu erhöhen.

Es ist doch auch selbstverständlich, dass wirksame Beratung nur durch Empathie gelingen kann. Schon Carl Rogers hat mit Blick auf die personenzentrierte Gesprächstherapie Empathie, das einfühlende Verstehen und nicht wertende Eingehen, als eine der zentralen Grundhaltungen beschrieben (vgl. Rogers, C.: Der neue Mensch, 1981).

Und es ist auch selbstverständlich, dass der Kontext, die Lebenswelten und Systeme, in denen die zu Beratenden eingebunden sind, nicht außer acht gelassen werden können und dürfen. Die isolierte Betrachtung nur der Person oder gar nur einzelner ihrer Verhaltensweisen lässt enorme Potentiale ungenutzt. Die Betrachtung der Kontextbedingungen jedoch kann dazu führen, dass das, was eben noch gestört wirkte, plötzlich genutzt werden kann.

Und auch der letzte Punkt – die Transparenz – ist nun wirklich nichts Neues in der Beratung. Erfahrene Berater_innen treffen sehr spontane Aussagen, Einschätzungen häufig „aus dem Bauch“ heraus, sie nutzen ihre Intuition, und das auch, wenn bestimmte Gründe vorliegen, die eine anders basierte Entscheidung nahelegen. Und dies, die auf Intuition basierte Entscheidung, sollte immer möglichst transparent dargelegt werden.

Mit den vier Begriffen der „Resilienz“, „Empathie“, „Kontext“ und „Transparenz“ sind Basiskompetenzen der Beratung beschrieben.

Aber was hat das jetzt mit der Zukunft, was hat das mit der digitalen Transformation bspw. der Kultur der Digitalität zu tun?

Die Zukunft ist BANI

Zunächst will ich dazu auf „die Zukunft“ schauen, sofern das überhaupt möglich ist.

Die meisten von Ihnen kennen sicherlich die Abkürzung „VUCA“ oder werden schon einmal von der VUCA-Welt gehört haben, in der wir leben?

Nur ganz kurz will ich VUCA beschreiben, dass die Welt, in der wir leben, von V = Volatilität, also schnellen Veränderungen, von U = Unsicherheit, von C = Complexity, Komplexität und von A = Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, geprägt ist.

Das Konzept und die dahinterliegenden Ideen sind immer noch aktuell und richtig, aber – auch wenn sie herausfordernd genug sind – sie reichen nicht mehr aus. Deswegen will ich Ihnen eine neue Abkürzung mitgeben, die aus meiner Sicht aktueller denn je ist. Die Abkürzung lautet BANI!

BANI steht für die englischen Worte

  • B:rittle (brüchig),
  • A:nxious (ängstlich, besorgt),
  • N:on-linear (nicht-linear) und
  • I:ncomprehensible (unbegreiflich)

Brittle = Brüchig:

Brüchig meint, dass von außen oftmals nicht feststellbar ist, dass Systeme, Häuser, Brücken, Staaten uvm. an die Belastungsgrenze kommen und plötzlich zusammenbrechen. Ein sprödes und brüchiges System in einer BANI-Welt kann die ganze Zeit signalisieren, dass es gut ist, dass es stark ist, dass es in der Lage ist, weiterzumachen, auch wenn es kurz vor dem Zusammenbruch steht. Sie kennen die Redensart „Alles gut!“ – die ich im Übrigen selbst sehr oft benutze…

Beispiele für die Brüchigkeit unserer Welt lassen sich an vielen Stellen finden. Brüchig sind bspw. Monokulturen, die durch den Befall eines einzelnen Schädlings von jetzt auf gleich zusammenbrechen. Ich selbst erlebe das gerade in meiner Heimat, dem Sauerland, geprägt von Fichtenmonokulturen, die durch den Befall des Borkenkäfers innerhalb von kürzester Zeit komplett absterben.

Borkenkäferwald im Sauerland (Bild von Lothar Epe)

Brüchig sind aber auch Werte, die als bislang feststehend galten. Der Krieg in Europa führt uns das vor Augen: Ja, die von Russland ausgehende Spannung an der ukrainischen Grenze war hoch, aber wer hätte wirklich mit einem Angriffskrieg der Russen gerechnet? Der Frieden in Europa war doch stabil? Und im individuellen Kontext zeigt sich, dass die Pandemie in vielen, eigentlich als gesund zu betrachtenden Menschen, die Belastungen so hochgefahren haben, dass diese – und hier insbesondere Frauen – zusammenbrechen. Coronabedingte Belastungsstörungen sind das Stichwort, mit dem Sie sicherlich privat oder in ihrer Arbeit konfrontiert sind.

Anxious = Ängstlich

Ängstlich meint, dass ein Gefühl der Hilflosigkeit um sich greift und – egal, was wir tun – es immer das Falsche sein kann. Jede Entscheidung kann potenziell katastrophal sein. Angst führt zu Passivität und Lähmung – und zur Verzweiflung:  keine Entscheidung treffen – eine falsche Entscheidung treffen. Und die Herausforderungen der aktuellen Zeit sind ja wirklich beängstigend. Es reicht die drei großen K zu nennen – Corona, Krieg und Klimakatastrophe 😉

Und diese Angst wird permanent geschürt durch das Medienumfeld und hier insbesondere die digitalen Medien: Ein Blick in die Trends auf Twitter lässt einen aufschrecken: Was ist wieder passiert? Wo, irgendwo auf der Welt, kommt die nächste Katastrophe auf uns zu? Sich dem zu entziehen, fällt unglaublich schwer, da Nachrichten in der digitalen Welt auf Klickzahlen angewiesen sind und negative Überschriften und Schreckensnachrichten deutlich häufiger geklickt werden als positive Nachrichten. Mal ehrlich: Wie lange hätten viele Nachrichten früher gebraucht, um in unserer analogen Timeline – also der Regionalzeitung – zu landen?

Non-linear = Nicht-linear

Nicht-linear lässt sich mit der Komplexität gleichsetzen: Kurz gesagt ist gemeint, dass Ursache und Wirkung von Ereignissen scheinbar völlig unzusammenhängend sind und die Auswirkungen oft unverhältnismäßig erscheinen. Insbesondere die Pandemie hat diese Nicht-Linearität deutlich gemacht: Das Ausmaß und der Umfang dieser Pandemie gehen weit über unsere bisherigen Erfahrungen hinaus. Die exponentielle Ausbreitung der Infektion, ausgelöst durch einen nicht sichtbaren Virus, war und ist immer noch unglaublich.

Aber auch die schon angesprochene Klimakatastrophe ist ein gutes Beispiel für Nicht-Linearität: Wir erleben jetzt und zukünftig zunehmend die Auswirkungen von unserem oftmals weit in der Vergangenheit liegenden Verhalten bzw. sind wir nur zu einem völlig unwesentlichen Teil an den massiven Auswirkungen schuld. Die Trägheit des Klimasystems ist gewaltig und die Auswirkungen der Veränderungen zeigen sich nicht sofort. Wenn, dann aber heftig: Die Flut im Ahrtal im letzten Jahr hat sich diesbezüglich wohl eingeprägt.

Incomprehensible = Unverständlich und unbegreiflich

Wir versuchen Antworten zu finden auf Ereignisse der Gegenwart, die uns selbst aber sinnlos und unlogisch erscheinen. Auch hier wieder die aktuellen politischen Ereignisse als Beispiel: „Warum hat Putin die Ukraine angegriffen?“ Für die meisten von uns ist es völlig unverständlich und unbegreiflich.

Ein anderes Beispiel sind aber auch hier die digitalen Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz, rund um Big Data, Blockchain oder das Metaverse.

Ein toller Beitrag zu BANI findet sich bei Stephan Grabmeier.

Chaos

Das Modell BANI als Beschreibung der Zukunft klingt zunächst resignativ, in Teilen gar apokalyptisch. Brüchigkeit, Angst, Nichtlinearität und Unverständlichkeit sind nicht unbedingt das, was wir uns in unserem Leben wünschen.

Aber der Blick zu unseren Sitznachbarn, der Blick in die Herausforderungen unserer Familien, der Blick in unsere Organisationen, der Blick in unsere Gesellschaft und der Blick über unsere Grenzen hinaus auf unsere Welt zeigt, dass BANI genutzt werden kann, um zunächst anzuerkennen, dass wir uns in einer neuen Phase, einer Umbruchphase, befinden könnten, in einem chaotischen Dazwischen.

Antonio Gramsci, italienischer Autor, bringt es gut auf den Punkt:

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“

Antonio Gramsci, ital. Autor, +1937

Was damals galt, gilt auch heute:

BANI gibt den Monstern, denen wir gerade begegnen, einen Namen, macht sie sprachfähig und damit – als erster Schritt – vielleicht weniger bedrohlich.

Den Monstern begegnen

BANI zeigt aber auch auf, wie wir den Monstern unserer Zeit begegnen können.

So folgt die Frage, wie wir mit der Brüchigkeit, Angst, Nichtlinearität und Unverständlichkeit in unserer Welt umgehen können.

Und Sie haben es vielleicht bereits erraten. Es schließt sich der Kreis zu meiner Ausgangsthese:

„Beratung der Zukunft verlangt nach Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!“

Wir können versuchen,

  • der Brüchigkeit mit Anpassungsfähigkeit und Resilienz zu begegnen;
  • der Angst mit echtem Zuhören, mit Empathie zu begegnen;
  • der Nichtlinearität mit einer Betrachtung des Kontextes zu begegnen;
  • der Unverständlichkeit mit Transparenz und dem Verlassen auf unsere Intuition zu begegnen.

