Fachkräftemangel als Chance – 10 Möglichkeiten für die Soziale Arbeit

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Vorab, weil es wichtig ist: Ich will hiermit den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit alles andere als schön reden. Die Auswirkungen heute und in Zukunft sind gravierend und die Analyse, dass dadurch der Sektor „vor dem Kollaps“ steht, wie es Hohendanner, Rocha und Steinke in ihrem gleichnamigen Buch eindrücklich beschreiben, ist bittere Realität. Ich bin jedoch auch davon überzeugt, dass es angesichts des Fachkräftemangels nicht ausreicht, zu jammern, sondern gleichzeitig die Möglichkeiten, die durch die herausfordernde Situation entstehen, in den Blick genommen werden müssen – für Mitarbeitende und Führungskräfte, für Organisationen der Sozialen Arbeit und für die Profession Soziale Arbeit als Ganzes. Entsprechend versucht der Beitrag, den Fachkräftemangel als Chance zu betrachten und 10 Möglichkeiten aufzuzeigen, die mit dem Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit einhergehen.

Ich will damit Mut machen, den Kopf aus dem Sand zu nehmen und sich neu Denken (und Handeln) zu erlauben. Ich will damit ermöglichen, trotz aller Schwierigkeiten immer wieder „proaktiv“ an die heute und in Zukunft mehr als wichtige Soziale Arbeit heranzugehen und eigene Einflussbereiche zu entdecken und zu nutzen.

Außerdem – und dann gehts auch schon los mit den Chancen – bin ich davon überzeugt, dass wir in der Sozialen Arbeit mehr „unternehmerisches Denken“ im besten Sinne brauchen. Und erfolgreiche Unternehmer:innen denken – wie die Forschungen rund um „Effectuation“ zeigen – in Möglichkeiten und fragen immer wieder „Was haben, was können, wen kennen wir, um diese Herausforderung zu lösen?”. Sie denken viel weniger ans Ziel (bspw. „Bewältigung des Fachkräftemangels“), sondern überlegen, was mit den vorhandenen Mitteln, Kompetenzen, Beziehungen… ein nächster Schritt auf dem Weg sein kann.

Und wenn Dir noch mehr Möglichkeiten rund um den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit einfallen, immer her damit.

Ich unterteile im Folgenden die Chancen in drei Ebenen – Chancen für die Menschen, Chancen für die Organisationen und – im Fazit – Chancen des Fachkräftemangels für die Sozialen Arbeit.

Fachkräftemangel als Chance für die Menschen

Mit den individuellen Chancen meine ich die Chancen, die mit dem Fachkräftemangel für die Mitarbeitende in sozialen Organisationen einhergehen. Und Führungskräfte sind auch Menschen 😉

Chance 1: Bessere Arbeitsbedingungen

Logisch, das liegt auf der Hand: Auch wenn es aus Perspektive der Organisation problematisch ist, ermöglicht der Fachkräftemangel für die Mitarbeitenden ganz neue Verhandlungspositionen. Überspitzt formuliert hat sich durch den Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit eine Machtverschiebung von der Organisation hin zu den Mitarbeitenden vollzogen. Nicht mehr die Organisation gibt vor, was zu tun ist „und basta“, sondern die Mitarbeitenden können ein gewichtiges Wörtchen mitreden, wie sie sich ihren Arbeitsplatz und damit die Arbeitsbedingungen wünschen.

Jaja, mir ist sehr bewusst, dass mit der Machtverschiebung die Gefahr einhergeht, zu übertreiben:

Da wird schneller gekündigt, als Lucky Luke seinen Colt ziehen kann, da werden die Bedürfnisse des Hamsters über die der Klientel gestellt und vom Arbeitgeber erwartet, für das persönliche Glück Verantwortung zu tragen. Das meine ich mit der Chance auf bessere Arbeitsbedingungen natürlich nicht.

Ich will hier auch explizit darauf hinweisen, dass wir uns in der Sozialen Arbeit befinden. Homeoffice und Streetwork passen genauso wenig zusammen wie „nine to five“ und die stationäre Jugend- oder Eingliederungshilfe. Kinder in Kitas sind heute und werden auch in Zukunft in Kitas zu betreuen sein und in der stationären Altenhilfe riecht nicht jeder Ausfluss nach Lavendel. Soziale Arbeit ist vornehmlich Arbeit – wie eine Haustür kein Haus, sondern erstmal Tür ist.

Aber diese Arbeit kann hinterfragt werden: Warum machen wir das hier so? Gibt es keine Alternativen dazu? Das beginnt bei geteilten Diensten in stationären Kontexten, geht über die Verschlankung von dysfunktionalen Prozessen bis hin zur Ausstattung der Arbeitsplätze.

Anstatt aber die Verantwortung für die Verbesserungen allein „nach oben“ abzugeben, ist es sinnvoll, wenn Mitarbeiter:innen ihren „circle of influence“ – ihren Einflussbereich – betrachten und mit konkreten Vorschlägen an ihre Führungskräfte herantreten. Neben den gesteigerten Partizipationsmöglichkeiten ergeben sich dadurch deutlich passendere Lösungen, als wenn wieder jemand über die Arbeitsbedingungen entscheidet, der:die eigentlich gar nicht wirklich tief drinsteckt.

Chance 2: Arbeitsplatzsicherheit

Könnte auch unter Chance 1, da bin ich mir nicht sicher:

Menschen arbeiten dann gut (und gerne) wenn die im SCARF-Modell (und andere Modelle bestätigen das in ähnlicher Weise) beschriebenen Aspekte am Arbeitsplatz gegeben sind:

  • Anerkennung,
  • Sicherheit,
  • Autonomie,
  • Verbundenheit und
  • Fairness.

Mehr zum SCARF-Modell findest Du hier.

Und es ist wiederum logisch, dass der Fachkräftemangel die Arbeitsplatzsicherheit erhöht. Überspitzt formuliert könnte man fragen, warum Menschen in der Sozialen Arbeit überhaupt noch einen befristeten Job annehmen – es sei denn, sie wollen dies explizit?

Aus Perspektive der Organisationen lässt sich auf diesen Aspekt natürlich wieder mit einer anderen Brille schauen:

Manchmal wäre die Möglichkeit, die Mitgliedschaft eines:einer Mitarbeitenden einfacher zu beenden, wünschenswert. Hier – dazu später vielleicht mehr – plädiere ich aber dazu, dass die Organisationen weniger „ängstlich“ agieren sollten, als sie das meiner Wahrnehmung nach tun. Erfolgreiches „Employer Branding“ bedeutet aus meiner Perspektive nicht, dass zu tun, was die Mitarbeitenden wollen, sondern Strukturen und Bedingungen zu schaffen, um den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen. Dazu ist dann an der ein oder anderen Stelle vielleicht auch die Trennung von Mitarbeitenden notwendig.

Aber auch das gibt wiederum Klarheit, Sicherheit und Orientierung für alle Beteiligten. Meiner Erfahrung nach spricht diese Klarheit eher für als gegen einen Arbeitgeber, was mittelfristig zu mehr Bewerber:innen, vor allem aber zu einer gewünschten Organisationskultur führen kann.

Chance 3: Individuelles Lernen

Fritz B. Simon (vgl. 2019, 42f) beschreibt Lernen als Möglichkeit, interne Strukturen autopoietischer Systeme zu verändern, wenn diese „mit ihren etablierten Verhaltensweisen nicht erfolgreich sind“ (ebd., 42).

Der Blick auf die Arbeitsweisen der Professionellen in der Sozialen Arbeit zeigt, dass das „erfolgreiche“ Agieren zunehmend an Grenzen kommt. Als Beispiel steigen seit Jahren (und in den letzten Jahren verstärkt) die Burnout-Raten in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Ja, ich komme später noch zur Notwendigkeit des organisationalen Lernens, da ich der Überzeugung bin, dass es nicht ausreicht, die systemischen Probleme auf die Individuen zu verlagern, aber trotzdem:

Es besteht die Chance, die eigenen, ganz individuellen Arbeitsweisen zu hinterfragen und neu zu lernen. Angefangen von Zeit- und Selbstmanagement über den Umgang mit Stress und die Entwicklung „individueller Resilienz“ bis hin zur Auseinandersetzung mit fachlich-inhaltlichen und methodischen Fragen gelingender Sozialer Arbeit besteht durch den Fachkräftemangel die (leider nicht ganz freiwillige) Möglichkeit, neu zu lernen, wie „soziale Arbeit“ in der Sozialen Arbeit gelingt.

Der Blick in die Fachliteratur, in die Veröffentlichungen rund um Methoden Sozialer Arbeit, der Blick auf Studien und die gesamte Disziplin Sozialer Arbeit zeigt, dass wir enorm viel haben, was hilfreich sein kann – allein es fehlt das Wissen (und die Anwendung des Wissens) bei den Fachkräften. Anders gesagt:

Wenn es gelänge, in Studium ebenso wie in Aus-, Fort- und Weiterbildung verstärkt auf Kompetenzen für „gute“ Arbeit in der Sozialen Arbeit zu setzen und die Bewältigung der Herausforderungen des Fachkräftemangels immer (mindestens im Hintergrund) mitschwingen zu lassen, wäre das Lernen anderer Herangehensweisen möglich. Konkret:

Führungskompetenzen – als ein Beispiel – gewinnen auch für Fachkräfte Sozialer Arbeit an Bedeutung. Hintergrund ist die Notwendigkeit, in vielen Arbeitsfeldern nicht nur mit Fach-, sondern auch mit nicht ausgebildeten Hilfskräften zu arbeiten. Und diese müssen fachlich-inhaltlich (auch) durch die Fachkräfte geführt werden. Und Führung bezieht sich neben der Team- und der Organisationsführung eben auch auf die Selbstführung (vgl. bspw. Richter, Groth, 2023).

Chance 4: Lebensphasenorientierte Personalentwicklung

Der folgende Gedanke steht zwischen dem Individuum und der Organisation:

Angesichts der Notwendigkeit, aufgrund des demographischen Wandels neu über die Sicherstellung der Angebote bzw. das Funktionieren der Organisationen der Sozialen Arbeit insgesamt nachzudenken, wird es zunehmend relevant, die Beschäftigungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Lebensphasen der Beschäftigten und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit zunächst überhaupt in den Blick zu nehmen: Wer arbeitet wie lange (noch) in der eigenen Organisation? Wer befindet sich in welcher Lebensphase? Diese Betrachtung ermöglicht es dann, die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern, um so Lebens- und Berufsphasen besser miteinander zu vereinbaren.

Neben dem, dass daraus individuelle Chancen erwachsen, ergeben sich auch für die Organisation enorme Vorteile. So kann über die Betrachtung der Lebensphasen auch eine deutliche „Ausweitung der Arbeitsmarktpartizipation“ erreicht werden, denn: Warum sollen Menschen, die Lust haben (oder finanziell darauf angewiesen) und in der Lage dazu sind, auch nach dem Erreichen des Rentenalters noch weiter zu arbeiten, daran gehindert werden?

Dazu jedoch bedarf es flexibler Möglichkeiten der Integration der Mitarbeitenden in die Organisation. Zu denken ist unter anderem an Projekte, in denen Menschen mit langjähriger Erfahrung mit ihrer Expertise eingebunden werden oder die Teilzeitbeschäftigung zum „Abpuffern“ von Ausfallzeiten.

Über diese Möglichkeiten ergeben sich ggf. auch für Mitarbeitende im „Regelbetrieb“ neue Möglichkeiten und Chancen, ihren Arbeitsalltag besser und angepasst an ihre jeweiligen Lebensphasen zu gestalten.

Fachkräftemangel als Chance für Organisationen der Sozialen Arbeit

Meine Perspektive in meiner Arbeit sind ja weniger die Menschen in den Organisationen als die Strukturen der Organisationen der Sozialen Arbeit als soziale Systeme. Deswegen sind die „individuellen Chancen“, die mit dem Fachkräftemangel einhergehen, alles andere als abschließend beschrieben. Falls Du zum vorhergehenden Punkt also Ergänzungen hast, immer her damit. Jetzt aber zu den Chancen, die mit dem Fachkräftemangel für Organisationen der Sozialen Arbeit einhergehen.

