Es ist eine echte Floskel: In einer sich ständig verändernden und komplexen Welt gewinnt lebenslanges Lernen eine immer größere Bedeutung! Lernen ist eine der bedeutsamsten Future Skills. Dies gilt nicht nur „auch“, sondern insbesondere für Organisationen der Sozialen Arbeit: Die Mitarbeiter:innen sind kontinuierlich gefordert, sich mit komplexen sozialen Herausforderungen und kontinuierlich Neuem auseinandersetzen. Für das „einzige Kapital“ sozialer Organisationen – die Mitarbeiter:innen – ist es entsprechend notwendig, Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu nutzen. Hinzu kommt, dass traditionelle Lernmethoden zunehmend von modernen, selbstgesteuerten Lernmöglichkeiten abgelöst werden, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen besser entsprechen. Und außerdem geht es nicht nur um die Mitarbeiter:innen: Auch die Organisationen haben Weiterbildungsbedarfe, ausgelöst durch bspw. rechtliche oder organisatorische Veränderungen, die über kleine, schnelle, bedarfsgerechte Lernmöglichkeiten bedient werden können. Aber wie sieht zeitgemäßes und bedarfsgerechtes Lernen, wie sieht „New Learning“ in sozialen Organisationen aus? In diesem Blogbeitrag erfährst Du, was Microlearning ist und warum Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit Vorteile bringt. Außerdem findest Du Ideen für Inhalte, die „Microlearning-kompatibel“ sind.
Was ist Microlearning?
Microlearning, auch Mikrolernen genannt, bezeichnet das Lernen in kleinen Einheiten und kurzen Schritten. Dabei werden kompakte Lerneinheiten bzw. -module erstellt, die auf das Wesentliche reduziert sind und ein einzelnes, klar abgegrenztes Lernziel oder für die Mitarbeiter:innen relevantes Thema behandeln. Diese Lernmodule sind wirklich kurz – so kurz wie für den Inhalt möglich – und konzentrieren sich auf die Vermittlung nur einer sehr spezifischen Kompetenz bzw. auf die Beantwortung nur einer sehr spezifischen Frage.
Charakteristika von Microlearning:
Im Folgenden findest Du einige allgemeine Charakteristika von „Micro-Learning-Angeboten“:
Kompakte Lerneinheiten: Microlearning bricht das Lernmaterial in kleine, leicht verdauliche Bestandteile herunter. Anstatt lange Lernsitzungen zu absolvieren, nehmen Lernende in kurzer Zeit komprimierte Wissensportionen auf.
Fokussiertes Lernziel: Jede Microlearning-Einheit verfolgt ein spezifisches Lernziel, das klar und präzise definiert ist. Dadurch wird das Lernen gezielt und effizient gestaltet.
Zeit- und ortsunabhängig: Microlearning ermöglicht es den Lernenden, möglichst flexibel zu lernen, wann und wo es ihnen am besten passt. Die Lerneinheiten können über verschiedene Medien wie PC, Smartphone, Tablet oder auch – sofern inhaltlich sinnvoll – in Präsenz vor Ort abgerufen bzw. absolviert werden.
Vielfältige Lernformate: Microlearning nutzt verschiedene Formate wie Texte, Videos, interaktive Elemente oder Quizfragen, um das Lernerlebnis abwechslungsreich und ansprechend zu gestalten. Microlearning vor Ort sind entsprechend kurze Einheiten, die zu einem bestimmten Thema in der Organisation angeboten werden.
Gezielte Wiederholungen: Durch wiederkehrende Microlearning-Einheiten und Quizfragen wird das Wiederholen von Inhalten gefördert, um das langfristige Behalten zu unterstützen und die benötigten Kompetenzen dann abzurufen, wenn sie wirklich gebraucht werden.
Vorteile von Microlearning:
Bessere Aufmerksamkeit: Durch die kurzen und prägnanten Lerneinheiten können Lernende ihre Aufmerksamkeit besser auf das Thema konzentrieren und sind weniger anfällig für Ablenkungen.
Effizientes Lernen: Microlearning ermöglicht schnelles und gezieltes Lernen. Es spart Zeit, da Mitarbeiter:innen nicht lange aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden müssen.
Flexibilität: Lernende können selbst entscheiden, wann und wo sie lernen möchten. Dies fördert die Selbstorganisation und Eigenverantwortung beim Lernen.
Selbstwirksamkeit: Kurze Lerneinheiten sind schneller „durch Erfolg gekrönt“, als lange Workshopeinheiten zu einem bestimmten Thema. Daraus resultieren schnellere Lernerfolge, die wieder „Spaß am Lernen“ vermitteln.
Entwicklung einer Lernkultur: Die kontinuierliche Nutzung sinnvoller, die Selbstwirksamkeit steigernder Lernmöglichkeiten kann zu einer „Lernkultur“ in der Gesamtorganisation führen, denn: Die Verhältnisse bestimmen das Verhalten.
Besseres Wissensmanagement: Das kompakte Format von Microlearning-Einheiten erleichtert das „Organisieren und Verwalten“ des erlernten Wissens.
Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:
Der Fachkräftemangel stellt die aktuell größte Herausforderung für Soziale Organisationen dar. Der Fachkräftemangel in Verbindung mit sich dynamisch verändernden Themenstellungen – Digitalisierung allgemein, KI, IT-Sicherheit, sozial-ökologische Nachhaltigkeit, Demokratiekrise… – vergrößern diese Herausforderung jedoch massiv: Der Wandel der Organisationen muss gelingen bei sich gleichzeitig verringernden Möglichkeiten nachhaltigen Lernens durch weniger und häufig wechselndes Personal.
Stefan Gesmann bringt es auf den Punkt: „Angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Feld der Sozialen Arbeit werden sich Leitungskräfte zukünftig noch weniger erlauben können, die betriebliche Weiterbildung ungesteuert nebenherlaufen zu lassen“ (Gesmann, 2022, 170).
Entsprechend kann Microlearning auch und gerade in sozialen Organisationen echte Vorteile bieten:
Zeit- und kosteneffizient: Traditionelle Lernformen können zeitaufwendig und damit kostenintensiv sein. Mit Microlearning können Mitarbeiter:innen neue Inhalte in kurzen, flexiblen Einheiten erlernen, ohne ihren Arbeitsablauf (zu) stark zu beeinträchtigen. Dies spart Zeit und ermöglicht den Mitarbeiter:innen, „parallel zum Job“ zu lernen.
Flexibilität: Soziale Arbeit braucht Flexibilität. Mitarbeiter:innen müssen oft schnell auf neue Situationen reagieren. Microlearning bietet die Möglichkeit, benötigtes Wissen „just-in-time“ abzurufen, sei es in der Arbeitsstelle, im Home Office oder unterwegs.
Individuelles Lernen: Jede:r Mitarbeiter:in hat unterschiedliche Wissensstände und (Lern-)Bedürfnisse. Mit Microlearning können (relativ) einfach individuelle Lernpfade gestaltet werden, die den jeweiligen Anforderungen gerecht werden und eine maßgeschneiderte Weiterbildung ermöglichen.
Nachhaltiges Lernen: Kurze und prägnante Lerneinheiten fördern das bessere Behalten von Informationen. Die Möglichkeit, Inhalte in kleinen Häppchen zu wiederholen, stärkt das Langzeitgedächtnis und sorgt für nachhaltiges Lernen.
Chancen von Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit:
Ich habe mir gerade eine Cajon gekauft (so eine Trommelkiste). Ich will damit meinen Sohnemann beim Gitarre spielen begleiten. Aber ich kann es nicht. Was also tun? YouTube-Videos schauen im Sinne meines eigenen Lernens. Dadurch erhoffe ich mir die Chance, ein Instrument zu lernen. Aber welche Chancen bietet Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit?
Praxisnähe: Microlearning-Module können sich auf praktische Situationen im Arbeitsalltag der Sozialen Arbeit konzentrieren. Mitarbeiter:innen können spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die ihnen in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar dann, wenn Fragen und Herausforderungen auftreten, zugutekommen.
Weiterentwicklung der Mitarbeiter:innen: Durch den einfachen Zugang zu relevantem Wissen und die Möglichkeit, schnell und einfach aktuell notwendige Kompetenzen im Sinne von Future Skills zu erwerben, können Mitarbeiter:innen ihre eigenen Kompetenzen kontinuierlich verbessern und sich den Anforderungen einer sich wandelnden Organisation und übergreifend einer sich wandelnden Gesellschaft anpassen.
Multimodalität: Microlearning vereint idealerweise verschiedene Medien wie Texte, Videos, Podcasts oder interaktive Lernmaterialien. Daraus resultiert ein Lernerlebnis, das auf die individuellen Lernbedürfnisse der einzelnen Mitarbeiter:innen abgestimmt und damit vielfältig und ansprechend ist. Nur so gelingt der Kulturwandel hin zu einer echten Lernkultur.
Inhalte für Microlearning in Organisationen der Sozialen Arbeit
OK, die Chancen und Vorteile sind klar und (so meine Meinung, natürlich 😉 ziemlich einleuchtend. Aber was, also welche Inhalte können im Format des Microlearnings vermittelt werden? Um die Spannung nicht zu groß werden zu lassen: Ehrlich gesagt sind nahezu alle Arten von Inhalten für Microlearning geeignet. Vor allem aber lassen sich sich schnell und ressourcenschonend aktuelle Inhalte aufbereiten und den Mitarbeiter:innen zur Verfügung stellen. Wichtig ist aber, dass die Inhalte klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden. Die Inhaltsvielfalt ermöglicht es, Microlearning als vielseitiges und effektives Lernformat in verschiedenen Bereichen der Aus- und Weiterbildung einzusetzen. Aber etwas konkreter:
Wissenshäppchen: Komplexe Themen können in kleine, leicht verständliche Wissenshäppchen aufgeteilt werden. So können einzelne Konzepte oder Fakten in kurzer Zeit vermittelt werden. Zu denken ist hier bspw. an rechtliche Änderungen (BTHG, KJSG, Grundlagen aus den SGB usw.).
Fertigkeiten und Soft Skills: Praktische Fertigkeiten und Soft Skills, wie z.B. Kommunikationstechniken, Zeitmanagement oder Präsentationsfähigkeiten, lassen sich gut in kurzen Lerneinheiten trainieren. Zu denken ist – vor allem auf Ebene der Führungskräfte – auch an Skills zur Verhandlungsführung, zur Führung von Hilfeplangesprächen.
Informationen zu definierten Prozessen: Die dominierende Informalität sozialer Organisationen (What??? Hier lesen… 😉 in Verbindung mit dem Fachkräftemangel erfordert zunehmend die Definition von klaren Prozessen über Anforderungen und Arbeitsabläufe. Neue oder veränderte Prozesse können sehr gut über Microlearning-Einheiten verdeutlicht werden.
Methoden rund um Führung und Teamentwicklung: Auch wenn Methoden nicht alles sind, helfen kleine Ideen und Anregungen, bspw. zu Methoden der Teamentwicklung, im Alltag schon weiter. Und selbst im Führungsalltag auftretende Fragen lassen sich (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln.
Serviceinformationen: Informationen über neue Dienstleistungen können in kurzen Lerneinheiten präsentiert werden, um (neue) Mitarbeiter:innen (oder auch die Nutzer:innen) schnell auf den neuesten Stand zu bringen. Das ist bspw. rund um das „Onboarding“ bzw. die Einarbeitung von neuen Mitarbeiter:innen hoch interessant und ressourcenschonend.
Sicherheits- und Compliance-Schulungen: Richtlinien, Verfahren und Sicherheitsbestimmungen können in kurzen, wiederkehrenden Einheiten vermittelt werden, um das Bewusstsein der Mitarbeiter:innen zu schärfen. Neben Arbeitsschutz oder Datenschutz fallen mir hier insbesondere Schulungen rund um die IT-Sicherheit ein.
Sprach- und Vokabeltraining: Fremdsprachen oder Fachterminologie lassen sich ebenfalls gut in kurzen Lernmodulen üben, um die Lernenden kontinuierlich und zum Beginn einer neuen Tätigkeit mit neuen Vokabeln zu versorgen.
Mini-Simulationen: Kleine Simulationen oder Fallstudien können verwendet werden, um reale Situationen nachzubilden und die Entscheidungsfindung der Lernenden zu fördern.
Ohne hier zu tief auf die (umfangreichen) Gestaltungsmöglichkeiten einzugehen, macht es Sinn, in den Lerneinheiten Reflexionsfragen oder Feedback-Möglichkeiten am Ende einer Lerneinheit einzubinden, um die Möglichkeit zu schaffen, das Gelernte zu überdenken und den Lernfortschritt zu bewerten.
Noch einmal: Nahezu alle Arten von Inhalten eignen sich für Microlearning – auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. Wichtig ist nur, dass sie klar strukturiert und in kurze, leicht verdauliche Einheiten aufgeteilt werden – die Inhalte, nicht die Organisationen. Wobei…?
Aber – das erklärt sich wohl von selbst – Microlearning ist nicht die Lösung für alle Lernnotwendigkeiten. Die Vermittlung von breitem, grundlegenden Wissen zu einem Thema fällt darunter, da die kleinen Lerneinheiten per Definition darauf fokussieren, jeweils genau ein Problem zu lösen bzw. jeweils eine Frage zu beantworten. Es reicht auch nicht, einfach jeden Kurs oder jede Weiterbildung in Mikro-Lerneinheiten umzuwandeln, indem man den Kurs einfach in kleinere Stücke zerlegt. Die Unterteilung größerer Kurse und Lerneinheiten macht vielleicht Sinn, um Informationen in kleinen „Learning Nuggets“ zu organisieren. Der aufgeteilte Inhalt des Kurses muss aber immer mit dem Rest des Lerninhalts kombiniert werden, um einen sinnvolles Lernen zu ermöglichen. Die Strategie hinter Microlearning besteht jedoch daraus, für sich unabhängige Lerneinheiten zu gestalten, die auf einen einzigen Zweck ausgerichtet sind.
Fazit:
Für das Phrasenschwein: In Organisationen der Sozialen Arbeit ist lebenslanges Lernen essenziell, um den vielfältigen sozialen Herausforderungen gerecht zu werden.
Aber Spaß beiseite: Microlearning kann hier eine effektive und zeitgemäße Lernmethode darstellen, die den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen und den Weiterbildungsbedarfen der Organisation entgegenkommt!
Hinzu kommt, dass uns neben aller Effektivität heute und zukünftig nichts anderes übrig bleibt: Wir müssen die Effizienz in den Blick nehmen, auch wenn dieser Begriff nicht so wahnsinnig beliebt ist in der Sozialen Arbeit. Wir benötigen effiziente Möglichkeiten, Lernen und damit „Personalentwicklung“ zu ermöglichen.
Abschließend nur noch ein kurzer Blick auf die schon erwähnte Kulturentwicklung: Diese funktioniert – sehr kompakt ausgedrückt – nicht durch Appelle an eine andere Haltung („Wir sind ab morgen innovativ und kreativ, damit das klar ist!“). Kulturentwicklung funktioniert über die kontinuierliche Anpassung der Verhältnisse, der Strukturen und Abläufe in der Organisation oder dem Team.
Gerade die Gestaltung einer positiven Lernkultur kann mithilfe der Einführung von Microlearning wunderbar gefördert werden. Ach ja, oben hatte ich geschrieben, dass sich selbst im Führungsalltag auftretende Fragen (sofern passend) in kleinen Einheiten vermitteln lassen. Dies finde ich gerade für neue und angehende Führungskräfte spannend, die einen Rollenwechsel vom Teammitglied hin zur Teamleitung vornehmen. Denn Rollenwechsel geht mit der Entwicklung der eigenen Identität einher. Und die Entwicklung der eigenen Identität funktioniert nicht durch ein zweitägiges Führungskräfteseminar, sondern durch eine kontinuierliche Beschäftigung mit den im Alltag auftretenden Herausforderung.
Gibt es in Deiner Organisation entsprechende Möglichkeiten, in kleinen Einheiten selbstbestimmt zu lernen? Schreib dazu doch nen Kommentar oder schick mir gerne eine Mail!
Ein sanfter Wind streicht über eine weitläufige Wiese, als ich mich dort niederlasse. Es ist 08:45 Uhr und ich genieße den lauwarmen Wind. Es ist noch etwas Zeit vor dem nächsten Termin. Diesen kostbaren Augenblick nutze ich, um nachzudenken – über den anstehenden Termin, der sich der Entwicklung einer Weiterbildung zur Transformation in sozialen Organisationen widmet, vor allem aber über Transformation im Allgemeinen. Transformation – ein großer Begriff mit einer tiefgreifenden Bedeutung:
Transformation lässt sich definieren als wesentliche Veränderung des aktuellen Ist-Zustands hin zu einem angestrebten Ziel.
Einige Tage nach meinen ersten Skizzen für diesen Text wird mir klar, dass wesentliche Veränderungen manchmal viel schneller und dringlicher erforderlich sind, als man es sich noch vor einem Tag, einer Stunde, einer Minute vorstellen konnte. Das gilt in der Gesellschaft (bspw. Sonneberg), das gilt in Organisationen und das gilt ganz individuell.
Auf dem Weg zum genannten Termin habe ich den Podcast „Zukunft der Nachhaltigkeit“ der Bertelsmann-Stiftung gehört. Insbesondere die Episoden 13 und 14 haben meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, da sie sich mit den „Grenzen des Wachstums“ und der sozial-ökologischen Transformation befassen.
Dabei ist mir ein Satz besonders im Gedächtnis geblieben:
„Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir nicht mehr handeln können!“
Dieser eindringliche Satz stammt von Prof. Erich Zahn, einem emeritierten Professor und Mitautor der bedeutenden Publikation „Die Grenzen des Wachstums“, die 1972 vom Club of Rome veröffentlicht wurde.
Der Satz erinnert mich auch an die Situation, in der sich soziale Organisationen bald wiederfinden könnten – wenn sie nicht handeln.
Doch wie sollen sie handeln? Wie gelingt Transformation. Und wer trägt die Verantwortung dafür?
Das „Mind-Behavior-Gap“ überwinden
Im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit, insbesondere im Zusammenhang mit der Klimakatastrophe, ist oft klar, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Viel erschreckender ist jedoch die Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tatsächlich umsetzen – das sogenannte „Mind-Behavior-Gap“.
Im Hinblick auf die sozial-ökologische Transformation scheinen alle Erkenntnisse bereits auf dem Tisch zu liegen. Wir müssen nun „nur noch“ in die Umsetzung kommen, sei es auf individueller, organisationaler, lokaler, regionaler, nationaler oder globaler Ebene.
Meine Überlegungen zur organisationalen Transformation werfen jedoch einige Fragen auf:
Die Change Formel als Framework gelingender Transformation
Was muss getan werden, um neben der ökologischen Nachhaltigkeit auch die soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Organisationen in den Fokus zu rücken? Wer trägt die Verantwortung für die Umsetzung? Wie gelangen wir vom aktuellen Ist-Zustand zum angestrebten Ziel? Und vor allem:
Wozu eigentlich?
Es ist eine komplexe Thematik.
Das Framework der „change formel“ bietet eine wertvolle Orientierung und kann helfen, Transformationskompetenz zu entwickeln.
Es besteht aus fünf Schritten, die bei nahezu allen Transformationsvorhaben – sei es auf individueller, organisationaler oder gesellschaftlicher Ebene – gute Dienste leisten können.
Schritt 1: Transformation braucht echte Probleme
Der erste Schritt besteht darin, die wirklichen Probleme zu identifizieren.
Oftmals werden singuläre Themen isoliert betrachtet, und es scheint klar zu sein, was verändert werden muss. Es werden Forderungen wie „Wir müssen digitaler, schneller, agiler, selbstorganisierter, wirtschaftlicher, effizienter, effektiver, nachhaltiger, wirksamer, attraktiver, whatever… werden“ formuliert.
Doch die reine Forderung der Veränderung, ohne dass diese ein echtes Problem löst, führt lediglich dazu, dass die Begriffe und Bemühungen in diesem Bereich verbrannt sind.
Daher ist es wichtig, die Komplexität zu reduzieren und sich für gelingende Transformation auf echte Probleme zu konzentrieren, mit denen die der Mensch, das Team, die Organisation oder die Gesellschaft konfrontiert ist.
Schritt 2: Transformation braucht Visionen
Nachdem die echten Probleme identifiziert wurden, geht es im zweiten Schritt darum, eine attraktive Vision zu entwickeln:
Wie soll der angestrebte Zielzustand aussehen?
Wie fühlt sich die Vision an?
Wie klingt sie?
Wie riecht sie?
…
Die Spannung zwischen dem realen Problem und der attraktiven Vision erzeugt Veränderungsenergie und motiviert zur Transformation.
Schritt 3: Transformation braucht Ressourcen
Problem und Vision allein reichen nicht aus.
Im dritten Schritt gilt es, Ressourcen zu identifizieren, die für die Transformation genutzt werden können.
Ressourcen sind nicht nur finanzieller oder zeitlicher Natur, sondern auch „Erfolgsgeschichten“ und Netzwerke von Personen – in der Organisation oder dem Sozialraum – die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und mitzugestalten.
In Workshops zur Identifizierung der vorhandenen Ressourcen ist es oft überraschend zu sehen, wie die Mitarbeiter:innen den Blick von den Problemen hin zu den Möglichkeiten der Organisation und damit den Möglichkeiten gelingender Transformation lenken. Es kommen verborgene Schätze ans Licht.
Schritt 4: Transformation braucht next steps
Nun folgen konkrete Schritte, die im vierten Schritt formuliert werden.
Ohne konkrete nächste Schritte, die terminiert werden und für die jemand die Verantwortung übernimmt, wird keine Veränderung stattfinden, weder im Kleinen noch im Großen.
Hilfreich ist es, die nächsten Schritte als Hypothesen zu formulieren:
„Wenn wir XY tun würden, erwarten wir, dass Z passiert!“
Diese Hypothesen können dann in Form von Experimenten umgesetzt, erprobt, verändert, entwickelt und etabliert werden.
Falls ein Experiment nicht erfolgreich ist, kann es auch verworfen werden. Die Entscheidung darüber, was mit einem Experiment im Sinne des nächsten Schritts geschehen soll, erfolgt in Schritt 5.
Schritt 5: Transformation braucht Reflexion
Der fünfte und letzte Schritt besteht darin, regelmäßig zu reflektieren, ob das Experiment und damit die angestrebte Veränderung auf dem richtigen Weg ist.
Es ist wichtig, regelmäßige Retrospektiven durchzuführen, um zu überprüfen, ob die Transformation den gewünschten Effekt erzielt und ob Anpassungen oder weitere Schritte erforderlich sind. Dabei geht es um das Lernen aus dem, was zur Veränderung getan wurde.
Hier findest Du einen Beitrag, in dem ich beschreibe, wie man Retrospektiven durchführen kann und damit gemeinsames Lernen gelingt.
How to transform? Eigentlich einfach…
Damit haben wir 5 Schritte für gelingende Transformation:
Probleme,
Vision,
Ressourcen,
next steps und
Retrospektiven.
Diese „change formel“, angelehnt an die Ausführungen von Ruth Seliger und erweitert durch meine eigene Perspektive, erweist sich bei nahezu allen Transformationsvorhaben auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene als äußerst hilfreich.