Die Grundhaltungen und Werte, die Sie in der Beratung Ihrer Klient*innen an den Tag legen, können dazu dienen, dass wir nicht nur selbst in dieser oftmals chaotischen Welt irgendwie zurechtkommen, sondern diese Welt gestalten können.

Gestalten setzt jedoch Aktivität, unser aller Aktivität voraus.

Vitali Klitschko bringt es in diesen Tagen auf den Punkt, wenn er schreibt:

„Keine Demokratie ohne Demokraten!“

V. Klitschko

BANI und die Kultur der Digitalität

Jetzt warten Sie wahrscheinlich schon lange darauf, was meine ausführliche Vorrede und das Konzept BANI mit der Beratung der Zukunft in einer Kultur der Digitalität zu tun hat?

Ich nutze sehr bewusst den Begriff der „Kultur der Digitalität“, denn in den letzten Jahren dürfte jedem Menschen in unserer Gesellschaft klar geworden sein, dass das mit dieser Digitalisierung nicht mehr vorüber gehen wird.

Die digitale Transformation läuft, an manchen Stellen schneller, an anderen Stellen, in manchen Organisationen und Branchen, eher langsamer. Aber wir kommen nicht darum herum, die digitale Transformation zu akzeptieren und vor allem:

Diese aus unserer Perspektive zu gestalten.

Der Begriff der „Kultur der Digitalität“ zeigt jedoch, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen der „realen Welt“ und der „digitalen Welt“. Wenn Sie so wollen ist die Kultur der Digitalität der nächste Schritt nach der digitalen Transformation. Auf Wikipedia heißt es:

„Im Gegensatz zu den Begriffen der Digitalisierung oder der digitalen Transformation, die vor allem eine technologische Entwicklung bezeichnen, bezieht sich Digitalität viel stärker auf soziale und kulturelle Praktiken.“

Die Kultur der Digitalität

Und die Kultur der Digitalität basiert nach Felix Stalder darauf, dass die drei Ebenen Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität in den Blick genommen und unser Leben bestimmen werden.

Referentialität meint, dass zunehmend auch kulturelle Erzeugnisse digital verfügbar gemacht werden und damit neu kombiniert und weiter entwickelt werden. Als Beispiel werden Bücher digitalisiert, stehen damit breit zur Verfügung und die Inhalte werden genutzt, um in bspw. Blogbeiträgen verbreitet und erweitert zu werden. „Everything is a remix“, wie ein Freund von mir einmal gesagt hat.

Die skizzierte Rekombination von allem Möglichen findet in Gemeinschaft statt. Unsere Identität finden wir zunehmend weniger in klassischen Konstrukten wie Familie, Arbeitsplatz oder Vereinen, sondern zunehmend in persönlichen, digital-sozialen Netzwerken. Wahrscheinlich stellen Sie das an Ihren Klient*innen fest, vielleicht sogar an ihren eigenen sozialen Netzwerken?

Mit Algorithmizität beschreibt Stalder die wachsende Bedeutung der Beeinflussung unseres Lebens durch Algorithmen. Wenn Sie bspw. eine Suche bei Google eingeben, bekommen Sie ein anderes Ergebnis als ich, da die Algorithmen bereits von Ihrer Suchhistorie gelernt haben und so unsere Welt „für jeden User eigens generier[en]“ (S. 189). Dadurch gestalten die Algorithmen, wie wir denken und handeln, was wir konsumieren, welche Filme wir schauen, welche Werbung wir sehen und so weiter.

BANI und die Digitalität

Der Blick auf diese Kultur der Digitalität erzeugt wiederum die Gefühle, die Sie auch beim Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und damit auf BANI hatten:

Das fühlt sich oft alles ziemlich überfordernd, beängstigend, nichtlinear und unverständlich an, oder?

Aber noch einmal:

Wenn es Ihnen gelingt, auch in der Kultur der Digitalität der

  • permanent vorhandenen Brüchigkeit mit Anpassungsfähigkeit und Resilienz;
  • der sich bei Ihnen und bei Ihren Klient*innen zeigenden Angst mit echtem Zuhören, mit Empathie zu begegnen;
  • der Nichtlinearität mit einer Betrachtung Ihres Kontextes und der Kontexte Ihrer Klient*innen und
  • der Unverständlichkeit den Veränderungen durch die Digitalisierung mit Transparenz und dem Verlassen auf unsere Intuition zu begegnen,

dann wird die Gestaltung der Beratung der Zukunft möglich.

Das klingt noch etwas abstrakt.

Handlungsoptionen in der Kultur der Digitalität

Deswegen will ich versuchen, Ihnen abschließend noch ein paar konkrete Handlungsoptionen mitzugeben, die wiederum die vier Grundhaltungen aufgreifen:

Entwicklung von Anpassungsfähigkeit und Resilienz

Zur Entwicklung von Anpassungsfähigkeit und Resilienz in einer Kultur der Digitalität lohnt es sich, auf die drei Ebenen Umwelt, Person und Prozess zu schauen.

  1. Umwelt bedeutet, dass Sie überlegen sollten, wo Sie Unterstützung zum Thema Digitalisierung in Ihrem Umfeld bekommen können.
  2. Ihre persönliche Ebene umfasst die Notwendigkeit der eigenen Auseinandersetzung mit den sich in der digitalen Welt vollziehenden Entwicklungen. Sie können viel Lernen, Weiterbildungen, Veranstaltungen besuchen usw., um darüber Ihre persönlichen digitalen Kompetenzen zu erweitern. Dadurch wiederum steigt Ihre Erwartung an Ihre Selbstwirksamkeit ebenso wie Ihre Problemlösungsorientierung.
  3. Und die Prozessfaktoren zur Entwicklung von Resilienz in einer Kultur der Digitalität lassen sich dahingehend fassen, dass in den Herausforderungen der Digitalisierung Chancen und Möglichkeiten erkannt werden. Es bedeutet aber auch, das zu akzeptieren, was Sie selbst nicht verändern können und Ihre Konzentration auf das zu richten, was Sie zum jetzigen Zeitpunkt mit den vorhandenen Ressourcen gestalten können.

Umgang mit Angst

Für den Umgang mit Angst habe ich in einem vorherigen Beitrag empfohlen, in Dialogräume einzutreten und aus dem echten Zuhören Zukunft zu gestalten.

Ohne in die Tiefe gehen zu können, bietet die Theorie U von Otto Scharmer hier sehr hilfreiche Hinweise, Methoden und Tipps, die aus meiner Sicht perfekt zur Arbeit in der Beratung passen.

Wo aber gibt es in Ihrer Arbeit diese Dialogräume, die explizit die Herausforderungen der Digitalisierung thematisieren und wo Sie mit Ihren Kolleg*innen angstfrei über die Möglichkeiten und Risiken sprechen können? Formate wie bspw. Barcamps helfen hier enorm.

Umgang mit Nichtlinearität

Und auch für den Umgang mit Nichtlinearität und der oft überwältigend erscheinenden Komplexität haben wir in der Sozialen Arbeit Werkzeuge, die enorm hilfreich sind. Insbesondere will ich hier das systemische Denken hervorheben.

Systemisches Denken zeigt zum einen die Kontexte, in denen Sie und auch ihr Klientel eingebunden sind. Systemisches Denken zeigt zum anderen sehr eindrücklich, dass wir viele Entwicklungen und vor allem unsere Organisationen nicht steuern können.

Es gilt vielmehr, über Impulse in die sozialen Systeme zu versuchen, diese in eine gewünschte Richtung zu verführen. Welche Richtung dies im Bezug auf die Digitalisierung ist, sollten Sie immer an der Frage der Sinnhaftigkeit festmachen: Wo macht es Sinn, digitale Tools zu nutzen, wo können Sie wirklich davon profitieren? Wo aber auch nicht? Wo sind analoge Treffen und Gespräche wichtiger und zielführender?

Umgang mit Unverständlichkeit

Und jetzt wirklich abschließend können Sie der Unverständlichkeit begegnen, indem Sie das, was Sie tun, so transparent wie möglich machen – in Ihren Organisationen, in den Beratungen mit Ihrem Klientel und in Ihrem privaten Umfeld. Zur Transparenz gehört dann auch das transparente Eingestehen, etwas nicht zu wissen, unsicher zu sein und viele Entwicklungen nicht in der Hand zu haben.

Übrigens basieren alle „neueren Organisationskonzepte“ – agiles Arbeiten, selbstbestimmt agierende Teams, New Work, wenn Sie so wollen – auf Transparenz, die im Gegensatz steht zur Abschottung und zur Nutzung von Wissen als Machtinstrument.

Damit noch einmal zum Abschluss:

Beratung der Zukunft verlangt nach Resilienz, Empathie, Kontext und Transparenz!

Nutzen Sie das, was Sie können!


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BTHG und Organisationsentwicklung, oder: Wie es gelingt, wirksame Organisationsstrukturen zu gestalten

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In der Zeitschrift „Neue Caritas“ schreiben Carsten Effert und Anne Huffziger von der Ambulantisierung des Stationären. Sie haben dabei das BTHG – das Bundesteilhabegesetz – im Blick. Wir wollen hier nicht in die Tiefen dieses neuen Gesetzes einsteigen. Wir behalten uns auch eine ausführliche Bewertung der Zielsetzung des BTHG vor. Vielmehr wollen wir aufzeigen, wie es Ihnen gelingen kann, die Herausforderungen der Angebots- und Organisationsentwicklung durch das BTHG gut zu bewältigen.

Wir – das sind diesmal Florian Acker und Hendrik Epe. Danke an dieser Stelle, lieber Florian, für Deine fachkundige Beteiligung am Beitrag.