Chance 5: Lernen von Ambidextrie

Ich bleibe beim Lernen und übertrage die Gedanken der Chance 3 auf das soziale System „Organisation der Sozialen Arbeit“. Denn genau wie Menschen als psychische Systeme sind Organisationen autopoietische Systeme, die dann in der Lage sind zu lernen, wenn sie mit ihren etablierten Verhaltensweisen nicht erfolgreich sind.

Und wiederum sehr naheliegend und an vielen Stellen mehr als sichtbar ist, dass der Fachkräftemangel die etablierten Verhaltensweisen der Organisationen infrage stellt. Prominente Beispiele sind aufgrund des Fachkräftemangels in finanzielle Schieflage geratene Wohlfahrtsverbände.

Problematisch am o.g. Zitat von Simon ist, dass es aus meiner Sicht reaktiv ist: Dann, wenn es nicht mehr geht, wird gelernt. Fraglich ist, wie „proaktives Lernen“ gelingen kann? Wie können aufziehende, aber noch nicht akute Probleme – verstanden als „Situationen und Begebenheiten, die von Beobachtern und Beobachterinnen als Differenz zwischen Soll und Ist erlebt und negativ bewertet werden (Seliger, 2022, 63) – antizipiert und dann daraus bereits gelernt werden?

Das ist für Organisationen nicht leicht, da das Aufrechterhalten des Alltagsgeschäfts und das gleichzeitige Beobachten und Antizipieren zukünftiger Entwicklungen „Beidhändigkeit“ braucht. Im organisationalen Kontext ist hier das Modell der Ambidextrie entscheidend.

Unter Ambidextrie ist „das Nebeneinander von Exploit-Modus (Bewährtes erhalten und optimieren) und Explore-Modus (Innovationen verfolgen) [zu verstehen]. Die beiden Modi sind wie zwei ‚Betriebssysteme‘ für Unternehmen, die sich gleichzeitig widersprechen und ergänzen und die beide absolut kritisch für langfristigen Erfolg sind“ (Thinktank Ambidextrie).

Ambidextrie zu lernen erfordert für Organisationen jedoch, Möglichkeiten zu schaffen, neben dem rein operativen Geschäft und der schrittweisen Optimierung von bestehenden Strukturen, Prozessen, Angeboten und Geschäftsmodellen gedanklich herauszutreten, neue Wege zu gehen und innovative Entwicklungen und Angebote schnell und agil voranzutreiben (vgl. hier).

Das ist einfacher gesagt als getan, denn explizit für Organisationen der Sozialen Arbeit ergeben sich neben der Herausforderung, das Alltagsgeschäft zu unterbrechen, echte Herausforderungen, die ich hier beschrieben habe. Sehr kurz zusammengefasst:

Aufgrund der externen Finanzierung sozialer Arbeit durch Leistungsträger sind die Möglichkeiten der innovativen Gestaltung neuer Angebote und Dienstleistungen, aber auch der Organisationsentwicklung begrenzt.

Hinzu kommt, dass die „zwei sich widersprechenden und gleichzeitig ergänzenden Betriebssysteme“ unterschiedliche Herangehensweisen brauchen, die – verkürzt – als „Management“ auf der einen (Aufrechterhaltung des Bestehenden) und „Unternehmertum“ auf der anderen Seite (Neuentwicklung und Umsetzung) gedacht werden können.

Für Führungskräfte in Organisationen der Sozialen Arbeit gilt es entsprechend, beide Perspektiven „in sich“ zu vereinen oder aber – eine echte Chance, aus meiner Sicht – Modelle des „Shared Leadership“ (geteilter Führung) zu testen. Oder warum sollte es sinnvoll sein, wenn angesichts der Herausforderungen nur eine Person den Hut für die Organisation, den Bereich, die Abteilung oder das Team aufhat?

Chance 6: Exnovation

Ambidextrie und organisationales Lernen sind ja eher die übergreifenden Gedanken. Wie können die Chancen aber im Konkreten aussehen?

Da ist natürlich die Chance der Exnovation hervorzuheben. Dazu findest Du hier ausführlichere Gedanken.

Zusammenfassend ist Exnovation die Abschaffung oder das Zurücknehmen von Angeboten, Prozessen, Praktiken oder Technologien, die erfolgreich waren, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen. Damit wird schon deutlich, dass Exnovation intern wie extern betrachtet werden kann:

Intern geht es um die Frage, wie wirksam interne Zwecke, Organisationsstrukturen im Sinne von Hierarchien oder Prozesse angesichts der Herausforderung Fachkräftemangel (noch) sind. So neigen (Menschen wie) Organisationen dazu, immer in einem „mehr“ zu denken – mehr Regeln, mehr Angebote, mehr Wachstum, mehr von allem. Daraus resultieren interne Regelwerke, QM- oder Prozesshandbücher, die nicht mehr zu überblicken geschweige denn lebendig zu halten sind. Hier besteht die Chance, wegzukommen von der Beschäftigung mit sich selbst und aufzuräumen, um wieder Luft zum Atmen bzw. für echte Arbeit zu bekommen. Konkret hilft es, regelmäßig die Regeln und Vorgaben der Organisation zu beleuchten und – im Sinne der Methode „Kill a stupid rule“ – nicht (mehr) wirksame Regeln zu streichen bzw. durch wirksame Regeln zu ersetzen. Der zweite Punkt – das Ersetzen – ist wichtig:

Ich bin kein Freund von „Selbstorganisation“ im falschen Verständnis eines „anything goes“. Im Gegenteil: Ich bin aufgrund der „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ davon überzeugt, dass es gerade in unseren Organisationen mehr Regeln und Vorgaben braucht – aber eben „funktionale Regeln“, die dazu dienen, das „Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit zu gestalten. Im letzten Beitrag zum „Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft“ habe ich dazu geschrieben, dass es darum gehen muss, funktionale formale Vorgaben zu gestalten, die Sicherheit und Orientierung für Mitarbeiter:innen – unabhängig von ihren fachlichen Qualifikationen – ebenso wie Sicherheit für die Adressat*innen Sozialer Arbeit bzgl. der zu erwartenden Leistungen im komplexen Alltag bieten (siehe auch das SCARF-Modell oben).

Exnovation heißt übrigens nicht die Abkehr von Innovation. Exnovation geht mit Innovation einher und so lässt sich auch aus interner Perspektive darauf schauen, wie interne Prozesse zukünftig anders gestaltet werden können. Spätestens hier rückt – wie Jan Meine hier auf meine kleine Frage bei LinkedIn schreibt – „auch der Einsatz von neuen Ressourcen, wie KI“ in den Blick, die wiederum zur Reduzierung von zeitbindenden, aber wenig wirksamen Aufgaben führen können. So sind – das ist auch hier zu berücksichtigen – Organisationen der Sozialen Arbeit nicht im luftleeren Raum unterwegs, sondern haben (teilweise absurde), durch die Leistungsträger vorgegebene Anforderungen zu erfüllen, die nicht mal eben „exnoviert“ werden können.

„Externe Exnovation“ bezieht sich dann natürlich auf die Angebote und Leistungen von Organisationen der Sozialen Arbeit. Wir werden zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr alle Angebote und Dienstleistungen aufrecht erhalten können. Wir werden Angebote einstellen müssen. Das wird auch dazu führen, dass Mitarbeiter:innen das, was sie bislang getan haben, nicht mehr tun können. Und es wird auch dazu führen, dass Adressat:innen bislang vorgehaltene Angebote nicht mehr wahrnehmen können.

Es gilt, Abschied zu nehmen – auch wenn dies schmerzt.

Die Chance im Abschiednehmen sehe ich im Blick auf die Qualität und damit die Wirksamkeit der Angebote der Sozialen Arbeit. So sind, wie von Hohendanner, Rocha und Steinke (2024, 16ff) dargelegt, über die letzten Jahre „ausnahmslos alle Bereiche des sozialen Sektors in absoluten Beschäftigtenzahlen gewachsen“. Sie schreiben weiter, dass „angesichts der steigenden Bedarfe (…) anzunehmen [ist], dass das Beschäftigungswachstum in allen Bereichen des sozialen Sektors bei ausreichend verfügbarem Personal noch deutlich höher ausgefallen wäre“ (ebd.).

Quantität allein ist aber kein Kriterium für Qualität. So besteht jetzt die Chance, das Angebotsportfolio der eigenen Organisation kritisch in den Blick zu nehmen und genau abzuwägen, ob die Leistungen in der bereitgestellten Art und Weise wirksam sind und weiterhin angeboten werden sollten bzw. müssen.

Die Entscheidung darüber kann und darf in Organisationen der Sozialen Arbeit aber nicht allein an monetären Kennzahlen festgemacht werden. Soziale Organisationen sind – sofern sie ihren Auftrag ernst nehmen – weit mehr als ausschließlich auf Profit ausgerichtete Unternehmen.

Wenn es gelingt, Angebote von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu reflektieren, erwächst daraus auch die Chance der Steigerung der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden.

So ist es eine Binsenweisheit, dass die Arbeitszufriedenheit nicht durch Obstkorb und Kickertische, sondern deutlich stärker durch das Selbstwirksamkeit wächst. Anders gesagt besteht die Chance, weniger die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeitenden in den Mittelpunkt zu stellen, als wirksame Soziale Arbeit zu leisten, die dann zu langfristiger Zufriedenheit aller Beteiligten – Mitarbeitenden wie Adressat:innen – führt.

Chance 7: Kooperation

Florian Acker (Grüße und Danke an der Stelle) bringt über LinkedIn einen spannenden Gedanken ein:

„Durch den Fachkräftemangel wird die soziale Infrastruktur ja nicht mehr in dem Maße bedient werden können, wie wir es bisher erlebt haben. Das bietet insofern die Chance, dass wir uns mit neuen Angebotsformen und neuen Arbeitsweisen auseinandersetzen müssen. Das meint nicht nur, dass wir in Zukunft vermutlich viel stärker auf Kooperationen (mit anderen Leistungserbringern) setzen müssen, sondern wir eben auch zu veränderten Arbeitsweisen mit den Adressaten Sozialer Arbeit kommen müssen. An der einen oder anderen Stelle wird dabei sicherlich auch die positive Erkenntnis entstehen, dass die (erzwungene] Abkehr von paternalistischen Strukturen durchaus sinnvoll sein kann ;-)“

Na gut, das ist mehr als ein Gedanke 😉 Neben der wichtigen Abkehr von paternalistischen Strukturen sozialer Arbeit und den veränderten Arbeitsweisen mit den Adressat:innen will ich hier den Kooperationsgedanken hervorheben:

Die Vorstellung, komplexe Probleme – individuell, organisational, gesellschaftlich und global – mit „der einen“ Lösung in den Griff kriegen zu können, ist absurd (und vielfach widerlegt). Wir brauchen Kooperation, Inter- oder Multidisziplinarität, Zusammenarbeit und KoKreation auf allen Ebenen und damit auch in Organisationen der Sozialen Arbeit. In die Auswirkungen des Fachkräftemangels sind komplex.

Neben den von Florian dargestellten Kooperationsnotwendigkeiten mit anderen Leistungserbringern (dazu hilfreich das Konzept der „Koopkurrenz in der Sozialwirtschaft“ – vgl. Schönig, 2015) sehe ich zusätzlich eine Chance in der Kooperation mit wirklich externen Stakeholdern. Darunter verstehe ich Unternehmen, Anbieter, Netzwerke, Initiativen usw., die nicht genuin der Sozialwirtschaft zuzuordnen sind. Kooperationen mit Wirtschaftsunternehmen vor Ort sind nur ein Beispiel, von dem beide Partner profitieren können. Aber auch die verstärkte Kooperation von Schulen und Hochschulen mit Organisationen der Sozialen Arbeit sind – wie vieles andere – denkbar.