Relevant dabei ist jedoch, zu beachten, dass wir uns – ich hatte das oben erwähnt – in komplexen und dynamischen Systemen bewegen. Auch wenn 5 Schritte gelingender Transformation verlockend einfach und irgendwie nach Rezept klingen, sind die Dynamiken psychischer ebenso wie sozialer Systeme nicht zu vernachlässigen. Widerstände, Beharrungstendenzen, die nächste Krise, der Tag am See verhageln immer wieder die „eigentlich so einfache“ Vorgehensweise.
Entsprechend relevant ist Schritt 5 – die kontinuierliche Reflexion und Anpassung im aller Wahrscheinlichkeit nicht endenden Transformationsprozess.
Zusammenfassend aber ist die Change Formel ein hilfreiches Framework, um Orientierung in der Veränderung zu haben. Sie ermöglicht eine strukturierte(re) Herangehensweise.
Und sie macht deutlich, dass allein ein fehlender Schritt dazu führt, die Veränderungsenergie erlöschen zu lassen.
Falls Du nähere Ausführungen zur Ansatzpunkte für gelingende Transformation wünschst, findest Du hier meinen Beitrag zur IdeeQuadrat New Work Canvas. Darin gibt es auch eine detaillierte Erklärung ebenso wie Beispiele zur Anwendung der „change formel“.
Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Beitragsserie rund um New Social Work. Und zum Auftakt ist zunächst (m)eine New Social Work Definition darzulegen. Damit umreiße ich, was unter New Social Work zu verstehen ist (Part I). Daran anschließend will ich in Part II zurück, in die Historie, und in Teil III ins Jetzt, den Status Quo rund um New Social Work schauen. Dann, im (vorerst) abschließend in Teil IV, versuche ich, einen Blick in die Zukunft rund um „New Social Work“ zu wagen.
Die Verbindung aus neuen Formen der Organisationsentwicklung basierend auf Prinzipien von Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der Suche nach dem „evolutionären Sinn“, mit den utopischen Gedanken einer Abkehr vom Lohnarbeitssystem haben mich begeistert, gefesselt und das finden lassen, was ich „wirklich, wirklich tun“ will. Das war der Beginn der Geschichte von IdeeQuadrat und der Beginn meiner vertieften Auseinandersetzung mit New Social Work.
Dabei leiten mich Fragen rund um zeitgemäße und bedarfsgerechte Organisationsentwicklung kombiniert mit dem Fokus auf soziale Organisationen, meiner beruflichen Herkunft, ohne gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen aus dem Blick zu verlieren. Ich habe damit von Beginn an Organisationen, die uns alle von der Wiege bis zur Bahre begleiten – Kitas, Kindergärten, Jugendhilfeeinrichtungen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Suchthilfe, Wohlfahrtsverbände, kleine Träger, Komplexträger mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen und übergreifend „das Sozialwesen“ als gesellschaftsprägendes System fokussiert.
Und jetzt, nach fast zehn Jahren, ist einiges passiert. Einiges ist auch nicht passiert. Zeit für eine Zwischenbilanz. Und die beginnt mit Part 1 – der…
New Social Work Definition
New Social Work ist Organisationsentwicklung. New Social Work aus Blickrichtung der Organisationsentwicklung ist die Suche nach und das Gestalten von funktionalen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten Organisationsdesigns für soziale Organisationen, die es ermöglichen, wirksame Soziale Arbeit im Sinne der Nutzer:innen wie der Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen leisten zu können. Wortwörtlich: soziale Arbeit.
New Social Work ist gleichzeitig Arbeit an der Gesellschaft. New Social Work nimmt damit gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick. Sie ist politisch – wie Soziale Arbeit schon immer politisch war. Und sie ist zukunftsorientiert, denn New Social Work nimmt „gesellschaftliche Megatrends“, die gesellschaftlichen Veränderungen in den Blick, von der digitalen Transformation, über die Individualisierung, den demographischen Wandel bis hin zu Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit uvm.
Vier Ebenen einer New Social Work
Der Definition liegen vier Ebenen zugrunde, die hier skizziert und jeweils in den folgenden Beiträgen dieser Serie in den Blick genommen werden, um eine angemessene Betrachtungstiefe zu ermöglichen:
1. Ebene: Das Individuum
Der „Real New Work“ im Sinne Bergmanns ging es über die Schaffung einer Alternative zum klassisch-kapitalistischen Lohnarbeitssystem darum, Menschen zu befähigen, das zu finden, was sie „wirklich, wirklich tun“ wollen. Darüber rückt automatisch „der Mensch“ als Individuum nach auf die Bühne.
Es geht um die Vorstellungen, die wir in unserer Gesellschaft „vom Wesen des Menschen“ haben. Eas geht um unsere Menschenbilder: Nur dann, wenn die Vorstellung existiert, dass Menschen sich entwickeln, sich verändern können und wollen und damit nach Selbstbestimmung und Autonomie, nach Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, nach Selbstverwirklichung und Sinn streben, machen Vorstellungen rund um New Work und die Suche nach dem, was Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“ Sinn.
Nur aus dem gleichen Menschenbild heraus ist Soziale Arbeit als Profession und Disziplin denkbar. Nur dann, wenn wir als Professionelle davon ausgehen, dass wir einen Beitrag zur Selbstbestimmung und Autonomie der Menschen – egal in welchem Arbeitsfeld – leisten können, macht Soziale Arbeit Sinn.
Fraglich ist aber, wie es bestmöglich gelingen kann, zum einen Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft und unseren Organisationen zu schaffen, die dem Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie zuträglich sind? Zum anderen ist fraglich, wie das „auf die Welt bringen des in den Menschen liegenden Potenzials“ bestmöglich gelingen kann. Hier rückt u.a. das Bildungssystem in den Fokus. Und – aus einer bestimmten Richtung – sind auch soziale Organisationen immer Organisationen der Bildung.
2. Ebene: Die Organisationen
Wie definiert umfasst New Social Work als einen Fokusbereich die Organisationsentwicklung und damit einer Veränderung der Arbeitswelt. Denn es wird im Wesentlichen durch die Veränderung der Arbeitswelt möglich, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern, hin zu mehr Nachhaltigkeit, Zusammen-Leben, Sinn, Zeit für das wirklich, wirklich Wichtige für jeden einzelnen Menschen.
Das ist übrigens, wenn man die Geschichte betrachtet, schon immer so gewesen: Durch die Entwicklung der Landwirtschaft sind die Menschen sesshaft geworden, durch die Entwicklung der Webstühle und der Dampfmaschine wurde das Industriezeitalter eingeläutet und durch die Informationstechnologie bewegen wir uns immer in einer „Wissensgesellschaft“. Und all diese Veränderungen der Arbeitswelt haben zu neuen Gesellschaftssystemen geführt:
„Wichtige historische Gesellschaftsformationen sind nach Marx die klassenlose Urgesellschaft der frühen Stammesgesellschaften, die von Landwirtschaft und despotischer Herrschaft geprägte ‚asiatische Produktionsweise‘, die Sklavenhaltergesellschaft der Antike, der Feudalismus des Mittelalters und die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise“.
Hinzu kommen natürlich Sozialismus und Kommunismus, deren Bezug zur Arbeitswelt als „Diktatur des Proletariats“ auf der Hand liegt. Damit wird deutlich:
Die Veränderung der Organisationen und damit die Veränderung der Art, wie wir arbeiten, führt zu gesellschaftlicher Veränderung.
Für New Social Work rückt auf dieser Ebene die Frage ins Zentrum, wie es gelingen kann, Organisationen, deren Zwecke, Prozesse, formale Hierachien und darüber „soziale Arbeit“ so zu gestalten, dass der Zweck der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Teams bestmöglich erreicht werden kann.
3. Ebene: Das Sozialwesen
Soziale Organisationen sind eingebunden in ein nach bestimmten Bedingungen funktionierendes „funktionsspezifisches Teilsystem“ der Gesellschaft – das Sozialwesen.
Funktionsspezifische Teilsysteme sind „funktions-, leistungs-, medien-/codespezifische und (re-)programmierbare, sich selbst validierende selbstsubstitutive autopoietische Systeme“ (Krause, 2005, 44), die einerseits mehr oder weniger miteinander und andererseits in der Gesamtheit all dieser gesellschaftlichen Kommunikationen auch übereinander kommunizieren und damit Gesellschaft prägen. Sie sind operativ geschlossen. Der Code bzw. die Leitdifferenz des Sozialsystems ist „helfen/nicht helfen“ (Kleve, 2007, 147). Jedes funktionsspezifische gesellschaftliche Teilsystem übernimmt für die Gesellschaft exklusiv eine bestimmte Funktion (vgl. Krause, 2005, 49).
Auch wenn fraglich ist, ob das Sozialwesen exklusiv eine bestimmte Funktion übernimmt und damit per Definition ein eigenständiges, funktionsspezifisches Teilsystem unserer Gesellschaft ist, gehe ich zur Komplexitätsreduktion einmal davon aus. Soziale Dienstleistungen als öffentliche Güter und damit „das Sozialwesen insgesamt“ ist hochgradig abhängig von der geltenden Sozialpolitik.
Daraus resultieren wiederum Fragen: (Wie) gelang, gelingt und wird es zukünftig gelingen, zum einen der Sozialpolitik, sinnvolle, zukunftsgerichtete Entscheidungen für die Menschen, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind, zu treffen? Und wie gelang, gelingt und wird es zukünftig den Verantwortungsträger:innen wie bspw. den Wohlfahrtsverbänden gelingen, diese Entscheidungen im Sinne der Anwaltschaft für die Nutzer:innen (und nicht nur zur eigenen Sicherung des Überlebens) zu beeinflussen?
4. Ebene: Die Gesellschaft
Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als »wahre Erfolgsgeschichte« (Merten 2001, S. 165) erzählen. Thiersch bezeichnet das letzte Jahrhundert gar als »sozialpädagogisches Jahrhundert« (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die“ Soziale Arbeit weiterentwickelt.
Auf der vierten Ebene stellt sich die Frage, ob Soziale Arbeit wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt gefördert hat, aktuell fördert und zukünftig fördern wird?
Fazit Part I: New Social Work Definition
Wenn ich die Ausführungen zur New Social Work Definition so anschaue, könnte es ein ziemlich umfangreiches Unterfangen werden, eine Zwischenbilanz rund um New Social Work zu ziehen. Aber ich denke, es ist an der Zeit, innezuhalten und dies zu versuchen. Entsprechend will ich in den kommenden Beiträgen – für mich, für Dich und vielleicht auch darüber hinaus – auf die oben gestellten Fragen eingehen.
Dabei werden meine Antworten sicherlich immer sehr persönlich gefärbt sein. Ich hoffe, das passt für Dich…
Gespannt bin ich aber schon jetzt, zu hören, was Du von der Definition und den Ausführungen hältst? Lass doch einen Kommentar da und gib eine Rückmeldung dazu. Vielleicht kann ich diese in den weiteren Beiträgen einbauen… Danke schon jetzt!
Quellen
Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
Kleve, H. (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl., Wiesbaden: Springer.
Krause, D. (2005): Luhmann-Lexikon. 4.Aufl., Stuttgart: Lucius & Lucius.
Merten, R. (2001): Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192.
Thiersch, H. (1992): Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.
Wir brauchen die große Transformation – in unseren Organisationen, in der Gesellschaft und in der Welt. Die Notwendigkeit, der Klimakatastrophe zu begegnen, erfordert Veränderungen, die wir heute noch nicht absehen können. Diese – zumindest aus meiner Sicht – realistische und im wahrsten Sinne des Wortes radikale Perspektive erzeugt Widerstand. Sie ruft Lobbygruppen auf den Plan, die sich mit Händen und Füßen gegen Veränderungen wehren. Vermeintlich errungene Freiheiten werden auf keinen Fall aufgegeben. Mit aller Macht wird am Status quo festgehalten. Das kennen wir auch von Organisationen. Wie wäre es aber, wenn wir die Veränderungen sozialer Systeme (Organisationen, Gesellschaft…) mit den Möglichkeiten der Verhaltensänderung der Gewohnheiten psychischer Systeme (Menschen) vergleichen und daraus viele neue, kleine Wege zur großen Transformation finden? Die Veränderung der Gewohnheiten psychischer Systeme erfolgt selten durch große Umbrüche. Erfolgversprechender ist die Veränderung organisationaler Gewohnheiten, die dann langfristig zu großen Veränderungen führen. Wie die Veränderung organisationaler Gewohnheiten gelingt, beschreibe ich hier.
Gewohnheiten
Gewohnheiten können auf individueller Ebene als regelmäßige Verhaltensmuster definiert werden, die Menschen automatisch und unbewusst ausführen, ohne darüber nachzudenken. Gewohnheiten sind oft tief in unserem Unterbewusstsein verankert und werden durch wiederholtes Handeln gefestigt. Gewohnheiten können sowohl positiv als auch negativ sein und beeinflussen unser tägliches Leben auf vielen Ebenen, einschließlich unserer Gesundheit, Produktivität und Beziehungen. Beispiele für Gewohnheiten sind das Zähneputzen, das tägliche Training oder das Rauchen.
Organisationale Gewohnheiten sind regelmäßige Verhaltensmuster und Arbeitspraktiken, die sich in einer Organisation als „nicht entschiedene Entscheidungsprämissen“ etabliert haben und die Art und Weise beeinflussen, wie Arbeit erledigt wird.
Diese Gewohnheiten können sich auf verschiedene Aspekte einer Organisation auswirken, einschließlich der Arbeitskultur, der Effizienz, der Kommunikation und der Entscheidungsfindung.
Wie individuelle Gewohnheiten können auch organisatorische Gewohnheiten positive oder negative Auswirkungen haben. Sie können für die Organisation funktional oder dysfunktional sein. Und sie sind oft tief im „Unterbewusstsein der Organisation“ und damit in ihrer Kultur verwurzelt.
Beispiele für organisationale Gewohnheiten im Sinne nicht entschiedener Entscheidungsprämissen sind der Umgang mit regelmäßigen Besprechungen, das Befolgen bestimmter Arbeitsabläufe, obwohl diese nicht formal geregelt sind, oder das Treffen von Entscheidungen nicht auf der Basis von Daten und Fakten, sondern auf der Basis von „gefühlten Normen“.
Diese organisatorischen Gewohnheiten, diese Routinen in Organisationen entwickeln sich ständig weiter. Sie sind – wie gesagt – ein wesentlicher Bestandteil der Organisationskultur.
Für soziale Organisationen haben „organisationale Gewohnheiten“ im Sinne einer „dominierende Informalität“ eine besondere Bedeutung. Das habe ich hier beschrieben.
Veränderung organisationaler Gewohnheiten
Mein Selbstbild ist das eines Gewohnheitstiers. Oder anders gesagt:
Ich glaube, ich bin nicht gut darin, meine Gewohnheiten zu ändern, auch wenn ich weiß, dass sie nicht gut sind. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so, sondern vielen Menschen. Denn – wie oben beschrieben – sind Gewohnheiten oft tief in unserem Unterbewusstsein verankert. Gewohnheiten zu ändern kostet zudem Überwindung und gleichzeitig erzeugt jede Veränderung Unsicherheit. Also: Lieber entspannt weitermachen?
Oder noch besser: Gewohnheiten aus einer anderen Perspektive verändern:
Wer willst Du sein?
Clear erklärt in seinem Buch, dass es von grundlegender Bedeutung ist, sich bewusst zu werden, wer wir sein wollen, und erst danach die Gewohnheiten anzugehen. Es geht also um Identität, um den Kern unseres Seins, um unseren „purpose“.
„Jede Handlung, die du tust, ist eine Wahl darüber, was für ein Mensch du sein willst.“ S. 38
So macht es auf der individuellen Ebene einen großen Unterschied, ob ich Sport treiben möchte oder ob ich Sportler bin. Wenn ich dann meine bisherige Identität in Frage stelle und mir zuschreibe, jemand anderes zu sein, als ich bisher war, wird es mir leichter fallen, meine Gewohnheiten an diese neue Identität anzupassen. Schreibe ich Blog-Beiträge? Oder bin ich Schriftsteller? Spiele ich ein Instrument oder bin ich ein Musiker? Stärke ich meine Mitarbeiter:innen? Oder bin ich Führungskraft? Wurschtel ich vor mich hin? Oder bin ich Unternehmer?
Dem folgend schlägt Clear vor, im ersten Schritt zu entscheiden, welche Identität wir haben wollen, um diese dann durch unser tägliches Handeln, unsere Gewohnheiten zu bestätigen.
Organisatorisch ist der Transfer einfach. Wenn die bisherige Identität des Teams oder der Organisation wirklich in Frage gestellt werden darf, dann gelingt es, neue Wege zu eröffnen, wie in Zukunft zusammengearbeitet werden soll. Wenn ich aber an viele Beratungsaufträge denke, wollen die Organisationen nicht ihre Identität überdenken, sondern hier und da etwas anders arbeiten.
Konkret geht es zum Beispiel darum, neue Strategien für die kurz- und mittelfristige Zukunft zu entwickeln. Da fallen dann Begriffe wie „personenzentriert“, „anpassungsfähig“, „schnell“ oder „nachhaltig“. Alles schön und gut. Aber die Identität der Organisation bleibt im Kern unangetastet. Die Mitarbeiter:innen agieren weiterhin in ihren bewährten Gewohnheiten, da sie sich ja immer noch im gleichen Unternehmen wiederfinden und die Führung wundert sich, warum die Strategieumsetzung so zäh ist…
Dabei ist zu beachten, dass schon die individuelle Anpassung der eigenen Identität nicht einfach ist: Selbst wenn ich mir drei Tage lang einrede, ich sei ein Sportler, werde ich am vierten Tag von einer Erkältung niedergestreckt und muss viel Energie aufwenden, um trotz des Rückschlags an meiner Identität festzuhalten.
Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für Organisationen als soziale Systeme:
Welche Geschichten werden wie nach innen und außen erzählt, um die Identität der Organisation neu zu schreiben?
Wer erzählt diese Geschichten?
Wo manifestiert sich die neue Identität?
Hier sind insbesondere die Führungskräfte gefordert, die neue Identität durch Geschichten, durch neue Narrative und das eigene Vorleben zu festigen. Und das wiederum erfordert eine echte Überzeugung, dass die neue Identität mehr ist als nur ein schöner Satz in einem Hochglanz-Leitbild.
Das gilt auch für die gesellschaftliche Ebene:
Solange die Politik im Klein-Klein und in den Grabenkämpfen der Parteien verharrt und keine neue „Identität des Landes“, keine Visionen und Utopien glaubwürdig vermitteln kann, wird sich wenig bewegen. „Die Frage „Wie wollen wir leben?r nicht leicht zu beantworten. Aber so wie aktuell wird die Politikverdrossenheit eher weiter zunehmen, was – bezogen auf die eigentlich dringend anzugehenden Ziele – höchst dramatisch ist.
Also noch mal kurz: Entscheide, wer Du sein willst und bestätige dies mit kontinuierlichen, kleinen Schritten.
Kurz gesagt geht es in diesem Buch um die Kunst, das eigene Leben durch die Änderung kleiner, alltäglicher Gewohnheiten zu verbessern.
Gewohnheiten – ob positiv oder negativ – entstehen durch die Abfolge von vier Schritten
Auslöser
Begehren
Reaktion
Belohnung.
Dementsprechend lassen sich Verhaltensänderungen durch kontinuierliche, aber inkrementelle Anpassungen in diesen vier Bereichen erreichen.
Es ist (natürlich) sinnvoller, sich auf die Entwicklung von Gewohnheiten zu konzentrieren, die uns helfen, unseren Zielen (dem System) näher zu kommen, als auf die Ziele selbst. konzentrieren:
„The purpose of setting goals is to win the game. The purpose of building systems is to continue playing the game“
(S. 27)
Das ist einfach erklärt:
Ich persönlich kann zwar das Ziel haben, mehr Sport zu treiben. Aber wenn die Rahmenbedingungen nicht zu meinem Ziel passen, dann wird aus dem Ziel sicher nichts. Wenn die Reifen am Fahrrad kaputt sind, die Joggingschuhe noch im Geschäft stehen und der Alltag vollgestopft ist mit Krimskrams, dann wird es mir trotz aller Disziplin nicht gelingen, dem Ziel auch nur einen Schritt näher zu kommen – auch wenn ich es mir noch so sehr vornehme. Erst wenn es mir gelingt, das System und damit die Rahmenbedingungen anzupassen, kann ich mich überhaupt auf den Weg zum Ziel machen.
Organisatorisch gilt ähnliches: Man kann Fehler-, Innovations- oder Lernkultur propagieren und hoffen, dass dadurch etwas passiert. Aktuell populär ist natürlich das Ziel „Agilität“ oder das Ziel einer agilen Organisation. Aber solange das System nicht bereit ist, den Weg der Agilität, des Lernens oder der Innovation zu gehen, wird mit ziemlicher Sicherheit nichts passieren. Wahrscheinlicher ist sogar, dass deine Mitarbeiter:innen deine Ideen belächeln, auf die letzte „Change-Reise“ oder den letzten, komplett sinnlosen Innovationsworkshop verweisen und genauso weitermachen wie bisher. Immer öfter höre ich von Kund:innen Sätze wie:
Und gesellschaftlich erleben wir leider an vielen Stellen das Gleiche:
Jeder weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Auch das Ziel ist klar: 1,5 Grad, sonst wird es richtig ungemütlich. Aber das System passt nicht: Der Kapitalismus in seiner jetzigen Form verhindert das Einschwenken auf einen nachhaltigen Lebensweg.
Kurz gesagt: Wir kommen auf allen Ebenen unseren Zielen nicht näher, sondern fallen immer wieder auf das Niveau unserer Systeme zurück. (vgl. hier).
Gewohnheiten ändern in vier Schritten!
Aber wie kann man Gewohnheiten ändern – individuell, organisatorisch und vielleicht sogar gesellschaftlich?
Clear beschreibt – basierend auf den oben genannten vier Schritten – vier „Gesetze“, die helfen, gute Gewohnheiten aufzubauen:
Das 1. Gesetz (Auslöser): Mache es offensichtlich. Das 2. Gesetz (Verlangen): Mach es attraktiv. Das 3. Gesetz (Reaktion): Mache es einfach. Das 4. Gesetz (Belohnung): Mache es befriedigend.
Schlechte Gewohnheiten werden durch die Umkehrung der vier Gesetze abgebaut:
Umkehrung des 1. Gesetzes (Auslöser): Mache es unsichtbar. Umkehrung des 2. Gesetzes (Verlangen): Mach es unattraktiv. Umkehrung des 3. Gesetzes (Reaktion): Mache es schwierig. Umkehrung des 4. Gesetzes (Belohnung): Mache es unbefriedigend.
So weit, so individuell. Und eigentlich auch für mich in vielen Lebensbereichen spannend. Nehmen wir das (fast rein fiktive 😉 Beispiel, dass ich selbst Autor werden möchte und mir das Schreiben zur Gewohnheit machen möchte. Wie muss ich dann mein individuelles System gestalten?
Ich muss den Auslöser zum Schreiben sichtbar machen. Ich kann mir zum Beispiel jeden Morgen eine Stunde im Kalender eintragen, die nur für das Schreiben reserviert ist. Außerdem kann ich meinen Schreibtisch von Ablenkungen befreien, damit ich mich direkt auf das Schreiben konzentrieren kann.
