Schlagwort: agile Organisationsentwicklung

Plädoyer für die eigene Freiheit, oder: Die Rolle des mittleren Managements im organisationalen Wandel

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In Vorträgen und Impulsen habe ich in den letzten Jahren immer wieder postuliert, dass es für echte, tiefgreifende Veränderung in Organisationen das Committment der obersten Führungsebene braucht. Meine These war, dass nur dann, wenn die oberste Führungsebene, Vorstand oder Geschäftsführung, die Veränderung mitträgt, Veränderung und Transformation gelingen kann. Auf meiner Folie stand meist „Ohne oben geht es nicht!“ Aber ist das wirklich so? Blockieren wir durch das Warten auf die große Transformation oder die Entscheidungen der obersten Führungsebene nicht vielmehr den nötigen Wandel? Macht es nicht vielmehr Sinn, in seinem eigenen Spiel- und Handlungsraum zu schauen, welche Veränderungen angegangen werden können? Oder anders formuliert: Welche Rolle spielt das untere und mittlere Management im organisationalen Wandel? Darum geht es in diesem Beitrag.

Dazu werde ich zunächst auf die Rolle der obersten Führungsebene in Veränderungsprozessen eingehen um dann zu argumentieren, warum den unteren und mittleren Führungsebenen eine besondere Verantwortung im kontinuierlichen Wandel zukommt. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für die eigene Freiheit.

Die Rolle der obersten Führungsebene in Veränderungsprozessen

Laloux schreibt in seinem immer noch beeindruckenden Buch „Reinventing Organizations“ (vgl. Laloux, 2014, 237ff), dass es zwei notwendige Bedingungen für echte Veränderung gibt:

„The research behind this book suggests that there are two ― and only two ― necessary conditions, in the following two spheres:

  1. Top leadership: The founder or top leader (let’s call him the CEO for lack of a better term) must have integrated a worldview and psychological development consistent with the Teal developmental level. Several examples show that it is helpful, but not necessary, to have a critical mass of leaders operating at that stage.
  2. Ownership: Owners of the organization must also understand and embrace Evolutionary-Teal worldviews. Board members that “don’t get it,” experience shows, can temporarily give a Teal leader free rein when their methods deliver outstanding results. But when the organization hits a rough patch or faces a critical choice, owners will want to get things under control in the only way that makes sense to them―through top-down, hierarchical command and control mechanisms.“

Andere Veröffentlichungen zum Thema Change und Veränderung sprechen ebenfalls vom „Erfolgsfaktor oberste Führungsebene“ (vgl. beispielhaft Eberhardt, 2013, 95). Und auch der Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten von Organisationskultur zeigt, dass, wenn „der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, (…) Veränderungen der Formalstruktur“ sind (Kühl, 2018), die Veränderungen der Formalstruktur formal zu beschließen sind. Und wer kann das tun? Die obere oder oberste Führung.

Wie häufig habe ich eine kleine Umfrage auf Twitter gestartet, die ebenfalls danach fragt, wer denn ausschlaggebend ist für gelingende Veränderungen in Organisationen:

https://twitter.com/HendrikEpe/status/1533375098576568320

Und, auch wenn die Frage zu unterkomplex ist, die Rückmeldungen zeigen wieder die besondere Bedeutung des obersten Managements (lest auch mal die Antworten unter dem Tweet, daraus ergibt sich ein differenzierteres Bild).

Wenn aber Laloux und viele andere Veröffentlichungen (und sogar Twitter!!!111!!!) die oberste Führungsebene als „make – or break factors“ (ebd., 238) definieren, ist zu fragen: Was genau ist das Ziel der dargestellten Veränderungen, was ist die Perspektive auf Veränderung?

Die Perspektive auf Veränderung

Laloux spricht – wenn er von „teal organizations“ spricht – von grundlegenden, tiefgreifenden Veränderungen in der Art, wie Organisationen funktionieren. Seine Ausführungen und die Beispiele wie Buurtzorg in den Niederlanden sind mehr als beeindruckend und – für mich zumindest – als erstrebenswerte Vision einer Arbeitswelt der Zukunft in jedem Veränderungsprozess als Hintergrundfolie mitzudenken.