Wiederum gilt es, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und im Sinne einer „open organization“ zunehmend die Systemgrenzen der eigenen Organisation zu öffnen. Das bedarf wiederum der schon angesprochenen Ambidextrie im Denken und Handeln.

Chance 8: Innovation

Klar, wenn einerseits geprüft werden muss, welche internen wie externen Angebote, Prozesse, Arbeitsweisen usw. noch sinnvoll sind, ergibt sich andererseits die Chance durch den Fachkräftemangel, neue Ideen ins Leben zu bringen und damit echte Innovation zu ermöglichen.

Unter Innovation verstehe ich die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen, die darauf ausgerichtet sind, den:die Zweck:e der Organisation auf eine neuartige Weise zu erreichen.

Aktuell viel diskutierte Innovationen beziehen sich auf die Nutzung digitaler Möglichkeiten in der und für die Soziale Arbeit. Da ist mit Sicherheit enormes Potential, auch wenn berücksichtigt werden muss, dass die Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit besondere Herausforderungen mit sich bringt.

Ebenso interessant sind aber „soziale Innovationen“, die ein neues Miteinander ermöglichen. Ich denke hier an die Stärkung von „caring communities“ oder – im Bereich der stationären Altenhilfe an Konzepte wie die „stambulante Pflege“ und damit die Kombination aus stationärer Versorgung mit betreutem Wohnen, bei dem die ambulante Pflege durch die Personen durchgeführt wird, die auch die stationäre Versorgung anbieten.

Auch hier wieder ein Plädoyer für die Unternehmer:innen in der Sozialen Arbeit. Das sind nicht nur die Menschen, die etwas gründen und sich „selbständig machen“, sondern auch die „Intrapreneur:innen„, die in den Organisationen für neue Gedanken, neue Herangehensweisen und damit auch neue Angebote sorgen.

Chance 9: Echte Diversität leben

Laut einer Studie der Boston Consulting Group (vgl. näher hier) gibt es eine eindeutige Korrelation zwischen Diversität und Innovationsleistung von Unternehmen. Diversität in Unternehmen lässt sich bspw. anhand des Modells der „4 Layers of Diversity“ nach Gardenswartz und Rowe (1998) darstellen, das auch von der Charta der Vielfalt e. V. genutzt wird.

Wenn man jetzt neben der Korrelation von Vielfalt und Innovation berücksichtigt, dass – um dem Fachkräftemangel zu begegnen – Deutschland eine Nettoeinwanderung von 400.000 Personen pro Jahr benötigt und wir einmal von der Utopie ausgehen, dass wir zumindest annähernd in diese Richtung steuern würden, wird deutlich, dass Vielfalt und damit das Thema „Diversity & Inclusion“ auch in Organisationen der Sozialen Arbeit an Relevanz gewinnen wird.

Ja, auch das Thema „Diversity & Inclusion“ führt zur Notwendigkeit ganzheitlicher Veränderungsprozessen, die in Organisationen der Sozialen Arbeit anstehen. Denn eine genaue Vielfaltsanalyse führt nicht in allen sozialen Organisationen zu einem super Ergebnis, „weil wir doch so sozial sind“. Allein der Blick auf die Herausforderungen der konfessionellen Träger bzgl. der verschiedenen Vielfaltsdimensionen reicht aus, um die Notwendigkeiten in diesem Themenfeld zu unterstreichen.

Aber – und darauf will ich hinaus – in dem Thema Diversity liegen eben auch enorme Chancen, die aufgrund des Fachkräftemangels herausgearbeitet werden können.

Chance 10: Techniknutzung in der Sozialen Arbeit

Oben habe ich bereits einmal verlinkt, warum das mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit ein Problem darstellt. Kurz: Digitalisierung führt immer zur Formalisierung der Organisation. Aufgrund u.a. der beruflichen Identität der Professionellen in unserem Sektor („Helfen wollen!“) und der damit nachvollziehbaren Abneigung gegen durch die von der Organisation vorgegebenen Regeln und Vorgaben haben es digitale Anwendungen nicht leicht. Hier geht’s noch einmal zu dem Beitrag.

Jedoch besteht die Möglichkeit (und damit auch die Chance), dass zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels die reine Notwendigkeit besteht, digitale bzw. überhaupt technische Tools stärker nutzen zu müssen, um die Arbeit bewältigen zu können.

Neben den Möglichkeiten der Verschlankung von zeitfressenden Prozessen durch (funktionale) digitale Anwendungen ist vor allem der Blick interessant, wie die Technik den Adressat:innen Sozialer Arbeit zugute kommt. Florian spricht in seinem Kommentar auf LinkedIn ja auch die Möglichkeit an, „dass Themen wie ‚Ambient Assisted Living‘ an Bedeutung gewinnen werden.“

Darunter sind technische Assistenzsysteme zu verstehen, die das Umfeld der Adressat:innen Sozialer Arbeit mit Technologien verknüpfen, um den Menschen mit Unterstützungsbedarf mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen. Und wenn das Ziel Sozialer Arbeit die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen ist (vgl. Definition Sozialer Arbeit) kann ja nichts dagegen sprechen.

Vielmehr könnte man die These aufstellen, dass bei deutlicher Verbesserung der digitalen und technischen Möglichkeiten die Notwendigkeit sinkt, professionelle Soziale Arbeit wahrnehmen zu müssen, was eine echte Chance im Blick auf den Fachkräftemangel wäre. Ja, logo, das kommt massiv an seine Grenzen wenn man in Betreuungssettings (Kita, stationäre Arbeit usw.) denkt. Aber in Beratungssettings sind die Entwicklungen interessant:

Die neueste Version von ChatGPT – 4o – wirft (zumindest aus meiner in dem Kontext nicht professionellen Brille) die Möglichkeit auf, nicht mehr zum:zur Berater:in zu müssen, sondern Familien-, Paar- und Einzelberatung digital abbilden zu können. Ehrlich gesagt ist das nicht sooooo futuristisch, wie es vielleicht auf den ersten Blick klingt. Mara Stieler zeigt Möglichkeiten hier für die Caritas auf und Emily Engelhardt befasst sich damit sowieso schon lange – deswegen die klare Empfehlung für ihren Blog 😉

Fazit, oder: Fachkräftemangel als Chance für die Soziale Arbeit

Längeres Nachdenken über den Fachkräftemangel als Chance führt auch hier vielleicht zu noch mehr Ideen. Wenn Dir also noch mehr einfallen, lass es mich gerne wissen, dann ergänze und aktualisiere ich den Beitrag.

Deutlich wird aber schon so, dass der Fachkräftemangel bei Änderung der Perspektive und durch das Denken in Möglichkeiten nicht nur die allseits bekannten Herausforderungen, sondern auch Chancen birgt.

Für die Professionellen, für die Menschen in Organisationen der Sozialen Arbeit zeigt sich der Fachkräftemangel als Chance vor allem in der Möglichkeit der Beeinflussung und aktiven Gestaltung von Arbeitsbedingungen.

Die Betrachtung des Fachkräftemangels als Chance aus organisationaler Perspektive zeigt Möglichkeiten, Organisationen der Sozialen Arbeit zu professionalisieren, also Organisationsstrukturen ebenso wie Angebote zu überdenken und neu zu gestalten.

Und für die Soziale Arbeit, den Sektor und die Profession insgesamt kann die Betrachtung des Fachkräftemangels als Chance darin bestehen, der ihr schon in der Corona-Pandemie attestierten „Systemrelevanz“ echte Bedeutung zu verleihen.

Über diese Bedeutung kann dann – hoffentlich – die Möglichkeit bestehen, politische Lobbyarbeit im besten Sinne – für die Menschen – zu betreiben und Forderungen zu stellen. Hohendanner, Rocha und Steinke bringen dies auf den Punkt, wenn sie in ihren „elf Punkten gegen den Kollaps des Sozialen“ (vgl. 2024, 65ff) unter Punkt 11 (ebd., 74) fragen:

„Was ist der soziale Sektor der Gesellschaft wert?“

Besonderheiten der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit I – Kundenorientierung vs. Finanzierung

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Im letzten Beitrag habe ich dazu geschrieben, „was eine Organisation ist“. Die Ausführungen lassen sich auf jede Organisation beziehen, egal ob das lokale Fast-Food-Restaurant, das Möbelhaus, die Verwaltung, die stationäre Pflegeeinrichtung, die Drogenberatungsstelle oder das Krankenhaus. Und trotzdem ist Dir wahrscheinlich sehr bewusst, dass all diese Organisationen unterschiedlich „funktionieren“. Das Ignorieren dessen also, „auf welche Zwecke eine Organisation (…) ausgerichtet ist, welche Produkte oder Leistungen sie erzeugt, in welchem institutionellen Umfeld sie sich bewegt, welche Interessenträger (…) eine spezifische Bedeutung für die Organisation erlangen, dadurch Anforderungen an die Organisation formulieren und die Organisation beeinflussen können“ (Gesmann, Merchel, 2019, 31), macht keinen Sinn. Es wird insbesondere dann mindestens fahrlässig, wenn es um Fragen der Entwicklung von Teams innerhalb und der Transformation der jeweiligen Organisation als Ganzes geht.Es braucht entsprechend einer Betrachtung des Organisationstyps „Organisationen der Sozialen Arbeit“ (bzw. etwas kürzer „soziale Organisationen“) und dessen spezifischer Systemeigenschaften und -logiken. Erst darüber wird ermöglicht, funktionale Ansätze der Team- und Organisationsentwicklung in den Blick zu nehmen. Die Berücksichtigung der spezifischen Systemeigenschaften ermöglicht es gleichzeitig, der Gefahr der unreflektierten Anwendung von wenig wirkungsvollen oder gar dysfunktionalen Management-Moden zu entgehen.

Im Folgenden werden die mit dem Organisationstyp „Organisationen der Sozialen Arbeit“ einhergehenden spezifischen Systemeigenschaften skizziert und diese bezogen auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen für gelingende Team- und Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit zu reflektiert. Dabei versuche ich, immer wieder Rückgriff auf die im letzten Beitrag ausgeführten Basics dessen, was Organisationen sind, zu nehmen. Damit werden Diskrepanzen zwischen den propagierten Notwendigkeiten der Organisationsentwicklung und den Besonderheiten sozialer Organisationen deutlich.

Ich beginne hier – damit es noch ein Blogbeitrag bleibt – mit der ersten Diskrepanz von Kundenorientierung und Finanzierung Sozialer Arbeit und werde weitere Diskrepanzen in zukünftigen Beiträgen fassen.

Diskrepanz I bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit: Kundenorientierung vs. Finanzierung Sozialer Arbeit

Hier ist – etwas grob und verkürzt – auf das sozialwirtschaftliche Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigten hinzuweisen. Das ist Dir aller Wahrscheinlichkeit nach bekannt, aber trotzdem einmal kurz die Zusammenfassung:

  • Kostenträger sind die Institutionen oder Organisationen, die die finanziellen Ressourcen für die Erbringung von sozialen Dienstleistungen bereitstellen. Neben Sozialämtern, Kranken- und Plegekassen oder der Bundesagentur für Arbeit können auch Stiftungen oder andere Finanzierungsquellen als Kostenträger definiert werden. Die Kostenträger legen die Rahmenbedingungen fest, unter denen die sozialen Dienstleistungen erbracht werden, einschließlich der Art und des Umfangs der Leistungen, der Zielgruppen und der finanziellen Mittel.
  • Leistungserbringer sind dann Personen, vor allem aber Organisationen der Sozialen Arbeit, die die tatsächlichen sozialen Dienstleistungen erbringen. Dies sind staatliche Behörden (bspw. Jugendämter), hauptsächlich aber die freien Träger der Sozialwirtschaft (private, freigemeinnützige Träger, privatfreiberufliche Anbieter und privatgewerbliche Anbieter). Die Leistungserbringer arbeiten gemäß den gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien des Leistungsträgers, um die auf sozialpolitischen Entscheidungen basierenden Dienstleistungen zu erbringen. Die Existenz von Organisationen der Sozialen Arbeit ist damit von diesen Entscheidungen abhängig – „und dies sowohl hinsichtlich der elementaren Existenzmöglichkeiten (Finanzierung) als auch hinsichtlich der politisch gesetzten Bedingungen für die Leistungserbringung“ (ebd., 33).
  • Und last, not least sind die Leistungsberechtigten, die Klient:innen, Nutzer:innen oder Empfänger:innen sozialer Dienstleistungen zu nennen – die Personen oder Gruppen also, die die sozialen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Die Leistungsberechtigten haben das Recht auf Zugang zu den durch die Leistungsträger finanzierten und von den Leistungserbringern bereitgestellten sozialen Dienstleistungen. Sie können (und werden zunehmend – bspw. beim BTHG) in den Entscheidungsprozess über die Art und den Umfang der Unterstützung einbezogen.