Schreiben muss attraktiv werden: Wo schreibe ich am liebsten? Ist mein Schreibtisch im Keller immer noch die beste Alternative? Oder sollte ich nicht lieber ein Zugticket buchen, vier Stunden hin, vier Stunden zurück, und im Zug arbeiten? Da gibt es wenigstens wenig Ablenkung…
Ich muss den Zugang zu guten Schreibbedingungen sehr einfach gestalten. Daraus ergeben sich zum Beispiel folgende Fragen: Wo steht mein Computer? Fühle ich mich dort wohl? Wie aufwändig ist es, in den Schreibprozess einzutauchen?
Wie belohne ich mich selbst? Beim Bloggen ist es ganz cool, positive Reaktionen auf Beiträge zu bekommen. Aber reicht das? Könnte ich Schreibphasen nicht expliziter mit – gesunden – Belohnungen abschließen?
Ich denke viel darüber nach, wie ich es schaffe, Unternehmer zu werden und welche Gewohnheiten ich mir dafür aneignen muss… Wenn du Tipps und Ideen hast, würde ich mich freuen, wenn du sie in den Kommentaren hinterlässt!
Das Gesagte lässt sich auch auf Organisationen übertragen. Nehmen wir zum Beispiel an, dass Dein Team die Entscheidung getroffen hat, „agil“ zu sein. Diese Entscheidung betrifft die Identität des Teams und sollte sehr bewusst gemeinsam getroffen werden.
Dann stellt sich die Frage: Wie kannst Du im Team die vier „Gesetze“ anwenden, um kleine Schritte in Richtung dieser „agilen Identität“ zu gehen und so zu dem Team zu werden, das Ihr sein wollt?
Bevor ihr daran arbeitet, neue Routinen und Gewohnheiten zu implementieren, ist es sinnvoll, zunächst zu schauen, welche Routinen in Bezug auf die Identität dysfunktional sind. Dysfunktional im Sinne der „neuen Identität“ wären alle Praktiken, Gewohnheiten oder unentschiedenen Entscheidungsprämissen, die starre, unflexible, langwierige Arbeitsprozesse bedienen. Was davon kann weg? Es geht also zunächst um die Umkehrung der vier Gesetze:
Umkehrung des ersten Gesetzes (Auslöser): Wie können wir die Auslöser von dysfunktionalen Gewohnheiten möglichst unsichtbar machen? Ein Beispiel: Bisher habt ihr Teamsitzungen so gestaltet, dass du als Führungskraft die Tagesordnung vorgegeben hast und die Teamsitzung anhand der vorgegebenen TOPs moderiert hast. Mach es beim nächsten Mal anders: Bestimmt gemeinsam eine:n Moderator:in und legt zu Beginn gemeinsam die Tagesordnung fest.
Umkehrung des 2. Gesetzes (Verlangen): Wie können wir die Gewohnheit möglichst unattraktiv machen? Wenn ihr – um im Beispiel zu bleiben – bisher Entscheidungen zu einzelnen TOPs nicht gemeinsam getroffen habt, sondern immer nach der Führungskraft geschaut und auf deren Entscheidung gewartet habt, wäre es denkbar, dass vorher klar vereinbart wird, Entscheidungen, die alle im Team betreffen, nur noch gemeinsam zu treffen (z.B. mit Hilfe der Konsensmethode).
Umkehrung des 3. Gesetzes (Reaktion): Auch wenn Absprachen getroffen wurden, kann es sein, dass die Routine trotzdem zuschlägt und auf die Entscheidung des Vorgesetzten wartet. Wie wäre es, wenn der Vorgesetzte einfach nicht mehr an den Teamsitzungen teilnimmt und Entscheidungen im Team getroffen werden müssen?
Umkehrung des 4. Gesetzes (Belohnung): Wie können wir den Rückfall in alte Gewohnheiten möglichst unbefriedigend gestalten? Denkbar wäre z.B. die Einführung einer „Teamstrafe“ für jede Entscheidung, die nicht mit Hilfe der Konsensmoderation gemeinsam getroffen wird (wobei mir noch nicht ganz klar ist, was das genau sein könnte)…
Allein durch die Bekämpfung und Beseitigung von dysfunktionalen Gewohnheiten kann Raum zum Atmen, für neues Denken und Handeln geschaffen werden. Welche hilfreichen Gewohnheiten könnten anders, besser, funktionaler für das Team und die Organisation sein? Darauf aufbauend können die vier Gesetze zur Entwicklung funktionaler Gewohnheiten angewendet werden:
Die Anwendung des 1. Gesetzes (Auslöser) bedeutet, den Auslöser für eine neue funktionale Gewohnheit so offensichtlich wie möglich zu machen. Wie kannst Du es möglichst offensichtlich machen, dass eine neue Handlung ausgeführt werden soll? Eine Möglichkeit wäre z.B. ein einfaches Kanban-Board im Büro (oder digital) aufzuhängen, auf dem die Aufgaben im Team visualisiert werden?
Das 2. Gesetz (Begehren) stellt die Frage nach der Attraktivität. Gewohnheiten ändern sich, wenn wir das, was wir tun wollen, mit dem verbinden, was wir ohnehin tun müssen. Im Beispiel wäre es denkbar, dass das Kanban-Board direkt zur Planung, Strukturierung und Dokumentation der Teamsitzung genutzt wird.
Und dann muss es – 3. Gesetz (Reaktion) – möglichst einfach zu bedienen sein. In meinem vorherigen Job hatte ich die grandiose Idee, Mastertask im Team zur Sortierung der Aufgaben einzusetzen. Aber das war den Teammitgliedern zu kompliziert. Wir sind wieder beim bewährten Word-Dokument gelandet – warum nicht, wenn es funktioniert und zum Ziel führt?
Beim 4. Gesetz (Belohnung) geht es ein wenig in Richtung Pawlowscher Hund: Wie können im Team Belohnungen geschaffen werden, die das wiederholte Ausführen der neuen Gewohnheit verstärken? Individuell wäre das vielleicht der Kaffee nach der erledigten Aufgabe oder – bei der Schreibgewohnheit – die kurze Pause nach 2000 Zeichen. Im Team könnte es z.B. das „habit tracking“ sein, die Visualisierung der Tage, an denen das Kanban-Board erfolgreich genutzt wurde.
Neue Wege im organisationalen Dschungel
Die Veränderung von Gewohnheiten kann mit der Suche nach neuen Wegen im Dschungel verglichen werden, sowohl auf individueller als auch auf organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene.
So gibt es im Dschungel bereits breit ausgetretene Gewohnheitspfade, vielleicht gepflastert und mit Straßenlaternen beleuchtet. Von diesen abzuweichen erfordert bewusstes Gegensteuern.
Dies gelingt aber nicht allein durch das Propagieren der Nützlichkeit neuer Wege oder durch das Verlassen alter Pfade. Vielmehr braucht es
die Bewusstwerdung der neuen Identität: Wer will ich sein? Wie wollen wir arbeiten? Wie wollen wir leben?
die Veränderung des Systems, damit es selbstverständlich, einfach, attraktiv und lohnend wird, die neuen Wege zu gehen.
Und wenn es dann noch gelingt, viele neue, funktionale Wege auf dem Weg gut vorzubereiten und konsequent zu gehen, kann es gelingen, die eigene Organisation oder das eigene Team in Richtung „neue Identität“ zu verändern und eine neue Team- oder Organisationskultur nicht nur irgendwo hinzuschreiben, sondern tatsächlich zu leben.
Wo und wie ist es Dir gelungen, Gewohnheiten – individuell, in Deinem Team der Organisation zu ändern? Teile doch Deine Erfahrungen in den Kommentaren! Danke!!!
Gerade bin ich über den Begriff der „Kindness Economy“ gestolpert: Organisationen versuchen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, um es damit „allen zu ermöglichen, bei der Arbeit so authentisch wie möglich zu sein“, wie es hier heißt. Ich bin da sehr skeptisch, denn ich glaube, dass wir damit – ausgelöst durch den Fachkräftemangel – in ein neues Problem laufen, das ich als „Machtverschiebung von Organisationen zu den Menschen“ bezeichnen und hier beschreiben will. Außerdem will ich versuchen, ein paar Ideen zu liefern, wie diesem Problem begegnet werden kann.
Früher kein Gedöns: Die Macht von Organisationen über Menschen
Nur kurz: Dass es einen Fachkräftemangel gibt und zunehmend geben wird, ist seit etwa 50 Jahren bekannt. Entsprechend verwundert mich, dass dieses Thema erst jetzt in den Organisationen anzukommen scheint. Wir verschließen so lange die Augen, bis die Probleme massiv werden und kaum noch abzuwenden sind – Klimawandel, ick hör dir trapsen!
Historisch betrachtet hatten Organisationen die Macht. Das hängt mit der Bevölkerungsentwicklung zusammen.
Denn zwischen 1871 und 1910, also während der Hochphase der Industrialisierung in Deutschland, stieg die Bevölkerung von 41 Millionen auf 65 Millionen Menschen an, was einem Wachstum von 58 Prozent entspricht (klick).
Und nach der Industrialisierung setzte sich das Bevölkerungswachstum in Deutschland fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Deutschland zu einem Wachstumsland, und die Bevölkerungszahl stieg von 69,3 Millionen im Jahr 1950 auf rund 83,1 Millionen Menschen im aktuellen Zeitraum an (klick).
Neben sozialen Ungerechtigkeiten, Überbevölkerung in den Städten, mangelhaften Wohnbedingungen usw. führte das Bevölkerungswachstum vor allem zur Möglichkeit der Ausbeutung von Arbeitskräften. Arbeiter:innen, einschließlich Frauen und Kindern, arbeiteten lange Stunden, oft unter gefährlichen Bedingungen, für geringe Löhne. Es gab kaum Arbeitsschutzgesetze oder Gewerkschaften, die die Rechte der Arbeiter:innen schützten, was zu Ausbeutung und schlechter Arbeitsplatzsicherheit führte.
Auch wenn in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank soziale Sicherungssysteme eingeführt wurden, saß (und sitzt immer noch) die Angst vor dem sozialen Abstieg durch den Verlust des Arbeitsplatzes mit am Fließband, am Schreibtisch, an der Werkbank oder zumindest im Nacken.
Extrem formuliert war diese kurze, historisch sicherlich etwas unterkomplex dargestellte Entwicklung für Organisationen sehr praktisch:
Geringe Kosten in Kombination mit einem großen Angebot an Arbeitskräften, die noch dazu Angst hatten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, führten zu dicken Gewinnen (für ein paar Wenige). Außerdem musste man sich wenig Gedanken zu guten Arbeitsbedingungen, Work-Life-Balance, New Work Schnickschnack und sonstigem Gedöns machen.
Entsprechend wurden Organisationen und die Art, wie wir auch heute noch zusammen arbeiten, gestaltet:
Menschen waren Zahnrädchen, die bei zu geringer „Performance“ ausgetauscht wurden, Organisationen wurden als „Maschinen“ gedacht, gesteuert und entwickelt und die Sozialisation für dieses System wurde befeuert durch ein Bildungssystem, das auf „Ab-Teilung“, eine Klassengesellschaft, Benotung, Strafe, Druck, Befehl und Gehorsam gesetzt hat.
Jaja, ich weiß, etwas übertrieben. Aber im Kern ganz passend:
Die Organisationen hatten die Macht.
Heute Kindness Economy: Die Macht der Menschen über die Organisationen
Heute stehen wir aber – angesichts der absehbaren demographischen Zahlen wenig überraschend – an einem Kipppunkt in die andere Richtung:
Die Macht wandert von den Organisationen zu den Mitarbeiter:innen. Diese können sich aussuchen, wann, wie lange, zu welchen Konditionen und vor allem wo sie arbeiten. Im Kontext der Sozialwirtschaft ist dieses Phänomen extrem ausgeprägt, da die Organisationen nur wenige Möglichkeiten haben, auf Mitarbeiter:innen zu verzichten oder ihre Kernprozesse zu digitalisieren. Oder anders gesagt:
Wenn sich im Finanzamt die Akten bis zur Decke stapeln oder die Produktion von beheizbaren Lenkrädern aufgrund fehlender Mitarbeiter:innen stillsteht, passiert erst einmal – nichts! Wenn in einer Kita aber X Mitarbeiter:innen fehlen, wird die Gruppe geschlossen und die Kinder, die uns in Deutschland ja ach so viel Wert sind, eben nicht mehr begleitet.
Schlimmer stellt sich die Situation noch in stationären Wohnformen dar, da die dort lebenden Menschen nicht nur auf Unterstützung angewiesen sind, sondern die Einrichtungen oftmals ihre (teilweise einzige) Heimat sind.
Was Organisationen versuchen
Im Grunde könnte man jetzt ja glücklich sein:
Endlich müssen sich die Organisationen – egal welcher Branche – um ihre Mitarbeiter:innen bemühen. Obstkörbe sind obligatorisch, gratis Kaffee Standard und der Dienstwagen für die Auszubildenden ist flächendeckend nicht mehr fern, nur um auf Teufel komm raus Mitarbeiter:innen zu gewinnen und zu halten.
Angesichts dieser Entwicklungen steigen auch die Löhne, da die Mitarbeiter:innen (fast) unmittelbar wechseln, wenn es bei der Konkurrenz ein paar Euro mehr gibt.
Kurz: Organisationen verschieben ihren Fokus von ihrem Zweck hin zu den Mitarbeiter:innen. Nicht mehr die Kunden- oder Nutzer:innenorientierung ist handlungsleitend, sondern die Orientierung an den Mitarbeiter:innen bzw. den Betreuungsbedarfen ihrer Hunde, Katzen, Hamster, Omas, Kinder…
Warum sollte man – wenn man es sich denn leisten kann – unter diesen Bedingungen noch in Vollzeit arbeiten? Entsprechend werden Teilzeitregelungen normal, die nichts mit den ach so faulen Generationen, sondern mit den Rahmenbedingungen und damit den Möglichkeiten der jüngeren Generationen am Arbeitsmarkt zu tun haben.
Und auch hier wieder: Das ist doch grandios! Die Menschen können sich ihren Job so gestalten, dass dieser zu ihrem Leben passt (auch wenn diese Möglichkeiten die Situation für die Sozialwirtschaft verschärfen, da grundsätzlich in direkter Interaktion mit den Klient:innen gearbeitet werden muss und in vielen Arbeitsfeldern die Notwendigkeit von 24/7 Betreuung besteht).
Wenn sich also die Organisationen endlich an die Mitarbeiter:innen anpassen müssen, sieht es doch aus wie das Schlaraffenland, oder worin besteht das Problem?
Organisationen brauchen keine Menschen
Jaja, ich weiß, wieder eine völlig unterkomplexe Überschrift. Aber sehr grob betrachtet, trifft es das: Das Problem besteht darin, dass soziale Systeme und damit eben auch Organisationen nicht dafür gemacht sind, sich an Menschen bzw. den Mitarbeiter:innen zu orientieren.
Soziale Systeme sind dafür gemacht, einen Zweck zu verfolgen, ein Problem zu lösen, das durch einzelne Menschen allein nicht gelöst werden kann. Zwecke sind bspw. die Verwaltung von Steuergeldern, die Produktion von beheizbaren Lenkrädern, Gebet und Spiritualität, Bildung, das zur Verfügung stellen von Wohnraum, Lobbyarbeit oder, oder, oder…
Zuvorderst aber verfolgen Organisationen als Soziale Systeme das Ziel, zu überleben. Sie wollen, ganz lapidar, weiterhin bestehen bleiben – und zwar unabhängig von den ziemlich unzuverlässigen Menschen (im Sinne der Mitarbeiter:innen). Deswegen gibt es so etwas wie Stellen, Rollen, Hierarchien, Strukturen usw. die dafür sorgen, dass die Organisation auch dann weiterbesteht, wenn Menschen „das Unternehmen verlassen“.
Eine Organisation, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen kann (oder vollständig erfüllt hat), wird ebenso nicht mehr weiter bestehen können wie eine Organisation, die sich vollständig an den Menschen und ihren Bedürfnissen ausrichtet.
Und dies unabhängig von der Branche, in der die Organisation tätig ist.
Die Chance für „New Work“
Kurz auf den Punkt gebracht sind die Ausführungen ja nachvollziehbar: Es macht – unabhängig vom Fachkräftemangel – keinen Sinn, Organisationen und damit auch unsere Arbeit so zu gestalten, dass die 100%ige Effizienz herrscht, die Menschen wie Zitronen ausgepresst werden und einzig der Takt der Maschinen (oder vorgeschriebenen Prozesse) regiert.
Genauso wenig sinnvoll ist es aber, alles in einer Organisation ausschließlich auf die je individuellen und damit sehr vielfältigen Bedarfe der Mitarbeiter:innen auszurichten. Das wird Organisationen früher oder später zum Zusammenbruch führen.
Wie so oft gilt es, einen guten Mittelweg zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Bedürfnissen der Organisationen zu finden.
Und hier kann aus meiner Sicht eine große Chance aus a) sinnvoller, zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsentwicklung und aus diesem b) „New Work“ im ursprünglichen Sinne erwachsen.
Möglichkeiten zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsentwicklung
Im Folgenden finden sich – sicherlich nicht abschließend – einige Ansätze, wie es gelingen kann, die Entwicklung der eigenen Organisation so voranzutreiben, dass die Bedürfnisse von Menschen und der Organisation berücksichtigt werden.
Verständnis über die Funktionsweisen von Organisationen als soziale Systeme
Grundlegend für die Möglichkeiten zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsentwicklung ist aus meiner Sicht ein Verständnis über die Funktionsweisen von Organisationen als soziale Systeme.
Die Entwicklung dieses „Organisationsbewusstseins“ schützt massiv vor Steuerungsphantasien, was insbesondere Führungskräften enorme Erleichterung verschaffen müsste: Sie haben den Laden nicht in der Hand, im Griff oder sonstwo. Organisationsentwicklung ist vielmehr, wie es Ruth Seliger sagt, der Versuch, die Organisation in die gewünschte Richtung zu verführen.
Daraus resultiert, dass es immer darum geht, Versuche im Hier und Jetzt zu machen, Experimente, mit denen man auf die Nase fallen kann, die aber auch gelingen und dann ungeahnte (positive) Auswirkungen haben können.
Wichtig bei dieser „agilen Organisationsentwicklung“ ist jedoch, immer wieder innezuhalten und zu prüfen, ob und welche Wirkungen die gemachten Veränderungen hatten und ob man sich damit auf dem angestrebten Weg befindet.
Vielfalt zulassen
Für die im Beitrag geschilderte Problematik des Ausbalancierens zwischen den Bedarfen der Organisation und den Bedarfen der Mitarbeiter:innen gilt es, Versuche zu machen, die das Ziel verfolgen, wegzukommen von der Vereinheitlichung hin zu einer möglichst hohen Vielfalt in der Organisation:
Team A ist anders als Team B, warum sollten die nicht anders arbeiten? Einrichtung Z liegt auf dem Land und arbeitet anders als Einrichtung Y in der Stadt. Ja, cool, warum nicht?
Diese Vielfalt fällt vielen Organisationen schwer, ist aber für Soziale Organisationen (hoffentlich) daily Business. Denn nur durch die Vielfalt auf Seiten der Einrichtungen kann den vielfältigen Bedarfen der Nutzer:innen auf der anderen Seite adäquat begegnet werden.
Mir gefällt an dieser Stelle das Bild eines Mischpults ganz gut:
Es gibt verschiedene Regler, die für die einzelnen Bereiche, Teams und Arbeitsfelder einer Organisation bezogen auf die jeweils geltenden Ziele, Strukturen und Prozesse unterschiedlich eingestellt sein können. Erst daraus, dass sie unterschiedlich eingestellt sind, ergibt sich der ganz spezifische Klang der Gesamtorganisation.
Gemeinsam entscheiden
Neben der Ermöglichung von Vielfalt gilt es außerdem, die Kompetenzen, Ideen, Erfahrungen und die Kreativität der Mitarbeiter:innen viel stärker als vielleicht bislang üblich in Entscheidungsfindungen mit einzubinden. Partizipation wird zwar oft groß geschrieben, endet aber genauso oft an der Realität.
Eine einfache Option zur echten Beteiligung der Mitarbeiter:innen ist die Arbeit mit der Konsent-Methode, die hier ausführlich beschrieben ist.
Im gleichen Podcast sprechen die Gründerinnen der sozKom GmbH auch von der Entwicklung ihrer DNA. Darunter ist ein kurzes „Leitbild“ zu verstehen, das allen, internen wie externen, Stakeholdern vermittelt, was die Grundwerte der gemeinsamen Arbeit sind und wie in der Organisation zusammen gearbeitet wird.
Das Betriebssystem entwickeln
Diese „DNA“ oder das gelebte Leitbild ist auch die Grundlage für das gemeinsame „Betriebssystem“ der Organisation.
Dieses Betriebssystem beschreibt die basalen Regeln, nach denen gearbeitet und vor allem entschieden wird (siehe auch Konsent).
Dabei ist wiederum relevant, nicht irgendwelche Konzepte wie „Holocrazy“ oder das „Spotify Modell“ oder die „Orbit Organisation“ oder „so wie Buurtzorg“ auf die eigene Organisation zu stülpen, sondern die Individualität der Rahmenbedingungen der Organisation anzuerkennen und – genau – Vielfalt zuzulassen.
Nichts in Stein meißeln
Bei alle den Bemühungen der Entwicklung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen geht es nicht darum, ein für allemal festzuzurren, was für die nächsten 300 Jahre gelten soll.
Durch die in der Organisation arbeitenden Menschen ebenso wie durch die sich verändernden Rahmenbedingungen, Megatrends, gesellschaftlichen Entwicklungen usw. verändert sich auch die Organisation.
Dieses „inspect and adapt“ sollte als Grundsatz jeglicher Entscheidungen rund um die Organisationsentwicklung gelebt werden. Daraus ergeben sich anpassungsfähige Teams und Organisationen.
Arbeiten
Die hier skizzierten „Schritte“ hin zu einer Organisation, der es gelingt, neben den eigenen auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen in den Blick zu nehmen, erfordern auf Seiten der Mitarbeiter:innen Mitarbeit.
Das klingt vielleicht irgendwie albern, ist aber wichtig: Führungskräfte wie die Mitarbeiter:innen müssen sich bewusst sein, dass die gemeinsame Entwicklung hin zu einer guten, lebenswerten und (über-)lebensfähigen Organisation nur in gemeinsamer Anstrengung gelingt. Dazu braucht es – ein Thema, an dem ich gerade persönlich hänge – das Commitment, sich auf diese Arbeit einzulassen. Oder die Entscheidung, andere Wege zu gehen.
Möglichkeiten von New Work
Selbstverständlich sind die Ausführungen zur Organisationsentwicklung nicht abschließend und alles andere als eine „Anleitung“, wie es rezepthaft gelingt, die Bedürfnisse von Menschen und Organisationen auszutarieren. Es sind Impulse, Ideen, Möglichkeiten.
Und etwas übergreifender will ich abschließend die aus dem ursprünglichen Konzept „New Work“ ausgehenden Impulse, Ideen und Möglichkeiten aufgreifen, um darüber zur Annäherung von Menschen und Organisationen zu kommen.