Aber diese Hintergrundfolie einer erstrebenswerten „New Work“ zeigt das Bild großer Veränderungsprojekte, das Bild der Transformation der Grundlogik, wie wir in Organisationen arbeiten. Es geht in vielen Veröffentlichungen zum Thema Change, New Work und Transformation um enorme, langwierige und aufwendige Veränderungsprozesse, die die „DNA der Organisation“ verändern. Es geht um Veränderungen zweiter Ordnung – Systemveränderungen. Und auch eine Antwort auf meinen o.g. Tweet verdeutlicht dies.

So schreibt Alexander Krause:

Ich will diese Veröffentlichungen, Tweets und Berichte an dieser Stelle gar nicht Kleinreden: Die große Perspektive ist wichtig, hilfreich und notwendig, um eine Vorstellung von dem Möglichen, von dem zu bekommen, was erstrebenswert ist. Mit anderen Worten: Ohne die Arbeit an den Grundlogik unseres Arbeitens und Wirtschaftens werden wir keine tiefgreifenden Veränderungen erreichen.

Aus dieser Perspektive heraus erlebe ich jedoch mindestens zwei Herausforderungen:

Zum einen bleibt oft unklar, wo jenseits von einer Entwicklung des angestrebten Zielzustands genau angesetzt werden kann bzw. was im stressigen Arbeitsalltag – und hier spreche ich insbesondere aus der Perspektive oftmals völlig überlasteter sozialer Organisationen – zur großen, tiefgreifenden Veränderung geleistet werden kann.

Daraus wiederum resultiert ein mehrseitiges Problem: Mitarbeiter_innen und Führungskräfte auf unteren und mittleren Ebenen werden zwar in partizipativen Prozessen eingeladen, sich an Veränderung zu beteiligen. Sie bekommen hier und da auch Einblicke durch spannende Keynotes und Veranstaltungen zum Thema New Work – meist verbunden mit den Herausforderungen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten der digitalen Transformation – und dann bleibt unklar, was sie denn wie konkret umsetzen müssen.

Zwar sehen die Kaninchen die Schlange, aber bewegen fällt schwer.

Und die oberste Führungsebene kennt zwar die Schlange beim Vornamen, weiß also genau Bescheid, dass dringend der kulturelle, technologische und nachhaltige Wandel angegangen und umgesetzt werden muss, wartet aber zunehmend frustriert auf die Bewegung der Kaninchen aka der Mitarbeiter_innen und unteren und mittleren Führungsebene.

Und damit bewegt sich – nichts! Es bewegt sich nicht im Kleinen an der Basis und nicht im Großen an der „Spitze“. Alle machen weiter wie bisher.

Alle sind nur etwas frustrierter, da eigentlich jedem und jeder in der Organisation bewusst ist, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann und wird! Die Digitalisierung kommt nicht voran, die Veränderungen hinsichtlich des Fachkräftemangels nehmen keine Gestalt an, die Geschwindigkeit der Entscheidungen in der Organisation nimmt ab, die dringend nötigen Anpassungen bzgl. des Wegs zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit werden nicht angegangen, die Arbeitskultur bewegt sich weiter auf Ebene von Command and Control, die Konkurrenz schläft nicht und so weiter und so fort…

Zum anderen haben wir es in der Sozialwirtschaft nicht nur mit „uns selbst“ zu tun, sondern mit gesetzlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Organisationen mehr oder weniger bewegen können. Das soll keine Ausrede im Sinne von „Wir würden ja, dürfen aber nicht!“ sein. Es erschwert jedoch entweder den Anstoß zur Veränderung oder zwingt durch gesetzliche Anpassungen (bspw. BTHG, KJSG) zur Veränderung – gewollt oder nicht!

Perspektivwechsel, oder: Die Rolle des mittleren Managements im organisationalen Wandel

Wie wäre es aber, wenn wir die Perspektive wechseln. Wie wäre es, wenn wir nicht mehr das Warten auf die große Vision, die großen Entscheidungen, die radikale Transformation, die tiefgreifenden Wandel in der Art, wie wir arbeiten, in den Mittelpunkt stellen?

Was wäre, wenn wir selbst, jede_r auf seiner Ebene beginnt, Veränderungen zu initiieren?