Das Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem verdeutlicht zum einen die komplexen Beziehungen und Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren in der Sozialen Arbeit. Damit wird auch deutlich, dass Bedürfnisse der Klient:innen erst dann „für die Organisationen Sozialer Arbeit (…) relevant [werden], wenn sie mit einem gesellschaftlich definierten Bedarf einhergehen bzw. in entsprechende politische Bedarfsentscheidungen eingegangen sind oder wenn sie sich durch politische Aktivitäten der Organisationen in eine solche Bedarfsentscheidung transferieren lassen“ (ebd., 31).

Zum anderen zeigt sich darin auch die komplexe Gemengenlage für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die als „doppeltes Mandat der Sozialen Arbeit“ bekannt ist: Einerseits sind Sozialarbeiter:innen helfend für ihre Klient:innen da. Andererseits geht es auch um gesellschaftliche Kontrolle der Klient:innen auf ihrem Weg zu einem „gesellschaftlich gewünschten“ und damit „normalen“ Leben – denn nur dafür werden basierend auf den Sozialgesetzgebungen öffentliche Mittel bereitgestellt.

Mit Blick auf die Team- und Organisationsentwicklung sozialer Organisationen ergeben sich schon hier Diskrepanzen, die für Veränderungsprozesse besondere Relevanz haben. Diese Diskrepanzen beziehen sich auf begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten a) „nach außen“ (Angebote der Leistungserbringer) ebenso wie auf begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten b) „nach innen“ (Organisationsstrukturen).

Diskrepanzen bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten nach außen

Hinsichtlich der a) Gestaltungsmöglichkeiten nach außen und damit der Gestaltung der Angebote ist zum einen darauf zu verweisen, dass die bspw. in Methoden wie dem Design Thinking mantraartig wiederholte „Notwendigkeit der Kundenorientierung“ Grenzen bei der Gestaltung sozialer, personenbezogener Dienstleistungen hat.

Da sich Organisationen der Sozialen Arbeit in der Regel durch öffentliche Mittel finanzieren, ließe sich sehr zugespitzt fragen, ob die Angebote der Leistungserbringer (an vielen Stellen) überhaupt den Bedarfen der Leistungsberechtigten entsprechen (können)?

Die Frage ist nicht als Vorwurf an die Organisationen der Sozialen Arbeit zu werten. Sie soll vielmehr darauf verweisen, dass nicht die Expert:innen Sozialer Arbeit gemeinsam mit den „Kund:innen“ und damit den hilfs- und unterstützungsbedürftigen Menschen und Gruppen entscheiden können, was gebraucht wird. Dies muss immer über gesellschaftliche Aushandlungsprozesse geschehen. Kurz: „Wer zahlt bestimmt die Musik!“

Die Frage soll auch darauf verweisen, dass die für gelingende Organisationsentwicklung hoch relevante iterative und am Besten gemeinsam mit den Kund:innen zu gestaltende „Experimentierlogik“ bei der Angebotsgestaltung begrenzt ist: Innovativ neue Angebote entwerfen und diese auf einem „Markt“ zu testen geht kaum, solange diese Experimente nicht gegenfinanziert sind.

Und selbst die in der Sozialen Arbeit etablierte Projektfinanzierung (bspw. über die Aktion Mensch oder den Europäischen Sozialfonds) hat Grenzen, da auch hier immer vorgegeben wird, welche Themenschwerpunkte mit den vermeintlich innovativen Angeboten – zumindest in der Theorie – abgedeckt werden sollen. Darüber hinaus führt die Projektfinanzierung („Projektitis“) zu weiteren Problemen, wie bspw. der Frage der Weiterfinanzierung wirksamer Projekte nach Projektende.

Die einzige Möglichkeit, um wirklich innovative Angebote, neue Geschäftsmodelle o.ä. nachhaltig zu gestalten, ergibt sich durch nicht zweckgebundene Stiftungsgelder oder Eigenmittel der Träger. Darüber wird zumindest ein gewisser Spielraum für die innovative und damit „kundenorientierte“ Gestaltung von sozialen Dienstleistungen ermöglicht.

Um es konkret zu machen stellen sich Fragen, wie es bspw. gelingen kann, innovative, digitale Angebote in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit nachhaltig zu gestalten und zu etablieren, wenn deren Finanzierung nicht sichergestellt ist.

Diskrepanzen bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten nach innen

Kundenorientierung lässt sich aber nicht nur nach außen betrachten. Denn hinsichtlich der Arbeitsabläufe, der Zwecke, Kommunikationswege und der Prozesse (siehe letzter Beitrag) lässt sich Kundenorientierung auch intern denken. Mit diesem Blick nach innen zeigen sich konkrete Herausforderungen, die durch die Finanzierung sozialer Organisationen basierend auf vornehmlich öffentlichen Mitteln b) nach innen deutlich werden. Wiederum konkret bleibe ich beim Beispiel der Digitalisierung:

Digitalisierung ermöglicht einerseits Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen bzgl. der Gestaltung von Unterstützungsprozessen innerhalb sozialer Organisationen: Neben der Dokumentation von bspw. Pflegeprozessen lassen sich Bewerbung- und Einstellungsprozesse in den Personalabteilungen kaum noch analog denken – und sei es nur die Möglichkeit, die PDF-Bewerbung per E-Mail zu versenden. Gleiches gilt für QM- oder Controlling-Prozesse, deren analoge Abbildung in der heutigen Zeit absurd erscheint. Als weitere Beispiele sind natürlich interne digitale Kommunikationsmöglichkeiten über Messengerdienste, Videokonferenzen oder auch ganze IT-Infrastrukturen zur internen Zusammenarbeit wie bspw. MS-Teams zu nennen. Aktuell und zukünftig werden vermehrt Anwendungsszenarien „künstlicher Intelligenz“ ebenfalls mitzudenken und zu etablieren sein, wenn die KI, wie bspw. Bill McDermott, ehem. CEO von SAP, es hier formuliert „alles verändern“ wird (was auch durch die neuesten Veröffentlichungen von OpenAI zunehmend wahrscheinlicher wird).

Mit der skizzierten Notwendigkeit der Nutzung digitaler Tools und den enormen Geschwindigkeiten, mit denen sich diese entwickeln, gehen andererseits und wenig verwunderlich enorme Kosten einher. Allein die Ausstattung der Einrichtungen und Organisationen der Sozialen Arbeit mit funktionierenden Internetverbindungen erzeugt horrende Kosten genau wie die Notwendigkeit, allen Mitarbeitenden funktionierende E-Mail-Adressen einzurichten. Dabei ist ein aktuelles und zukünftig relevantes Thema noch gar nicht berücksichtigt: Die IT-Sicherheit hat Anforderungen, die weit über die Sicherstellung des Datenschutzes hinausgehen und wiederum enorme Kosten mit sich bringt. Und wiederum nicht abschließend ist die Notwendigkeit der Personalentwicklung hinsichtlich digitaler Kompetenzen der Belegschaft zu nennen. Interne wie externe wahrgenommene Weiterbildungsnotwendigkeiten, die es überhaupt erst ermöglichen, die digitalen Tools sinnvoll zu nutzen, sind nicht umsonst zu haben.

Wichtig ist noch der Hinweis, dass die Digitalisierung nicht das alleinig bestimmende Thema von Organisationen der Sozialen Arbeit ist. Aktuell mehr als relevante Themen sind ebenfalls zu berücksichtigen, was allein schon beim Blick auf die Notwendigkeiten der Befassung der Sozialen Arbeit mit dem Klimawandel deutlich wird. Bei all dem darf natürlich die Herausforderung Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft nicht außer acht gelassen werden. Ach ja, das Ganze findet dann noch in einer enorm angespannten Haushaltssituation der öffentlichen Kassen statt.

Kurz in den Worten von Jupp Schmitz:

Wer soll das bezahlen? Wer hat das bestellt? Wer hat so viel Pinkepinke? Wer hat so viel Geld?

Ich selbst bin immer wieder überrascht über die Größe der Organisationen, in denen ich beratend unterwegs bin. Einrichtungen mit mehreren Tausend Mitarbeiter:innen sind eher die Regel als die Ausnahme. Unternehmen des Mittelstands in diesen Dimensionen ohne bzw. mit deutlich unterbesetzten Abteilungen für Personal- und/oder Organisationsentwicklung wären nicht denkbar. Denn neben der Digitalisierung ergeben sich selbstverständlich auch Entwicklungsnotwendigkeiten in anderen Bereichen: Neue Teamzusammensetzungen, Umstrukturierungen von Abteilungen, Wachstum und neue Arbeitsfelder ebenso wie Rückbau und „Exnovation„, Leitbild- und Strategieentwicklungen erfordern auch in Organisationen der Sozialen Arbeit OE-Prozesse, die irgendwie nebenbei, auf dem Rücken der sowieso überlasteten Führungskräfte und Mitarbeitenden, realisiert werden (müssen).

Beim Vergleich mittelständischer Unternehmen mit Organisationen der Sozialen Arbeit überraschen mich außerdem die in der Regel fehlenden Abteilungen für „Forschung und Entwicklung“, was aber wiederum an den vorab geschilderten Umständen liegt: Was soll entwickelt werden, wenn Neuentwicklungen vornehmlich auf die Sicherstellung externer Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen sind?

Wichtig ist aber, dass hier nicht fehlender Wille oder fehlende Einsicht der Verantwortlichen in Organisationen der Sozialen Arbeit Grund für diese Situation ist, sondern die deutlich zu geringe Finanzierung eines sinnvollen Overheads, der die Kosten für Personal- und Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit angemessen berücksichtigen würde.

Fazit zur Diskrepanz von Kundenorientierung vs. der Finanzierung Sozialer Arbeit

Zusammenfassend wird die Diskrepanz I (Kundenorientierung vs. Finanzierung Sozialer Arbeit durch öffentliche Mittel) bezogen auf die Möglichkeiten der Organisationsentwicklung deutlich:

Organisationen als soziale Systeme verfolgen neben dem primären Zweck des Überlebens immer ihren Zweck bzw. ihre Daseinsberechtigung (Mission oder neudeutsch „purpose“). Bei Organisationen der Sozialen Arbeit wäre dies – je nach Arbeitsfeld – bspw. die „bestmögliche Unterstützung von Jugendlichen“, die Hilfe bei Suchterkrankungen, die Resozialisierung von straffälligen Menschen.

Ein Grundsatz der Organisationsentwicklung lautet jedoch, dass Organisationen so gestaltet sein sollten, dass es ihnen bestmöglich gelingt, ihren Zweck bzw. ihre Zwecke zu erfüllen. Davon ausgehend lässt sich dann – etwas vereinfacht – überlegen, an welchen „Rädchen“ (Zwecke, Kommunikationswege, Prozesse, Personal) wie „gedreht“ werden kann, um die jeweilige Organisation „in die gewünschte Richtung zu verführen“ (Seliger, R.).