Macht das Sinn?
Die Ursprungsideen von New Work stellen im Kern nicht die Frage nach dem Menschen und dem, was dieser (also Du und ich) „wirklich, wirklich tun will.“
Die Ursprungsideen von New Work stellen die große Frage danach, ob unsere Art zu wirtschaften, ob der Kapitalismus in der existierenden Form, sinnvoll ist. Bergmann ging es um eine Alternative zum Lohnarbeitssystem und nicht um organisationalen Schnickschnack.
New Work ist damit radikal im besten Wortsinn: New Work geht an die Wurzel, an den Kern. Und dieser Kern lautet für mich:
Macht das Sinn?
Anders könnte man auch fragen: Ist das, was wir hier als Gesellschaft, als Organisation, als Team und das, was ich als Mensch tue, sinnvoll und wirksam?
Ich will hier gar nicht tief einsteigen, aber der Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen lässt mich oft mit einem dicken „WTF???“ zurück. Unsere Metakrisen Klima, Krieg, Individualisierung und Co. werden im eigenen Kleinklein beantwortet. Ideen, Visionen, Utopien einer echten Zukunft fehlen.
Und genauso sieht es in Organisationen aus. „Purpose-Diskussionen“ übertünchen den dahinterliegende Schimmel, ohne die Kernfrage zu stellen:
Macht das Sinn, was wir hier tun?
Wenn sich Menschen und Organisationen ernsthaft auf die Beantwortung dieser Frage konzentrieren, kommt es zwangsläufig dazu, dass Dinge, Angebote, Projekte weggelassen werden müssen. Weglassen ist aber nicht in uns Menschen angelegt. Wir wollen immer mehr, hinzufügen, addieren. Das funktioniert aber nicht mehr – aus Gründen von Klima und Co. ebenso wie aus Gründen von Fachkräftemangel.
Wenn wir – das ist ja das Thema des Beitrags – Menschen und Organisationen wieder zusammenführen wollen, müssen wir uns mit Exnovation befassen und einem „weniger, aber besser“. Auch wenn das auf den ersten Blick schmerzhaft erscheint.
Was will ich wirklich, wirklich tun?
Erst aus der Beantwortung der Sinnfrage ergibt sich die aktuell breitgetretene „New Work Frage“ danach, was die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“.
Die Frage ist wieder radikal, denn – mal ehrlich – eine Beantwortung ist kaum möglich.
Ich für mich kann sagen, dass das, was ich wirklich, wirklich tun will, von unfassbar vielen Faktoren abhängig ist, die sich je nach Tag, Stimmung, Wetter… immer wieder ändern.
Und losgelöst von mir persönlich pendeln Menschen in dem was sie wirklich, wirklich wollen, individuell irgendwo im „Pentagon“ (Fünfeck) zwischen Anerkennung, Sicherheit, Autonomie, Verbundenheit und Fairness – wie hier im SCARF-Modell beschrieben.
Wichtiger als eine Antwort auf die Frage ist damit eine Beschäftigung mit der Frage – ohne eine eindeutige Antwort zu erwarten.
Das erfordert die berühmte Ambiguitätstoleranz, die Kompetenz zum Umgang mit Widersprüchen und Mehrdeutigkeit.
Aus organisationaler Perspektive gilt es dann wieder, Ambiguitätstoleranzlernmöglichkeiten zu schaffen – Möglichkeiten, in denen sich die Menschen „in“ der Organisation mit den Widersprüchen zwischen ihnen als Personen und der Organisation befassen können und nicht gleich beim kleinsten Gegenwind oder beim nächstbesten Angebot der Konkurrenz von der Organisation abwenden.
Über dieses „Aushalten von Widersprüchen“ gelingt es dann vielleicht auch, dem näher zu kommen, was man wirklich, wirklich tun will…
Mehr als Kindness Economy, oder: Organisationen brauchen Menschen und Menschen brauchen Organisationen
Natürlich sind Organisationen auf Menschen angewiesen, auf Arbeitskräfte. Sie sind angewiesen auf die Persönlichkeiten, die Ideen, die Kreativität der Individuen. Genauso sind aber auch Menschen auf Organisationen angewiesen. Wer will bitteschön die Errungenschaften wegdiskutieren, die die Arbeitsteilung mit sich gebracht hat. Wer will zu einem „Heiler“ gehen, anstatt in ein Krankenhaus, in dem Expert:innen gemeinsam an echten Lösungen arbeiten? Wer will seine Kinder in Betreuungseinrichtungen geben, die nur „satt und sauber“ anstatt echte Bildung und Begleitung leben? Wer will im Alter vor sich hin vegetieren, anstatt von Profis gepflegt zu werden?
Kurz – wir brauchen beides:
Funktionierende Organisationen, die unabhängig von einzelnen Menschen ihren Zweck erfüllen und gleichzeitig die Bedarfe der Mitarbeiter:innen berücksichtigen und darüber zu lebenswerten „Ökosystemen“ werden.
Das erfordert zum einen gelingende Organisationsentwicklung zur Gestaltung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen. Zum anderen erfordert es individuell und organisational die Auseinandersetzung mit dem Sinn, mit der Frage nach Wirksamkeit.
Warum gelingt es sozialen Organisationen so schwer, sich zeitgemäß und bedarfsgerecht zu verändern? Warum sehen wir an so wenigen Stellen echte Leuchttürme, best practice Beispiele, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ihr Organisationsdesign, ihre Strukturen, Arbeitsweisen, Prozesse usw. anpassungsfähig an sich komplex und dynamisch verändernde Umwelten zu gestalten und gleichzeitig ihren Zweck nicht aus den Augen zu verlieren? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht eindimensional, sondern erfordert unterschiedliche Blickrichtungen. Im Folgenden wird insbesondere ein Aspekt herausgegriffen, der ein Dilemma, in dem soziale Organisationen stecken- ich nenne es das „Dilemma der Agilisierung sozialer Organisationen“ – beleuchtet. Außerdem werden Möglichkeiten dargelegt, die es ermöglichen, sich „trotzdem“ zu bewegen.
Das Dilemma, oder: Warum fällt es sozialen Organisationen so schwer, sich zu verändern?
Ein Dilemma ist eine Zwickmühle. Ein Dilemma bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, die beide zu einem unerwünschten Resultat führen und durch seine Ausweglosigkeit als paradox empfunden wird. Ein klassisches Beispiel ist das berühmt gewordene Dilemma von Buridans Esel. Der Esel verharrt unbeweglich zwischen zwei gleichgroßen und gleich weit entfernten Heubündeln. Er kann sich weder für das eine noch für das andere entscheiden – er verhungert.
Bezogen auf die Sozialen Organisation hier eine kurze Darlegung der beiden Heuhaufen:
Dilemma Perspektive 1: Das Überleben der Organisation
ChatGPT liefert auf die Frage danach, warum es sozialen Organisationen so schwerfällt, sich zu verändern, im ersten Punkt den folgenden Absatz und beschreibt damit sehr gut die eine Seite des Dilemmas:
„Soziale Organisationen oder – etwas präziser – Organisationen der Sozialwirtschaft haben oft eine komplexe Struktur und sind stark reguliert, um sicherzustellen, dass sie ihre gemeinnützigen Ziele erfüllen. Diese Regulierungen können dazu führen, dass Veränderungen schwierig umzusetzen sind, da sie häufig genehmigt und von den zuständigen Behörden überwacht werden müssen.“
Das fasst das Dilemma etwas verkürzt, aber treffend zusammen:
Soziale Organisationen sind nicht frei in ihrer Gestaltung, wenn sie überleben wollen.
„Was ist der Hauptzweck, der „Zweck 1. Ordnung“, einer Unternehmung, ja eines gesamten Wirtschaftssystems (und Systemen überhaupt)? Es ist die Selbsterhaltung, das Überleben – im Business auch „Viability“ genannt.
Es geht also um die Tragfähigkeit einer Unternehmung, eines Systems oder einer Existenz. Dieses Handeln ist evolutionär tief in unsere DNA eingebrannt. Kombiniert mit einem zunächst natürlichen und später zugleich künstlich verstärkten Wettbewerbssprinzip rund um knappe oder verknappte Ressourcen, beherrscht es unser gesamtes Dasein. Das ist der Kern unseres „Operating Models“ – wenn man so will.“
ChatGPT greift den Punkt auf und schreibt weiter:
„Ein weiterer Grund, warum Organisationen der Sozialwirtschaft Veränderungen schwerfallen kann, ist die Tatsache, dass sie oft von begrenzten finanziellen Ressourcen abhängig sind. Dies kann bedeuten, dass sie sich auf bestimmte Einkommensströme verlassen, wie beispielsweise staatliche Zuschüsse oder Spenden von privaten Spendern, die möglicherweise begrenzt oder schwankend sind. Diese Abhängigkeit von begrenzten Ressourcen kann dazu führen, dass Organisationen zögern, Veränderungen vorzunehmen, aus Angst, ihre finanzielle Stabilität zu gefährden.“
Die Gefährdung der finanziellen Stabilität ist es aber, was Organisationen an den Rand ihres Überlebens bringt. Entsprechend und völlig nachvollziehbar halten sozialen Organisationen an ihren bewährten, ihre Existenz sichernden Strukturen fest.
Eine wirkliche, tiefgreifende Veränderung der Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen kann die Existenz sozialer Organisation gefährden, da es von Seiten der Kostenträger kaum Spielraum zur Entwicklung, Experimentierfelder, Möglichkeiten zur Neugestaltung gibt.
Alternative Modelle und Arbeitsweisen sind für die Nutzer:innen (ggf.) super, scheitern aber an den Rahmenbedingungen der Kostenträger.
Dilemma Perspektive 2: Die Komplexität Sozialer Arbeit und die Notwendigkeit der Agilisierung sozialer Organisationen
Auf der anderen Seite steht die Herausforderung sozialer Organisationen, Komplexität bewältigen zu müssen. Jede Arbeit mit Menschen, ob in der Kita, in der Jugendhilfe, in der Gemeinwesensarbeit, in der Arbeit mit älteren Menschen oder auch mit Menschen mit Behinderung ist komplex, individuell und immer auf die Mitarbeit der Nutzer:innen angewiesen. Mehr noch: Die aktuelleren Methoden sozialer Arbeit betonen explizit, dass nicht die Expertise der Mitarbeiter:innen im Zentrum steht („Wir wissen schon, was für dich richtig ist!“), sondern der „Wille der Menschen“, wie es bspw. explizit im Konzept der Sozialraumorientierung heißt.
Diese Perspektive, die Ausrichtung am Willen des Menschen, die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung als (ein) Zweck Sozialer Arbeit, ist nicht neu und sollte eigentlich nicht verwundern. Denn genau so heißt es auch in der Internationalen Definition Sozialer Arbeit, die ich ja immer wieder gerne anbringe:
„Soziale Arbeit fördert … die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“
Damit Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen diese Perspektive einnehmen können, sind sie gefordert, die Regeln, Strukturen, Vorgaben, Prozesse usw. der eigenen Organisation zu „hintergehen“ und so zu agieren, dass sie bestmöglich im Sinne ihrer Klientel agieren können. Daraus resultiert die dominierende Informalität, die ich bereits in diesem Beitrag hier umfänglich dargelegt habe. Sehr kurz zusammengefasst:
Organisationen lassen sich vornehmlich über die Entwicklung von formalen Strukturen, Prozessen und der Veränderung des Personals entwickeln. Mitarbeiter:innen in sozialen Organisationen jedoch interessieren sich nicht großartig für das, was die Organisation vorgibt, sondern agieren so, dass sie – aus ihrer Perspektive gedacht – bestmögliche Hilfe für die Nutzer:innen leisten können. Organisationsentwicklungsprozesse „verpuffen“ dann, da die Mitarbeiter:innen einfach das weitermachen, was aus ihrer Sicht für die Nutzer:innen funktional ist. Wie gesagt, das ist nur eine sehr kurze Zusammenfassung dieses Artikels, der die Herausforderung der dominierenden Informalität ausführlich darlegt.
Aufgreifen will ich hier noch die auf den ersten Blick sehr positiven Veränderungen der Sozialgesetzbücher – allen voran die Entwicklungen rund um das BTHG. Teilhabe, Partizipation, Inklusion werden aber nicht nur dort, sondern auch im KJSG groß geschrieben. Beide Gesetze fokussieren zunehmend – wie auch die grundlegenden Methoden Sozialer Arbeit – auf die Perspektive der Nutzer:innen und stellen diese in den Mittelpunkt allen Handelns.
Kurz zusammengefasst wird die Institutionenorientierung von der Personenorientierung abgelöst (welche Auswirkungen das für die Organisationsentwicklung sozialer Organisationen hat, haben Florian Acker und ich hier dargelegt).
Zerrissenheit
Wenn aber mit Blick auf den einen Heuhaufen – um das Beispiel des Esels wieder aufzugreifen – „die Menschen in den Mittelpunkt rücken“ müssen (nicht die Mitarbeiter:innen, sondern die Nutzer:innen) und mit Blick auf den anderen Heuhaufen an den Finanzierungslogiken der Kostenträger festgehalten werden muss, sich die Organisationen also nicht gemäß ihrem Zweck entwickeln können, kommt es zur Zerrissenheit.
Dieses Dilemma ist (ohne dies für die Soziale Arbeit empirisch belegen zu können) aller Wahrscheinlichkeit nach (mit) ein Grund, warum die Burnoutraten in sozialen Organisationen so hoch sind (vgl. dazu bspw. den jährlich erscheinenden AOK Fehlzeitenreport).
Welche Handlungsoptionen haben Soziale Organisationen, um die Zerrissenheit, um das Dilemma besser in den Griff zu bekommen? Ich betone dieses „besser“, da eine Auflösung des Dilemmas, so wünschenswert es auch wäre, wohl keine Option darstellt.
Auseinandersetzung mit dilemmatischen Konstellationen in der Organisation
Stabilität vs. Wandel, klare Verantwortlichkeiten vs. Flexibilität, Identifikation vs. Offenheit, Freiräume zur Entwicklung vs. Ausnutzung organisationsfremder Interessen. All dies sind Dilemmata, die in Organisationen immer wieder auftreten. Eine Tendenz zu einem Pol (z.B. Stabilität) geht immer auf Kosten des anderen Pols (z.B. Wandel). Es lässt sich kein einfacher oder dauerhafter Kompromiss erreichen (vgl. Weibler, Deeg, 2020).
Weibler und Deeg schreiben im verlinkten Beitrag, dass Dilemmata in Organisationen grundsätzlich „weniger gelöst als vielmehr (einigermaßen) neutralisiert bzw. in eine bearbeitbare Form gebracht werden, beispielsweise durch zeitliche Entzerrung“.
Für Führungskräfte gilt, dass „eher ein bewusstes Versuchen für den Moment angebracht [ist], das sich dann wieder in eine andere Richtung bewegt, wenn die Nachteile die errungenen Vorteile allmählich überwiegen. Dafür müssen Verschiebungen in deren Verhältnis allerdings aufmerksam beobachtet und am sich abzeichnenden Wendepunkt auch ein Umsteuern aktiv eingeleitet werden“ (ebd.).
Dabei ist relevant, „sich auch in schwierigsten Umständen nicht irritieren zu lassen und im quasi unstillbaren menschlichen Verlangen nach Gewissheit gründenden Versuchungen, nervös nach dem Naheliegenden mittels Heranziehung bestimmter Annahmen, Erklärungen oder Fakten zu greifen, zu widerstehen“ (ebd.).
Die Autoren betonen abschließend, dass es zusätzlich hilft, „ein ‚Entweder-Oder-Denken‘ zugunsten einer ‚Sowohl-als-auch-Herangehensweise‘ aufzugeben und mit Dilemmata möglichst kreativ und konstruktiv umzugehen. Dies ermöglicht es Führungskräften, neue Handlungsspielräume zu eröffnen und geschickter bzw. gewandter zu (re-)agieren, wenn sie sich in oftmals sehr unbehaglichen dilemmatischen Entscheidungssituationen bewegen. Weniger werden solche zukünftig wohl eher nicht“ (ebd.).
Die genannten Aspekte führen zu einer „Führung im Widerspruch“, die Michael Herzka schon 2013 ausführlich mit spezifischem Bezug zur Führung in sozialen Organisationen dargelegt hat.
Das oben beschriebene Dilemma jedoch zeigt sich nicht innerhalb sozialer Organisationen, die organisationsintern mit den mindestens gleichen Dilemmata zu kämpfen haben wie andere Organisationen auch. Das Dilemma zeigt sich vielmehr zwischen der Organisation und den Kostenträgern.
Wie also kann hier vorgegangen werden?
Basics der Organisationsentwicklung, oder: Das Mögliche tun
Oftmals wird die Abhängigkeit von den gesetzlichen Rahmenbedingungen als – überspitzt formuliert – Ausrede herangezogen, um keine Änderungen vornehmen zu müssen („Wir können nicht anders, weil die Kostenträger dies und jenes…“).
Das ist zu kurz gegriffen. Es gibt immer Handlungsoptionen und seien sie auch noch so klein.
Hier setzen die Basics an, die ich in Teams und sozialen Organisationen häufig vermisse. Unter diesen Basics fasse ich auf organisationaler Ebene eine regelmäßige Beschäftigung mit der Mission, der Vision, den Werten und den Strategien der Organisation.
Ich sehe Leitbilder, die vor Dekaden erstellt wurden, Leitbilder, die Werte propagieren, die auf Hochglanzbroschüren in Schubladen, an Wänden oder auch im Internet vergilben. Hier gilt es, diese Leitbilder regelmäßig in die Hand zu nehmen und zu prüfen, ob sie zum einen geeignet sind, Orientierung zu geben und zum anderen zu prüfen, ob sich grundlegende Veränderungen ergeben haben, die eine Anpassung des Leitbilds erfordern.
Auf Teamebene ist es ähnlich: Ich sehe in den seltensten Fällen so etwas wie einen „Teamkodex“, der für die Mitglieder eines Teams Orientierung gibt und darlegt, wie gemeinsam im Team gearbeitet werden soll.
Beides, die iterative Überprüfung des Leitbilds der Organisation sowie die Entwicklung und ebenfalls regelmäßige Überprüfung und Anpassung eines Teamkodex bedeutet nicht, einen riesigen Aufwand betreiben zu müssen. Es bedeutet auch nicht, die Gesamtorganisation komplett auf den Kopf zu stellen, neu, agil, demokratisch oder wie auch immer zu strukturieren.
Vielmehr ist die regelmäßig investierte Zeit in die grundlegenden Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen hilfreich, um für die Zukunft besser in den nicht auflösbaren Widersprüchen Sozialer Arbeit agieren zu können.
Organisationsbewusstsein entwickeln
Den berühmten „Praxisschock“ kennen wahrscheinlich alle, die sich mit Studium und Ausbildung in sozialen Berufen befassen. In Studium und Ausbildung kommt eine Auseinandersetzung mit der Funktionsweise sozialer Systeme zu kurz. Zwar haben Sozialarbeiter:innen (hoffentlich) immer grundlegende systemische Kompetenzen erlangt. Diese beziehen sich jedoch in den allermeisten Fällen auf die Klientensysteme und nicht auf das soziale System „Organisation“. Entsprechend sollte die Funktionsweise von sozialen Organisationen in ihren komplexen Abhängigkeiten unter den aktuellen Gegebenheiten (Fachkräftemangel, Digitalität und Co.) deutlich verstärkt Thema in Ausbildung und Studium werden, damit die Absolvierenden im Arbeitsleben nicht frustriert werden.
Gleiches gilt für Weiterbildungsangebote, die soziale Organisationen für ihre Mitarbeiter:innen und Führungskräfte anbieten: Insbesondere Führungskräfteschulungen sollten einen wesentlichen Teil darauf verwenden, die Funktionslogiken sozialer Systeme in den Mittelpunkt stellen. Damit können zum einen die „Steuerungsphantasien“ der (angehenden) Führungskräfte in Grenzen gehalten und zum anderen Handlungsoptionen zur Gestaltung von Teams und Organisationen – wiederum mit offener Kommunikation über die Dilemmata Sozialer Arbeit – vermittelt werden.
Dialog mit den Kostenträgern
Wie ich im Beitrag oben und bspw. auch hier ausführlich dargelegt habe, „ticken“ soziale Organisationen diametral entgegengesetzt zu den Kostenträgern. Mit anderen Worten:
„Im Gegensatz zu den auf die Gestaltung von Komplexität angelegten Sozialen Organisationen sind die Sozialleistungsträger (u.a. Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungsträger, Krankenkassen, die für die Kosten aufkommen) nicht im Erziehungssystem anhand der genannten Codes organisiert, sondern fokussieren in ihren Strukturen und Handlungsweisen auf Rechtmäßigkeit und Berechenbarkeit bei hoher Zuverlässigkeit, Effektivität und Effizienz.“
In dem verlinkten Beitrag habe ich als (eine) Lösungsoption formuliert, dass es „im Zuge grundlegender Transformationen gelingen muss, alle basierend auf einer System-Umwelt-Analyse definierten Stakeholder an einen Tisch zu bekommen – und das schon vor dem anstehenden OE-Prozess. Nur durch gemeinsames Verständnis der Anliegen der jeweils anderen Seiten kann (nicht: muss) sich die Option eröffnen, neue Wege gehen und dringend benötigte Experimente in der Neugestaltung pluralisitscher Organisationen realisieren zu können.“
Diese Dialogforen, diese gemeinsamen Gespräche zur zukünftigen Zusammenarbeit vermisse ich noch auf vielen Ebenen – im Kleinen wie im Großen.
Wie wollen wir leben? Oder: Zukunft gestalten
Oben habe ich die Definition Sozialer Arbeit sehr verkürzt und auf die Arbeit mit den Individuen fokussiert dargestellt.
Ausführlich heißt die Definition aber:
„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“
Es kommt die Förderung gesellschaftlicher Veränderungen, sozialer Entwicklungen und die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts hinzu. Krasse Aufgabe, ehrlich gesagt.
Diese Aufgabe beinhaltet eine gesellschaftliche Gestaltungsaufforderung an die Soziale Arbeit. Kurz gesagt:
Wie wollen wir leben?
Diese Frage ist nicht dadurch zu beantworten, dass Soziale Arbeit – neben dem, dass sie Gesetze umsetzen muss – nach immer neuen Lösungen für aktuelle Probleme sucht. Innovation ist gut und wichtig, greift aber – sofern sie auf Problemlösungen ausgerichtet ist – zu kurz.
Wir brauchen vielmehr eine Auseinandersetzung mit wünschenswerten Zukünften.
Dazu bedarf es einer deutlich weitergehenden Perspektive, einem Blick in die nicht existierende Zukunft. Es braucht Szenarien, die zwischen Utopie und Dystopie Möglichkeiten thematisieren, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu welchen Realitäten führen können. Es braucht eine Auseinandersetzung dazu, was Visionen Sozialer Arbeit der Zukunft sein können.
Es gab keine Antwort dazu (und ich selbst habe diese Antwort auch nicht.
Und ChatGPT 😉 liefert auf die Frage nach der Vision der Sozialwirtschaft auch wenig Erhellendes (Stärkere Betonung der Nachhaltigkeit, stärkere Nutzung von Technologie, stärkere Betonung sozialer Gerechtigkeit).