Und wenn wir agile Management-Konzepte ernst nehmen, geht es doch nicht um den langfristig geplanten Wandel und das Erreichen eines vorab definierten Zielbilds. Es geht genau nicht darum, eine „agile Organisation“ oder „teal“ zu werden oder „unser Betriebssystem nach Holocracy“ zu strukturieren. Es geht um die „bewusste kontinuierliche Gestaltung organisationalen Wandels“ (Grunwald, 2022, 78).

Wenn Agilität für die anpassungsfähige, zeitgemäße, bedarfsgerechte und bewusste Gestaltung von Organisationen steht, dann ist immer wieder – kontinuierlich – zu prüfen, was denn auf welcher Ebene der Organisation notwendig ist, um anpassungsfähig, zeitgemäß und bedarfsgerecht agieren zu können.

Und hier kommen insbesondere die unteren und mittleren Führungsebenen, die Abteilungs- und Teamleitungen in den Blick:

Gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team, zu entscheiden, was notwendig und möglich ist.

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer_innen gestaltet werden können.

Hier kommt hinzu, dass die oberste Führungsebene – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort hat bzw. aufgrund der Komplexität der Organisation haben kann.

Zur Einordnung ist relevant, dass ich nicht den kleinen, freien Träger mit 20 Mitarbeiter_innen im Blick habe, sondern Komplexträger sozialer Dienstleistungen, die oftmals mit vielen hundert, teilweise auch mit mehreren tausend Mitarbeiter_innen lokal, regional und auch national die soziale Landschaft in unserem Land gestalten.

Aber selbst – um ein konkretes Beispiel zu nennen – bei einem Kita-Träger mit einigen Kitas und Kindergärten arbeiten an jedem Standort unterschiedliche Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen. Während ein produzierendes, mittelständisches Unternehmen erwarten kann und muss, dass – egal an welchen Standort – die gleichen Produkte in gleicher Qualität hergestellt werden, ist es in sozialen Organisationen so, dass die Rahmenbedingungen und damit die Umwelt der Organisation enorm relevant sind und nicht außer acht gelassen werden dürfen: Eine Kita in Freiburgs Nobel-Stadtteil Herdern unterliegt völlig anderen Herausforderungen als ein Kindergarten in einem Dorf im Schwarzwald oder einer Einrichtung in einem Brennpunkt-Viertel, obwohl alles Kindergärten sind.

Unter diesen Bedingungen darauf zu warten, dass die oberste Führungsebene die richtigen Entscheidungen trifft, um die Zusammenarbeit in jedem Team, in jeder Organisationseinheit zukunftsfähig zu gestalten, ist naiv und überfordert die Führung. Viel wichtiger ist, vor Ort, im Alltag, in der Vielfalt, Komplexität und Dynamik zu entscheiden, wie die jeweilige Einrichtung, der eigene Arbeitsbereich, das eigene Team, die Menschen bestmöglich den angestrebten Zweck erfüllen können. Und hier sind vor allem die Menschen auf den unteren und mittleren Führungsebenen, die Abteilungs- und Teamleitungen entscheidend.

Was es braucht

Die Ausführungen zur Rolle und Bedeutung des unteren und mittleren Managements sind – so hoffe ich doch – nachvollziehbar. Und gleichzeitig sehe ich in meiner Arbeit mit Organisationen und Menschen auf der unteren und mittleren Führungsebenen, mit Team- und Bereichs- oder Abteilungsleitungen einige Herausforderungen, die es anzugehen gilt, um kontinuierlichen Wandel zu ermöglichen.

Übergreifend fällt mir immer wieder auf, dass sich Führungskräfte auf der unteren und mittleren Führungsebenen, Team- und Bereichs- oder Abteilungsleitungen im operativen Alltag verlieren. Sie wurschteln und rödeln vor sich hin, oft mit dem bitteren Ergebnis des Burnouts oder dem Verlassen der Organisationen und des Arbeitsfeldes. Hinzu kommt, dass es zunehmend schwerer wird, überhaupt Führungskräfte für diese Ebenen zu gewinnen, wodurch wiederum der operative Druck steigt und die Menschen alles andere als erfüllende Arbeit machen. Der Anspruch von #RealNewWork – die Gestaltung einer Arbeit, die Menschen stärkt – wird zur Farce.