Wenn jedoch Zwecke (Wozu sind wir da? Was wollen wir anbieten?) und die Wege, wie diese Zwecke erreicht werden (Prozesse), an vielen Stellen vorgegeben bzw. aufgrund der Finanzierungslogiken Sozialer Arbeit schwer veränderbar sind, wird es spannend (immer, wenn Sozialarbeiter:innen „spannend“ sagen, meinen sie eigentlich „schwierig“):

Es reicht bei der Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit nicht aus, allein die interne Perspektive der Veränderung von Zwecken, Kommunikationswegen, Prozessen und Personal in den Blick zu nehmen. Bei allen Ambitionen und Notwendigkeiten der Organisationsentwicklung muss immer die (in der Regel begrenzende) Außenperspektive mit berücksichtigt werden:

Was von den tollen Ideen und theoretischen Möglichkeiten lässt sich eigentlich auf Dauer und über welche Wege finanzieren?

Ohne die Berücksichtigung dieser ersten Besonderheit von Organisationen der Sozialen Arbeit, die auf der „politischen Konstituierung sozialer Dienstleistungen“ (ebd., 33) basiert und der sich daraus ergebenden Diskrepanz zwischen Kundenorientierung und Finanzierung wird es aller Voraussicht nach immer wieder zu Wildwuchs, Frustration bei den Mitarbeitenden und zu einer Vielzahl abgebrochener OE-Prozesse, deren Ergebnisse oftmals weit hinter den prognostizierten Erwartungen zurückbleiben, kommen.


Im nächsten Beitrag wird’s dann um die Diskrepanz II gehen. Dabei wird der Blick nach innen, auf die besonderen Charakteristika sozialer Dienstleistungen gerichtet und die Frage gestellt, welche Auswirkungen diese auf die Organisationsentwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit haben.

Quellen:

  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.

Was sind Organisationen – eine Einführung

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Was sind Organisationen? Eine seltsame Frage, oder? Schließlich bewegen wir uns alle „von der Wiege bis zur Bahre“ in Organisationen. Von der Geburt bis zum Tod wird unser Leben von Organisationen bestimmt – von Verwaltungen, Krankenhäusern, Kirchen, Schulen, Universitäten, Unternehmen, Parteien und vielfach auch von Wohlfahrtsverbänden, Kindertagesstätten, Altenhilfeeinrichtungen. Wir nehmen das als selbstverständlich hin. Aber eine Vorstellung davon, was Organisationen sind und wie sie funktionieren, wie man sich in ihnen bewegt und was man in Organisationen verändern und gestalten kann, ist kaum vorhanden.

„Und selbst in Studienfächern wie Soziologie, Betriebswirtschaftslehre oder Psychologie wird man häufig nur in den jeweiligen Spezialisierungskursen darüber informiert, wie Organisationen eigentlich funktionieren. So lernen wir häufig lediglich nebenbei, wie Organisationen wirken und wie man sich in ihnen zu verhalten hat“ (Kühl, 2020, 1).

Herausfordernd an der Frage, was Organisationen nun eigentlich sind, sind verschiedene Aspekte, die auch und gerade für Beschäftigte in Organisationen der Sozialen Arbeit bedeutsam sind. Denn, wie Gesmann und Merchel (2019, 14) passend ausführen, wird „schnell erkennbar, dass der Begriff der Organisation eine gewisse Unschärfe aufweist. Arbeiten die Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) eines Jugendamtes nun in der Organisation ASD oder in der Organisation Jugendamt? Kann ein Arbeitskreis, der sich rund um das Thema unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Bezirk gebildet hat, als Organisation bezeichnet werden? Was ist mit Einrichtungen, die sich einem Wohlfahrtsverband angeschlossen haben: Sind diese nun Organisationen, oder ist nur der Wohlfahrtsverband eine Organisation? Und ist eine Selbsthilfegruppe eine Organisation?“ Und wenn dann noch die Organisation der eigenen Hochzeit mit der Organisation Jugendamt in Verbindung gebracht wird, wird’s völlig wirr.

Ich will hier nicht die gesamte (und komplexe) Theorie, die es zur Differenzierung der verschiedenen Sichtweisen auf Organisationen gibt, um die Ohren hauen, sondern um die Komplexität zu reduzieren, den Begriff „Organisation“ auf „das soziale System Organisation“ einschränken. Damit wird die Perspektive deutlich, aus der ich Organisationen betrachte und aus der auch die Ausführungen konzipiert sind: Es ist die systemtheoretische Perspektive.

Aus dieser Perspektive weisen Organisationen vier spezifische Merkmale auf, die sie von z.B. Familien oder Cliquen unterscheiden, die ebenfalls als soziale Systeme definiert werden können. Wir werden dann sehen, warum es gut ist, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen und welche drei Seiten von Organisationen es wert sind, betrachtet zu werden. Abschließend werden vier Typen von Organisationsstrukturen vorgestellt – denn hier kann Organisationsentwicklung sinnvoll ansetzen.


P.S.: Dieser Beitrag ist entstanden, weil ich in Workshops und Fort- und Weiterbildungen immer wieder ähnliche Ausführungen mache und es sich – vielleicht – lohnt, sie hier zum Nachlesen zu hinterlassen. Wahrscheinlich werde ich perspektivisch weitere Auszüge aus Workshops und Fortbildungen (z.B. zu den Besonderheiten sozialer Organisationen) hier niederschreiben.


Die vier spezifische Merkmale von Organisationen

Den Ausführungen von Gesmann und Merchel folgend (vgl. ebd., 14ff) lassen sich Organisationen anhand der folgenden vier grundlegenden Merkmale von anderen sozialen Systemen unterscheiden:

Organisationen weisen

  • eine spezifische Zweckorientierung,
  • eine geregelte Arbeitsteilung,
  • Mitgliedschaftsbedingungen und
  • eine Beständigkeit der Organisationsgrenzen auf.

Bei der spezifischen Zweckorientierung geht es darum, dass Organisationen einen oder mehrere spezifische Zwecke verfolgen. So lässt sich der Zweck von Organisationen der Sozialen Arbeit bspw. reduzieren auf „das Erbringen von personenbezogenen Dienstleistungen“, wobei diese Reduktion des „einen Zwecks“ spätestens beim Blick auf einen Wohlfahrtsverband ins Wanken gerät und mehrere Zwecke (bspw. untergliedert nach den jeweiligen Arbeitsfeldern, in denen Wohlfahrtsverbände Leistungen anbieten) zu berücksichtigen sind.

Die geregelte Arbeitsteilung als Merkmal von Organisationen wird in der Organisationsstruktur deutlich. Die Organisationsstruktur zeigt, „wer was wann und wie macht bzw. machen sollte“ (ebd., 15). Die Organisationsstruktur lässt sich als Regelwerk der Organisation definieren, die sich bspw. durch Prozessbeschreibungen im QM-System, durch das Organigramm oder auch Stellenbeschreibungen, Rollendefinitionen und die Ausführungen in den Arbeitsverträgen zeigt. Das ist die „Formalstruktur“ der Organisation. Besonders spannend ist, dass die Ausbildung formaler Strukturen immer auch die Ausbildung informaler Strukturen bedingt. Dazu gleich mehr.

Im Gegensatz zu bspw. Familien kannst Du in Organisationen Mitglied werden, indem Du – das dritte Merkmal – die Mitgliedschaftsbedingungen der Organisation (abgebildet in der Formalstruktur) erfüllst. Dafür, dass Du die Bedingungen erfüllst, erbringt die Organisation in der Regel die Gegenleistung „Gehalt“. Gleichzeitig kann die Organisation Deine Mitgliedschaft auch beenden, sofern Du die formalen Mitgliedschaftsbedingungen nicht erfüllst. Diese für Organisationen wesentliche, da überlebenswichtige Möglichkeit ist jedoch in Zeiten des Fachkräftemangels gesondert zu betrachten.

Das vierte Merkmal, die Existenz von und die Beständigkeit der Organisationsgrenzen, verdeutlicht, dass es ein „Innen“ und ein „Außen“ von Organisation gibt. Dieses „Innen“ und das „Außen“ zeigt sich bspw. dann, wenn Du Dir vorstellst, dass irgendjemand in Deiner Organisation vorbeikommen würde und heute mal gerne mitarbeiten würde. Selbst in Zeiten massiven Fachkräftemangels ist dies nicht (so einfach) möglich. Ebenso absurd ist die Vorstellung, dass die Hochschule ihre Organisationsgrenzen mal eben so verlässt und neben der Lehr- und Forschungstätigkeit eine Bäckerei eröffnet.

Warum es gut ist, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen

Dass Organisationen sich durch eine Abgrenzung zur Umwelt definieren, einen oder mehrere Zwecke verfolgen, im Gegensatz zu z.B. Familien eine formale Struktur haben und Mitgliedschaftsbedingungen formuliert sind, ist vielleicht nicht überraschend.

Überraschender ist die Feststellung, dass das soziale System Organisation aus systemtheoretischer Sicht nicht „aus Menschen“ besteht, sondern besser als Netzwerk fortlaufender Entscheidungen verstanden werden kann (vgl. Richter, Groth, 2023, 125). Oder kurz:

Organisationen bestehen aus Entscheidungen, die sich in den formalen und informalen Strukturen der Organisation manifestieren (teils schriftlich, teils mündlich). So ist bereits die Gründung einer Organisation eine Entscheidung. Weitere Entscheidungen folgen (z.B. die Entscheidung, Personal einzustellen; die Entscheidung über den Zweck der Organisation; die Entscheidung über die Regeln, die in der Organisation gelten). Mit den ersten Entscheidungen wird ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt. Jede Entscheidung impliziert weiteren Klärungs- und Handlungsbedarf, die entstehende Historie bereits getroffener Entscheidungen erfordert und begrenzt weitere Entscheidungen (vgl. ebd., 126).

Dass Organisationen nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen bestehen, erscheint auf den ersten Blick „unmenschlich“. Wenn man aber versucht, den Menschen (im Sinne der Mitarbeiter:innen) „aus dem Mittelpunkt“ der Organisation zu nehmen, ergeben sich enorme Vorteile für das Be- und Verstehen von Organisationen ebenso wie für das Menschliche.

Die Vorteile für Organisationen werden deutlich, wenn man sich eine Organisation vorstellt, in der die Mitarbeiter:innen in ihrer Gesamtheit wirklich im Mittelpunkt stehen:

Jedes Mal, wenn Menschen die Organisation verlassen – durch Kündigung oder aus Altersgründen – würden Lücken entstehen, die niemals durch andere Menschen gefüllt werden könnten, denn Menschen sind in ihrer Ganzheit sehr unterschiedlich, individuell und daher nicht ersetzbar. Mehr noch:

Wenn Organisationen um einzelne Menschen herum gebaut werden (was z.B. bezogen auf Gründer:innen von Start-Ups zu beobachten ist), „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (Wimmer, 2019).

Katastrophal wird es für die Organisation vor allem dann, wenn nach dem Ausscheiden einer oder mehrerer Personen das Überleben der Organisation gefährdet ist. Statt also als „ganze Person“ Teil der Organisation zu werden, übernehmen Menschen Rollen in der Organisation. Sehr einfach ausgedrückt: Man wird nicht als „Klaus“ oder „Claudia“ eingestellt, sondern – hoffentlich unabhängig vom Geschlecht – in der Rolle z.B. als „Sozialarbeiter:in“.

Die Vorteile der Trennung von Mensch und Rolle für die Mitarbeitenden ist nicht ganz so offensichtlich. Bei genauerem Hinsehen ermöglicht die Möglichkeit der Trennung von Mensch und Rolle jedoch, einerseits die in der Rolle formal formulierten und damit zu erfüllenden Anforderungen und andererseits – getrennt von der Rolle – den Menschen in den Blick zu nehmen.