Aber ganz ohne Bewertung des BTHG kommen wir nicht aus. Deswegen zu Beginn sehr kurz zwei Aspekte, die aus unserer Sicht mit Blick auf das BTHG nicht unter den Tisch fallen dürfen: 

Stärkung der Position der Klient_innen

Auf der einen Seite des BTHG steht eine enorm positive Zielsetzung: 

Der „Paradigmenwechsel von der Institutionenorientierung hin zur Personenorientierung“, wie die beiden Autor_innen im oben verlinkten Artikel schreiben, ist aus unserer Sicht hochgradig sinnvoll. Das BTHG soll die Teilhabe und damit die individuellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. 

Dies soll in der Praxis durch die Aufsplitterung der Betreuungsleistungen in Grund- oder Basismodule als Tagespauschale auf der einen Seite und auf der anderen Seite durch verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden, geschehen (vgl. ebd.). Kurz:

„Die Leistungserbringung und Finanzierung der besonderen Wohnformen erfolgen zukünftig über zwei Stränge: personenbezogene Fachleistungsstunden und Tagespauschalen.“

Auch die Stärkung der Position von Klienten ggü. den Leistungsträgern und Leistungserbringern durch eine unabhängige Teilhabeberatung ist mehr als notwendig. Die zusammenfassend als Personenorientierung bezeichnete Entwicklung ist mehr als notwendig und entsprechend positiv zu bewerten. Denn es geht nicht um die Aufrechterhaltung der Organisation, sondern um die bestmögliche Leistung für die bzw. jeden einzelnen Menschen – und das betrifft alle Arbeitsfelder Sozialer Arbeit. 

Einsparungen durch das BTHG?

Auf der anderen Seite wird in den betroffenen Organisationen deutlich, dass die Umsetzung des BTHG zum einen eine enorme bürokratische Aufgabe aka Bürokratiemonster ist und zum anderen als Einsparprogramm missbraucht wird.

Im zitierten Beitrag kommt dieser Aspekt nur an einer Stelle kurz durch, wenn es heißt, dass „es vermutlich zu einer deutlichen Ausdünnung der Personaldecke kommen“ wird.

Die Paradoxie des BTHG zeigt sich darin, dass auf der einen Seite damit geworben wird, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Leistungen sollen sich am individuellen Assistenzbedarf orientieren und passgenau erbracht werden. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber klar formuliert, dass durch die Reform des BTHGs die seit Jahrzehnten ansteigende Ausgabendynamik gebremst werden soll (vgl. Bt-Drs. 18/9522, S.3). Auf diesen Widerspruch kann man eigentlich nicht oft genug hinweisen. 

Als weiteres Beispiel für das Ziel der Einsparungen kann hier auch die neu eingeführte Differenzierung von „einfachen“  und qualifizierten Assistenzleistungen angeführt werden (vgl. § 78 Abs. 2 SGB IX).

Durch diese Differenzierung hat der Gesetzgeber erreicht, dass in der Eingliederungshilfe auch Nichtfachkräfte eingesetzt werden können bzw. sollen. Wenn also im Rahmen des Gesamtplanverfahrens Ziele für den Bewilligungszeitraum vereinbart werden, kann der Leistungsträger dabei Unterscheidungen treffen, bei welchen Zielen es sich um Assistenzfachleistungen (zu erbringen durch Heilerziehungspfleger_innen, Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen etc.) oder um „einfache“ Assistenzleistungen handelt. Die Intention ist klar:

Hierdurch können perspektivisch Kosten gesenkt werden.

Es kommen Inklusionsbemühungen im Schulsystem in den Sinn: Auch da wurden „Sonderschulen“ unter dem Deckmantel der Inklusion aufgelöste und die betroffenen Kinder in die Regelschulen verteilt, ohne für eine ausreichende Unterstützung der LuL zu sorgen. Diese waren mit dem Verhalten und den Besonderheiten der Kinder oftmals heillos überfordert, was – sehr diplomatisch ausgedrückt – sicherlich nicht überall zu Verbesserungen der Situation der Kinder mit Behinderung geführt hat. Aber es spart natürlich Kosten! 

Organisationsentwicklung im Zuge des BTHG ist Angebots- und Strukturentwicklung

Hier wollen wir wie gesagt die Bewertung des Gesetzes nicht in die Tiefe fortführen (falls Sie einen Experten mit inhaltlichem Fokus suchen, steht Ihnen Florian Acker mit Rat und Tat zur Verfügung), sondern die Notwendigkeit zur Angebots- und Strukturentwicklung hervorheben.  

Zur Notwendigkeit der Angebotsentwicklung

Das BTHG zwingt die Einrichtungen dazu, sich intensiv mit ihrem eigenen Leistungsangebot auseinanderzusetzen. So müssen sie zum einen wissen, welche neuen gesetzlichen Anforderungen an sie gestellt werden und zum anderen müssen sie das dann mit ihrem bestehenden Angeboten abgleichen und dann entsprechende Konsequenzen daraus ziehen. 

Angeführt werden kann hier z.B. die (vollkommen berechtigte) Wirksamkeitsdebatte in der Eingliederungshilfe. Begriffe wie z.B. „Wirksamkeit von Leistungen“ oder auch „Wirkungskontrolle“ wurde vom Gesetzgeber wortwörtlich z.B. im Vertragsrecht mit aufgenommen (vgl. z.B:  § 125, 128, 129 SGB IX). 

Allein deswegen besteht schon die Notwendigkeit für die Leistungserbringer, dass sie ihre bestehenden Angebote evaluieren und ggf. anpassen und gleichzeitig neue Angebote unter der Prämisse der Wirksamkeit gestalten müssen.

Zur Notwendigkeit der Strukturentwicklung

Im Beitrag von Effert und Huffziger wird richtigerweise der mit der Umstellung vom Stationären zum Ambulanten notwendige Change Management Prozess – wir sprechen lieber von Transformationsprozess – angesprochen: 

„Es muss für alle Beteiligten spürbar werden und sich ein konkretes Bild ergeben, was Personenzentrierung heißt. Insbesondere bei Fachkräften sollte es so gut wie nicht mehr vorkommen, dass diese ohne Klient(inn)en arbeiten. Es ist dabei eine wichtige Führungsaufgabe, die Mitarbeitenden sprichwörtlich in die „neue Welt“ mitzunehmen. Jahrelange Institutionenorientierung verschwindet nicht einfach aus den Köpfen, denn die alte Welt war nicht schlecht, sondern anders.“

Das ist ein sehr wichtiges und schwieriges Thema im Führungsalltag:

Gerade die langjährigen Mitarbeiter_innen in der Eingliederungshilfe (EGH) empfinden ihr bisheriges Tun und Handeln plötzlich als abgewertet. Hier braucht es viel „Fingerspitzengefühl“, um den Kolleg_innen deutlich zu machen, dass man die bisherige Arbeitsweise oder Erfolge nicht in Abrede stellt. Es gelten nun allerdings neue Anforderungen in der EGH, an denen man sich auszurichten hat.

Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass sich die Teamkonstellationen bereits dadurch geändert haben, dass mittlerweile Nichtfachkräfte angestellt werden (in manchen Einrichtungen ist die Anzahl der Nichtfachkräfte fast höher als die Anzahl von Fachkräften). 

Nach unserer Erfahrung ergibt sich bereits hierdurch Konfliktpotential, da durch die neuen Kollegen auch vieles in Frage gestellt wird (und manches durchaus zu Recht ;-). 

Hier wird es in Zukunft wichtig sein, dass intern Möglichkeiten geschaffen werden, um die Nichtfachkräfte entsprechend zu qualifizieren. Man tut gut daran, entsprechende Bildungskonzepte zu entwerfen und Möglichkeiten zu schaffen, die Mitarbeiter_innen gut in diesem Handlungsfeld zu qualifizieren.

Die notwendigen Anpassungen jedoch bleiben nicht auf Ebene des individuellen Verhaltenswandels bzw. Kompetenzaufbaus stehen. Es geht – basierend auf einer passfähigen Strategie zum Umgang mit den Entwicklungen des BTHG und der Entwicklung neuer Angebotsformate – um die Entwicklung von Strukturen, die zu Kulturentwicklung führt. 

Strukturentwicklung und BTHG

Aber wie kann die Strukturentwicklung bzw. die Entwicklung der Aufbauorganisation aussehen, wenn es gilt, die klassische Versäulung, die sich in den meisten Organisationen der Behinderten- bzw. Eingliederungshilfe findet, so zu transformieren, dass den Ansprüchen des BTHG Rechnung getragen werden kann? 

Wenn Leistungen in Grund- oder Basismodule auf der einen und in verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen angeboten werden, auf der anderen Seite aufgesplittet werden, gilt es, die bisherigen organisationalen Rahmenbedingungen und Strukturen hintenanzustellen und schnelle, individuelle Entscheidungen zu ermöglichen. Schnell und individuell reicht jedoch nicht. Es muss außerdem kompetenzübergreifend zusammengearbeitet werden.   

Nicht mehr die Abteilungen sind als Entscheidungsstrukturen relevant. Ab-Teilungen sind das Gegenteil der geforderten, ganzheitlichen Personenzentrierung und Lebenswelt- sowie Sozialraumorientierung. Die Menschen mit Unterstützungsbedarf erwarten flexible, angepasste „Leistungen aus einer Hand“. 

Konkret geht es um die konsequente Orientierung der Leistungsangebote am Sozialraum der Nutzer_innen. Damit geht eine Strategie des inklusiven Wohnens und Lebens einher. Nicht mehr der Bau von stationären Einrichtungen steht im Vordergrund, sondern der Aufbau von wohnortnahe Angeboten orientiert an der unmittelbaren Lebenswelt – im Gemeinwesen. Es geht auch um die Schaffung von Wahlmöglichkeiten, um individuelle, diverse Wohn- und Lebensformen zu schaffen.