Nur in einem Punkt bin ich sehr bei dem, was die AI sagt:
„Ausbau der Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationen der Sozialwirtschaft und anderen Akteuren wie der öffentlichen Hand und Unternehmen könnte verstärkt werden, um gemeinsam gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.“ (siehe oben).
Es ist dringend Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.
Fazit zum Umgang mit Dilemmata
Dilemmata sind normal in Organisationen. Allein das Verhältnis von Organisation und den darin eingespannten Individuen ist hier zu benennen. Weitere Dilemmata habe ich oben angeführt.
Das Dilemma zwischen sozialen Organisationen und den Kostenträgern geht darüber jedoch hinaus. Entsprechend gilt es, auch über die eigene Organisation hinaus zu denken und neben den Handlungsoptionen innerhalb der Organisationen in der Branche der Sozialwirtschaft den Dialog mit den politischen Akteuren, den Kostenträgern, deutlich zu intensivieren. Soziale Arbeit muss aus dieser Perspektive wieder politischer werden.
Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit einer Zukunft, die als lebenswert angesehen wird.
Innovationen im Sinne von Problemlösungen reichen da nicht (mehr) aus.
Es gilt, sowohl die Zukünfte Sozialer Arbeit zu gestalten als auch die Organisationsentwicklung soweit möglich in Angriff zu nehmen – weg von der Institutionen- hin zur Personenorientierung.
P.S.: Wenn Du nach dem Lesen dieses Beitrags Deine Organisation zwischen diesen herausfordernden Polen entwickeln magst, stehe ich Dir gerne als Begleiter zur Seite. Einfach hier Kontakt aufnehmen…
Die diesen Beitrag leitende These lautet: Da in sozialen Organisationen die Informalität dominiert, sind soziale Organisationen veränderungsresistent. Um die These zu begründen wird im Folgenden Informalität definiert und daran anschließend begründet, warum in sozialen Organisationen Informalität dominiert.
Der Beitrag ist sicherlich nicht abschließend und perfekt durchdacht, sondern die erste Verschriftlichung eines Gedankens, den ich schon lange mit mir herumtrage. Und wenn jemand Ideen und (Literatur-)hinweise hat, die diesen Gedanken stützen, bitte her damit (bspw. in die Kommentare oder per Mail).
Informalität in Organisationen – was ist das eigentlich?
Jede Organisation lässt sich – wenn man den Ausführungen von Kühl und Muster (2015, 17ff) folgt – anhand der Schauseite, der informalen und der formalen Seite beschreiben.
Die Schauseite meint die auch von außen sichtbaren Fassaden, die die Organisation öffentlich sichtbar darstellen will. Das sind zum Beispiel der Internetauftritt, die Veröffentlichung von Jahresberichten, von im Netz zugänglichen Leitbildern, aber auch die von außen sichtbaren Gebäude und öffentlich zugänglichen Bereiche einer Organisation. Da ich diese Zeilen gerade in einem Hotel schreibe: Der Blick in das oftmals kaum einsehbare Büro hinter den Hotelrezeptionen dieser Welt (fast jedes Hotel hat hinter der Rezeption ein Büro) zeigt, dass der erste Eindruck, den die Rezeptionen (Schauseite) vermitteln sollen, nicht mit den organisationalen Realitäten der Hotels übereinstimmen. Und vielleicht zeigt sich gerade in Hotels, dass die „Fassaden (…) eine Schutzfunktion [haben]: Sie dienen dazu, den Außenstehenden den Einblick zu verwehren, um in Ruhe Entscheidungen vorbereiten zu können, mögliche Konflikte vor der Außenwelt zu verbergen oder Fehler und Peinlichkeiten zu verheimlichen“ (ebd.). Für den Beitrag hier ist die Schauseite irrelevant, obwohl sie auch in sozialen Organisationen eine große Bedeutung hat.
Die formale Seite der Organisation oder kürzer: die Formalstruktur meint dann all das, was in der Organisation als „Mitgliedschaftsbedingungen“ entschieden wurde. Darunter fallen Anwesenheitszeiten, die zu erledigenden Aufgaben und – sofern es sich um Konditionalprogramme handelt – wie welche der Aufgaben zu erledigen sind, wer einem was sagen darf und wer nicht und so weiter. Formalstrukturen sind also all jene Entscheidungsprämissen, die in der Organisation entschieden wurden.
Die informale Seite bzw. Informalität der Organisation meint dann die Dinge, über die eben keine Entscheidung getroffen wurde – die unentschiedenen Entscheidungsprämissen. „Von Informalität als Teil der Organisationsstruktur kann man sprechen, wenn eine nicht in der Formalstruktur erwartete Handlung mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftritt. Erst wenn ein Deutungsmuster sich nicht nur bei einem einzigen Mitglied findet, sondern sich in Teilen der Organisation als erwartbar eingeschlichen hat, hat es den Status einer informalen Erwartung. Erst wenn die kurzfristige Abstimmung mit der Kollegin in der Nachbarabteilung nicht ausnahmsweise vorgenommen wird, sondern wiederkehrend als ‚kurzer Dienstweg‘ zur Abstimmung genutzt wird, hat man es mit einer informalen Struktur zu tun“ (ebd.). Diese Routinen und Gewohnheiten werden oft und etwas verkürzt als Organisationskultur definiert: „So machen wir das hier eben, damit es funktioniert.“
Zur Unmöglichkeit der Gestaltung der Informalität
Was lässt sich in Organisationen entwickeln? Welche Ansatzpunkte haben Führungskräfte? Welche Optionen hat Organisationsentwicklung? Diese Fragen sind relevant, wenn es darum geht, Organisationen zukunftsfähig zu gestalten.
Gestalten heißt, Entscheidungen darüber zu treffen, was zukünftig anders – hoffentlich besser – sein soll.
Wenn man den Ausführungen von Kühl und Muster folgt (vgl. 2016) können Organisationen über drei „grundlegend verschiedene Typen von Organisationsstrukturen – oder systemtheoretisch ausgedrückt: von Entscheidungsprämissen“ entscheiden:
Programme: Programme legen fest, „was man in einer Organisation tun darf und was nicht“ (ebd.). Programme lassen sich untergliedern in a) Konditionalprogramme und b) Zweckprogramme. „Konditionalprogramme legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird“ (ebd.). Kurz kann man auch sagen: Alle vorgegebenen und verschriftlichten Prozesse („Wenn X passiert, ist Y zu tun!“) sind Konditionalprogramme. Zweckprogramme legen demgegenüber fest, „welche Ziele oder Zwecke erreicht werden sollen“ (ebd.). Hier geht es darum, den oben in der Organisation oder auch den im Team festgelegten Zweck zu erreichen – die Mittel dafür werden nicht näher definiert und es werden auch keine Prozesse beschrieben, wie genau das Ziel bzw. der Zweck zu erreichen ist.
Entscheidungswege: Entscheidungswege zeigen sich in den Organigrammen der Organisation und sagen aus, wer wem etwas sagen bzw. entscheiden kann, ohne dass dies angezweifelt wird. Hierarchien, Mitzeichnungsrechte oder auch die Kommunikationswege in Projekten, die sich temporär ausbilden, lassen sich als Beispiele für Entscheidungswege anbringen.
Personal: Organisationen können darüber entscheiden, wen sie einstellen und wen nicht bzw. wen sie entlassen und wen nicht. „Jeder Beobachter kann feststellen, dass in Organisationen nicht nur über Personal entschieden wird, sondern dass Personalentscheidungen wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen in der Organisation sind. Es macht für künftige Entscheidungen einen Unterschied, welche Person die für die Entscheidung zuständige Stelle besetzt“ (ebd.)
„Programme, Kommunikationswege und Personal lassen sich als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen“ (Gesmann, Merchel, 2021, 37)
Über alles weitere, über die Strukturtypen Programme, Entscheidungswege und Personal hinausgehende und damit auch über die Informalität kann nicht formal entschieden bzw. aktiv gestaltet werden. Kurze Dienstwege oder neue Ideen können nicht angeordnet oder strukturell verankert werden ebensowenig wie der regelmäßige Besuch der Currywurstbude zur Mittagspause oder das „agile Mindset“ der Mitarbeiter_innen.
Gleichzeitig ist zu betonen, dass Informalität in allen und damit auch noch so „formalisierten“ Organisationen existiert, da Organisationen soziale Systeme sind und die Informalität zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Organisationen zwingend erforderlich ist. Der „Dienst nach Vorschrift“ ist die effektivste Streikform und wäre insbesondere für soziale Organisationen tödlich.
Warum aber stellt dominierende Informalität ein Problem für die Gestaltbarkeit insbesondere sozialer Organisationen dar?
Bevor diese Frage beantwortet wird, stellt sich die Frage, warum überhaupt Informalität in sozialen Organisationen dominiert.
Informalität als dominierende Normalität sozialer Organisationen
Etwas überspitzt ausgeführt:
Absprachen werden individuell unter den Kolleg*innen getroffen, schnelle Entscheidungen werden nicht über den offiziellen Entscheidungsweg herbeigeführt, „das war schon immer so“ kommt vor der Umsetzung der in der Teamsitzung getroffenen Entscheidung, was immer wieder zu Frust aufgrund fehlender Verbindlichkeit führt und die nächste Veränderung wird genauso unbeschadet und vor allem unverändert ausgesessen, wie die Veränderungen zuvor.
Regeln – sofern sie denn existieren – werden nicht angewandt und gemeinsame Absprachen werden nicht eingehalten, sondern es wird vornehmlich situativ und subjektiv entschieden, was wie gemacht wird (vgl. dazu näher Merkes und Eidenschink, 2021, Leitprozess Gegenwartsbehandlung).
Aus meiner Sicht – und ich bin sehr dankbar über kritische und ergänzende Rückmeldungen in den Kommentaren oder per Mail – ergibt sich die dominierende Informalität aus den folgenden Besonderheiten sozialer Organisationen:
Historische Entwicklung sozialer Organisationen
Der Blick in die Historie vieler sozialer Organisationen, Träger und Verbände zeigt, dass diese aus dem Engagement Einzelner oder aus dem Engagement kleiner Gruppen von Menschen mit einem besonderem Anliegen, einem „Calling“. Sie wurden „angerufen“ von einem bestimmten Anliegen. Dieses Anliegen ist größer als die reine Notwendigkeit, für ein berufliches Auskommen zu sorgen.
Den Menschen, die im Jahr 1958, nach den schrecklichen Gräueltaten der Nazis nach dem zweiten Weltkrieg, die Lebenshilfe ins Leben gerufen haben, ging es nicht um die Entwicklung und Gestaltung einer großen Organisation, sondern zunächst einmal um die konkrete Hilfe für die Kinder mit Behinderung (vgl. https://www.lebenshilfe.de/ueber-uns/geschichte-der-lebenshilfe) Der Gründer selbst sagte 1958 „die Anregung, derartige Einrichtungen auch hier ins Leben zu rufen, wird von einer einflussreichen Elternorganisation ausgehen müssen, die nicht müde wird, sich immer wieder dort, wo es notwendig ist, für das Wohl und Glück ihrer Schützlinge einzusetzen.“ (Tom Mutters, 1958)
Nicht monetäres Auskommen, sondern die intrinische Motivation, das Wohl und Glück der Schützlinge zu steigern, war Antrieb für die Gründung.
Als weiteres Beispiel nehme ich hier Condrobs e.V. – eine inzwischen mittelgroße Organisation mit etwas mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen. Dazu heißt es auf Wikipedia:
„Condrobs e. V. ist ein Träger für soziale Hilfsangebote in Bayern. Der Verein wurde am 13. Dezember 1971 als Selbsthilfe-Initiative von Eltern drogenabhängiger Heranwachsender und Fachkräften in München unter Beteiligung des Rechtsanwalts Alexander Eberth gegründet.“
Auch hier kommt der Antrieb zur Gründung aus der Initiative betroffener Eltern.
Und der Blick zurück in die Entstehungsgeschichten der großen Wohlfahrtsverbände zeigt ähnliche, individuelle und hochgradig intrinsisch motivierte Perspektiven.
Meist zeigt die Gründungshistorie, dass einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen andere als monetäre Interessen mit der Gründung der Organisationen und Verbände verfolgt haben. Das Helfen kam von innen. Nicht die Frage möglichst effizienter und effektiver Gestaltung der Organisationen stand im Vordergrund, sondern der Zweck – Helfen wollen in allen Variationen.
Bei allen Beispielen zeigt sich, dass die intrinsische Motivation der Gründer_innen tief als kulturelles Muster in viele Organisationen eingeprägt ist und damit auch heute noch – bewusst oder unbewusst – wirkt. „Wir ticken hier eben so!“ ist die grundlegende Überzeugung, der man sich nicht entziehen kann.
Rechtsformen sozialer Organisationen
Der Blick auf die Rechtsformen insbesondere der bereits länger existierenden sozialen Organisationen lässt eine Unterteilung in Öffentliche Träger (Jugendämter, Gesundheitsämter…), frei-gemeinnützige Träger (Wohlfahrtsverbände) und privat-gewerbliche Träger zu.
Holdenrieder (2017, 24) betont, dass „die Entscheidung, sich in einem eingetragenen Verein (e.V.) zu organisieren, (…) die seit jeher häufigste Rechtsformwahl von frei-gemeinnützigen Trägern der Sozialen Arbeit“ ist.
Ja, in den letzten Jahren und Jahrzehnten sind gemeinnützige GmbHs hinzugekommen, die aber oftmals als Ausgründungen aus Trägervereinen existieren. Damit sind in vielen Fällen die Vereine selbst die einzigen oder zumindest Mitgesellschafter der GmbHs.
Die Rechtsform Verein ist von Grund auf partizipativ angelegt: Nicht die Geschäftsführung dominiert die Tätigkeiten des Vereins, sondern die Mitgliederversammlung, die als oberstes beschlussfassendes Organ alle Vereinsangelegenheiten regelt, soweit sie nicht durch die Satzung einem anderen Organ, etwa dem Vorstand, zugewiesen sind. Aufgaben der Mitgliederversammlung sind insbesondere die Wahl, Bestellung und Abberufung des Vorstands, Satzungsänderungen, Entscheidungen über grundlegende Angelegenheiten des Vereins sowie die Beaufsichtigung, Weisungserteilung und Entlastung vor allem des Vorstands. Die Mitgliederversammlung ist damit das wichtigste Organ des Vereins.
Selbstverständlich spielen wirtschaftliche Gesichtspunkte auch in Vereinen eine Rolle. Der Zweck des Vereins dominiert jedoch die Vereinstätigkeiten.
Dominanz von Zweckprogrammen
Zweckprogramme – wie oben schon beschrieben – legen fest, welche Ziele und Zwecke erreicht werden sollen. Sie geben aber nicht vor, wie genau die Konditionalprogramme, also Prozesse, einzuhalten sind, um die Zwecke zu erreichen.
„Im Gegensatz zu Konditionalprogrammen verfügen Zweckprogramme (…) über ein deutlich höheres Maß an ‚Elastizität‘ (…), was dem stark individualisierten Aufgabencharakter von sozialen Dienstleistungen gerecht wird“ (Gesmann, Merchel, 2019, 35f).
Aus dieser Perspektive gewinnen Visionen, Leitbilder, Wertebeschreibungen und auch die Schauseite sozialer Organisationen besondere Bedeutung: Wenn nicht vorgegeben werden kann, wie genau welche Schritte zur Erstellung sozialer Dienstleistungen gegangen werden können, ist mehr Fokus auf die Darstellung von Zielen und Zwecken zu legen.
Daraus resultiert, dass Organisationen „hoffen müssen“, dass die Mitarbeiter_innen sich mit dem Zweck ihrer Aufgaben identifizieren und diese dann so gut wie möglich erledigen. Während in produzierenden Unternehmen die Maschinen den Takt vorgeben und damit (besser) geregelt werden kann, wer was wann wie zu tun hat, sind soziale Organisationen darauf angewiesen, dass die Mitarbeiter_innen den purpose (jaja, ich weiß) verinnerlicht haben und im besten Sinne versuchen, diesen Zweck zu realisieren.
Entsprechend müssen „Soziale Dienstleistungen (…) situativ und individuell konstituiert werden und sind daher nur begrenzt standardisierbar: am ehesten in ihren administrativen Rahmenbedingungen, kaum jedoch in ihrem interaktiven Kern“ (Gesmann, Merchel, 2019, 59).
Die Ausführungen zeigen, dass notwendigerweise viele „individuelle Möglichkeiten“ in sozialen Organisationen existieren, die Leistungserbringung zu gestalten.
Darüber lässt sich auch die Ablehnung von „übergestülpten“ Konzepten erklären, die die „individuellen Möglichkeiten“ einschränken. Zu nennen ist bspw. die – oft, aber nicht immer – berechtigte Kritik an „starren“ Qualitätsmanagementkonzepten, die für soziale Organisationen adaptiert werden.
Professionelle Identität Sozialer Arbeit
Ich denke, es ist bisher schon deutlich geworden, dass die strukturellen Bedingungen sozialer Organisationen zu hoher Informalität führen. Einen Aspekt will ich aber noch ergänzen:
Was motiviert Menschen dazu, in soziale Berufe zu gehen?
Monetäre Anreize sind es nicht und auch die Anerkennung der Gesellschaft hält sich in engen Grenzen.
Vielmehr agieren Menschen in Sozialen Berufen aus einer intrinsischen Motivation heraus. Ihre professionelle Identitätsentwicklung beruht nicht allein auf Studium und Arbeitskontexten. Sie bildet sich bereits vor dem Studium durch „Familie, biografisch erworbene Wertvorstellungen, Professionsangehörige als Vorbilder oder ehrenamtliche bzw. nebenamtliche Tätigkeiten“ (Harmsen, 2009, 256). Harmsen schreibt weiter, dass „im professionellen Alltag (…) die Fallarbeit das Bewusstsein (dominiert). Sie gilt als Kennzeichen von Professionalität. Gesellschaftliche Ursachen für die Entstehung sozialer Probleme werden nur marginal wahrgenommen, so lange die Existenz der eigenen Stelle nicht in Frage gestellt wird. Ein sozialpolitisch fundiertes Professionsverständnis ist nicht erkennbar. Professionelle Identität ist subjektiv und handlungsorientiert“ (ebd., 257). Angesichts der verschiedenen Arbeitsfelder und der Notwendigkeit, sich als Sozialarbeiter_in immer wieder neu auf unterschiedliche Kontexte einzustellen, spricht er von einer „flexiblen professionellen Identität“ (vgl. ebd., 258).
Hier kommt also Flexibilität und wieder die intrinsische Motivation sowie die Subjektivität hinein. Die eigene, individuelle, aus der Praxis gewonnene Perspektive ist relevanter für die Identitätsbildung als kollektive, theoretisch fundierte Ansätze.
Für die Gestaltung von Organisationen folgt daraus, dass die herkömmlichen „Motivationsmöglichkeiten“ (wenn es sowas überhaupt gibt), an ihre Grenzen stoßen:
„Werden intrinsisch motivierte Fachpersonen anstatt mit kollegialer Anerkennung oder fachlich differenzierten Vorgesetztenfeedbacks vor allem mit monetären Anreize und anderen Bonussysteme belohnt, so tritt sehr rasch eine Demotivation ein. Die Mitarbeitenden fühlen sich nicht mehr als engagierte Fachleute geschätzt, sondern als tayloristische Arbeitskräfte entwertet“ (Herzka, 2013, 90).
Also: Obacht geben und Finger weg von individuellen Boni-Systemen!
Verständnis Sozialer Organisationen als soziale Bewegung
Dazu schreibt Kühl, dass sich „politische und religiöse Bewegungen (…) an Werten [orientieren], die sich zur Mobilisierung von Bevölkerungsteilen eignen. Das können Werte sein wie Frieden, Umweltschutz oder Gleichberechtigung, es können aber auch Werte wie Rassenreinheit, nationale Identität oder die weltweite Durchsetzung des ‚wahren‘ islamischen oder auch christlichen Glaubens sein.“
Fridays for Futurekommt da sofort in den Sinn, aber auch Bewegungen wie Ökologiebewegungen, Anti-Atom-Bewegungen, Friedens-, Menschenrechts-, Antiglobalisierungs-, Behinderten-, Frauen-, LGBTQ-Bewegungen.
Zwischen sozialen Bewegungen und Organisationen gibt es einige, eklatante Unterschiede. Insbesondere fällt es – im Gegensatz zu Organisationen – den Bewegungen schwer, den Kreis ihrer Mitglieder exakt zu definieren. Wer genau gehört dazu? Wer ist Aktivist:in, wer Gegner, wer Sympathisant:in? Es ist oftmals sogar „für die jeweilige Bewegung selbst nur schwer zur erkennen, wo genau die Grenze zwischen diesen (…) Gruppen verläuft“ (ebd.).
Aber was hat das jetzt mit sozialen Organisationen, Wohlfahrtsverbänden etc. zu tun? Verstehen sich diese zu Teilen mehr als Bewegung denn als professionelle Organisation?
Da spricht einiges dafür:
Wenn die Definition sozialer Bewegungen zugrunde gelegt wird, zeigt sich eine Parallele in der starken Werteorientierung sozialer Organisationen: Formulierungen zur Nächstenliebe, christlichen Werten, Solidarität, zu den „Menschen im Mittelpunkt“ usw. finden sich in allen Leitbildern Sozialer Organisationen.
Im Gegensatz zu professionellen Organisationen steht entsprechend ein „größerer Zweck“, ein „evolutionärer Sinn“ vor der reinen „Wirtschaftlichkeit“. Überspitzt formuliert geht es in vielen sozialen Organisationen, Wohlfahrtsverbänden und Initiativen um die „Rettung der Welt“ und damit eben um wertegetriebenes Handeln.
Viele soziale Organisationen sind auf die Mitarbeit von Ehrenamtlichen angewiesen, die durch ihre Ehrenamtlichkeit keine „klassischen Organisationsmitglieder“ sind.
Der Blick auf die Historie sozialer Organisationen (s.o.) zeigt ebenfalls, dass diese oftmals aus anderen Beweggründen ins Leben gerufen wurden als klassische Unternehmen.
Wahrscheinlich ließe sich diese Liste bei längerem Nachdenken verlängern. Aber sie macht schon so deutlich, dass durch die Vermischung der Anforderungen professioneller Organisationen und Bewegungen eine massive Konfusion, Unklarheit und damit oftmals Unsicherheit ausgelöst wird.
Und durch die Konfusion ergeben sich Herausforderungen insbesondere auf Seiten der Führungskräfte:
Wie gehe ich mit den Ehrenamtlichen um? Welche Anforderungen stellen bspw. Vorstände oder ehrenamtliche Aufsichtsräte?
Darf ich (bspw. aus Gründen des Überlebens der Organisation) die Wirtschaftlichkeit vor den „größeren Zweck“ stellen?
Darf ich formale Strukturen, klare Regeln und Prozesse einfordern und deren Missachtung sanktionieren?
Auf welche unserer vielen Stakeholder höre ich eigentlich? Wer hat Priorität?
…
Aus dieser Konfusion und den Unsicherheiten ergibt sich auch – so zumindest eine These – die mir oft begegnende „nicht vorhandene Führung“ in Teams und Organisationen der Sozialen Arbeit.