So kann man als Teamleitung gemeinsam mit dem:der Mitarbeiter:in – z.B. in einem Mitarbeitergespräch – überlegen, ob und wie es gelingen kann, trotz der Herausforderungen, die sich z.B. durch die Betreuung der eigenen Kinder ergeben (Personenperspektive), mit den Anforderungen der Arbeit (Rollenperspektive) in Einklang zu kommen. Denkbar wäre, dass die in der Rolle formulierten Aufgaben gemeinsam an die Anforderungen angepasst werden, die der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin erfüllen kann. Denkbar wäre auch, für den:die Mitarbeiter:in eine andere Rolle im Team oder in der Organisation zu finden. Dabei wird nicht die Person als Ganzes in Frage gestellt, sondern es wird versucht, die Anforderungen der Rolle an die Möglichkeiten des:der Mitarbeitenden anzupassen.

Diese eher nüchterne Sicht der Trennung von Person und Rolle ist ein Gegenentwurf zur Ganzheitlichkeit und der oft gehörten Forderung, dass doch der „ganze Mensch“ in die Organisation integriert werden müsse.

Und selbst Frederic Laloux (Autor von Reinventing Organizations) räumt ein, dass „it is a challenge for any organization to create an environment where people feel safe to show up whole“ (Laloux, 2014, 151).

Die drei Seiten einer Organisation

In den Ausführungen oben ist einmal das Wort Informalität gefallen. Was ist denn darunter zu verstehen? Das wird bei den drei Seiten einer Organisation deutlich.

So lässt sich jede Organisation – wenn man den Ausführungen von Kühl und Muster (2015, 17ff) folgt – anhand der Schauseite, der informalen und der formalen Seite beschreiben.

Die Schauseite

Die Schauseite meint die auch von außen sichtbaren Fassaden, die die Organisation öffentlich sichtbar darstellen will. Das sind zum Beispiel der Internetauftritt, die Veröffentlichung von Jahresberichten, von im Netz zugänglichen Leitbildern, aber auch die von außen sichtbaren Gebäude und öffentlich zugänglichen Bereiche einer Organisation. Da ich diese Zeilen gerade in einem Hotel schreibe: Der Blick in das oftmals kaum einsehbare Büro hinter den Hotelrezeptionen dieser Welt (fast jedes Hotel hat hinter der Rezeption ein Büro) zeigt, dass der erste Eindruck, den die Rezeptionen (Schauseite) vermitteln sollen, nicht mit den organisationalen Realitäten der Hotels übereinstimmen. Und vielleicht zeigt sich gerade in Hotels, dass die „Fassaden (…) eine Schutzfunktion [haben]: Sie dienen dazu, den Außenstehenden den Einblick zu verwehren, um in Ruhe Entscheidungen vorbereiten zu können, mögliche Konflikte vor der Außenwelt zu verbergen oder Fehler und Peinlichkeiten zu verheimlichen“ (ebd.). Für den Beitrag hier ist die Schauseite irrelevant, obwohl sie auch in sozialen Organisationen eine große Bedeutung hat.

Die formale Seite

Die formale Seite der Organisation oder kürzer: die Formalstruktur meint dann all das, was in der Organisation als „Mitgliedschaftsbedingungen“ offiziell entschieden wurde. Darunter fallen bspw. Anwesenheitszeiten, die zu erledigenden Aufgaben, die einzuhaltenden Prozesse, wer einem was sagen darf und wer nicht und so weiter. Formalstrukturen sind also all jene Entscheidungen, die in der Organisation entscheidbar sind und entschieden wurden und damit weitere Entscheidungen nach sich ziehen. In vielen Fällen sind diese Entscheidungsprämissen schriftlich niedergelegt, es reicht aber auch, wenn der:die Vorgesetzte eine Anweisung mündlich erteilt.

Die informale Seite

Anzunehmen, dass man eine Organisation einfach bis ins Kleinste „durchregeln“ könnte, wäre jedoch naiv (auch wenn das bspw. in Organisationskonzepten wie Holocracy versucht wird). Denn „das Leben in der Organisation ist viel wilder, als es im schriftlich niedergelegten Regelwerk und den mündlich kommunizierten Anweisungen von Vorgesetzten zum Ausdruck kommt“ (Kühl, 2020, 25). Und damit sind wir bei der informalen Seite der Organisation. Mit der informalen Seite bzw. der Informalität der Organisation ist all das gemeint, worüber keine Entscheidung getroffen wurde – die nicht entschiedenen, aber entscheidbaren sowie die nicht entscheidbaren Entscheidungsprämissen. Informalität als Teil der Organisationsstruktur sind somit die nicht formal entschiedenen Handlungen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten. „Erst wenn ein Deutungsmuster sich nicht nur bei einem einzigen Mitglied findet, sondern sich in Teilen der Organisation als erwartbar eingeschlichen hat, hat es den Status einer informalen Erwartung. Erst wenn die kurzfristige Abstimmung mit der Kollegin in der Nachbarabteilung nicht ausnahmsweise vorgenommen wird, sondern wiederkehrend als ‚kurzer Dienstweg‘ zur Abstimmung genutzt wird, hat man es mit einer informalen Struktur zu tun“ (ebd.). Diese Routinen und Gewohnheiten werden oft und etwas verkürzt als Organisationskultur definiert: „So machen wir das hier eben, damit es funktioniert“ oder auch „Das machen wir schon immer so!“

Nicht entschieden, aber entscheidbar ist häufig bspw. der Umgang mit Arbeitszeit in der Raucherpause. Hier wäre eine Entscheidung möglich, die aber nicht getroffen ist, wodurch es einerseits zu Unstimmigkeiten zwischen den Raucher:innen und den Nichtraucher:innen kommen kann. Hier wäre eine Festschreibung einfach möglich. Andererseits kann es durch die Regelung, dass Raucherpausen von der Arbeitszeit abgezogen werden, zu Folgeproblemen kommen: Wichtige Zeiten für informelle Absprachen gehen verloren. Deutlich wird, dass nicht alles Entscheidbare auch entschieden werden muss – im Gegenteil: Oftmals sind die nicht geregelten Freiräume hochgradig wichtig für das gute Funktionieren einer Organisation.

Und genauso wenig funktional ist es, jede Regelabweichung in einer Organisation automatisch zu sanktionieren. Denn viele (nicht alle!) Regelabweichungen sind für Organisationen hoch brauchbar (vgl. dazu näher Kühl, 2020a). Das gilt auch und insbesondere für Organisationen der Sozialen Arbeit.

Vier verschiedene Typen formaler Organisationsstrukturen

Wichtig ist, dass in Organisationen alle drei beschriebenen Seiten immer zusammenspielen. So hat eine Änderung der Schauseite (bspw. neue Website) ebenso Auswirkungen auf die informale Seite der Organisation wie die Zusammenlegung von Abteilungen. Einzig die „informale Seite“ selbst ist nicht unmittelbar entscheidbar. Vielmehr folgen die informalen Auswirkungen „wie ein Schatten“ den Entscheidungen auf den beiden anderen Seiten bzw. insbesondere den auf der formalen Seite getroffenen Entscheidungen. So hat zwar die Veröffentlichung von einem Leitbild Auswirkungen auf das Verhalten von Mitarbeiter:innen. Diese Auswirkungen werden aber viel weniger unmittelbar sein, als die Auswirkungen auf das Verhalten durch eine von der Vorgesetzten getroffenen Dienstanweisung zur ausschließlichen Nutzung der neuen Präsentationsvorlage – auch wenn diese von nicht allen Mitarbeiter:innen als „schön“ bewertet würde.

Zur Reduktion der Komplexität messe ich den auf der Schauseite möglichen Entscheidungen weniger Bedeutung bei. Wichtig ist aber, dass auch die Entscheidungen auf der Schauseite in der Regel durch Entscheidungen auf der formalen Seite beeinflusst werden. So ist bspw. die Entscheidung, ein neues Leitbild zu erstellen, zunächst eine formale Entscheidung, die dann Auswirkungen auf die Schauseite der Organisation hat. Aber etwas strukturierter:

Wenn man den Ausführungen von Kühl und Muster folgt (vgl. 2016) können Organisationen über drei „grundlegend verschiedene Typen von Organisationsstrukturen entscheiden – oder systemtheoretisch ausgedrückt von „Entscheidungsprämissen“:

  • Programme,
  • Entscheidungswege und
  • Personal.

Programme:

Programme legen fest, „was man in einer Organisation tun darf und was nicht“ (ebd.). Sie lassen sich untergliedern in a) Konditionalprogramme und b) Zweckprogramme.

Konditionalprogramme legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird“ (ebd.). Kurz kann man auch sagen: Alle vorgegebenen und verschriftlichten Prozesse (‚Wenn X passiert, ist Y zu tun!‘) sind Konditionalprogramme.

Zweckprogramme legen demgegenüber fest, „welche Ziele oder Zwecke erreicht werden sollen“ (ebd.). Hier geht es darum, was erreicht werden soll. Das kann auf Ebene der Gesamtorganisation entschieden werden. Wichtig ist aber auch, den Zweck bzw. die Zwecke der einzelnen Einheiten, Teams und Bereiche einer Organisation in den Blick zu nehmen unter der Frage: „Wozu sind wir da?“ Die Mittel und genauen Wege jedoch, wie der Zweck erreicht werden soll, werden in den Zweckprogrammen nicht näher definiert. Es werden damit keine Prozesse beschrieben, wie genau das Ziel bzw. der Zweck zu erreichen ist.

Entscheidungswege:

Entscheidungswege zeigen sich in den Organigrammen der Organisation und sagen aus, wer wem etwas sagen bzw. entscheiden kann, ohne dass dies angezweifelt wird. Hierarchien, Mitzeichnungsrechte oder auch die Kommunikationswege in Projekten, die sich temporär ausbilden, lassen sich als Beispiele für Entscheidungswege anbringen.

Personal:

Organisationen können darüber entscheiden, wen sie einstellen und wen nicht bzw. wen sie entlassen und wen nicht. „Jeder Beobachter kann feststellen, dass in Organisationen nicht nur über Personal entschieden wird, sondern dass Personalentscheidungen wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen in der Organisation sind. Es macht für künftige Entscheidungen einen Unterschied, welche Person die für die Entscheidung zuständige Stelle besetzt“ (ebd.)

Hier kommt dann auch die Haltung, das Mindset, die Persönlichkeit der Menschen wieder ins Spiel – wenn, ja wenn Auswahlmöglichkeiten für die Besetzung einer Stelle zur Verfügung stehen. Da dies jedoch zunehmend weniger der Fall ist, gewinnt eine sinnvolle und damit funktionale Gestaltung insbesondere der Konditionalprogramme eine zunehmend wichtige Bedeutung.

Zusammenfassend lassen sich „Programme, Kommunikationswege und Personal (…) als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen“ (Gesmann, Merchel, 2021, 37)

Über alles weitere, über die Strukturtypen Programme, Entscheidungswege und Personal hinausgehende und damit auch über die Informalität kann nicht formal entschieden bzw. aktiv gestaltet werden. Kurze Dienstwege oder neue Ideen können nicht angeordnet oder strukturell verankert werden ebensowenig wie der regelmäßige Besuch der Currywurstbude zur Mittagspause oder das „agile Mindset“ der vorhandenen Mitarbeiter:innen.

Was sind Organisationen – Zusammenfassung

Auch wenn mir bewusst ist, dass für eine Betrachtung von Organisationen als soziale Systeme noch viel mehr Aspekte zu berücksichtigen sind, um sie in ihrer Ganzheit zu verstehen, hoffe ich, hiermit so etwas wie die Basics zusammengeführt zu haben. Der Beitrag dient damit zum einen dazu, Grundideen dessen, was ich immer wieder in Fort- und Weiterbildungen rund um Fragen der Organisationsentwicklung vermittle, zusammen zu fassen. Zum anderen hoffe ich, damit auch einen Beitrag zur Steigerung des nicht unbedingt ausgeprägten Organisationsbewusstseins für Menschen im Gesundheits- und Sozialwesen zu leisten. Dieses Organisationsbewusstsein wird aufgrund der spezifischen Herausforderungen und der Besonderheiten, die Organisationen der Sozialen Arbeit aufweisen, in der heutigen Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen. Hier reicht allein der Gedanke an den Fachkräftemangel und die damit einhergehenden Notwendigkeiten der Neu- und Umgestaltung der formalen Strukturen der Organisation.