Was aber braucht es, damit Führung auf unterer und mittlerer Ebene zum einen wieder zu einer Arbeit wird, die die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“ und Führung zum anderen dazu beiträgt, den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen?

Hier könnte ich jetzt in eine detaillierte Beschreibung benötigter Kompetenzen für gesellschaftliche Entwicklungen, benötigtem Bewusstsein für die Besonderheiten sozialer Organisationen, benötigter sozialpolitischer Kompetenz, benötigter Dilemmatakompetenz, benötigtem systemischem und systemtheoretischen Denken und Handeln, benötigter Methodenkompetenz zur Gestaltung agiler Arbeit, benötigter Selbstkompetenz und damit übergreifend in die Beschreibung von Kompetenzen für zeitgemäße und bedarfsgerechte Führungskompetenz einsteigen. Das ist aber zu lang für einen Blogbeitrag.

Plädoyer für die eigene Freiheit

Vielmehr will ich den Beitrag mit einem „Plädoyer für die eigene Freiheit“ schließen.

Wenn Du Führungskraft auf unterer und mittlerer Führungsebene, Team-, Bereichs- oder Abteilungsleitung bist, plädiere ich dafür, dass Du Deine eigene Freiheit nutzt. Du entscheidest, wie die Zusammenarbeit vor Ort, in Deinem Team und mit den Dir anvertrauten Menschen ausgestaltet sein kann und sollte. Du hast Handlungsspielraum und Freiheit, zu entscheiden, immer. Sonst wärst Du keine Führungskraft.

Und selbst dann, wenn Du keine offiziell übertragene Führungsverantwortung trägst, selbst dann, wenn Du „nur“ Mitarbeiter_in in einer sozialen Organisation bist, hast Du die Freiheit, Impulse zu setzen, das System zu irritieren und Dinge anzuregen – und wenn sie noch so klein sind.

Freiheit setzt Mut voraus. Freiheit setzt den Mut voraus, Bestehendes anders zu sehen, neu zu denken und im Sinne des Zwecks der Organisation anders zu machen. Die Nutzung der eigenen Freiheit geht damit immer mit der Übernahme von Verantwortung einher.

Meine Erfahrung zeigt, dass die Übernahme von Verantwortung mehr als gewünscht wird. Die Angst also, von der oberen Führung „einen auf den Deckel zu bekommen“ ist unbegründet. Im Gegenteil wünschen sich die Verantwortlichen in allen mir bekannten Organisationen Mitarbeiter_innen, die Eigenverantwortung übernehmen.

Und selbst, wenn einmal etwas schiefgehen sollte: Was kann passieren? Denn ganz ehrlich: Du wirst nicht gekündigt, weil Du mutig warst und – begründet! – etwas Neues im Sinne Deiner Organisation, Deines Teams oder der Nutzer_innen ausprobiert hast. Falls doch:

Sei froh!

Denn Arbeit unter Bedingungen, die Autonomie und Selbstbestimmung nicht zulässt, macht keinen Sinn. Vor allem dann nicht, wenn Ziel jeglicher Sozialer Arbeit die Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung ist.

Quellen:

  • Eberhardt, D. (Hrsg., 2013): Unternehmenskultur aktiv gestalten. Praxisfälle aus Wirtschaft, öffentlichem Dienst, Kultur & Sport. Wiesbaden: Springer.
  • Grunwald, K. (2022): Management sozialwirtschaftlicher Organisationen. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer.
  • Kühl, S. (2018): Organisationskulturen beeinflussen (German Edition) (S.57). Springer Fachmedien Wiesbaden. Kindle-Version.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. Brüssel: Nelson Parker.

Retrospektiven durchführen, oder: Wie gemeinsames Lernen gelingt!

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Was eine Retrospektive ist und wie man Retrospektiven durchführen kann, erfährst Du im folgenden Beitrag. Für die Profis unter Euch ist das nichts Neues. In meiner Arbeit mit sozialen Organisationen stelle ich aber immer wieder fest, dass es gerade diese (mehr oder weniger) einfachen Dinge, Tools und Methoden sind, die einen Mehrwert für Menschen, Teams und die Organisation als Ganzes bringen. Und so kannst du vielleicht in deiner nächsten Teamsitzung eine Retrospektive durchführen, um auf die letzten Monate zurückzublicken, aus den Erfahrungen zu lernen und die Zukunft zu gestalten.