Deutlich wird, dass die Fachlichkeit zur Gestaltung inklusiven Lebens in den Vordergrund rückt. Und deutlich wird auch die Ambulantisierung des Stationären:

„Durch das Herauslösen der Assistenz-/Fachleistungsmodule vollzieht sich der Übergang zu einem hybriden ambulant-stationären Setting“, wie es im Beitrag in der Neuen Caritas heißt. 

Selbstbestimmt agierende Teams und das BTHG

In der Begleitung von Organisationen in diesem herausfordernden Transformationsprozess wurde deutlich, dass sich die klassischen Abteilungsstrukturen (bspw. gegliedert in Wohnbereiche) auflösen müssen und es damit zu sich völlig neu formierenden Teamstrukturen kommt. 

Die Mitarbeiter_innen sehen in der Transformation die Möglichkeit, verstärkt selbstbestimmt im Sinne der Nutzer_innen agieren zu können. Hier finden Sie einen kleinen Auszug aus Rückmeldungen der Mitarbeitenden aus einem Transformationsprozess aus dem letzten Jahr. Im Kern stand an dieser Stelle die Frage, welche wesentlichen Chancen und Möglichkeiten sich aller Voraussicht nach durch die neue Struktur bezogen auf die Struktur der Organisation ergeben: 

  • „Flexibilität und selbstständiges Arbeiten“, 
  • „Vorhandene Instrumente (Führung/Personal etc.) nochmal kreativer gestalten. Neue Methoden bei Entscheidungsprozessen in Gruppen (kollegiale Beratungen)“, 
  • „Lernprozesse aufgrund multiprpfessioneller Teams werden angestoßen“… 

Schon aus diesen wenigen Rückmeldungen wird deutlich, dass die Transformation der Strukturen zum „Neulernen“ auf Ebene der Kommunikation und Kollaboration der Teams führt. Insbesondere sind dies für uns die beiden Fragen: 

  • Wie gelingt Führung dieser neuen, oftmals größeren Teams? 
  • Wie gelingt erfolgreiche Zusammenarbeit innerhalb der Teams, wenn diese „flexibler und selbständiger“ agieren? 

Ade Mikromanagement, oder: New Leadership im BTHG 

Führung und Zusammenarbeit müssen neu gedacht werden. Aber der Reihe nach: 

Was kommt auf Führungskräfte zu? Was ist deren Aufgabe? 

Für uns wird an dieser Stelle deutlich, dass Führungskräfte in den sich neu konstituierenden Teams nicht mehr für jeden Sch…nickschnack zuständig sein können. Die Komplexität aufgrund der Zunahme der Anzahl der Mitarbeiter_innen in den Teams steigt rasant. 

Wenn sich klassische, operative Führung fortführen würde, wären die Führungskräfte mit der Kommunikation im Kleinen vollkommen überfordert. Wenn jede_r Mitarbeiter_in mit jedem Anliegen zur Führung rennt, macht diese nichts mehr anderes als Brände löschen und brennt dabei selbst komplett aus. 

Führungskräfte sind in der neuen Struktur vielmehr dafür zuständig, die Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter_innen so zu gestalten, dass diese „ungestört“ und damit selbstbestimmt und flexibel im Sinne der Nutzer_innen – fachlich – agieren können. Führungskräfte sind gefordert, an der Organisation bzw. den Strukturen und Rahmenbedingungen zu arbeiten und nicht mehr in den Teams. 

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Basis sind diejenigen, die maßgeblich am Wertschöpfungsprozess beteiligt sind. Sie sind diejenigen, die die Assistenzleistungen erbringen und somit das Geld für die Einrichtungen verdienen. 

Das Management sollte daher doch das größtmögliche Interesse daran haben, dass diese Mitarbeiter_innen die bestmöglichen Rahmenbedingungen für ihre Arbeit vorfinden. Unserer Erfahrung nach ist dem häufig jedoch nicht so: Oft ist zu erleben, dass Mitarbeiter_innen im höheren Management meinen, dass sie die Bedürfnisse und Erfordernisse der Praxis besser kennen als die Mitarbeiter_innen an der Basis.

Es braucht eine Haltung des Vertrauens, um Verantwortung für den „Alltag“ in die Teams geben zu können. Es braucht ein Verständnis davon, dass Mitarbeiter_innen gerne arbeiten und ihre Leistungen für die Organisation auch dann einbringen, wenn sie nicht kontrolliert werden. Das Menschenbild der Theorie Y von McGregor kann hier hilfreich sein.

Welcome New Work, oder: New Collaboration im BTHG

Und wie gelingt jetzt Zusammenarbeit in den – meist sehr großen – Teams untereinander? Wie gelingt die Zusammenarbeit vor allem, wenn nicht wieder neue Strukturen von „Teamleitungen“ o.ä. installiert werden können, da diese die sowieso schwierige Finanzierung ins Wanken bringen würden?

Hier greifen die Merkmale selbstbestimmt agierender Teams, die wir in den folgenden sechs Schritten skizzieren: 

  1. Es gilt, im Vorhinein den Rahmen zu gestalten, innerhalb dessen die Teams selbstbestimmt entscheiden und agieren können. Hier ist immer zu bedenken, dass die neu konstituierten Teams ja in bestehenden Organisationen eingebunden sind und nicht „auf der grünen Wiese“ neu gegründet wurden. Entsprechend sind bspw. die Satzung der Organisation sowie – selbstverständlich – gesetzliche oder arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen einzuhalten. Aber auch finanzielle Mindestanforderungen, die für ein erfolgreiches Bestehen der Teams notwendig sind, sollten in der Rahmenvereinbarung, die bindend für das jeweilige Team ist, festgehalten werden.  
  2. Daran anschließend geht es an die Arbeit mit dem Team: Es ist der Zweck und die Vision des jeweiligen Teams zu definieren, um dessen „Nordstern“, dessen Ausrichtung festzulegen. Darüber, über diesen Nordstern, wird ermöglicht, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, die in die angestrebte Richtung gehen. 
  3. Der dritte Schritt besteht in der Sammlung und Clusterung aller anfallenden, über die grundlegend pädagogischen Aufgaben im Team hinausgehenden Aufgaben. Als Beispiele sind dies: Urlaubsplanung, Dienstplanung, IT, Atmosphäre im Wohnbereich uvm. 
  4. Schritt 4 ist die Definition von Mandaten, in denen die Verantwortlichkeiten und Aufgaben festgeschrieben werden. Bspw. macht ein Mandat „Interne Ansprechpartner_in“ Sinn, damit die Anliegen des Teams innerhalb der Organisation an die richtige Stelle kommen und Informationen aus der Organisation ins Team zurückgespielt werden. So ist es nicht zielführend, wenn „jede_r alles macht“. Die damit einhergehende Komplexität ist nicht handlebar. 
  5. Anschließend steht der Wahlprozess an: In diesem Prozess wählen die Teammitglieder die Person aus, die als für das jeweilige Mandat am Kompetentesten erachtet wird. Dabei besteht auch die Möglichkeit, sich selbst wählen zu können. Aus Erfahrung ergeben sich schon in diesem Schritt die ersten echten Learnings: Nicht mehr der_die Vorgesetzte entscheidet, wer was macht, sondern die Teammitglieder entscheiden selbst, wer die Aufgaben und Verantwortung im Sinne des Teams übernehmen sollte. 
  6. Schritt 6 ist dann die Umsetzung der neuen Mandate in der alltäglichen Arbeit. Das klingt einfach, ist in der Realität aber ein Paradigmenwechsel: Nicht mehr eine Person – der_die Vorgesetzte – entscheidet, sondern das Team bzw. die Verantwortlichen des jeweiligen Mandats im Rahmen der für das Mandat festgelegten Verantwortlichkeiten. Das muss geübt werden, da auch Konflikte und schwierige Entscheidungen nicht mehr „nach oben delegiert“ werden können. 

Führung selbstbestimmt agierender Teams

Auch wenn es schon angesprochen wurde: 

Aufgabe der Führungskräfte in dieser neugestalteten Angebots- und Organisationsstruktur ist es, die Teams dabei zu begleiten, Entscheidungen in Selbstorganisation treffen zu können, den Rahmen zu gestalten, in dem selbstbestimmtes Agieren der Teams möglich wird und die Strukturen immer weiter zu verbessern. Wie gesagt: 

Für Führungskräfte steht nicht mehr die Arbeit im Team im Vordergrund, sondern die Arbeit an den Strukturen, innerhalb derer die Teams selbstbestimmt agieren. 

Ebenfalls wiederholend ist zu betonen, dass die operative Arbeit in den Teams schnell zu einer Überforderung der Führungskräfte führen kann, da die Anzahl der Menschen in den Teams aufgrund der notwendigen Anpassungen oftmals sehr hoch sein muss. Die mit der Kommunikation einhergehende Komplexität ist dann kaum noch zu bewältigen. 

Entsprechend gilt es, intern oder extern Lern-, Unterstützungs- und Austauschmöglichkeiten für die Führungskräfte zu gestalten, damit die neue Aufgabe, die vielmehr moderierend als steuernd und kontrollierend ist, bestmöglich gestaltet werden kann. 

Fazit, oder: Die Chancen des BTHG nutzen

Abschließend hoffen wir, dass deutlich geworden ist, dass die durch das BTHG notwendig gewordenen Anpassungen Anpassungen an den Dienstleistungen, Produkten und Angeboten und gleichzeitig  strukturelle Anpassungen bedingen: 

Es ist zu überlegen, wie es gelingt, den Wandel insbesondere in stationären Settings hin zu einer “Ambulantisierung” zu vollziehen, um darüber möglichst wirksam Teilhabe für die Menschen zu ermöglichen. 