Und jetzt freue ich mich, von Dir zu hören und zu lesen, welche weiteren Aspekte beim Blick auf Organisationen zu berücksichtigen sind. Schreib‘ dazu doch gerne hier in die Kommentare, per Mail oder in den sozialen Medien. Freu mich drauf und Danke schon jetzt!

Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet/. Download am 15.11.2023.
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Göpel, M. (2022): Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein.
  • Kühl, S., Muster, J. (2016): Organisationen gestalten: eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Management kompakt. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kühl, S. (2020): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kühl, S. (2020a): Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen. Working Paper 4/2020. URL: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/soziologie/fakultaet/personen/kuehl/pdf/Kuhl-Stefan;-Working-Paper-4-2020-Brauchbare-Illegalitat-Weswegen-sich-Regelbruche-nicht-vermeiden-lassen.pdf. Download am 05.09.2023.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brüssel: Nelson Parker.
  • Spiegel, Hiltrud von (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München.
  • Richter, T., Groth, T. (2023): Wirksam Führen Mit Systemtheorie : Kernideen Für Die Praxis. Erste Auflage. Carl-Auer Verlag; 2023.
  • Wimmer, R. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Marktplatz der Erwartungen, oder: Rollen in Organisationen gemeinsam definieren

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„Enttäuschte Erwartungen (…) sind recht verlässliche Auslöser von Konflikten“ (Eidenschink, 2024, 8). So gehen Mitarbeiter:innen fälschlicherweise davon aus, dass andere die jeweils anstehenden Aufgaben in ihren jeweiligen Rollen, Mandaten bzw. Verantwortungsbereichen übernehmen werden und sind dann enttäuscht, wenn dies nicht passiert. Entsprechend macht es Sinn, zu überlegen, wie Konflikte zu regulieren sind, auch wenn – kurzer Einschub – Organisationen ohne Konflikte nicht lange existieren können (vgl. ebd.). Wenn sich Konflikte aber in vielen Fällen an enttäuschten Erwartungen manifestieren, macht es Sinn, zu überlegen, wie diese Erwartungen transparenter, besser zugänglich und für alle Beteiligten „erwartbarer“ werden können. Daher ist es (nicht nur in selbstbestimmt agierenden Teams) wichtig, ein klares Verständnis über und klare Erwartungen an die Rollen, Mandate bzw. Verantwortungsbereiche in der Organisation und damit (möglichst) klare Zuständigkeiten zu etablieren. Eine Möglichkeit, diese Erwartungen herauszuarbeiten, zu überprüfen und weiterzuentwickeln, bietet die Methode „Marktplatz der Erwartungen“.

Mir persönlich übrigens gefällt der Begriff der „Rolle“ nicht so gut. Er erinnert mich immer an die Rolle des „Klassenclowns“ oder des „kritischen Geists“ im Team: Person XY hat eine bestimmte „Rolle“ aufgrund ihres persönlichen Verhaltens zugesprochen bekommen. Besser gefällt mir der Begriff „Mandat“, mit dem deutlich(er) wird, dass ein bestimmter Verantwortungsbereich definiert ist, der über das Mandat abgedeckt ist. Der Einfachheit halber jedoch nutze ich im Folgenden (meist) den Begriff „Rolle“, da sich dieser im Diskurs etabliert hat.


Kleines Goodie: Hier kannst Du eine Rollencanvas als PDF herunterladen, die hilft, die Rollen gut zu definieren.


Marktplatz der Erwartungen – wozu eigentlich?

Um effektiv und effizient zusammenzuarbeiten, ist es in jedem Team wichtig, dass Rollen, Mandate bzw. Verantwortungsbereiche, die Teammitglieder übernehmen, transparent sind (vgl. hierzu auch das GRPI-Modell). Diese Rollen sollten idealerweise miteinander abgestimmt, klar definiert und voneinander abgegrenzt sein. Nur so ist jedem Teammitglied klar, welche konkreten Aufgaben es zu erledigen hat und wofür es zuständig und verantwortlich ist. Es entstehen Erwartungen – zum einen von jedem einzelnen Teammitglied an seine eigene Rolle und zum anderen Erwartungen an die Rollen der anderen Teammitglieder.

Leider zeigt die Praxis, dass die Erwartungen an die Rollen in den seltensten Fällen ausgesprochen und damit transparent sind (oftmals fehlt aber sogar die Definition der Rollen, womit jede:r irgendwie für alles und nichts zuständig ist).

Dies liegt oft daran, dass Organisationsbereiche, Abteilungen und sogar Teams häufig eher zufällig zusammengesetzt sind oder Veränderungsprozessen und individuellen Einflüssen unterliegen bzw. unterlegen haben, wodurch es zu Veränderungen in der Rollenstruktur kommt. Entsprechend treffen im Arbeitsalltag viele unterschiedliche, vor allem aber ungeklärte Erwartungshaltungen aufeinander, was Konflikte vorprogrammiert.

Mit dem „Marktplatz der Erwartungen“ wird ermöglicht, dass ein Team gemeinsam verschiedene Sichtweisen auf Rollen, auf die Erwartungen an die Rollen und auch auf Aufgaben und Zuständigkeiten erarbeitet. Ziel ist, herauszufinden, ob die eigenen und die Erwartungen der anderen an die jeweiligen Rollen gerechtfertigt sind oder nicht.

Der Prozess ähnelt dem Feilschen auf einem Markt und ermutigt dazu, Erwartungen offen zu diskutieren.

Methodisches Vorgehen beim Marktplatz der Erwartungen

Vorab: Es ist wichtig, die benötigte Zeit zur Erwartungsklärung nicht zu unterschätzen. Für die Durchführung sollten (je nach Teamgröße) mindestens zwei bis drei Stunden eingeplant werden. Das Vorgehen hingegen ist einfach und erfordert nur geringe Vorbereitung.

Die einzelnen Schritte sind wie folgt:

1. Teilnehmer in Rollen einteilen (5 Minuten): Die Teilnehmer werden entsprechend relevanter Kriterien wie Fachrichtung, Aufgabenbereich oder Stellenbezeichnung in Gruppen eingeteilt. Zum Beispiel könnten dies Pflegedienstleitung, Einrichtungsleitung und Wohnbereichsleitung sein. Mitarbeiter:innen, die mehrere Rollen innehaben, wählen eine Rolle aus.

2. Jede Rolle eröffnet ihren „Marktstand“ (5 Minuten): Jede Gruppe oder Person positioniert sich vor einem leeren Flipchart, das als „ihr Marktstand“ dient. Zuerst wird die Rolle benannt und der Marktstand entsprechend beschriftet. Anschließend können die Erwartungen an diese Rolle auf Post-Its notiert und an der linken Seite des Flipcharts platziert werden.

3. Auf dem Marktplatz umhergehen (je Marktstand mind. 10 Minuten, Time-Boxing): Die Gruppen bewegen sich im Uhrzeigersinn von einem Marktstand zum nächsten. Am neuen Marktstand informieren sie sich über die Funktionsbezeichnung und die bereits abgegebenen Erwartungen. Anschließend ergänzen sie gemeinsam ihre eigenen Erwartungen.

Diese Schritte werden wiederholt, bis alle Gruppen alle Marktstände besucht haben.

4. Den eigenen Marktstand überprüfen (je Marktstand 10 Minuten): Am eigenen Marktstand werden die von anderen Gruppen abgegebenen Erwartungen betrachtet und beantwortet, ob diese gerechtfertigt sind, unklar erscheinen oder ungerechtfertigt sind. Nach dieser Runde sieht das Flipchart vielleicht so aus:

5. Wichtig!!! Eine Pause einlegen und Kaffee trinken (10 Minuten): Eine kurze Pause ermöglicht es den Teilnehmenden, sich zu erholen und gestärkt weiterzuarbeiten. Außerdem gehört zu jedem guten Markt ein guter Kaffeestand (geht auch mit Tee, denke ich).

6. Erwartungen klären und aushandeln (je Marktstand mind. 10 Minuten): Die Teilnehmenden versammeln sich vor jedem Marktstand, um die Erwartungen zu klären und zu verhandeln – feilschen, wie auf einem Markt. Falls Erwartungen von der einen oder der anderen Seite abgelehnt werden, wird diskutiert, wie damit umgegangen werden soll.

7. Erwartungen festhalten (je Marktstand 10 Minuten): Die festgelegten Erwartungen sollten schriftlich festgehalten und visualisiert werden, damit sie für alle zugänglich sind.

8. Weiteres Vorgehen festlegen (5 Minuten): Abschließend wird vereinbart, wann die Erwartungen erneut überprüft und gegebenenfalls angepasst werden sollen.

Digitaler Marktplatz der Erwartungen für die Gesamtorganisation

Das oben beschriebene Vorgehen eignet sich wunderbar, wenn es um die Klärung der Erwartungen in einem Team geht. Oftmals stelle ich jedoch fest, dass die Erwartungen an die Rollen und sogar an die Stellen in der Gesamtorganisation nicht definiert sind. Fragen wie „Welche Erwartungen haben wir als Einrichtungsleitung eigentlich an die Pflegedienstleitung, an die Teamleitung, an die Bereichsleitungen, an die Fachkräfte in Arbeitsfeld XY usw. haben wir eigentlich?“ sind nicht geklärt. Und auch die Stellenbeschreibungen geben oftmals wenig echte Auskunft. Aber die Durchführung des „Marktplatz der Erwartungen“ in der Gesamtorganisation?

Viel zu aufwendig!

Alternativ schlage ich dazu eine digitale Variante vor. Hinzuweisen ist darauf, dass diese Variante „von oben“ gesteuert ist, die Geschäftsführung, der Vorstand bzw. insgesamt die Führungskräfte nehemen dabei dann eine entsprechend wichtige (und prägende) – genau – Rolle ein.

Folgendes Vorgehen hat sich hier bewährt:

1. Rollenstruktur definieren: Zunächst wird die aktuell existierende Rollenstruktur durch die Verantwortlichen beschrieben. Die Verantwortlichen können dabei die Geschäftsführung, Bereichsleitungen etc. sein – je nach betrachtetem Bereich. Es macht Sinn, im Sinne einer Ist-Analyse alle aktuell bestehenden Rollen aufzulisten. Achtung Wiederholung: Unter Rollen sind nicht (nur) die Stellen der Organisation zu verstehen. So kann bspw. die Stelle „pädagogische Fachkraft“ unter bestimmten Bedingungen mehrere Rollen bzw. Mandate einnehmen (bspw. das Mandat „Eingewöhnung“ oder das Mandat „Budget“). Es macht dann sind, die Ist-Situation mit einer gewünschten Soll-Situation abzugleichen. Hierbei wird deutlich, ob alle bestehenden Rollen noch weiter existieren sollen oder ob es Anpassungsbedarf gibt.

2. Rollen definieren: Die Rollen, die zukünftig in der Organisation existieren werden, müssen definiert werden. Dafür ist für jede Rolle ein eigenes Dokument anzulegen. Eine Orientierung für die Gliederung der Rollendefinition kann bspw. die RACI-Matrix geben. Diese untergliedert die Verantwortlichkeiten in die vier Bereiche

  • Responsible
  • Accountable
  • Consulted
  • Informed

Aus meiner Sicht ist das oftmals zu komplex und gerade in sozialen Settings wenig handhabbar. Entsprechend kann auch eine Einteilung anhand von

  • Aufgaben,
  • Verantwortlichkeiten und
  • Befugnissen

erfolgen. Allein schon die Beschreibung der von der jeweiligen Rolle erwarteten Aufgaben kann aber ausreichend und augenöffnend sein.