„Die Stärke Ihrer Gedanken und die Reflexion Ihrer Handlungen sind die Unterschrift, die Sie in dieser Welt hinterlassen.“

Woody Allan

Denn – so Woody Allan – nicht das Handeln an sich, sondern die Reflexion über das Handeln macht den Unterschied. Und regelmäßige Reflexion, davon bin ich überzeugt, ist mehr als notwendig, immer wieder. Konkret: Es ist wichtig, dass wir uns als Einzelne, als Teams und als Organisationen immer wieder die Zeit nehmen, das, was wir in den letzten Monaten getan haben, genau unter die Lupe zu nehmen und daraus zu lernen.

Retrospektiven sind das zentrale Element, um Veränderungen anzustoßen und den Wandel hin zu einer agileren und damit anpassungsfähigeren Organisation zu bewirken. Denn Retrospektiven sind „das entscheidende Werkzeug, um den Wandel einer Organisation hin zu agilen Werten voranzutreiben“ (Wagner, 2018, 119).

Was sind Retrospektiven?

Retrospektiven sind ein gemeinsamer, strukturierter Rückblick (retrospectare = zurückblicken) auf einen vorab bestimmten Zeitraum (der Zeitraum wird in der agilen Methode Scrum als „Sprint“ bezeichnet). Hinzu kommt jedoch das Moment des Lernens aus der Vergangenheit für die Zukunft. So dient eine Retrospektive nicht nur dazu, zurückzublicken, sondern ganz konkret Ideen für Verbesserungen aus der vergangenen Periode, dem letzten „Sprint“, zu generieren. Diese Ideen, Projekte, Experimente sind in der nächsten zu betrachtenden Periode anzugehen und dann in der nächsten Retrospektive wieder zu reflektieren.

Es geht also um kontinuierliche Entwicklung und gemeinsames Lernen.

Retrospektiven durchführen

Dazu fokussiert eine Retrospektive auf die beiden Aspekte „Inspect and Adapt“. Inspect heißt, in einem ersten Schritt das zu benennen, was war. „Adapt“ ist dann die Anpassung des Vorgehens und der Arbeitsweise an neue Erkenntnisse gemeint. Ich habe hier „Inspect and Adapt als lösungsorientierte Kurzzeitstrategie für die (Zeit nach der) Krise“ beschrieben. In dem Beitrag erfährst du mehr zu der Bedeutung der beiden Begriffe.

Retrospektiven durchführen – konkret

Retrsopektiven folgen immer fünf Phasen:

  1. Gesprächsklima schaffen
  2. Themen sammeln
  3. Erkenntnisse gewinnen
  4. Entscheidungen treffen
  5. Abschluss

Ich gehe nicht auf jeden Bereich in der Tiefe ein. Manches erklärt sich von selbst und unten finden sich noch ein paar Quellen, in denen Du weiter stöbern kannst. Ein paar Aspekte will ich hervorheben.

Gesprächsklima schaffen, oder: Die Menschen dort abholen, wo sie stehen…

Unter dem ersten Punkt – der Schaffung einer Gesprächsatmosphäre – ist nicht zu verstehen, dass Kaffee und alte Kekse bereitgestellt werden. Vielmehr geht es darum, dass die Teilnehmer:innen aus ihren je individuellen Kontexten kommen, aus Meetings, anderen Aufgaben und damit erstmal gar nicht voll anwesend sind. Sie müssen in die anstehende Arbeitsphase „eingecheckt“ werden.

Der „Check-in“ besteht entweder aus einer (kurzen) Beschreibung der aktuellen Befindlichkeit (Wie geht es dir warum? Was beschäftigt dich gerade?) oder aus einer (vielleicht auch überraschenden) Einstiegsfrage, zu der jede:r (kurz) etwas sagt. Hier habe ich näher beschrieben, wie ein guter Check-In gestaltet sein kann.