Unser Ansatz in diesem Kontext ist, die Chancen und Möglichkeiten selbstbestimmt agierender Teams zu nutzen, um die Führungskräfte zu entlasten und aus der operativen Arbeit zu nehmen und gleichzeitig die Kompetenzen der Mitarbeiter_innen in der unmittelbaren Arbeit bestmöglich im Sinne der Nutzer_innen einsetzen zu können. 

Dieser die Strukturen der Organisation betreffende Transformationsprozess hat dann den Kollateralnutzen, dass sich die Kultur der Organisation mit der Zeit verändert. Dabei darf nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass Transformation – egal welche – Ressourcen braucht und nicht zum Nulltarif und von heute auf morgen zu bekommen ist. 

Diese Zeit sollten Sie sich geben, um das BTHG nicht nur als Bürokratiemonster zu verstehen, sondern die darin für die Nutzer_innen, aber auch die für die Organisation liegenden Chancen im Hinblick auf eine wirkungsvollere Praxis nutzen zu können. 


Wir hoffen, dass Sie einige Anregungen mitnehmen konnten und freuen uns sehr über Ihre Kommentare.

Bei weiteren Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung. Oder Sie tragen sich zum IdeeQuadrat-Newsletter ein und verpassen sicher keinen Beitrag mehr.

Ach ja, hier geht es direkt zum Blog von Florian Acker.

Und hier können Sie den Beitrag auch als PDF herunterladen.

Dialogräume gestalten oder: Wie es gelingt, mit Angst, Unsicherheit und Spaltung umzugehen

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Die Pandemie ist alles andere als vorbei, da beginnen alte weiße Männer ihre Machtfantasien an der russisch-ukrainischen Grenze auszuleben. Das wirkt wie ein beleidigtes Kind, dem man im Sandkasten den Eimer geklaut hat. Die Klimakatastrophe zeigte im letzten Jahr mit krassen Überschwemmungen und in diesem Jahr mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 160 km/h, dass der Mensch der Erde ziemlich egal ist. Digitale Entwicklungen bedrohen ganze Branchen. Die individuell notwendigen Kompetenzen, um hier „mithalten“ zu können, sind in der Breite alles andere als entwickelt. Und in Teams, Organisationen und der Gesellschaft als Ganzes flammen Konflikte auf, die sich um den korrekten Umgang mit den Regeln und Vorgaben zur Bekämpfung der Pandemie drehen. Wie kann es gelingen, in diesen komplexen, sich permanent verändernden Zeiten den Kopf über Wasser zu halten? In meinen Augen müssen wir dazu wieder wirklich miteinander ins Gespräch kommen. Dazu will ich hier anregen, Dialogräume zu schaffen.

Was sind Dialogräume?

Als Dialogräume definiere ich Zeiten und Räume, in denen es möglich ist, angstfrei miteinander ins echte Gespräch zu kommen. Daraus resultiert gegenseitiges Verstehen. Und daraus wiederum resultieren neuen Handlungen zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft.

In dieser Definition sind ein paar Aspekte enthalten, die wir näher anschauen müssen. Zu klären ist insbesondere, was unter Zeit und Raum zu verstehen ist, wie viele Personen teilnehmen können, wie die Schaffung psychologischer Sicherheit gelingen kann und und wie echtes Zuhören gelingt.

Zeit und Raum

Dialogräume brauchen Raum und Zeit. Aber Dialogräume müssen nicht in super hip ausgestatteten Future-Offices stattfinden. Im Gegenteil geht es darum, das zu nutzen, was ist: Die Teamsitzungen, der gemeinsame Spaziergang um den Block, das Sofa zu Hause, den Gemeindesaal, das Café um die Ecke. Notwendig ist jedoch, sich Zeit und den möglichst ungestörten Raum für den Dialog zu reservieren.

Allein, zu zweit oder in der Gruppe

Redest Du auch manchmal mit Dir selbst? Und hörst Du Dir zu? Wirklich?

Mir gelingt das nicht besonders. Jeder in meinem inneren Team beansprucht die Bühne – vor allem in herausfordernden Zeiten. Das führt zu ziemlichem Lärm in meinem Kopf. Was ich damit sagen will:

Auch allein macht es Sinn, den eigenen Anteilen zu zuhören zu können. Dazu ist Ruhe nötig, Meditation, Wald, Rauskommen.

Ein Dialograum ist aber auch zu zweit wunderbar zu gestalten. Auch im Zwiegespräch, im Gespräch mit dem/der Partner_in, mit dem/der Kolleg_in, mit dem/der Vorgesetzten, ist Ruhe und Zeit notwendig, um Zuhören gelingen zu lassen. Zum letzten Punkt gibt es übrigens wenig Schlimmeres als standardisierte, angstbesetzte, jährliche Mitarbeitergespräche. Das ist kein Dialog.

Und auch in Teams, Organisationen und großen Gruppen gelingen Dialogräume, zu denen es wiederum Zeit, Ruhe und die Möglichkeit braucht, den anderen Teilnehmer_innen angstfrei zuhören und seine Gedanken und Gefühle äußern zu können.

Angstfreie Räume und psychologische Sicherheit

Zum letzten Punkt habe ich das Konzept der psychologischen Sicherheit in meinem letzten Newsletter bereits aufgegriffen:

Um in Teams und Gruppen das äußern zu können, was man wirklich denkt und fühlt, ohne Gefahr zu laufen, dafür abgestraft, komisch angeschaut, in eine Ecke gestellt zu werden, braucht es emotionale bzw. psychologische Sicherheit.

Psychologische Sicherheit ist „a sense of confidence that the team will not embarrass, reject, or punish someone for speaking up“, so Amy Edmondson, die an der Harvard Business School als Professorin für Führung und Management zu den Geheimnissen erfolgreicher Teams, dem Lernen in Organisationen und zur psychologischen Sicherheit lehrt und forscht.

Für psychologische Sicherheit in Teams sind insbesondere zwei Faktoren wesentlich (vgl. diesen Link hier):

  • Durchschnittlich ausgeprägte soziale Sensibilität. Jeder im Team ist in der Lage und willens wahrzunehmen, wie es dem Gegenüber gerade geht. Dadurch kann jede/r in der Regel angemessen auf diese wahrgenommene Befindlichkeit reagieren. Neudeutsch würde man von der Fähigkeit zu einer Begegnung auf Augenhöhe sprechen.
  • Gleichmässig ausgeprägte Redeanteile aller Teammitglieder. Am Ende des Tages sind alle ungefähr gleich häufig zu Wort gekommen und haben gleich grosse Redeanteile erhalten. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Art und Weise, wie Redeanteile von einer zur nächsten Person übergeben werden. Sprich, ob man sich traut und sicher fühlt, sich überhaupt zu Wort zu melden. Oder ob die innere Zensurstimme die Oberhand gewinnt, basierend auf einem Glaubenssatz wie, «da sage ich lieber nichts, damit es mir nicht so ergeht wie der Kollegin letzte Woche, über die seither hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird».“

Eigentlich einfach, oder? Naja, spätestens wenn es ans Zuhören geht, wird es etwas herausfordernd…

Zuhören

Im vorletzten Absatz habe ich das Zuhören angesprochen. Zuhören ist aber – das hat spätestens Otto Scharmer sehr eindrücklich auf den Punkt gebracht – nicht gleich Zuhören.

Scharmer unterscheidet die vier Ebenen des Zuhörens „Downloading, Seeing, Sensing und Presencing“, die ich hier nur skizzieren kann:

  1. Downloading: Downloading ist die erste Ebene des Zuhörens. Sie ist hilfreich für einfache, wiederkehrende Prozesse und Routinen, die sich bspw. in Checklisten, Anleitungen o.ä. zusammenfassen lassen. Downloading im Gespräch erkennt man bspw. An Äußerungen wie „Das wissen wir schon!“, „Kein Problem!“ bis hin zum „Hier ist die Lösung auf Deine Frage!“ Kurz: Es geht nicht um das Neue, sondern nur um die Bestätigung bzw. Ablehnung der eigenen Annahmen.
  2. Seeing: Seeing fokussiert auf die im Gespräch geäußerten Daten und Fakten. Man nimmt diese bewusst wahr und reflektiert Widersprüche zum Gewohnten. Man versucht außerdem, die Widersprüche mit eigenen, gewohnten Mustern und dem eigenen Wissen zu verknüpfen. Im sachlichen Gespräch findet eine Auseinandersetzung über Daten und Fakten statt. Das logische Denken dominiert. Aussagen auf dieser Ebene sind bspw. „Das kann nicht sein“ oder „Das stimmt so nicht! Die Statistik zeigt ganz andere Zahlen.“ Hier kommen Widerstände zum Ausdruck und automatisch kommt die Stimme des Urteils (richtig/falsch) zum Vorschein.
  3. Sensing: Auf dieser Ebene des Zuhörens kommt es zur Öffnung des Fühlens. Empathie kommt ins Spiel und der Versuch, den Anderen wirklich wahrzunehmen und „in seinen Schuhen zu gehen“. Hier dockt auch die erste Notwendigkeit zur Gestaltung der psychologischen Sicherheit an – die zumindest durchschnittlich ausgeprägte soziale Sensibilität zur Schaffung eines Klimas des Vertrauens. Auf dieser Ebene des Zuhörens wandert der Aufmerksamkeitsfokus nach außen, außerhalb der eigenen Person bzw. Situation (oder auch Organisation). Hier kann es gelingen, gemeinsam mit dem/den Gesprächspartner_innen von außen auf die eigene Person, Situation oder Organisation zu schauen. Die blinden Flecken im eigenen Denken werden sichtbar.
  4. Presencing: Im Scharmers Theory U ändert das Zuhören auf Ebene des Presencing nicht nur die Sichtweise, die Perspektive. Wenn es gelingt, auf dieser Ebene zusammenzukommen, ist das Ergebnis, „dass wir am Ende nicht mehr dieselbe Person sind, die wir zu Beginn des Gesprächs waren“, wie es in diesem umfangreichen Beitrag zu den vier Ebenen des Zuhörens heißt. „Man agiert auf einem höheren Aufmerksamkeitslevel, und dies ermöglicht uns tiefer an die Quelle unseres eigenen (oder auch organisationalen) Selbst heranzukommen. „Wer möchte ich (wirklich) sein?“ (und nicht welche Rolle möchte ich spielen) und „Wo möchte ich Nutzen und Sinn stiften?“ sind hier die beiden zentralen Fragen.“ Daraus resultieren dann wirklich neue Handlungen, die aus der Zukunft her Gegenwart gestaltet.