Personenorientierung führt zur Veränderungsresistenz sozialer Organisationen
Rudolf Wimmer schreibt, dass es in Einzelfällen sinnvoll sein kann, eine Organisation um die Bedürfnisse von Personen herum zu bauen. In der Gestaltung von Organisationsdesigns jedoch grundsätzlich auf die Personenorientierung zu setzen, ist nicht funktional, da das Organisationsprinzip „Personenorientierung“ „nur bis zu einem gewissen Komplexitätsgrad erfolgreich ist“ (Wimmer, 2019).
Dem folgend „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (ebd.).
Wimmer schließt die Ausführungen mit dem Bezug zu Non-Profit-Organisationen, die aus seiner Perspektive „per se veränderungsresistent [sind], weil sie keinen Aufgabenfokus jenseits der persönlichen Bedürfnisse mobilisieren können“ (ebd.).
Die vorherigen Ausführungen in den Blick nehmend zeigt sich die Personenorientierung (im Gegensatz zur Aufgabenorientierung) jedoch an vielen Stellen – von der Gründung sozialer Organisationen basierend auf individuellen Schicksalen der Gründer:innen über die auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesenen Rechtsformen sozialer Organisationen bis hin zur auf die intrinsische Motivation setzende professionellen Identität der in den Sozialen Berufen Beschäftigten.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass in sozialen Organisationen Informalität dominiert, auch wenn hier sicher differenziertere Perspektiven aufgemacht werden könnten. Interessant dazu sind die „Spezifika von Organisationen der Sozialen Arbeit und deren Bedeutung für Management“ bei Gesmann und Merchel (2019, 69ff).
So bin ich bspw. nicht auf die Pluralität sozialer Organisationen eingegangen bzw. die Tatsache, dass sie „einer Vielzahl von Interessenträgern mit heterogenen Erwartungen ausgesetzt (sind) – mit der Folge, dass sie unterschiedliche, (…) gar in Widersprüchen zueinander befindliche Handlungslogiken aufnehmen und balancierend verarbeiten müssen“ (ebd., 71), was wiederum zu individuellen Herangehensweisen und damit einer sich steigernden Informalität und in der Konsequenz zu Fragen an die Gestaltbarkeit formaler Strukturen bzw. den Veränderungsmöglichkeiten sozialer Organisationen führt.
Denn diese formalen Strukturen sind es, über die Führungskräften Gestaltungsoptionen wahrnehmen können. Und hier wird es kompliziert.
Denn Informalität in Organisationen dient ja gerade dazu, die Formalstrukturen zu umgehen, zu ignorieren bzw. im eigenen Sinne funktional auszulegen.
Ohne hier (es ist ja noch ein Blogbeitrag) die Tiefe gehen zu können ist der Begriff der „brauchbaren Illegalität“ (vgl. dazu näher Kühl, 2020) spannend. Darunter ist der bewusste, zeitlich begrenzte, für die Organisation und deren Mitglieder funktionale Verstoß gegen die formalen Erwartungen der Organisation zu verstehen.
Ich will auch noch einmal betonen, dass Informalität für soziale Organisation nicht ausschließlich ein Problem darstellt, sondern hochgradig relevant und damit funktional ist. Denn „gerade Organisationen der Sozialen Arbeit, deren primäre Aufgaben in einer direkten Auseinandersetzung mit Leistungsadressaten und deren wechselnden Problemen liegen, müssen ihren Mitarbeitern auf den unteren Ebenen ein hohes Maß an Spielraum für Vorgehen und Entscheidungen belassen“ (Gesmann, Merchel, 2019, 111).
Was aber tun? Organisationsentwicklung einfach sein und soziale Organisationen weiterhin veränderungsresistent „vor sich hinwabern“ lassen?
Naja, nicht unbedingt.
Im Folgenden habe ich – neben dem Verständnis notwendiger Informalität – drei Ansätze zur Gestaltung sozialer Organisationen skizziert:
Allein das Verständnis davon, dass es in sozialen Organisationen aufgrund der geschilderten Aspekte immer „informeller“ zugehen wird (und muss), als in „normalen Organisationen“, dient – als ein erster Ansatz – dazu, von „Steuerungsphantasien“ im Sinne der „Organisation als Maschine“ Abstand zu nehmen.
Steuerungsphantasien sind in allen sozialen Systemen fehl am Platz. Denn, wie Maja Göpel sehr passend schreibt, lehrt die systemische Perspektive, „dass es ’normal‘ ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden“ (2022, 33). Steuerungsphantasien in sozialen Organisationen sind aufgrund der dominierenden Informalität jedoch noch weniger sinnvoll und zielführend also sowieso.
Sanktionieren
Option 1 ist die Sanktionierung von regelabweichendem Verhalten.
Eigentlich einfach:
Wenn in der Organisation festgestellt wird, dass Vereinbarungen nicht eingehalten, eigene, individuelle Wege gegangen und Regeln nach eigenem Ermessen ausgelegt werden bzw. die brauchbare Illegalität ausgelebt wird, kann dies – wie bei jedem illegalen Handeln – sanktioniert werden.
Organisationen bzw. konkret Führungskräfte haben die Möglichkeit, auf der Einhaltung der Mitgliedschaftsbedingungen zu beharren. Sie können die Beachtung von formalen Regeln einfordern. Das kann vom einem „ernsten Gespräch“ über die Abmahnung bis hin zur Kündigung führen.
Das Sanktionieren klingt auf den ersten Blick und für Menschen aus sozialen Organisationen hart. Aber anders betrachtet sorgt die Option der Sanktionierung für Klarheit und Sicherheit. Und wenn eine Ausprägung von Führung ist, Entscheidungen zu treffen, von denen andere Menschen tangiert werden, dann können diese Entscheidungen eben auch in der Sanktionieren regelabweichenden Verhaltens bestehen.
Sanktionierung kann aber auch über die Gruppe bzw. das Team erfolgen. Der soziale Druck ist aus oftmals wirksamer als die Sanktion durch Vorgesetzte. Mich wundert immer wieder, dass in Teams gemeinsam vereinbarte Vorgehensweisen nicht eingehalten werden, aber dies auch niemand offen in der gemeinsamen Teamsitzung anspricht.
Ja, das erfordert Mut und Konfliktfähigkeit. Aber gemeinsame Arbeit geschieht ja nicht zum Spaß, sondern um den Zweck der Organisation bzw. des Teams bestmöglich zu erreichen.
Und spätestens dann, wenn es zur Frage der Gestaltung selbstbestimmt agierender Teams kommt, geht an der Sanktionierung über den sozialen Druck bzw. das offene Ansprechen von regelabweichendem Verhalten kein Weg vorbei. Dazu bedarf es „psychologischer Sicherheit“ im Team bzw. eine „Teamkultur“, in der es möglich ist, auch unbeliebte, konfliktbehaftete Themen offen anzusprechen.
Hinzuweisen ist aber auch darauf, dass „der Ton die Musik“ macht und eine respektvolle Kommunikation auch bei kritischem Feedback im Team gewahrt bleiben kann.
Sanktionierung funktioniert aus externer Beraterperspektive nicht, da die Berechtigung zur Sanktionierung fehlt. Gleichwohl können Berater:innen die Führungskräfte bei Sanktionierungsprozessen begleiten. Sie können zum einen helfen abzuwägen, ob eine informale Verhaltensweise überhaupt sanktioniert werden muss (s.u.).
Zum anderen können sie selbstbestimmt agierende Teams dabei begleiten, „guten sozialen Druck“ auszuleben und kritisches Feedback transparent und respektvoll anzusprechen.
Formalisieren
Alternativ zum Sanktionieren ist es auch möglich, bislang regelabweichendes oder eben nicht geregeltes Verhalten zu formalisieren, also offiziell als zugehörig zur Formalstruktur zu bestätigen.
Dies kann hilfreich sein bei für die Organisation funktionalem, vormals informalem Verhalten.
Und Informalität ist, wie oben dargelegt, häufig funktional.
Es gilt, das informale und damit ungeregelte, nicht entschiedene Verhalten zu thematisieren und dann gemeinsam zu erarbeiten, ob und vor allem wie eine gültige Regel formuliert und damit formalisiert werden kann.
Zur Thematisierung des informalen Verhaltens wiederum ist die Frage „Wie wird entschieden?“ bzw. die Beobachtung dessen, wie entschieden wird, hilfreicher als der Blick darauf, was „richtig“ ist (vgl. Merkes, Eidenschink, 2021, 99).
Ignorieren
Alternative 3 ist es, abweichendes Verhalten zu ignorieren.
So ist es insbesondere bzgl. der Sanktionierung, aber auch bzgl. der Formalisierung problematisch, dass informales Verhalten funktional für die Erledigung der Aufgaben ist – zumindest für das jeweilige Organisationsmitglied.
Eine Sanktionierung durch die Führungskraft und damit die Einforderung der Einstellung des informalen Verhaltens wird somit immer auch ungewollte Nebenwirkungen mit sich bringen: Was vorher „irgendwie“ funktioniert hat, ohne das klar war, wie genau, ist plötzlich verboten.
Hier macht es oftmals Sinn, nicht hinzuschauen und das informale Verhalten im Team zu ignorieren:
„Mitarbeiter XY verhält sich zwar immer wie die Axt im Wald, er hält sich nicht an Ansprechen, dokumentiert nichts, aber die Ergebnisse die geliefert werden, sind topp!“
Dabei ist jedoch relevant, dass das Verhalten funktional für die Organisation ist und nicht zu massiven Konflikten innerhalb oder auch außerhalb der Organisation führt.
Ignorieren erfordert also wiederum viel Fingerspitzengefühl auf Seiten der Führungskräfte, der Berater:innen bzw. der Teammitglieder:
„Wollen wir wirklich die Informalität ans Licht bringen? Oder lassen wir es im Sinne der Organisation so laufen?“
Fazit, oder: Konsequenzen für die Organisationsentwicklung sozialer Organisationen
Deutlich wurde, dass Informalität in allen Organisationen „normal“ ist. „Eine vollkommen transparente und formalisierte Organisation, die keine Spielräume hätte, informell Entscheidungen zu treffen, [wäre] nicht existenzfähig“ (Merkes, Eidenschink, 2021, 78).
Bezogen auf soziale Organisationen kommen jedoch Besonderheiten hinzu, die – als Führungskraft ebenso wie als Berater:in – in der Gestaltung sozialer Organisationen nicht unbeachtet bleiben dürfen.
Für Beratung und auch für die Führungskräfte gilt also grundlegend, dass es relevant ist, beide Seiten – die formale und informale Seite der Organisation – „als für die Anpassungsfähigkeit der Organisation bedeutsam“ (Merkes, Eidenschink, 2021) anzuerkennen.
Der einfache Rückschluss, dass dominierende Informalität „verhindert“ und damit sanktioniert gehört bzw. das entsprechendes individuelles, nicht abgesprochenes Verhalten formalisiert werden muss, neue Regeln einzuziehen sind und damit aus dem Schatten der Organisation „ins Licht geholt werden“ und sichtbar gemacht werden muss, ist immer mit Vorsicht zu betrachten.
Ignorieren allein hilft jedoch auch nicht (immer), denn es soll sich ja trotz der Veränderungsresistenz sozialer Organisationen etwas – hin zum Besseren – bewegen.
Entsprechend bewegt man sich – als Berater:in wie als Führungskraft sozialer Organisationen – auf dünnem Eis.
In eigenen Projekten gehe ich so vor, dass ich vorab Hypothesen über die Organisation bilde und diese dann in meinem Kopf oder auch explizit mit den Kund:innen thematisiere. Im Verlauf der gemeinsamen Arbeit kommen wieder neue Hypothesen, also Annahmen, hinzu. Dabei können es rosa Elefanten sein, die sich – gefühlt – im Raum breit machen, Schweigen bei bestimmten Themen, Abwehr bezogen auf bestimmte Veränderungsaspekte, Tabus und und und…
Hier macht es Sinn, sehr umsichtig vorzugehen und nachzufragen, ob die als rosa Elefanten verkleideten Hypothesen angesprochen und damit explizit werden oder ob sie besser ignoriert bleiben sollten.
(Auch) basierend auf den Ausführungen bin ich zunehmend skeptisch, ob der Ruf nach mehr „Selbstorganisation“ und damit der weiteren Stärkung der sowieso in Teilen ausufernden Informalität in sozialen Organisationen „immer“ zielführend ist (im Wissen, dass ich selbst ein „großer Rufer“ bzgl. des Themas bin ;-).
Ich stelle hier abschließend die These in den Raum, dass es in vielen sozialen Organisationen häufig mehr Sinn machen würde, vor dem Weg in die sinnvolle Gestaltung selbstorganisierter Strukturen und Teams zunächst die Fremdorganisation zu stärken, den Formalisierungsgrad sinnvoll zu erhöhen, neben den Zweck- auch die Konditionalprogramme sowie die Entscheidungswege in den Blick zu nehmen und erst dann, wenn die Basics der Organisation sinnvoll formalisiert sind und die Aufgabenorientierung vor der Personenorientierung steht, über Selbstorganisation nachzudenken.
Wenn es Organisationen gelingt, die Möglichkeit der stärkeren Formalisierung ebenfalls in den Blick zu nehmen und nicht das alleinige Propagieren von Selbstorganisation als Lösung aller Probleme voranzustellen, wäre „echte Agilität“ und damit Veränderung und Anpassungsfähigkeit an die tatsächlichen Bedarfe der Organisation erreicht und nicht ein einfaches Hinterherrennen hinter in vielen Fällen gar nicht so neuen Management-Moden.
Quellen
Gesmann, Stefan, und Joachim Merchel. Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2019.
Göpel, Maja. Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
Harmsen, Thomas. Konstruktionsprinzipien gelingen der Professionalität in der Sozialen Arbeit. In: Becker-Lenz, Roland et. al. Professionalität in der sozialen Arbeit: Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, 2009. S. 255 – 264.
Herzka, Michael. Führung im Widerspruch. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2013.
Holdenrieder, Jürgen, Hrsg. Betriebswirtschaftliche Grundlagen Sozialer Arbeit: eine praxisorientierte Einführung. 2., Erweiterte und Überarbeitete Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2017.
Kühl, Stefan, und Judith Muster. Organisationen gestalten: eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Management kompakt. Wiesbaden: Springer VS, 2016.
Kühl, Stefan. Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen. Working Paper 4/2020. URL: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/soziologie/fakultaet/personen/kuehl/pdf/Kuhl-Stefan;-Working-Paper-4-2020-Brauchbare-Illegalitat-Weswegen-sich-Regelbruche-nicht-vermeiden-lassen.pdf. Download am 05.09.2023.
Merkes, Ulrich, und Klaus Eidenschink. Entscheidungen ohne Grund – Organisationen verstehen und beraten Eine Metatheorie der Veränderung. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021.
Wimmer, R., von Ameln, F. Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.
P.S.: Danksagungen kommen ja eigentlich an den Anfang. Hier geht mein Dank aber an Stefan Gesmann, mit dem ich mich zum Thema austauschen durfte und der mir noch einmal hilfreiche Perspektiven aufgezeigt hat.
Und jetzt bin ich wirklich gespannt auf Deine Beobachtungen zum Thema Informalität in Deiner Organisation: Wie gehst Du, wie geht ihr damit um?
Die Entwicklungen hin zu mehr Selbstorganisation, flacheren Hierarchien, kollegialer Führung, Selbstverwaltung und Co. freuen mich riesig. Als ich vor fast 10 Jahren begonnen habe, mich tiefer in das Thema einzuarbeiten, war es nicht absehbar, dass sich diese positive Entwicklung ergibt – und dann auch noch in Organisationen der Sozialwirtschaft, in Bildungseinrichtungen und selbst in Kommunen. Die Befassung mit dem Thema erfordert aber auch, nicht nur die positiven Seiten zu beleuchten, sondern immer auch die Herausforderungen zu betrachten. Ich bewege mich schon zu lange im Kontext von Hochschulen und damit der Wissenschaft, um einzig lustige Konzepte zu verkaufen. Das macht es aus unternehmerischer Perspektive nicht einfach: Auf der einen Seite etwas gut, richtig und wichtig zu finden und auf der anderen Seite immer wieder die kritischen Aspekte ansprechen zu müssen ist in der Kundenkommunikation nicht „lukrativ“ 😉 Aber ich will hier einen mir wichtigen, kritisch zu betrachtenden Aspekt im Kontext der Gestaltung selbstbestimmt agierender Teams bzw. der Selbstorganisation ansprechen: Es geht um Angst und Selbstorganisation.
Warum sagt niemand was???
Angst in Bezug auf selbstorganisierte Strukturen ist mir im Kontext der Diskussionen rund um die Waldorfschulen noch einmal sehr deutlich ins Auge gestochen (kurzer Transparenzhinweis: meine Kids gehen auf die Waldorfschule):
Ich weiß nicht, ob Du den Beitrag von Böhmermann vor zwei Wochen gesehen hast. Darin versucht er, die Waldorfschulen zu „enttarnen“, was ihm – so meine Perspektive – nicht wirklich gut gelingt. Es werden alte Kamellen aufgegriffen, die mit Blick auf die Waldorfschulen immer wieder und seit vielen Jahren diskutiert werden. Kurz: Eher unspannend, in Teilen schlecht recherchiert aber manchmal ganz witzig, und ja, meine Kinder können ihren Namen tanzen…
Bei näherer Betrachtung zeigt sich mir jedoch ein strukturelles Problem.
Waldorfschulen sind selbstverwaltet. Im Gegensatz zum klassischen Schulsystem gibt es keine Rolle „Schulleitung“, die von einer Person ausgefüllt wird, sondern Kreise, die sich mit bestimmten Themen (und natürlich auch mit der Schulleitung) befassen. Daneben gibt es an den meisten Waldorfschulen noch eine Geschäftsführung für finanzielle und rechtliche Fragestellungen. Die Strukturen der Waldorfschulen erinnern sehr, sehr stark an Konzepte wie die kollegiale Führung verbunden mit soziokratischen Elementen.
Soweit, so gut. Nein, vielleicht sogar: Soweit, so sehr gut. Wie oben geschrieben bin ich von dem Steuerungsmodell der Selbstverwaltung, Selbstorganisation oder kollegialen Führung überzeugt.
Und gerade in Bildungseinrichtungen und sozialen Organisationen macht diese Art „Führung“ bzw. „Steuerung“ Sinn:
„Auch weil in ‚front-line organizations die Organisationsmitglieder, die an der Grenze zur Umwelt tätig sind, wesentliche Informationen aus der Umwelt erhalten und für die Organisation verarbeitungsfähig machen können und weil diese Organisationsmitglieder bei der Leistungserbringung eine relativ hohe Autonomie herausbilden müssen, wäre eine Verortung von ‚Steuerung‘ vornehmlich an der Spitze der Organisation dysfunktional.“
(Gesmann, Merchel, 2019, 79)
Aber!
Ja, ohne ein aber geht es nicht.
Selbstverwaltung und Selbstorganisation funktioniert nur unter Bedingungen von „Angstfreiheit“.
Rosa Elefanten grillen
Nur dann, wenn die Strukturen der Selbstorganisation so gestaltet sind, dass die Mitglieder einer Organisation oder eines Teams tatsächlich in der Lage sind, ihre Anliegen, Kritikpunkte, Ängste, Herausforderungen … angstfrei zu äußern, kann sich die Kraft der Selbstorganisation entfalten.
Ab dem Zeitpunkt jedoch, wo rosa Elefanten den Raum betreten und nicht gegrillt werden, beginnt das Konstrukt zu wackeln.
Ab dem Zeitpunkt, wo Anliegen, Ängste, Probleme, vielleicht auch nur Vermutungen über gegebenenfalls in der Zukunft auftretende Probleme aus Angst vor Ablehnung nicht mehr geäußert werden, bekommt das selbstverwaltete System Risse.
Während in klassisch strukturierten Organisationen die Führungskräfte explizit dazu da sind, die Umwelt zu beobachten, Entscheidungen zu treffen und damit auch bei Fehlverhalten einzelner Organisationsmitglieder rigoros durchzugreifen, ist diese Zuständigkeit in selbstverwalteten Strukturen nicht mehr „qua Rolle“ (bspw. als Teamleitung, Geschäftsführung, Schulleitung…) gegeben.
Angst, unpopuläre Dinge anzusprechen kann dazu führen, dass eben niemand mehr auf die kritischen Punkte schaut, die Schwierigkeiten anspricht, Probleme benennt.
Und jetzt? Keine Selbstorganisation?
Nein, das ist sicher nicht die Lösung.
Dafür sprechen in komplexen und dynamischen Umfeldern viel zu viele Argumente für die kompetenzbasierte Verteilung von Führung, für Selbstverwaltung, für mehr Autonomie und Selbstbestimmung.
Wenn die Komplexität in der Umwelt der Organisationen steigt, ist es notwendig, die interne Komplexität ebenfalls zu steigern (im Gegensatz zum Versuch, der Komplexität mit mehr „top-down“-Regeln und -Vorgaben zu begegnen).
Insbesondere sehe ich hier drei Wege, die zu gehen sind, um dem Problem fehlender Angstfreiheit zu begegnen:
Der erste Aspekt ist ohne Frage die Stärkung der psychologischen Sicherheit im Team bzw. den jeweiligen Kreisen der selbstverwalteten Organisation. Dies gelingt bspw. durch gleiche Redeanteile aller Beteiligten. Das in der Sozialen Arbeit zu gewisser Berühmtheit gelangte Wollknäuel kann gute Dienste leisten. Wenn man etwas hipper unterwegs sein will nimmt man einen Talking Stick, der nur dem*derjenigen erlaubt zu sprechen, der den Stick hat.
Der zweite Aspekt zur Begegnung der strukturellen Probleme liegt in der Schulung von Kompetenzen und Fähigkeiten der Teammitglieder in Methoden selbstorganisierter Arbeit und gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung. Wenn es gelingt, Probleme anzusprechen (psychologische Sicherheit) müssen entsprechende Entscheidungen zum Umgang mit den Problemen getroffen werden. Wie gehen wir um mit Menschen, die rechte Nazischeiße in unserer Organisation verbreiten? Eigentlich natürlich keine Frage, aber es braucht eben die gemeinsam getroffene Entscheidung, diese Personen – egal ob Kolleg*innen oder Eltern oder Klientel – aus der Organisation zu entfernen.
Der dritte Aspekt liegt wieder auf struktureller Ebene: Dadurch dass sich gerade in der Selbstorganisation schnell informelle Routinen ausbilden braucht es formale Strukturen und Regeln, die das gemeinsam vereinbarte Vorgehen, die Wege der Entscheidungsfindung etc. absichern. Hier könnte man von einer Art „Grundgesetz der Organisation“ sprechen, das unantastbare rote Linien in der gemeinsamen Zusammenarbeit definiert.
Damit ist zwar immer noch nicht zu 100% ausgeschlossen, dass sich hoch problematische informelle Netzwerke, Schweigen und Angst ausbilden. Das ist auch in klassischen, formal-hierarchisch organisierten Organisationen nicht gesichert.
Aber es sind zumindest Vorkehrungen getroffen, die eine Ausbildung entsprechend problematischer Strukturen besser verhindern.