Der Einstieg sollte aber kurz und fokussiert sein. Es geht beim Check-in nicht darum, die Lebensgeschichte der vor drei Jahren verstorbenen Katze auszubreiten. Gerade im sozialen Bereich neigen wir jedoch dazu, gerne lang und ausführlich zu berichten. Hier helfen klar definierte Zeitfenster: Jede:r hat z.B. eine Minute Zeit, um zu antworten o.ä. Das Benennen und Einhalten von Zeitfenstern („Time-Boxing“) ist auch für die weiteren Phasen hilfreich, um nicht ausufernd zu diskutieren.

Themensammlung, oder: Daten generieren

Die Themensammlung dient dann dazu, die persönlichen Erfahrungen, Erkenntnisse und Anregungen in Bezug auf den Betrachtungszeitraum zu dokumentieren. Es geht darum, das Wissen aller Beteiligten über den betrachteten Zeitraum zusammenzutragen und ein gemeinsames Bild zu schaffen (vgl. Dräther, 2014).

Je nach Intention eignen sich unterschiedliche Methoden und Vorgehensweisen zur Themen- und Datenerhebung. Im Zentrum stehen dabei immer die jeweils verwendeten Fragestellungen, die direkten Einfluss auf das Ergebnis haben.

So fokussiert die 4 – L – Retro beispielsweise auf die Fragen „What I Loved, What I Learned, What I Lacked, What I Longed For“ (Was hat mir gefallen, was habe ich gelernt, was hat mir gefehlt, was hat mich geärgert).

Die „Starfish Retro“ fokussiert auf die folgenden fünf Fragen:

  • START: Mit was sollten wir beginnen?
  • KEEP: Was müssen wir beibehalten, weil es gut funktioniert?
  • MORE: Von was müssen wir mehr machen?
  • LESS: Von was müssen wir weniger machen?
  • STOP: Mit was müssen wir unbedingt aufhören?

Aber auch ganz andere methodische Herangehensweisen lassen sich für diesen Schritt verwenden. So ist bringt der „Geist aus der Flasche“ wie üblich drei Wünsche mit. Die Aufforderung lautet dann: Bitte formuliere

  • einen Wunsch für dich selbst
  • einen Wunsch für dein Team
  • einen Wunsch für alle Menschen auf der Welt

Und Schummeln (d.h. der Wunsch nach mehr Wünschen oder mehr Geistern) ist nicht erlaubt!

Die findest – das sei schon hier erwähnt – viele Methoden, Fragen, Herangehensweisen unter https://retromat.org/de/.

Ich persönlich bin nicht erst seit Corona ein Fan der digitalen Möglichkeiten, vor allem in Retrospektiven. Ja, in Präsenz kann man Themen am besten auf Klebezetteln sammeln, die man dann an Fenster, Türen, Pinnwände… klebt. Aber meine katastrophale Handschrift bevorzugt das Digitale. Auf einem digitalen Whiteboard (z.B. dem Conceptboard, mit dem ich gerne arbeite) fällt mein Linkshänderdilemma nicht so auf… 😉 Und ich habe alle Daten, Themen, wichtigen Inhalte direkt gespeichert und kann in der nächsten Sitzung daran weiterarbeiten.

Und warum nutzt Du nicht in der Teamsitzung, die in Präsenz stattfindet, trotzdem ein digitales Whiteboard, an dem alle gemeinsam via Beamer arbeiten? Das Problem ist nur, dass das WLAN zu Hause funktioniert, in der Einrichtung aber nicht immer 😉 Die Dysfunktionalität liegt übrigens nicht „im Digitalen“, wie so oft behauptet wird, sondern in der nicht zeitgemäß funktionierenden oder nicht vorhandenen Technik (bzw. der fehlenden digitalen Kompetenz im Umgang mit der vorhandenen Technik, wieder ein weites Thema…).…

Erkenntnisse gewinnen, oder: Was soll das bedeuten?

Um ehrlich zu sein, muss ich mich immer wieder zusammenreißen, diesen Schritt wirklich in der gebotenen Tiefe zu gehen. Denn oft neigen wir dazu, viel zu schnell nach Lösungen zu suchen oder schon mit der Umsetzung der Lösungen zu beginnen. Denn schon bei der Themensammlung, bei der Beantwortung der Fragen im vorhergehenden Schritt, tauchen in unseren Köpfen Lösungen zu dem jeweiligen Thema auf.