Hast Du die vierte Ebene schon mal erlebt? Wenn ja, freue ich mich riesig über einen Kommentar, wie es dir gelungen ist. Denn einfach und oft ist sie wohl nicht zu erreichen. Aber ohne die dritte Ebene, das emphatische Zuhören, wird echtes Verständnis und die Gestaltung der daraus neu resultierenden Möglichkeiten schwer werden.

Dialogräume konkret

Ja, die Gestaltung von Dialogräumen ist auf den ersten Blick voraussetzungsreich.

Aber wenn man pragmatisch herangeht, eröffnen sich Möglichkeiten. Dazu hier ein paar Fragen und Anregungen, die Dir vielleicht helfen, auf individueller Ebene, auf Paarebene, auf Teamebene, auf Organisationsebene und auch auf Ebene der Gesellschaft Dialogräume zu schaffen.

Individuelle Dialogräume

Wo und wann nimmst Du Dir echte Auszeiten, in denen Du Dir und den in Dir agierenden Anteilen aufmerksam zuzuhören? Ich selbst versuche regelmäßig zu meditieren, um zumindest ein wenig Ruhe in das Geplapper in meinem Kopf zu bekommen. Außerdem hilft mir Bewegung, Wandern und Sport, um Nachdenken und mir selbst zuhören zu können. Und ja, als Familienvater mit drei Kindern geht es leider nicht darum, das nächste Sabbatical zu planen, sondern „Miniauszeiten“ im Alltag zu integrieren. Heißt konkret: 15 Min. meditieren und regelmäßig Bewegung (whatever regelmäßig means).

Dialogräume als Paar

Familien sind von den Auswirkungen der Pandemie hart getroffen. Homeoffice, Geldsorgen, Alltagsbewältigung ohne schöne Rituale (Fasnet daheim ist keine Lösung), unregelmäßiger Besuch von Kindergarten und Schule, Angst vor der eigenen Erkrankung und der Erkrankung von Angehörigen bis hin zum innerfamiliär unterschiedlichen Umgang mit essentiellen Fragen der Pandemiebewältigung (Impfen ja oder nein?) treffen Paare mit und ohne Kinder hart. Unter dem Begriff des „Zwiegesprächs“ findet sich ein interessantes Konzept, das es ermöglicht, im ganzen Alltagsscheiß wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Lohnt sich…

Dialogräume im Team

Hier verweise ich auf das schon angesprochene Konzept der psychologischen Sicherheit. Im Team gilt es, hierarchieunabhängig auf die gleichen Redeanteile zu achten (vorausgesetzt, die durchschnittlich ausgeprägte Empethiefähigkeit stimmt, was ich aber bei den Leser_innen meines Blogs mal voraussetze 😉

Der verlinkte Beitrag gibt Dir Fragen an die Hand, die für die systematische Reflexion und Verbesserung der Dynamik im Team hin zu mehr psychologischer Sicherheit sinnvoll sind:

  • „Wie gut nutzt ihr das Team-Potenzial auf einer Skala von 1 (low performing) bis 99 (high performing) aus?
  • Welche Kraftquelle gibt dir ganz persönlich in diesem Team am meisten Energie?
  • Was kostet dich ganz persönlich in diesem Team am meisten Energie?
  • Was ist dein Beitrag zu den Kraftquellen und Energiefressern im Team? Wie beurteilen die anderen Teammitglieder deinen Beitrag?
  • Wie steht es um eure psychologische Sicherheit? Was ist der Beitrag jedes Teammitglieds zur psychologischen Sicherheit?“

Nehmt ihr euch regelmäßige Zeit und Raum, die Fragen in Eurem Team zu reflektieren?

Dialogräume in der Organisation

Hier greife ich die Idee von Sabine auf, die sie in einem der letzten „Werkraum Zukunft“ Veranstaltungen die Idee der Denkräume geäußert hat. Kurz:

Es braucht „Denkräume“ in unseren Organisationen, in denen es angstfrei möglich ist, über die Zukunft nachzudenken, zu sprechen und – vielleicht im Sinne der Theory U von Otto Scharmer – Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.

Oftmals reichen aber schon neue Formate wie gemeinsame Barcamps, die ohne Vorgaben Themen der Menschen in der Organisation öffnen. Ebenfalls hilfreich ist die Methode des Lean Coffee, die sehr schnell und kompakt abteilungsübergreifend neue Möglichkeiten der Kooperation innerhalb der Organisation eröffnen kann.

Dialogräume in der Gesellschaft

In einem der letzten Beiträge habe ich den Gedanken formuliert, dass die kommunalen Verwaltung eine Schlüsselrolle einnimmt, wenn es um New Work geht.

Unter New Work verstehe ich hier ganz explizit die Grundidee von Bergmann, der nicht von Organisationsentwicklung, sondern von der (sozialutopischen) Gestaltung der Gesellschaft spricht.

Und für die Gestaltung der Gesellschaft braucht es Begegnungs- und Dialogräume, die – so die These des Beitrags – von Seiten der kommunalen Verwaltung vor Ort gestaltet werden können (und müssen).

Es braucht vor Ort Dialogräume, in denen die Menschen aus dem Stadtteil, der Nachbarschaft, der Kommune wieder zusammen kommen können, um miteinander zu reden, sich zuzuhören und neue Ideen für ihren lebenswerten, zukunftsfähigen Sozialraum zu gestalten.

Zur Gestaltung und Begleitung der Dialogräume bedarf es neuer Kompetenzen auf Seiten der Mitarbeiter_innen in den Verwaltungen (oder die Einstellung von Menschen), damit entsprechend offene und damit unsichere Beteiligungsprozesse gestaltet, begleitet und „der Raum gehalten“ werden kann.

Hieraus, aus dieser „New Work Vision“ erwachsen auch, so zumindest meine Hoffnung, neue Optionen zur Bewältigung des Fachkräftemangels in den Verwaltungen.

Dialog in der Organisationsentwicklung

Noch ein Gedanke zum Abschluss, der mich in meiner Arbeit immer wieder tangiert:

Organisationsentwicklungsprozesse erzeugen Instabilität. Das hat bspw. Peter Kruse hier sehr lesenswert dargelegt. Instabilität erzeugt immer Unsicherheit. Und daraus wiederum folgt – völlig nachvollziehbar – Widerstand.

Entsprechend gilt es auch in Organisationsentwicklungsprozessen, Dialogräume zu schaffen, um die Ängste und Sorgen der von den angestrebten Veränderungen betroffenen Mitarbeiter_innen nicht nur zu hören, sondern daraus im besten Fall neue Optionen zur Gestaltung des Prozesses ableiten zu können.

Denn, auch das darf kein Geheimnis bleiben, jede Intervention in eine Organisation hat Vor- sowie Nachteile. Es gibt immer Gruppen, die am Status Quo leiden (sonst würden die Prozesse nicht angestoßen). Und gleichzeitig gibt es Menschen und Gruppen, die am Neuen leiden. Das lässt sich zwar nicht ändern, aber durch offenen, sicheren Dialog besprechbar machen.

Unsicherheit bewältigen im Dialog

Zum Ende greife ich noch einmal den Titel des Beitrags auf:

Die Anforderungen, Brüche und permanenten Veränderungen, die heute und in Zukunft an uns und vor allem an die nachfolgenden Generationen gestellt werden, sind unfassbar komplex, kaum überschaubar. Sie können vor allem nicht durch einfache „Schwarz-Weiß Antworten“ gelöst werden. Das macht Angst und löst massive Unsicherheiten aus – individuell, in Familien, in Teams, Organisationen und der Gesellschaft. Dies gilt vor allem, da wir den Umgang mit Komplexität in unseren formalen Bildungswegen nicht gelernt haben. Daraus folgt:

[bctt tweet="Wir müssen die Gestaltung komplexer Zukünfte ganz neu lernen. Das gelingt in Dialogräumen."]

Und zur Entwicklung der Kompetenzen zum Umgang mit Unsicherheit und zur Gestaltung komplexer Zukünfte braucht es das geschilderte, gesteuerte und oft auch begleitete Zusammenkommen. Wir brauchen Räume, in echten Dialog zu treten, Räume, sich zuzuhören, Gräben zu überwinden und gemeinsam neue Lösungen und damit soziale Innovationen zu entwickeln und umzusetzen. Und vielleicht zeigen sich durch die Dialoge sogar bislang verborgene Ressourcen zum Umgang mit Komplexität und Veränderung, die in der Vergangenheit bereits wirksam geholfen haben.