Mut, der Angst zu begegnen
Abschließend nur noch der Verweis auf die Waldorfschulen (wenn ich schon damit eingestiegen bin): Die geschilderten Probleme in manchen Waldorfschulen (die es zweifelsohne gab), sind damit nicht in erster Linie ein Problem der Schulform. Sie sind – wie ich es häufig auch in anderen Kontexten erlebe – struktureller Natur.
Zusammenfassend gilt es, den Mut zu haben, bislang gelebte Strukturen, Routinen und Vorgehen in der Organisation in Frage zu stellen und diese aktiv zu bearbeiten.
Das kann gelingen, wenn man sich Zeit nimmt und ernsthaft an der Zukunft arbeiten will.
Quellen:
Gesmann, Stefan, und Joachim Merchel. Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2019.
Wahrscheinlich kennt inzwischen jede*r die Gallup Studie? Diese misst – ja, was eigentlich? Sie misst – so die Aussagen auf der Homepage – seit 2001 wie hoch der Grad der emotionalen Bindung der Mitarbeitenden an ihren Arbeitgeber ist und damit ihr Engagement und die Motivation bei der Arbeit. Naja, hier ließen sich schon einige Fragen stellen, aber ich will es mal so stehen lassen.
Bezogen auf die jüngsten Ergebnisse – die Gallup Studie 2021 – werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Beschäftigte und den deutschen Arbeitsmarkt untersucht und, so Gallup, „folgende Aspekte vertieft:
Wechselbereitschaft & Arbeitsmarkt: Zahl der Beschäftigten auf Jobsuche erreicht Spitzenwert – Kündigungswelle bald auch in Deutschland?
Dauer-Stresstest Corona: Burn-out-Gefahr nimmt zu
Recruiting: HeadhunterInnen verstärkt auf Jagd nach Talenten
Schutzimpfung emotionale Bindung: Wie Unternehmen und Führungskräfte dem Wettbewerb um Talente entgegensteuern können“
Bei der Studie kommen dann über die Jahre hinweg ähnlich Ergebnisse heraus, die sich in der berühmten Grafik zeigen (die ich hier aus Urhebergründen nicht zeigen darf 😉
Aber die Grafik ist leicht erklärt:
Mit leichten Schwankungen bewegt sich die Anzahl der Mitarbeitenden mit hoher emotionaler Bindung immer irgendwo um die 15% (der „grüne“ Wert), die Anzahl der Mitarbeitenden mit geringer Bindung bei etwa 70 % (gelber Wert) und die Anzahl der Mitarbeitenden, die keine Bindung (roter Wert) mehr aufweisen, bei etwa 15 %. Grün, gelb, rot; 15 – 70 – 15.
Easy.
Keiner hat Bock zu arbeiten!?
Die verbreitete Lesart ist:
„Oh mein Gott, nur 15% unserer Mitarbeiter*innen sind emotional stark gebunden.“
Und ja, angesichts der Zeit, die wir auf Arbeit verbringen, ist das ein beängstigend niedriger Wert:
Eigentlich haben 85% der Menschen nicht wirklich Bock, die Arbeit zu verrichten, die sie verrichten.
Aber welche Lesart könnte noch angelegt werden?
Vorüberlegungen aus globaler und nationaler Perspektive sowie der Perspektive der Sozialwirtschaft
Dazu ein paar kurze Vorüberlegungen aus globaler und nationaler Perspektive sowie der Perspektive der Sozialwirtschaft:
Globale Ebene
Global betrachtet sind die Ausführungen von Otto Scharmer immer wieder mehr als lesenswert.
„Wir sehen die Symptome dafür in der Verschlechterung unseres Ökosystems, die im Falle von Überschwemmungen und Dürren oft als “die schlimmste seit 1.000 Jahren” beschrieben wird. Wir sehen es an der Destabilisierung des Klimas, dem Absinken des Grundwasserspiegels, dem Verlust des Mutterbodens und dem alarmierenden Verlust der biologischen Vielfalt. Wir sehen die Symptome des Zusammenbruchs der sozialen Systeme in einem erhöhten Maß an Polarisierung, Ungleichheit, Rassismus, Gewalt und Krieg sowie in den Anfängen der klimabedingten Massenmigration.“
Scharmer bietet in dem Beitrag auch Lösungswege an.
Demnach gilt es unter anderem (aber prioritär) „unsere Systeme für Bildung und lebenslanges Lernen um[zu]gestalten. Während wir uns vielerorts vom Auswendiglernen zu stärker lernerzentrierten Modalitäten entwickelt haben, konzentriert sich die Bildung weiterhin auf individuelles Lernen und den Aufbau von Kapazitäten. Wir sind weit entfernt von Bildungsmodellen, die die Fähigkeit zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft aufbauen“ (ebd.).
Übrigens fand ich die Episode des Podcasts „Hotel Matze“ mit Ulrike Herrmann, die die Frage stellt, wie wir uns vom Kapitalismus befreien können, unglaublich spannend. Ihre Idee ist die Rückkehr ins Jahr 1978 und zur britischen Kriegswirtschaft.
Klingt komisch, ist aber eine mehr als hilfreiche, vor allem realistische Betrachtung des Zustands unserer Welt.
Nationale Ebene
National betrachtet sehen wir in und nach der Pandemie sowie befeuert durch den Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden, hochkomplexen Fragen der Energiesicherheit ein Erstarken rechter Parteien. Die Wahlergebnisse in Niedersachsen, bei denen die Deppen von der AfD ihr Ergebnis seit der letzten Wahl – ohne Inhalte, Ideen und Lösungen – fast verdoppeln konnten, sprechen hier eine deutliche Sprache.
Parallel dazu steuern wir durch die demographische Entwicklung in Deutschland auf einen massiven Arbeitskräftemangel zu, der zum einen das Problem mit sich bringt, dass in einigen Branchen eben die Arbeitskräfte fehlen. Zum anderen ist aber völlig offen, wie sich auf Basis der in den nächsten Jahren massiv steigenden Anzahl von Rentner_innen und einer gleichzeitig abnehmenden Anzahl von Arbeitsnehmer_innen das Rentensystem in irgendeiner Weise aufrechterhalten lässt.
Ich scherze immer mal wieder, dass ich ja nur noch 40 Jahre zu arbeiten habe und Holger macht sich Sorgen, dass bei seiner Verabschiedung kaum noch jemand in seiner Organisation arbeitet, der ihn verabschieden könnte 😉
Nein, ernsthaft: Da kommt was auf uns zu, was wir uns gesamtgesellschaftlich noch nicht vorstellen können.
Ebene der Sozialwirtschaft
Und bezogen auf die Sozialwirtschaft schreibt Joss Steinke auf Twitter:
Das könnte man jetzt als überspitzt und zu hart betrachten.
Mein Eindruck hingegen aus verschiedenen sozialen Organisationen unterschiedlicher Arbeitsfelder unterstreicht die Aussage von Joss – nicht nur bezogen auf die Energiekrise:
Wenn die Menschen im sozialen Bereich nicht eine unglaublich hohe intrinsische Motivation und eine Gott sei Dank tief verwurzelte Berufsidentität mitbringen würden, die auf anderen als monetären Werten fußt, wäre der Zusammenbruch des Systems schon deutlich greifbarer als er von außen scheint.
Ach, und wer über geschlossene Kitas und die damit nicht mehr gegebene Möglichkeit jammert, gemütlich im Homeoffice zu arbeiten: Das ist die Zukunft! Vielleicht haben Oma und Opa ja Bock, die Kids wieder mehr zu nehmen?
Die Systeme am Rand des Zusammenbruchs
Was will ich sagen?
Ich will sagen, dass viele unserer Systeme auf globaler und nationaler Ebene ebenso wie einzelne Funktionssysteme unserer Gesellschaft am Rande des Zusammenbruchs stehen. Der kurze Hinweis auf einen Blick in den Iran sei hier noch gestattet. Das Akronym BANI kommt mir mal wieder in den Sinn.
Aber was hat das mit der Gallup-Studie zu tun?
Der Gedanke ist recht einfach:
In jeder Keynote (so heißen Vorträge in anderen Branchen) wird propagiert, dass wir „Organisationsrebellen“ bräuchten, die den Status Quo infrage stellen, um Innovation und echte Weiterentwicklung zu ermöglichen.
Die Organisationsrebellen sind aber nicht die Menschen, die sich mit den Zuständen, dem Bekannten, dem System, wie es ist, zufrieden geben.
Die Menschen im roten Bereich der Gallup Studie
Was wäre, wenn die Menschen im roten Bereich der Studie – die „emotional nicht Gebundenen“ – nicht die Menschen sind, die lieber entspannt ne Stunde früher Feierabend machen, sondern genau die Menschen sind, die sich eben mit den Zuständen nicht zufrieden geben?
Was wäre wenn es genau diese Menschen in den Organisationen sind, die die Systeme zu hinterfragen?
Was wäre, wenn es sich lohnt, den Fokus anstatt auf die „grünen, emotional hoch Gebundenen“ auf die „emotional nicht Gebundenen“ zu richten und deren Energie und Ideen zu nutzen, an der Veränderung der Systeme zu arbeiten?
Vielleicht – und das ist eine reine Vermutung – haben die Menschen im roten Bereich ja Antworten, die sich dringend zu hören lohnen? So ist klar:
Nur „dagegen“ sein, ist kein Weg. Es braucht Ideen, neue Lösungen, komplexes Denken und Handeln, es braucht (soziale) Innovationen und die „Hoffnung, dass es besser wird“.
Antworten, die sich zu hören lohnen
Daher der Hinweis:
Schaut auf die Menschen, die emotional nicht gebunden scheinen. Vielleicht sind sie viel mehr gebunden als angenommen. Nur eben nicht an das Bestehende.
Schaut auf die Menschen, die anscheinend „gegen die Organisation“ arbeiten. Verurteilt diese Menschen nicht vorschnell, sondern geht mit ihnen in ernsthafte Gespräche, in einen Dialog „auf Augenhöhe“.
Versucht, wirklich zuzuhören und offen zu sein für andere Sichtweisen.
Vielleicht haben die Menschen Antworten, Ideen, Lösungen, die bislang Tabus und blinde Flecken bleiben konnten, heute und morgen aber dringend benötigt werden, um unsere Sozialsysteme, unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlage aufrechtzuerhalten.
New Work als abschließender Gedanke
Eine Auseinandersetzung – ich meine eine ernsthafte Auseinandersetzung – mit dem Konzept „New Work“ und den Ideen von Bergmann kann hier ebenfalls weiterhelfen.
„New Work“ ist eben gerade keine „Lohnarbeit im Minirock“, keine aufgehübschte Arbeitswelt, in der die Menschen mit Ideen von Homeoffice und Selbstverantwortung in den bestehenden Systemen weiter ausgequetscht werden.
New Work ist eine Abkehr insbesondere von dem bestehenden System der Lohnarbeit, das uns die Probleme eingebrockt hat, vor denen wir auf allen Ebenen unserer Gesellschaft stehen.
Bei New Work geht es um weit mehr als um die Frage, was die Menschen in den bestehenden Systemen „wirklich, wirklich tun wollen“. Es geht um die Gestaltung von neuen, völlig anderen, undenkbaren, utopischen Systemen, die unsere Lebensgrundlagen aufrechterhalten.
Und vielleicht können die Menschen im roten Bereich der Gallup Studie hierzu passende, neue Anregungen liefern.
Zum anderen haben wir nichts, zumindest nichts Wesentliches dagegen getan – nichts gegen die Klimakatastrophe und nichts gegen den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft. Bei beidem hätte es Lösungen gegeben. Der Umstieg auf erneuerbare Energien hätte nicht seit gestern (hat er?), sondern spätestens seit den 80er Jahren Priorität haben müssen. Genauso hätte es seit den 80er Jahren Bemühungen geben müssen, unser Sozialsystem und damit die sozialen Organisationen (und alles was damit zusammenhängt) umzugestalten. Haben wir nicht gemacht, beides. Und der Versuch, jetzt, hoppladihopp, etwas gegen den Klimawandel zu tun, ist zum Scheitern verurteilt.
Genauso ist der Versuch, den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft mal eben so zu beseitigen und neue Fachkräfte für die Soziale Arbeit zu bekommen, zum Scheitern verurteilt.
Nur ein Beispiel: Da nehmen Komplexträger mit mehreren Tausend Beschäftigten viel Geld in die Hand, um ausländische Fachkräfte zu gewinnen (eine mögliche Strategie). Konkret fliegen mehrere Mitarbeiter:innen in der Welt herum, um als Ergebnis 3 (in Worten: drei) neue Fachkräfte aus irgendeinem afrikanischen Land zu uns zu holen. Das Ganze macht aus Schauseitenperspektive Sinn („Schaut mal, wir tun was! „). Aus Effizenzgesichtspunkten ist es:
Quatsch!
Worauf ich hinaus will? Ganz einfach:
Wir sollten aufhören, so zu tun, als könnten wir den Klimawandel „abwenden“ genauso wie wir aufhören sollten, viel Hoffnung (und Ressourcen) in Gewinnung neuer Fachkräfte zu investieren.
Nein, damit will ich nicht sagen, dass es – mit Blick auf das Klima – keinen Sinn macht, politische Entscheidungen für die Zukunft (der Menschheit, nicht der Welt) zu treffen, Kartoffeln regional einzukaufen und weniger Auto zu fahren. Im Gegenteil: Ich sehe keine wirklich großen, politischen Initiativen geschweige denn Entscheidungen, die wirklich langfristig etwas an der Klimasituation verändern würden. Diese wären dringend notwendig.
Genauso wenig will ich sagen, dass – mit Blick auf den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft – jetzt alle Stellenausschreibungen beendet werden und soziale Organisationen nicht mehr an ihrer Arbeitgebermarke arbeiten sollten oder wir uns nicht mehr weiter um eine Steigerung des gesellschaftlichen Ansehens (und damit der Bezahlung) der Gesundheits- und Sozialberufe bemühen müssen.
Das Bild zeigt die aktuelle Situation. Mit ein wenig „Blick nach vorne“ wird die Situation nicht besser, wie bspw. diese Studie hier darlegt, die bis zum Jahr 2026 die Fachkräftesituation in den Blick nimmt – und zwar für die Sozialen Berufe sehr sicher. Hier mal die Top-5 der Top-30 Engpassberufe bis 2026 basierend auf der verlinkten Studie:
Wir sollten endlich damit aufhören, darüber zu lamentieren, dass es keine Fachkräfte gibt. Absurd wird das Lamentieren übrigens dann, wenn – Stichwort quiet quitting – darüber gejammert wird, dass die neue Generation nicht mehr 100% unter den aktuellen Bedingungen arbeiten will – also 120 %.
Ja, ist doch logisch…
Und auch wenn es etwas pessimistisch klingt sollten wir uns darüber freuen, dass der Sommer 2022 der kälteste Sommer mit Blick aus der Zukunft war. Und genauso sollten wir uns darüber freuen, dass die Fachkräftesituation aktuell so gut ist, wie nie mehr in den nächsten Jahren.
(Wenn wir uns schon gerade freuen, ein weiterer lustiger Aspekt: Die Bundesregierung verspricht – neben der Absurdität des Rechts auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder im Jahr 2026 – in ihrer „5-Punkte-Strategie“ zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, die Möglichkeiten zur Kinderbetreuung weiter auszubauen! Kein Witz…).
Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft: Neu denken (und machen)
Die (kleine) Freude sollten wir zum Anlass nehmen, anstatt permanent am Status Quo zu hängen, damit zu beginnen, Alternativen zu dem zu entwickeln, wie wir aktuell Soziale Arbeit und Soziale Organisationen denken und strukturieren, um bestmögliche Soziale Arbeit leiten zu können.
Das klingt einfacher, als es im komplexen Alltag und unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen ist, keine Frage.
Aber es ist notwendig.
Für mich ergeben sich sehr konkrete Ansatzpunkte bezogen auf den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft, die aus organisationaler Perspektive für eine Soziale Arbeit der Zukunft und damit für eine #NewSocialWork angegangen werden können. Diese Punkte habe ich in den folgenden 8 Thesen zusammengeführt:
These 1: Qualität vor Quantität stellen!
Auf den ersten Blick klingt es hart:
Wir werden zukünftig nicht mehr alle Angebote und Dienstleistungen aufrecht erhalten können, wenn wir dazu nicht mehr eine ausreichende Anzahl an Mitarbeiter:innen haben. Wir werden Angebote einstellen müssen. Das wird auch dazu führen, dass Mitarbeiter:innen das, was sie bislang getan haben, nicht mehr tun können. Und es wird auch dazu führen, dass Nutzer:innen bislang vorgehaltene Angebote nicht mehr wahrnehmen können. Es gilt, Abschied zu nehmen.
Auf den zweiten Blick aber ist Loslassen hilfreich:
So ist es normal, dass Angebote, Produkte und Dienstleistungen – genauso wie Organisationen – einem Lebenszyklus unterliegen. Bedarfe von Nutzer:innen verändern sich und damit verändert sich auch die Frage des Überlebens von Angeboten. Faxgerätehersteller ebenso wie Hersteller von Filmen für die analoge Fotografie wissen das. Und ja, es gibt immer noch einige Firmen, Schulen und Verwaltungen, die gerne analoge Fotos per Fax verschicken würden – geht aber eben nicht mehr.
Entsprechend gilt es, das Angebotsportfolio Sozialer Arbeit kritisch in den Blick zu nehmen und genau abzuwägen, ob die Leistungen in der bereitgestellten Art und Weise weiterhin angeboten werden müssen.
Haben nicht manche Projekte und Angebote die Reifephase überschritten und werden als tote Pferde weiter geritten?
Das Abwägen, ob Angebote sinnvoll sind oder nicht, kann und darf in sozialen Organisationen aber nicht allein an monetären Kennzahlen festgemacht werden. Soziale Organisationen sind – sofern sie ihren Auftrag ernst nehmen – mehr als Unternehmen, die ausschließlich auf Profit ausgerichtet sind.
Aus meiner Perspektive kommt hier die Frage der Wirkungsorientierung in den Fokus. Dazu schreibt Sebastian Ottmann sehr passend:
„In Zeiten von knappen Haushaltsmitteln und eventuell drohenden Kürzungen von Zuschüssen und Finanzierungen von Angeboten der Sozialen Arbeit wird es immer wichtiger, die Wirkung und Relevanz der Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit darzustellen.“
Wie gesagt: Nicht nur drohende Kürzungen der Mittel, sondern auch Mangel an Fachkräften erzwingen diesen Blick.
Kurz:
Welche Wirkung entfalten Ihre Angebote?
Und woran halten Sie trotzdem fest?
Ich kann hier nicht in aller Breite auf das Thema Wirkungsorientierung eingehen. Dazu ist meine dringende Empfehlung, den Blog von Sebastian in den Blick zu nehmen.
Und – im Vorgriff auf die nächste These – gilt es, „Exnovationskompetenz“ zu entwickeln. Exnovation, das Wort gibt es wirklich und es lohnt sich, sich einmal damit zu befassen (zum Beispiel über diesen Beitrag zum Thema Exnovation):
Was kann weg?
These 2: Innovationskompetenz entwickeln!
Das Abschmelzen des Angebotsportfolios, die Exnovation, allein kann aber nicht die Lösung sein.
Zwar ist weniger manchmal mehr, aber es gilt parallel, innerhalb (und vielleicht auch außerhalb) der (noch) herrschenden gesetzlichen Rahmenbedingungen neue, wirksame Ideen zum Leben zu erwecken und damit Innovationen zu ermöglichen.
„Unter einer Innovation wird die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen verstanden, die darauf ausgerichtet sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige Weise zu erreichen.“
Deutlich wird, dass sich Innovation und damit die Steigerung der Innovationskompetenz nicht ausschließlich auf die Neuentwicklung von Angeboten bezieht, sondern explizit auch auf den Blick in die Organisation, auf Strukturen, Strategien, Prozesse und Fragen der Neuorganisation von Führung und Zusammenarbeit innerhalb der Organisationen. Innovation ist damit ganzheitlich zu betrachten.
Innovation ist aber nicht immer das Große, Bahnbrechende, Krasse und „Disruptive“. Innovation kann auch das kleine Neue sein, das, was Sie vielleicht als „normal“ erachten.
Hier gilt es, hinzuschauen, wahrzunehmen und neue Möglichkeiten für wirksame Angebote ebenso wie für die Neugestaltung von funktionalen Strukturen und Prozessen zu testen – „in der Hoffnung, dass es besser wird“ (Wolf Lotter).
Was haben Sie in den letzten Jahren neu gestaltet?
Warum ist das gelungen?
Und wie können welche Innovationen dazu führen, wirkungsvoller zu arbeiten?
Mir fällt in vielen Organisationen auf, dass diese zwar von Innovation sprechen und auch willig sind, neue Wege zu gehen. Einen Prozess jedoch, wie aus einer Idee eine Innovation werden kann, haben wenige Organisationen. Hier habe ich beschrieben, wie die 4 Schritte zu einem lebendigen Innovationsmanagement aussehen können.
These 3: Organisationen an ihrem Zweck orientieren!
Die Kernfrage in der Arbeit mit sozialen Organisationen ist für mich:
„Passen die Strukturen der Organisation zum Zweck, den die Organisation verfolgt?“
Damit stehen zwei Dinge im Fokus meiner Beratungstätigkeit:
Welchen Zweck verfolgt die Organisation?
Und
Welche Strukturen weist die Organisation auf?
Hinter den Fragen stehen dann verschiedene komplexe Zusammenhänge: Bezogen auf die Strukturen zeigt allein die Unterscheidung von formalen und informellen Strukturen die sich eröffnende Komplexität. Und die Frage nach dem Zweck ist in sich hochgradig ausdifferenzierenden pluralistischen Organisationen, die unterschiedliche Arbeitsfelder bedienen (Komplexträger), nicht einfach und für alle Bereiche der Organisationen gleich zu beantworten.
Entsprechend gilt es, den Zweck nicht nur auf Ebene der Gesamtorganisation (bspw. im Leitbild), sondern auch innerhalb verschiedener Organisationsbereiche, Abteilungen, Arbeitsfeldern und auch Teams zu definieren:
Wozu sind wir (als Organisation, als Abteilung, als Bereich, als Team) da?
Aus der Beantwortung ergibt sich die Suche nach den für die jeweilige Einheit bestmöglich passenden – funktionalen – formalen Strukturen.
Dabei kann es – als ein Beispiel – für die Organisation funktional sein, selbstbestimmt agierende Teamstrukturen einzuführen (die nicht weniger Strukturen aufweisen, aber andere!).
Es kann – bei entsprechendem Zweck – genauso funktional sein, zunächst die Prozesse der jeweiligen Einheit zu analysieren, zu straffen und hinsichtlich komplexer und komplizierter Prozesse zu unterscheiden. Darüber lassen sich dann u.a. Digitalisierungsoptionen finden, die – wenn gut gemacht – Ressourceneinsparungen und Arbeitserleichterungen ermöglichen.
Noch einmal: Die Strukturen sollten funktional sein!
Für soziale Organisationen gilt übergreifend:
Wo, an welcher Stelle, in welchem Bereich, in welcher Abteilung und in welchem Team arbeiten wir funktional im Sinne des Zwecks der Organisation?
Wo zeigt sich „Verschwendung“ im Sinne von dysfunktionalen Strukturen, Arbeitsschritten und Prozessen?