Hinzu kommt, dass wir – ohne uns wirklich den gewonnenen Erkenntnissen zu widmen – oft nur die Probleme sehen, nicht aber die gemeinsamen Erfolge. Aber auch und gerade diese sind wichtig: Es lohnt sich immer, mehr von dem zu tun, was funktioniert!

Das größere Problem liegt aber oft darin, dass wir sofort den ersten Lösungsideen folgen, die uns zu einem Thema in den Sinn kommen. Häufig kratzen die Pseudolösungen, die uns sofort einfallen, nur an der Oberfläche. Die Wurzel des Problems wird oft nicht berührt. So wuchert das Problem unter der Oberfläche weiter und taucht mit Sicherheit an anderer Stelle (und meist mit größerer Wucht) wieder auf. Vielleicht hat man Brombeeren im Garten…

Um konkreter zu werden: Der Rückblick auf die Kommunikation im Team während der Pandemie zeigt, dass es schwierig war, alle Teammitglieder regelmäßig zu einem festen Zeitpunkt zusammen in einen Call zu bekommen. Die unmittelbare Lösung könnte lauten: Falscher Zeitpunkt! Aber die Suche nach der Ursache des Problems könnte folgendermaßen aussehen:

  • Warum war es kaum möglich, alle Teammitglieder regelmäßig zu einem festen Zeitpunkt gemeinsam in einen Call zu bekommen?
    • Weil die Mitarbeiter unterschiedliche Arbeitszeiten haben.
  • Warum haben die Mitarbeiter unterschiedliche Arbeitszeiten?
    • Weil im Team Mitarbeiter arbeiten, die im Bereich Schulbegleitung eingesetzt werden und Mitarbeiter arbeiten, die im Bereich Offene Jugendarbeit eingesetzt werden.
  • Warum werden die Mitarbeiter in zwei Bereichen eingesetzt?
    • Weil es historisch gewachsen ist, einige Mitarbeiter einige Stellenprozente von hier nach da mitgenommen haben und eine echte Trennung der Bereiche nicht erlogt ist.

An dieser Stelle könnte man sicherlich mit dem nächsten und übernächsten Warum noch weiter in die Tiefe gehen. Es wird aber deutlich, dass die Herausforderungen des Teams nicht im mangelnden Zeitmanagement liegen, sondern in der Frage, ob die Teamstruktur überhaupt passt. Statt also krampfhaft nach gemeinsamen Zeiten zu suchen, macht es hier mehr Sinn, über die Zusammensetzung bzw. den Zweck des Teams nachzudenken. Oder kurz: „Das Offensichtliche ist nicht immer der Kern des Problems“ (ebd.). Die mehrmalige Frage nach dem Warum findest Du als wirksames Werkzeug bspw. hier beschrieben.

Entscheidungen treffen, oder: Lösungen vor Probleme

Noch einmal: Nimm dir Zeit für den vorherigen Schritt, bevor du zu der Entscheidung kommst, wie es jetzt weitergehen soll. Für mich als sehr ungeduldigen Menschen ist das wirklich eine Herausforderung, aber es lohnt sich!

Aber jetzt ist wirklich genug analysiert: Was ist die Lösung? Was ist der richtige Weg?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es wichtig zu überlegen, ob es eine klare Lösung für das analysierte Problem gibt, oder ob das Problem zu komplex ist, um sagen zu können, dass die Lösung XY auf jeden Fall die richtige ist, oder welche Auswirkungen die jeweilige Lösung haben wird.

Im zweiten Fall ist es hilfreich, Annahmen zu treffen und Hypothesen über mögliches Verhalten zu formulieren“. Auf dieser Grundlage können Experimente für die kommende Periode entwickelt werden, die in der nächsten Retrospektive ausgewertet werden (vgl. ebd.). Es geht darum, in der nächsten Phase, im nächsten „Sprint“ etwas auszuprobieren und dann wieder zu schauen, ob es zum gewünschten Ergebnis geführt hat.