Haben die Informationen Dich in Deiner Arbeit weitergebracht? Dann freue ich mich, wenn Sie mir davon berichten.

P.S.: Hier findest Du noch einen Beitrag, in dem ich 10 Strategien für den erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit darlege. Vielleicht hilft Dir auch das…

Es wird Zeit, oder: Drei gute Gründe, warum sich soziale Organisation mit Wertschöpfung, Selbstbestimmung und kollektiver Führung beschäftigen müssen

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Wir reden seit Jahren von den Entwicklungen einer neuen Arbeitswelt, Arbeit 4.0 oder gar von New Work. Im Kern, im Maschinenraum von sozialen Organisationen und Bildungseinrichtungen hat sich jedoch wenig bis nichts geändert. Ja, es gibt einige Vorreiter (die im Übrigen sehr gut durch die Krisenzeiten gekommen sind), aber viele Organisationen haben noch nicht einmal von den sich vollziehenden Entwicklungen gehört, geschweige denn daraus konstruktive Schlüsse gezogen. Man könnte diesen Beitrag als erneuten Wink mit dem Zaunpfahl, nein, eher als Wink mit der Zaunfabrik vergleichen: Liebe soziale Organisationen, es wird Zeit! Es ist richtig dringend, es ist 12! Beschäftigt euch mit euren Wertschöpfungsstrukturen, mit den Funktionsweisen selbstbestimmt arbeitender Teams, mit „agiler“ Zusammenarbeit und dem, was unter kollektiver oder kollegialer Führung verstanden wird. Beschäftigt euch mit eurer Zukunft! Warum? Das kannst Du hier lesen.

Die IdeeQuadrat-Strategie 2025, oder: Verführungen am äußeren Rand der Panikzone

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tl:dr: Ich mache mich mit IdeeQuadrat im Jahr 2022 – also jetzt – komplett selbständig. Ich verlasse meine Komfortzone und begebe mich in neue Abenteuer am Rande der Panikzone und weiter. Das ist mit Blick auf die Historie nachvollziehbar: Mit IdeeQuadrat bin ich schon eine Weile unterwegs. Mein Fokus hat sich dabei nicht geändert. Ich bin immer noch und zunehmend überzeugt davon, dass Soziale Organisationen, Bildungseinrichtungen und kommunale Verwaltungen „New Work Vorreiter“ sein können (wenn nicht gar müssen). Und am Rande der Panikzone – in meiner Arbeit – will die Organisationen dahin verführen, ihren Zweck bestmöglich zu erfüllen. Hinzu kommen Bildungsangebote und die Begleitung bei der Projektentwicklung. Kurz: Hier ist meine IdeeQuadrat-Strategie für die kommenden Jahre.

Projekte

Projekte

Spielwiesen und Ideen, mit denen ich versuche, New Work und New Ways of Working zu verbreiten

Werkraum Zukunft

Der Werkraum Zukunft ist das Meetup für die Sozialwirtschaft.

Im Werkraum Zukunft kommen regelmäßig interessierte Menschen aus der Sozialwirtschaft und darüber hinaus digital und niederschwellig zu zukunftsrelevanten Themen zusammen, hören neue Ideen, lernen gemeinsam, diskutieren und bauen Zukunft.

Das ist mehr als nötig, denn spätestens die Pandemie hat gezeigt, dass wir Wirtschaft und Arbeit in allen Branchen – und damit auch in der Sozialwirtschaft – neu und anders denken müssen.

Hinzu kommt die digitale Transformation, die Arbeitsweisen und Prozesse in Unternehmen radikal verändert.

Und last but not least ist die Pandemie angesichts der drohenden Klimakrise als sehr überschaubar zu betrachten.

Kurz: Wir leben in einer zunehmend dynamischen und komplexen Welt, die neue Antworten auch und gerade der Sozialwirtschaft erfordert.

Hier kannst Du mehr zum Werkraum Zukunft erfahren!

P.S.: Der nächste Werkraum Zukunft findet am 16.12.2021 um 20 Uhr via Zoom statt. Hier kannst Du Dich (kostenlos) anmelden. 

Kollektive Prokrastination und was wir dagegen tun können

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Eigentlich müsste ich nen Vortrag vorbereiten, ein Beratungskonzept schreiben, zwei Angebote fertig machen und mich um den Garten kümmern. Aber irgendwie, irgendwie habe ich keine Lust, sitze vor dem Rechner und verschiebe die wichtigen Dinge auf später, auf dann, wenn es oft zu spät ist, um wirklich gut zu werden. Ich prokrastiniere vor mich hin. Prokrastination lässt sich als pathologische Störung definieren, die „durch ein unnötiges Vertagen des Beginns oder durch Unterbrechen von Aufgaben gekennzeichnet ist, sodass ein Fertigstellen nicht oder nur unter Druck zustande kommt“ (wikipedia). Kennen wir alle, oder?

Aber kennen wir Prokrastination nicht auch auf kollektiver, gesamtgesellschaftlicher Ebene?

Spätestens seit der Überraschung der Bundesregierung über die Geschwindigkeit der Machtübernahme durch die Taliban war mein Gefühl zumindest, dass in der Regierung Menschen Uno spielen, Fenster putzen und Faxgeräte reparieren, um dann ernsthaft überrascht zu sein, wenn ihnen ihre eigenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf die Füße fallen.

Wollten die Menschen, die die Verantwortung trugen, nicht genauer hinschauen und schon vorbereitet in den Abzug der Truppen und die Rettung der „Ortskräfte“ (seltsamer Begriff) gehen? Aber nicht nur beim Thema Afghanistan (wobei das eine für viele Menschen unmittelbar tödliche Überraschung war) ist dieses „Wegschauen“ nicht mehr nur individuell, sondern kollektiv.

Und es hängt bei den folgenden Themen auch nicht mehr nur an einzelnen Menschen in bestimmten Positionen, sondern oftmals an uns allen – kollektiv eben.

Hier also ein paar Themen, in denen wir kollektiv vor uns hin prokrastinieren:

Klimakrise

Ich will und kann nicht alle auf der Hand liegenden Argumente vortragen, die darlegen, dass genau jetzt der letzte Zeitpunkt zum Umsteuern in der Klimakrise ist.

Wenn wir für unsere Kinder noch eine halbwegs lebenswerte Zukunft wollen, müssen wir jetzt politische Entscheidungen treffen, die dieses Ziel (bspw. 1,5 Grad) sichert.

Jetzt.

Und jetzt findet lieber die IAA in München statt und der Kohleausstieg ist lieber mal irgendwann 2038 oder so… Denn, ganz ehrlich: Es ist wichtig, dass Du die Kartoffeln vom Bauern um die Ecke kaufst und Hafermilch trinkst.

Wirksam ist aber, wenn die Politik Gesetze verabschiedet, die bspw. verbieten, schneller als 120 km/h auf der Autobahn zu fahren, Kerosin ganz anders besteuern oder den Kohleabbau morgen stoppen. Das ist kurz schmerzhaft für eine (überschaubare) Menge an Menschen, aber es ist langfristig hilfreich für das Überleben der Menschheit.

Bildung

Wir wissen, dass unser Bildungssystem so lala ist.

Mit „so lala“ meine ich, dass es nicht gut funktioniert, wenn man aus Perspektive der „Leistung“ draufschaut. Pisa-Tests haben uns immer wieder gezeigt, dass die deutschen Schüler*innen irgendwo im Mittelfeld rumdümpeln. Und das, obwohl irgendwie alle unzufrieden mit dem System sind.

Viel wichtiger aber ist, dass wir in einer hochdynamischen Zeit leben, in der es nicht mehr auf die Vergleichbarkeit von Leistungen (Noten…), sondern auf die Gestaltung von Komplexität ankommt.

Komplexität lässt sich am Besten gestalten, indem Vielfalt zugelassen wird. Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritisches Denken sind viel zitierte, notwendige Zukunftskompetenzen, die aber im klassischen Schulsystem in der Breite nicht zählen.

Und ich mache den Lehrer*innen keinen Vorwurf. Die Funktionslogik unseres Bildungssystems ist auf Vergleichbarkeit, und nicht auf Innovation ausgerichtet. Da kann der/die Einzelne nicht viel tun.

Ach ja, Schule allein ist nicht der Bildungsbereich. Hochschulen und das Ausbildungssystem kommen hinzu, sind aber nicht besser aufgestellt.

Digitalisierung

Wenn ich hier nen gif hinsetzen könnte, wäre es ein verrückt kicherndes Männchen, verzweifelt ob der ganzen offen auffindbaren Warnungen, Hinweise und Tipps, was im Digitalen jetzt und in Zukunft getan werden muss.

Die Rede von Lobo zur Eröffnung der Republica 2021 reicht im Grunde aus, um das kollektive Versagen auf diesem Gebiet zu verdeutlichen.

Und jetzt damit zu beginnen, Glasfaser zu verlegen, ist schon wieder zu spät, wenn man bspw. die Aktivitäten von Starlink betrachtet. Aber nun gut, es kommt ja alles so plötzlich…

Arbeit

Arbeit ist ein sehr großer Bereich, der schwer zu fassen ist. Aber auch da habe ich das Gefühl, dass viele (nicht alle) Unternehmen und Organisationen an Vorstellungen des letzten Jahrhunderts hängen.

Nein, die Menschen arbeiten (langfristig) nicht mehr, wenn man ihnen eine Karotte vor die Nase hängt. Das ist übrigens auch nicht „New Work“, auch wenn euch das so verkauft wird…

Und Menschen arbeiten auch nicht mehr, wenn man ihnen mit empfindlichen Strafen droht. Nein, Menschen, Erwachsene wie übrigens auch Kinder, müssen nicht kontrolliert werden, wenn sie einen Job machen, der sinnvoll ist und den eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten halbwegs entspricht.