Wo existieren nicht funktionale Fettpolster (Slack), die an anderer Stelle dringend benötigt und wirkungsvoller eingesetzt werden können?
These 4: Qualität und Kultur durch Strukturen gestalten!
Mit Blick auf den Fachkräftemangel steht im Raum, dass eine Aufweichung der Zugangshürden in soziale Berufe (bspw. durch die Einstellung von fachfremd ausgebildeten Menschen, durch die Abschaffung der Notwendigkeit, die staatliche Anerkennung vorzuweisen) zu einer abnehmenden Qualität Sozialer Arbeit führt.
Bevor ich meinen Gedanken ausführe: Auch aus meiner Sicht ist es erstrebenswert, wenn in Sozialen Berufen ausschließlich Menschen mit der bestmöglichen Qualifikation arbeiten würden. Dies sehe ich als unbedingt empfehlenswert an, da es in vielen Bereichen (bspw. Kita) um unser wertvollstes Gut – um unsere Kinder – und ingesamt ganz einfach um Menschen geht.
Aber so bitter es ist: Die Fachkräfte fehlen. Oft wird inzwischen nicht mehr von Fachkräfte-, sondern von Arbeitskräftemangel gesprochen. Die Einstellung von fachfremden oder weniger gut ausgebildeten Fachkräften als Arbeitskräfte ist die notwendige Konsequenz, um Angebote aufrecht zu erhalten (sofern sinnvoll, siehe oben).
Es bleibt keine andere Wahl, als Mitarbeiter:innen einzustellen, die wir uns hinsichtlich ihrer fachlichen Kompetenzen nicht „gewünscht“ haben. Hinzu kommt, dass Sie Menschen – selbst wenn sie die fachlichen Qualifikation erfüllen würden – hinsichtlich ihrer „Haltung“ oder ihrem „Mindset“ niemals einstellen würden, wenn Sie die Wahl hätten.
Die Wahl haben Sie aber oft nicht (mehr).
Theoretisch ausgedrückt verlieren damit Personalentscheidungen, die neben den Konditional- und Zweckprogrammen sowie den Kommunikations- und Entscheidungswegen als Strukturtypus von Organisationen (vgl. bspw. Kühl, 2016) fungieren, ihre Wirkkraft.
Entsprechend ist es notwendig, explizit auf die Gestaltung funktionaler formaler Strukturen in Ihren Teams und Organisationen zu achten:
Wenn Sie die Qualität Ihrer Angebote mit den vorhandenen Mitarbeiter:innen (Fach- wie Arbeitskräften) aufrecht erhalten wollen, müssen Sie die formalen Strukturen sehr klar gestalten:
Wer ist für was zuständig?
Welche Schritte sind – bspw. bei einer Eingewöhnung in der Kita – unbedingt einzuhalten?
Wie sind die Arbeitszeiten ausgestaltet?
Wie sind Vertretungsregelungen?
Wie verlaufen die formalen Kommunikationswege?
Und so weiter…
Die festgelegten formalen Strukturen, Prozesse und Abläufe (Konditionalprogramme) müssen übrigens nicht in Stein gemeißelt werden. Vielmehr sollten die Vorgaben in regelmäßigen Zeitabständen (Iterationen) in den Blick genommen und verbessert werden:
Wo hakt es?
Was passt – was nicht?
Wo ergeben sich Schwierigkeiten?
Welche sinnvollen Änderungen können wir vornehmen?
Denn es geht nicht darum, möglichst viele formale Vorgaben zu machen.
Es geht darum, funktionale formale Vorgaben zu machen, die Orientierung für Mitarbeiter:innen – unabhängig von ihren fachlichen Kompetenzen – ebenso wie Sicherheit für die Nutzer*innen bzgl. der zu erwartenden Leistung im komplexen Alltag bieten.
Kleine Anekdote: Ich hatte vor Kurzem ein Gespräch, indem mein Gesprächspartner mit Blick auf den Fachkräftemangel von der „notwendigen „McDonaldisierung“ Sozialer Arbeit sprach. Auch wenn das Bild bei vielen sicher auf Skepsis stößt und der Vergleich an vielen Stellen hinkt:
McDonalds hat es geschafft, durch klare Prozesse und Strukturen, durch eindeutige Konditional- bzw. „Wenn – dann“ -Programme, eine verblüffend gleiche Qualität (ohne Wertung 😉 an egal welchem Standort anzubieten. Die Pommes schmecken überall gleich! Das gelingt nicht durch eine umfassende Ausbildung aller Mitarbeiter:innen, in der diese „auf die Spur gebracht werden“ oder durch die Vermittlung des „purpose“ von McDonalds. Das gelingt auch nicht durch Mitarbeiterbespaßungsprogramme und gratis Obst. Das gelingt durch die klare Vorgabe von Arbeitsschritten, durch eindeutige Konditionalprogramme bezogen auf das, was zu tun ist.
Aber – dazu später mehr – diese Konditionalprogramme („wenn – dann“) sind in Arbeitsfeldern Sozialen Arbeit aufgrund der immer individuellen Interaktionen nicht mal eben so zu gestalten.
These 5: Studium ebenso wie interne Aus- und Weiterbildung entwickeln
Angesichts der Schilderungen der anzunehmenden Entwicklungen der Personalsituation ist es notwendig, Studium, Aus- und Weiterbildung zu überdenken.
Ich bin großer Fan der generalistischen Ausbildung Sozialer Arbeit auf Bachelor-Ebene. Menschen in Sozialen Berufen brauchen den breiten Blick, das Systemdenken, die Vernetzungen… um das ganze Bild des Menschen und der Systeme, in denen Menschen leben, und nicht nur einen Teilbereich (Körper, Psyche…) oder ein einzelnes Funktionssystem (Recht, Politik, Wirtschaft, Medizin…) berücksichtigen zu können.
Sozialarbeiter:innen (ebenso wie Erzieher:innen) sind Spezialist:innen für das Generelle.
Das wird bspw. deutlich, wenn man die „Internationale Definition Sozialer Arbeit“ in den Blick nimmt, die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession definiert, die gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen fördert (bzw. fördern will).
Dahinter steht ein Menschenbild, eine professionelle „Haltung“:
Wir sind nicht die Expert:innen für die Lösung der Probleme der Menschen. Wir stärken die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen und befähigen sie darin, „es selbst zu tun“.
Wenn jetzt aber zunehmend Menschen als Arbeitskräfte ohne die notwendigen Fachkompetenzen und ggf. auch ohne bzw. mit einer anderen professionellen Haltung als Mitarbeiter:innen in die Organisationen kommen, sind die Professionellen gefragt, neben den fachlichen Fragen dieses sozialarbeiterische Menschenbild, diese professionelle Haltung Sozialer Arbeit in der Organisation mit Blick auf die Nutzer:innen aufrechtzuerhalten.
Die Fachkräfte sind aber darüber hinaus gefragt, nicht nur die Nutzer:innen sozialer Dienstleistungen, sondern auch die neuen Mitarbeiter:innen darin zu befähigen, „es selbst zu tun“.
Diese Haltung zur Befähigung zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie, die im Studium bezogen auf die Nutzer:innen bereits Standard ist (oder zumindest sein sollte), ist damit zum einen bereits im Studium auszuweiten auf die Haltung und auch auf Methoden und Kompetenzen zur Befähigung der neuen Mitarbeiter:innen in den Organisationen zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie.
Damit werden alle Fachkräfte zugleich auch Führungskräfte, was im Studium deutlicher als bislang zu betonen ist. Es gilt, im Studium neben dem Fokus auf die Nutzer:innen sowie deren Lebenswelten einen Fokus auf Organisation, Leitung und Führung ebenso wie auf Organisations- und Personalentwicklung zu legen. Kurz:
Das Organisationsbewusstsein der Fachkräfte Sozialer Arbeit ist zu stärken.
Denn: Fachkräfte Sozialer Arbeit müssen zukünftig verstärkt aktiv „als Führungskräfte“ in die Personalentwicklung der Mitarbeiter:innen, die nicht Fachkräfte sind, in den organisationalen Alltag eingebunden werden.
Daraus folgt neben der Weiterentwicklung von Studium und Ausbildung (was ziemlich lange dauern kann) auch die Notwendigkeit der Entwicklung der Personalarbeit innerhalb der Organisationen Sozialer Arbeit:
Es gilt, auch innerhalb der Organisationen und mit Blick auf das vorhandene Personal deutlich stärker zu analysieren und zu gestalten, wie die Fachkräfte in die Entwicklung der neuen Mitarbeiter:innen eingebunden werden können. Damit, um dies noch einmal zu wiederholen, werden alle Fachkräfte Sozialer Arbeit zu Führungskräften.
Wenn diese Entwicklung aktiv von den Organisationen – bspw. über entsprechend gestaltete Führungskräfteentwicklungsprogramme – angegangen wird, kann daraus ein Potential zur Mitarbeiterbindung erwachsen:
Es ergeben sich neue Aufgaben für die Fachkräfte in der Entwicklung der Mitarbeiter:innen. In der Fachsprache geht es um „job enrichment“ und damit um die qualitative Erweiterung des Aufgabenspektrums der Fachkräfte.
These 6: Führung leben!
A propos Führung:
Das mit den Strukturen ist ja nett, oder? Und wahrscheinlich haben Sie als Führungskraft an der ein oder anderen Stelle klare Vorgaben, Regeln und Prozesse und damit formale Strukturen und Konditionalprogramme eingeführt, um die Rahmenbedingungen und Arbeitsabläufe transparent zu gestalten?
Diese Gestaltung der Rahmenbedingungen – die Arbeit an statt in der Organisation – ist – so meine Auffassung – bereits ein Kern von Führung:
„Welche Strukturen und Rahmenbedingungen braucht es, damit unsere Organisation, mein Team etc. bestmöglich arbeiten kann?“
Führung dient dazu, formal bindende, manchmal auch unpopuläre Entscheidungen über die Rahmenbedingungen der Arbeit zu treffen, von denen andere tangiert werden.
Sonst bräuchte es keine Führung.
Die erste Frage bezogen auf Führung lautet damit:
Trauen Sie und Ihre Führungskräfte sich, Entscheidungen zu treffen, von denen andere betroffen sind?
Selbstverständlich können (und sollten an vielen Stellen) diese Entscheidungen gemeinsam, partizipativ im Team und nicht nur im stillen Kämmerlein vorbereitet werden.
Das Treffen der Entscheidungen kann dann entweder über Sie als Führungskraft direkt – top down – erfolgen oder aber – sofern funktional für den Zweck – gemeinsam im Team.
Dazu bedarf es dann aber ein Wissen über kollektive Entscheidungsmethoden, damit kollektive Entscheidungen nicht in bekannten, für alle frustrierende Minimalkonsense (Plural von Konsens ist Konsense, hab ich extra nachgeschaut…) enden.
Aber noch einmal: Sie als Führungskraft tragen die Verantwortung.
Offen bleibt damit jedoch, ob die durch Sie oder im Team vereinbarten formalen Regeln verbindlich eingehalten werden.
In vielen Gesprächen mit Mitarbeiter:innen und Führungskräften erlebe ich diesbezüglich ein „Verbindlichkeitsproblem“ in sozialen Organisationen:
Zwar sind (kollektiv oder klassisch) Vorgaben und Strukturen definiert und entschieden worden. Diese Entscheidungen werden jedoch – aus unterschiedlichsten Gründen – von den Mitarbeiter:innen nicht eingehalten.
Hier ist wiederum Führung gefragt:
Ist Führung in der Lage, die auf den ersten Blick unangenehmen Gespräche im Team zu führen und anzusprechen, dass Vereinbarungen nicht eingehalten wurden?
Gelingt es, die notwendige psychologische Sicherheit im Team herzustellen, um thematisieren zu können, warum wer (in welcher Rolle) was nicht zur Zufriedenheit erledigt hat?
Dabei ist relevant, zwischen Menschen und den Rollen der Menschen in der Organisation zu unterscheiden:
Nicht „der Klaus als Mensch“ ist doof, weil er seine Aufgaben nicht einhält. Aber Klaus erfüllt die an ihn gestellten Anforderungen in seiner Rolle (als Mitarbeiter, Führungskraft, QMB…) nicht.
Entsprechend gilt es hier, wieder auf die formalen Strukturen zu schauen:
Warum ist aus Sicht der Rolle (von Klaus) sinnvoll, dass bestimmte Strukturen, Regeln und Vorgaben nicht eingehalten werden? Sind diese vielleicht nicht funktional?
Was braucht es von der und für die Rolle, damit die funktionalen Vorgaben eingehalten werden können?
Und in allerletzter Konsequenz braucht es auch Wege, die Nichteinhaltung von funktionalen Vorgaben zu sanktionieren. Denn Organisationen sind nicht dazu da, dass sich die Mitarbeiter:innen in ihnen wohlfühlen und „machen können, was sie wollen“.
Organisationen sind dazu da, einen bestimmten Zweck bestmöglich zu erfüllen. Wenn die dazu notwendigen Bedingungen nicht erfüllt werden, kann die Mitgliedschaft in der Organisation – wie gesagt: in letzter Konsequenz – auch beendet werden.
„In der Organisation ist der Maschinenraum der Ort, an dem die Wertschöpfung geschieht und die Arbeit getan wird, die die Organisation legitimiert. Die Brücke der Organisation tut gut daran, dies sich immer vor Augen zuhalten und wertzuschätzen, indem sie den Maschinenraum mit größtem Respekt und seine Bedürfnisse ernst nimmt behandelt.“
Für soziale Organisationen gilt dies in besonderem Maße, da im Maschinenraum keine Maschinen, sondern Menschen (in ihren jeweiligen Rollen) arbeiten. Anders ausgedrückt:
Im Zentrum sozialer Dienstleistungen stehen individuelle und damit kaum standardisierbare, in der Regel immaterielle Interaktionen, deren Produktion und Konsumtion meist standortgebunden zusammenfallen (vgl. Gesmann, Merchel: 2019, 69).
Daraus folgt, dass Standard- bzw. Konditionalprogramme („wenn – dann“) bezogen auf den Zweck, das „Wozu“ oder den Inhalt der Arbeit nur an wenigen Stellen funktional sind.
Das scheint sich auf den ersten Blick widersprüchlich zu den Ausführungen oben. Dort habe ich doch geschrieben, dass – aus unterschiedlichen Gründen – Konditionalprogramme hilfreich sein können? Und ja, sind sie auch:
Die Vorgabe von Konditionalprogrammen, von klaren Regeln und einzuhaltenden Standards ist wichtig, um das „Wie“ der Zusammenarbeit zu regeln.
Bezogen auf das „Wozu“ und das „Was“ und damit den Inhalt Sozialer Arbeit sind Konditionalprogramme (vorgegebene Prozesse) hingegen wenig zielführend.
Vielmehr kommt es darauf an, dass die Menschen den Zweck ihrer Arbeit kennen, möglichst gut zusammenarbeiten, die Herausforderungen sozialer Arbeit anerkennen und mit den Möglichkeiten der Gestaltung guter Zusammenarbeit von Menschen (in Teams oder Gruppen) vertraut sind.
Dies wird jedoch in unserer Branche oftmals einfach vorausgesetzt:
Wir gehen davon aus, dass Sozialarbeiter:innen schon irgendwie und irgendwoher wissen, wie gute Zusammenarbeit gelingt.
Und wir gehen davon aus, dass Leitungskräfte darin geschult wären, Teams in ihrer Zusammenarbeit zu (beg-)leiten. Wer Sozialarbeiter:in oder Erzieher:in ist, weiß dass doch, oder?
In meiner Arbeit mit Teams und Organisationen zeigt sich jedoch häufig, dass dies nicht immer der Fall ist.
Basics der Funktionsweisen sozialer Systeme, Basics in der Gestaltung von Teamarchitekturen, Basics in Führung und Leitung von Teams in den komplexen und herausfordernden Alltagssituationen sind nicht oder kaum vorhanden – was (siehe oben) auch nicht verwunderlich ist, da dies nur in geringem Umfang Teil der Ausbildung ist.
Aus diesem „Nichtwissen“ wiederum folgen Entscheidungen der Leitungskräfte, die – mit externem Blick mehr als nachvollziehbar – wunderbar dazu geeignet sind, jegliche Motivation der Teammitglieder zu zerstören.
Entsprechend gilt es, den Ort der sozialen Wertschöpfung, den Maschinenraum und damit die Arbeit in den Teams an der Basis viel genauer in den Blick zu nehmen:
Was ist Zweck der Arbeit?
Was passiert „an der Basis“?
Was brauchen die Mitarbeiter:innen an der Basis, um ihren Job möglichst gut erledigen zu können?
Wie gelingt es, den Zweck bestmöglich zu erfüllen?
Es gilt darüber hinaus, Führungskräfte in ihrer Arbeit zu begleiten und zu entwickeln.
Wie werden Ihre Führungskräfte in ihrer Arbeit begleitet?
Haben Sie Zeiten und Räume, in denen sich Führungskräfte über ihre Arbeit austauschen können?
Haben Sie funktionale Führungskräfteentwicklungsprogramme?
Es gilt außerdem, Teamentwicklungen zu begleiten, Architekturen und Strukturen für gute Zusammenarbeit zu entwickeln und alles daran zu setzen, dass die Motivation der Mitarbeiter:innen (und damit auch die Motivation der Führungskräfte) nicht zerstört wird.
Oder in den Worten von Thomas:
„Daher gilt: Ab in den Maschinenraum. Hingehen, Beobachten, aufmerksam Zuhören, Verstehen und Wertschätzen.“
Denn die Konsequenz bei Nichtbeachtung ist klar:
Die wenigen noch vorhandenen Mitarbeiter:innen suchen das Weite.
These 8: Banden bilden!
Abschließend noch ein über die eigene Organisation hinausgehender Blick:
Kooperation wird zwischen sozialen Organisationen recht groß geschrieben.
So sind viele Organisationen und Einrichtungen in Wohlfahrtsverbänden zusammengeschlossen. Kooperation und gegenseitige Zusammenarbeit fällt entsprechend leicht.
Hinzu kommt, dass soziale Probleme in den meisten Fällen nicht monokausal zu lösen, sondern komplex und damit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und anzugehen sind. Soziale Organisationen arbeiten – genau – mit Menschen und die Kooperation auf inhaltlicher Ebene ist notwendig, um den Menschen wirklich zu helfen.
Kooperation endet jedoch häufig da, wo die inhaltliche Ebene verlassen wird und es entweder um Geld („Welcher Verband bekommt den Zuschlag für welche Leistung?“) oder um Fachkräfte geht.
Dass Mitarbeiter*innen von einem Arbeitgeber zum anderen wechseln, wird nicht gerne gesehen. Teilweise gibt es bereits explizit ausgeschriebene Stellen, die bspw. Pflegekräfte von anderen Unternehmen abwerben sollen.
Anstatt jedoch gegeneinander zu arbeiten und sich die Fachkräfte streitig zu machen, macht es vielmehr Sinn, miteinander auch auf Ebene der Arbeits- und Fachkräftegewinnung und -bindung zu arbeiten.
Damit meine ich, dass Soziale Organisationen aus ihrem eigenen Denkraum heraus- und über den Tellerrand blicken und sich mit anderen – entweder fachlich ähnlichen oder regional an einem Ort befindlichen – Organisationen zu „Fachkräftenetzwerken“ zusammenschließen.
Dahinter steht die Überlegung, dass Fachkräfte aus unterschiedlichsten (persönlichen und anderen) Gründen die Organisation verlassen. Wenn es aber gelingt, einen Wechsel in eine andere Organisation (sofern Wechsel gewünscht ist) innerhalb des Netzwerks zu ermöglichen, ist die Person nicht ganz raus, sondern verbleibt zumindest innerhalb des Netzwerks.
Die Möglichkeit, innerhalb eines Netzwerks zu wechseln, setzt jedoch voraus, dass eine Kultur innerhalb der eigenen Organisation herrscht, in der ein Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. der Organisation nicht abgestraft wird, sondern als Chance zu Entwicklung (der Menschen und der Organisation) erlebt wird.
Anstatt also den:die wechselnden Mitarbeiter:in für den Wunsch zum Wechsel zu kritisieren und ihm:ihr Steine in den Weg zu legen, sollten Möglichkeiten geschaffen werden, auch den Gang aus der Organisation (und idealerweise in eine Organisation im Fachkräftenwetzwerk) positiv zu begleiten. Daraus folgt, dass Mitarbeiter:innen ja auch wieder zurückkommen können.
Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft – Fazit
Die in diesem viel zu langen Beitrag (Danke für Deine Zeit an dieser Stelle) angesprochenen Thesen – bezogen auf die Möglichkeit, dem Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft zu begegnen – sind sicherlich nicht vollständig. So bin ich bspw. nicht auf die Möglichkeit der „Ausweitung der Arbeitsmarktpartizipation“ durch Weiterbeschäftigung von älteren Mitarbeiter:innen eingegangen, was aber viele Organisationen bereits sehr erfolgreich umsetzen („Senior Experts“).
Auch bin ich nicht auf die Notwendigkeit eingegangen, über Lobbyarbeit das Image Sozialer Arbeit weiter zu verbessern – auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es eines anderen Ansehens Sozialer Berufe in der Gesellschaft und damit perspektivisch eine bessere Bezahlung braucht.
Ich bin auch nicht darauf eingegangen, dass es – davon bin ich zunehmend überzeugt – ein Aufbrechen der Versäulung in den Sozialgesetzbüchern braucht, um zu einer generalistischen und damit zurück zu einer wirksamen Sozialen Arbeit zu gelangen (vgl. dazu den Podcast mit Patrick Ehmann zur Integrierten Sozialberatung).
Aber die Veränderung des Images und das Aufbrechen der Versäulung in den Sozialgesetzbüchern sind nicht unmittelbar durch die Organisationen selbst beeinflussbar.
Mir geht es in dem Beitrag jedoch um einen anderen Blick auf die Herausforderungen des Fachkräftemangels und auf die in sozialen Organisationen vorhandenen Möglichkeiten zur Begegnung des Fachkräftemangels und der „Mitarbeiterbindung“ (ich mag das Wort nicht, da ich zumindest als Mitarbeiter nicht ge-, sondern eher verbunden sein will).
Daran zu glauben, dass sich kurzfristig etwas an der Quantität der gut ausgebildeten Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt ändert, ist so aussichtsreich, wie daran zu glauben, dass wir den Welthunger mit fünf Broten und zwei Fischen beenden. Die wundersame Fachkräftevermehrung wird kurz- und mittelfristig nicht stattfinden.
Die Suche nach neuen Fachkräften, die im gleichen System die gleiche Arbeit machen, ist entsprechend hoffnungslos.
Vielmehr gilt es, die Gestaltungsmöglichkeiten, die Organisationen haben, zu nutzen. Und die Gestaltungsmöglichkeiten liegen vornehmlich in der Gestaltung ihrer Strukturen und Rahmenbedingungen, unter denen Soziale Arbeit innerhalb der je spezifischen Organisation geleistet wird. Es gilt, sinnvolle Organisationsentwicklung zu betreiben.
Puh, ganz schön lang geworden. Aber was sind Deine Gedanken zum Thema? Hinterlasse doch hier gerne einen Kommentar! Würde mich sehr freuen…
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