Das obige Beispiel aufgreifend, stellt sich zunächst die Frage, welche Erwartung durch gemeinsame Teambesprechungen erfüllt werden soll. Denn mal ehrlich: Braucht es wirklich immer gemeinsame Teamsitzungen? Ja, wenn sie einem Ziel dienen und gut organisiert sind. Nein, wenn sie nur der Informationsvermittlung (oder der Profilierung der Führungskraft) dienen. Wenn deine Teamsitzungen besser E-Mails wären, dann schreibe lieber E-Mails.

Es ist klar, dass die Lösung nicht auf der Hand liegt. Hier gilt es, eine Hypothese zu entwickeln und in der nächsten Retrospektive zu überprüfen. Denkbar wäre zum Beispiel: Wenn wir die Teams so umgestalten, dass jede Mitarbeiterin nur für einen Arbeitsbereich zuständig ist, verbessert sich die Kommunikation in den Teams. Das lässt sich – wenn auch nicht anhand des ZDF, so doch anhand der Schilderungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – in der nächsten Retrospektive überprüfen und wiederum weiterentwickeln. Ach ja: Zu jeder Maßnahme gehört ein Verantwortlicher und möglichst ein Termin für die Umsetzung. Das wird oft vergessen.

Übrigens: Spätestens in der zweiten Retrospektive sollte Zeit eingeplant werden, um die Umsetzung der in der letzten Retrospektive erarbeiteten Lösungen zu betrachten. Nur wenn die umgesetzten Maßnahmen betrachtet werden, kann eine Verbesserung erfolgen. Erst dann kann das oben angesprochene „inspect and adapt“ und damit gemeinsames Lernen wirklich lebendig werden.

Als Tipp zum Weiterlesen für die Frage, wie Du am Besten welche Entscheidung triffst, empfehle ich Dir das „Handbuch der Entscheidungen“ (…lohnt sich nicht nur im beruflichen Kontext).

Abschluss, oder: Lernen lernen

Zum Schluss noch ein paar Worte zum Abschluss, sozusagen eine doppelte Abschlussschleife. Und diese Schleife, der Abschluss der Retrospektive also, bezieht sich auf die Retrospektive selbst. Neben dem Festhalten der erarbeiteten Ergebnisse tragen z.B. folgende Fragen zur Entwicklung der Retrospektive selbst bei:

  • Was war gut?
  • Was muss bei der nächsten Retrospektive besser sein?
  • Gibt es noch offene Aspekte, die nicht angesprochen wurden?

Ziel ist, die Retrospektive immer weiter zu verbessern, um so effizient und effektiv wie möglich zu arbeiten.

Retrospektiven durchführen, oder: Warum Kontinuität entscheidet!

Ein Kern des agilen Arbeitens ist das interaktive Vorgehen in kurzen Schleifen, die in der Scrum-Methode als Sprints bezeichnet werden und zwischen einer und vier Wochen dauern. In unseren meist weniger dynamischen Arbeitsfeldern können auch Zeiträume von ein bis drei Monaten ausreichen, um noch gut und sicher navigieren und Anpassungen vornehmen zu können. In der Strategieumsetzung umfassen die Sprintzeiträume mindestens ein Quartal, vielleicht sogar ein halbes Jahr.

Aber egal wie lang die Zeiträume sind, die betrachtet werden: Wichtig ist, dass die Retrospektiven regelmäßig durchgeführt werden. Zwar lernt man auch aus der ersten Retrospektive, aber ein wirklicher Lernprozess entsteht erst durch die kontinuierliche Wiederholung.

Erst wenn Retrospektiven als Normalität empfunden und kontinuierliche Reflexion in die Unternehmenskultur übergeht, kommen wir der lernenden, anpassungsfähigen und damit agilen Organisation wirklich näher.

In diesem Sinne:

Happy Learning!

P.S.: Führst Du in deinem Team aktiv und regelmäßig entsprechende Retrospektiven durch? Schreib deine Erfahrungen doch gerne in die Kommentare…

Quellen:

  • Dräther, R. (2014): Retrospektiven – kurz & gut. O’Reilly Media. Kindle-Version.
  • Wagner, L. (2018): Retrospektiven – wir entwickeln uns weiter. In: Agile Verwaltung – Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann. Wiesbaden: Springer.