Dabei geht es nicht um Spaß bei der Arbeit. Es geht darum, einen Beitrag zu leisten. Das geht für jede Aufgabe, von der Straßenreinigung bis hin zur Quantenphysik (mir ist kein besseres Beispiel eingefallen). Und ihr wundert euch über Fachkräftemangel? Ach, übrigens, Arbeit muss nicht zwangsläufig bezahlte Arbeit sein.

Auch Care-Arbeit ist Arbeit und trägt einen wesentlichen Teil zum Wohlstand unserer Gesellschaft bei.

Soziales und Gesundheit

Das Klatschen ist verhallt, oder?

Die Bedingungen in Pflege und in vielen sozialen Arbeitsfeldern sind nicht nur weiterhin schlimm, sondern schlimmer geworden. Die Feststellung, dass die Pflegekräfte in der Pandemie kaum Unterstützung bekommen haben, führt dazu, dass die Menschen die Pflege verlassen Ciao, Kakao! Und der Fachkräftemangel in der Branche ist schon jetzt – wie auch in der Branche der Erzieher*innen – krass. Es fehlen – als Beispiel – bis 2025 etwa 300.000 Erzieher *innen.

Und die Regierung ist auf dem Weg, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich zu beschließen. Alles cool, aber wer soll denn wen betreuen? Vielleicht betreuen einfach die Grundschulkinder am Nachmittag die Pflegebedürftigen und umgekehrt? Vielleicht unterstützt durch ein paar arbeitslose Menschen, wie es die grandiose Idee aus Bayern vorschlägt? Das war Ironie!

Und nu? Was tun gegen Prokrastination?

Alle Punkte ließen sich in vielerlei Hinsicht auffächern. Darum geht es mir aber nicht. Mir geht es darum zu betonen, dass all die (und noch mehr) Themen, die unserer Gesellschaft wirklich unter den Nägeln brennen, schon lange auf der Hand liegen.

Es gibt Tonnen von Büchern, Studien, Veröffentlichungen und so weiter, die darlegen, dass in den Bereichen dringender Handlungsbedarf besteht. Und wir prokrastinieren vor uns her. Wir regen uns auf über Gender-Schreibweise, Lastenräder oder andere Nebensächlichkeiten, ohne wirklich aktiv zu werden.

Aber was könnte man denn tun?

Wenn ich mich persönlich motivieren will, doch die wichtigen Dinge zu tun und nicht mehr noch das nächste Video bei Insta zu schauen, gehe ich wie folgt vor:

Projekte klären

Wenn ich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehe, stellt sich zunächst die Frage, in welchem Wald ich eigentlich bin. Anders:

Was sind meine wichtigsten Projekte? Woran will ich gerade wirklich arbeiten?

Meist sind das zu viele Projekte, aber es hilft, sich einen Überblick zu verschaffen. Und wie wäre es, wenn wir uns kollektiv auf die drei Top-Projekte einigen könnten?

Klimakatastrophe steht dabei unangefochten auf Platz 1 der wichtigen Projekte, danach können wir gerne in die Diskussion gehen: Was ist als zweites Projekt dringend anzugehen? Bildung vielleicht? Ja, ich weiß, die Gesellschaft ist komplexer, aber die Diskussion über die Komplexität lenkt oft von der Gestaltung der Zukunft heute ab. Lasst uns lieber was machen!

Und ja, das heißt auch, dass es politische Entscheidungen, Gesetze braucht. Der Markt (allein) wird sicher nicht alles regeln…

Top 3 festlegen

Um was zu machen, versuche ich, meine wichtigsten 3 To-Dos für den Tag zu bestimmen:

Was sind die Dinge, die ich heute auf jeden Fall schaffen will?

Nicht mehr als 3, denn sonst erschlägt mich die pure Menge der Aufgaben. Und in jedem Projekt gibt es mehrere Aufgaben, sonst wäre es kein Projekt. Was wären also bspw. beim Klimawandel die drei wichtigsten Tasks?

Klar, wieder viel zu unterkomplex, aber warum nicht: Kohleausstieg jetzt, Tempolimit und ? Keine Ahnung, aber damit kennen sich ja die Profis aus. Und dann:

Einfach mal machen.

Musik

Ja, das passt nicht so:

Ich wähle mir eine motivierende Playlist aus, mit der ich gerne arbeite… Das ist nur bedingt zu übertragen, aber:

Auch wenn ich oben geschrieben habe, dass es nicht darum geht, dass Arbeit Spaß machen muss, macht Arbeit die Spaß macht mehr Spaß.

Wie wäre es also, wenn wir die anstehenden Herausforderungen nicht in der deutschen Bräsigkeit angehen und den Untergang des Abendlandes vor Augen haben, wenn wir nicht mehr mit 195 über die Autobahn brettern dürften?

Wie wäre es stattdessen, dass gerade die Umsetzung der anstehenden Aufgaben eine lebenswerte Zukunft für alle (und vor allem für unsere Kinder und Enkel) erzeugen würde?

Die Vision einer lebenswerten Zukunft ist schon irgendwie cool, oder?

Time-Blocking

Ich unterteile meine Arbeit dann meist in etwa 25 – 30 Minuten Blöcke.

Länger kann ich mich sowieso nicht konzentrieren, danach muss ich dann 5 Minuten bei Twitter schauen oder so. Und ja, warum machen wir das nicht ähnlich im Großen:

Es müssen keine endlosen Aufgaben sein, die da vor uns liegen. In einer komplexen Welt ist iteratives Handeln, also das „Schritt für Schritt Vorgehen“ sowieso viel sinnvoller. Nach jedem Schritt, nach jeder Iteration können wir dann schauen, ob wir (natürlich im Großen) auf dem richtigen Weg sind.

Fazit: Wählen gegen Prokrastination 2021

Mit den oben genannten Schritten gelingt es mir, mich immer wieder aus meiner eigenen Prokrastination zu holen – kleine Schritte, Zeiten und gute Musik. Jaja, ich weiß, das ist alles ziemlich naiv auf gesellschaftlicher Ebene.

Aber mich wundert schon, dass bei den großen Themen, die ich oben angerissen habe, in den vergangenen Jahren politisch so verdammt wenig passiert ist. Ich war eigentlich immer Fan von (der Person) Angela Merkel, aber das Gefühl, dass 16 Jahre einfach nur ausgesessen wurde, bleibt (leider).

Uns bleibt bei vielen Themen nicht mehr viel Zeit, um wirklich Veränderungen anzugehen. Ein „Weiter so“ wird nicht helfen. Und das ist auch mein Plädoyer für die anstehende Wahl:

Eine GroKo, die weiter nichts tut, wäre eine echte Katastrophe für die zukünftigen Generationen. Lasst uns also entsprechend wählen, um einen dringend notwendigen Neuanfang zu wagen und die Gesellschaft aus der Starre des Nichtstuns, des Aufschiebens, der Prokrastination, zu holen.

Es könnte ja gut werden…

IdeeQuadrat Podcast

IdeeQuadrat Podcast

Wie werden sich Soziale Organisationen verändern? Wie kann dies für alle Beteiligten positiv, menschlich und zukunftsgerichtet gestaltet werden? Wie können agile soziale Organisationen gestaltet werden? Und was hat das alles mit der digitalen Transformation zu tun? Zu diesen (und mehr) Themen vertone ich im IdeeQuadrat Podcast Blogbeiträge und spreche (leider zu unregelmäßig) mit unterschiedlichsten, immer aber sehr besonderen Menschen, die interessante Einblicke in die Praxis der Organisationsentwicklung liefern!

Wie kann man Gedenken schenken, Felix Meindl?

Wie entwickelt man die Sozialberatung der Zukunft, Patrick Ehmann?

Soziale Arbeit geht auch anders! - Im Gespräch mit der sozKom GmbH & Co KG

Was ist Komplexität, Stephanie Borgert?

Wie gründet man eine digitale Fachschule für Heilpädagogik, Alicia Sailer?

Was ist (Deine Vision von) New Work, Christine Jung?

Wie geht innovative Kirche der Zukunft, Maria Herrmann?

Wie geht Ambidextrie, Dr. Gudrun Töpfer?

Wie geht kollegiale Führung, Dr. Christian Geyer?

Wie lebendig sind Organisationen, Mark Lambertz?

Wo arbeiten wir morgen, Tobias Kremkau?

Wie natürlich ist Führung, Jo Kristof?

Wie gestalten wir neue Narrative, Dr. Lena Marbacher?

Warum führt ihr gemeinsam, Julia Collard und Sven Schnitzler?

Wozu brauchen wir Prozessmanagement, Philipp Epe?

Wie geht gute Weiterbildung in Organisationen der Sozialen Arbeit, Prof. Dr. Stefan Gesmann?

Wie gelingt gemeinsames Verständnis, Markus Sauerhammer und Dr. Joß Steinke?

Wie geht Innovation, Hannes Jähnert?

Was ist Sozialunternehmertum, Katrin Elsemann?

Warum brauchen wir liberale Soziale Arbeit, Prof. Dr. Heiko Kleve?

Was macht die Offene Jugendarbeit, wenn alles geschlossen ist, Thomas Dietrich?

Wie sieht es aus im Maschinenraum, Holger Gierth?

Kann jetzt jeder Onlineberatung, Emily Engelhardt?

Warum brauchen wir einen eigenen Hackathon für die Sozialwirtschaft, Ursel Wolfgramm?

Drei Fragen an... Thomas Mampel