3. Rollendefinition teilen: Im nächsten Schritt sind die erarbeiteten Rollendefinition in der Organisation zu teilen. Dabei sind zwei Optionen denkbar: Es können a) die Rollendefinitionen offen geteilt werden. Es werden dann alle oder zumindest ein passender Anteil der Mitarbeiter:innen eingeladen, die Rollendefinitionen zu ergänzen. Wichtig ist dabei, deutlich zu machen, dass es nicht darum geht, dass alle Rückmeldungen eins-zu-eins in die Rollendefinition einfließen, sondern als Anregungen zu verstehen sind. Die endgültige Entscheidung liegt bei den Verantwortlichen. Hier wird die Herausforderung dieses Vorgehens klar. Gleichzeitig haben aber natürlich auch die anderen Mitarbeiter:innen Erwartungen an alle Rollen in der Organisation. Alternativ dazu kann es b) eben auch Sinn machen, die Rollendefinitionen nur mit den betroffenen Mitarbeitenden zu besprechen. Dadurch werden die Erwartungen im kleinen Kreis reflektiert, diskutiert und für beide Parteien passend erarbeitet. Das hat natürlich den Vorteil, einfacher und schneller agieren zu können. Gleichzeitig werden die Erwartungen der anderen Mitarbeitenden nicht berücksichtigt – logisch.

4. Rollendefinition entscheiden und transparent machen: Abschließend ist der (mehr oder weniger) gemeinsam erarbeitete Entwurf der Rollendefinition zu entscheiden. Wiederum besteht die Option, diese Entscheidung „top-down“, mit der jeweils betroffenen Person gemeinsam oder auch im größeren Kreis (bspw. mithilfe der Konsent-Moderation) zu entscheiden. Und dann gilt es „nur noch“, die entschiedenen Definitionen in der Organisation zu veröffentlichen und damit diesen entsprechende Gültigkeit zu verleihen.

Marktplatz der Erwartungen – Tipps

Eine Moderation durch eine unparteiische Person kann aus meiner Perspektive sehr hilfreich sein, um das Treffen effektiv zu leiten und emotionale Spannungen abzubauen, bevor es zu Konflikten kommt. Dies ermöglicht es den Teilnehmenden, sich auf den Inhalt zu konzentrieren und fundierte Entscheidungen bzgl. der jeweiligen Rollen zu treffen.

Außerdem macht es Sinn, regelmäßige Rollengespräche (vielleicht im Rahmen der Mitarbeitergespräche, sofern diese gelebt werden) zu etablieren, in denen die Führungskräfte mit den Mitarbeiter:innen über ihre jeweiligen Rollen und vor allem ihre jeweiligen Erwartungen an die Rollen reflektieren. Denn Umwelten von Organisationen und damit die Anforderungen an Organisationen verändern sich immer. Und damit ändern sich auch die Erwartungen, die an bestimmte Rollen gekoppelt sind. Und ja, es ist auch denkbar, dass Rollen nicht mehr gebraucht werden.

Jetzt bin ich gespannt auf Deine Erfahrungen!

Fünf Thesen zur Zukunft sozialer Organisationen in Zeiten des Wandels

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Der Beitrag „Fünf Thesen zur Zukunft sozialer Organisationen in Zeiten des Wandels“ ist die Verschriftlichung eines Impulses, den ich vor kurzem in einer sozialen Organisation halten durfte. Die Aufgabe bestand darin, einen breiteren Blick auf die Entwicklungen in der Sozialwirtschaft zu werfen und meine Gedanken zur Zukunft sozialer Organisationen darzulegen. Ziel des Impulses war es, Anregungen für die strategische Arbeit der Organisation zu geben. Und – kleiner Teaser vorab – es geht unter anderem um Datenkompetenz, Exnovation und organisationale Resilienz.

Aber wo fängt man an? Wo, an welcher Stelle, ist es sinnvoll, zu überlegen, was Optionen sind, wie sich soziale Organisationen entwickeln können?

Ich habe hier den klassischen Weg gewählt und lege im ersten Schritt kurz da, wozu soziale Organisationen aus meiner Perspektive da sein sollen – was ihr Zweck ist. Davon ausgehend werden dann Überlegungen angestellt, welche Implikationen dies für die strategische Ausrichtung haben kann.

Wozu sind soziale Organisationen da?

Dazu hilft die Befassung mit der Definition Sozialer Arbeit. Diese ist in meinen Augen beinahe zeitlos und dient mir immer wieder als Anker, um auf dem Boden zu bleiben und gleichzeitig die Zukunft sozialer Organisationen in den Blick nehmen zu können:

„Soziale Arbeit fördert (als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin) gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (hier geht’s zur Definition).

Der erste Satz macht die Breite Sozialer Arbeit zwischen Mensch und Gesellschaft deutlich. Und bezogen auf beide Perspektiven wird betont, dass es um Förderung geht – zum einen die Förderung gesellschaftlicher Veränderungen, sozialer Entwicklungen und des sozialen Zusammenhalts und zum anderen die Förderung bzw. Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.

In der Definition heißt es, dass dazu „Strukturen eingebunden“ werden. Das sind die Organisationen, Institutionen, Einrichtungen ebenso wie Hochschulen, Verbände und und und.

Soweit, so einfach.

Wobei – die Realität zeigt, dass es eben gar nicht so einfach ist. Denn beide Perspektiven erfordern immer den Blick in die Zukunft:

  • Was braucht denn unsere Klientel heute und in Zukunft, damit es uns als Organisation gelingt, die Selbstbestimmung und Autonomie zu fördern?
  • Und was braucht die Gesellschaft (in unserem Sozialraum) heute und morgen, zu dem wir als Organisation einen essentiellen Beitrag leisten können?

Um das herauszubekommen komme ich zu meiner ersten These:

These 1: Datenkompetenz mehr als Bauchentscheidungen

Da ich kein Datenkompetenzprofi bin, habe ich mir bei Sebastian Unterstützung geholt. Entsprechend sind die folgenden Ausführungen eine Zusammenfassung seines mehr als lesenswerten Beitrags „Datenkompetenz in der Sozialen Arbeit und Sozialwirtschaft“.

In jeder sozialen Organisation fallen enorm viele Daten an. Darunter sind Daten über die Nutzer:innen der Dienstleistungen, Daten über die Mitarbeiter:innen, Daten über die Verweildauer von Klienten in Maßnahmen, Finanzdaten und und und…

Durch die Analyse der in der Organisation vorhandenen Daten können Anhaltspunkte herausgearbeitet werden, um festzustellen, wie gut bestimmte Angebote funktionieren und wo möglicherweise noch Optimierungspotenzial besteht.

Aus den Daten und der Analyse der Daten lässt sich ferner langfristig ein Wissensmanagement aufbauen, das dabei unterstützt, potenzielle Nutzer:innen gezielt zu den für sie am besten geeigneten Angeboten zu lenken. Darüber hinaus ist es angesichts des demografischen Wandels unabdingbar, Wissen, vor allem aber Kompetenzen der Mitarbeiter:innen systematisch zu erfassen und zu sichern, um so dem „brain drain“ vorzubeugen.

Achtung, Werbung: Zur Frage, wie der Aufbau eines sinnvollen Wissensmanagements gelingen kann, habe ich einen Workshop gestaltet.

Neben diesen Aspekt kann die systematische Datenanalyse ebenso Ergebnisse für die politische Lobbyarbeit liefern. So kann die Auswertung von Beratungs- oder Belegungsdaten beispielsweise zeigen, ob bestimmte soziale Probleme im Sozialraum auftreten.

Aus organisationaler Perspektive hochgradig relevant sind systematisch zur Verfügung gestellte und ausgewertete Daten für die interne Entscheidungsfindung innerhalb einer Organisation. Diese basiert zu häufig auf Intuition und dem berühmten, sehr wichtigen, zukünftig aber nicht mehr ausreichenden Bauchgefühl.

Und Sebastian weist auch darauf hin, dass Daten aus der eigenen Organisation als Grundlage für (eigene) KI-Lösungen sein können (hierzu sind vertiefend die Ausführungen im Blog von Emily immer mehr als lesenswert).

Die (nicht abschließenden) Beispiele zeigen auf, dass und welches Potenzial in einem systematischen Datenmanagement und der Datenanalyse stecken.

Sebastian betont, dass die Daten Informationen für eine Entscheidung liefern, die Entscheidung selbst aber immer die Fachkräfte und Mitarbeitenden in den Organisationen treffen. Der Mensch fällt somit durch die Daten nicht raus, im Gegenteil. Es braucht jedoch die Kompetenz, mit Daten angemessen umzugehen.

Dazu noch ein eigener Gedanke, der den Blick weitet und nicht mehr nur die digital zur Verfügung stehenden Daten betrachtet:

Wenn es gelingt, statt nach dem „Warum“ zu fragen, die Frage in den Vordergrund zu rücken „Woran erkennen wir, dass…?“, basieren unsere Entscheidungen ebenfalls auf Daten. Das sind dann zwar keine digitalen, aber genauso hilfreiche Daten, die in Entscheidungsfindungen leiten können. Methodisch hilfreich ist die regelmäßige Durchführung von Retrospektiven, die auf die Gewinnung und Bewertung von nicht nur digitalen Daten großen Wert legen.

Basierend auf den politischen Rahmenbedingungen ebenso wie basierend auf den gesellschaftlichen Entwicklungen, den Kürzungen der Sozialkassen und insbesondere dem demographischen Wandel werden sich Soziale Organisationen neben der datenbasierten Wirkungsmessung aber auch für „Weniger“ entscheiden müssen.

Ich fasse dieses „Weniger“ unter dem Begriff der Exnovation und komme damit zur zweiten These.

These 2: Exnovation mehr als Innovation

Wir müssen realistisch sein:

Der Fachkräftemangel in Verbindung mit der wirtschaftlichen Situation der Leistungsträger zwingt soziale Organisationen in die Notwendigkeit, abzuwägen, welche Angebote und Arbeitsfelder zukünftig noch sinnvoll bewirtschaftet werden können.

Berichte von schließenden bzw. aufgrund von Fachkräftemangel nicht öffnenden Altenhilfeeinrichtungen, die ganze Wohlfahrtsverbände in finanzielle Schieflagen bringen, sind ebenso an der Tagesordnung, wie der Ausbaustop der Kinderbetreuung. Wir stehen an dem Punkt, dass es in vielen Arbeitsfeldern keine ausreichende Anzahl an Fach- und leider auch nicht mehr an Arbeitskräften gibt.

Entsprechend wird die Zukunft sozialer Organisationen (auch) darin bestehen, abwägen zu müssen, welche Angebote und Dienstleistungen sie zukünftig noch erbringen werden. Die Nutzung von Daten zur Wirkungsmessung (These 1) kann hier wertvolle Dienste leisten.

Wichtig ist aber auch, dass sich Exnovation (hier findest Du nähere Ausführungen zum Begriff der Exnovation) nicht nur auf die Angebotsstrukturen der Organisationen bezieht.

Exnovation bezieht sich auch auf die interne Perspektive. Konkret geht es immer auch um die Frage, ob nicht auch die internen Prozesse, Abläufe, Hierarchien, Abteilungen… und damit die Formalstruktur der Organisation hinterfragt und hinsichtlich der Frage ihrer Funktionalität entschlackt werden muss.

Neben der Frage, welche Angebote eingestellt werden müssen, stellt sich in der dritten These explizit die Frage, welche Regeln und Prozesse funktional sind.

These 3: Funktionale Formalisierung mehr als die Hoffnung auf Eigenverantwortung

Zu dieser These ist einführend zu erwähnen, dass ich hier aus systemtheoretischer Perspektive auf die Frage schaue, was in Organisationen bewusst gestaltet werden kann.

Bewusst gestaltet werden kann die Formalstruktur der Organisation. So macht es aus meiner Perspektive keinen Sinn, an die Haltung der Mitarbeiter:innen oder die Kultur der Organisation zu appellieren.

Unter der Formalstruktur ist zu verstehen, dass bewusste Entscheidungen getroffen werden können über die Ziele und Zwecke der Organisation, über die Zuständigkeiten und formalen Hierarchien, über Regeln und Prozesse und über das Personal.

Das Personal ist insofern relevant, da es für zukünftige Entscheidungen in der Organisationen einen großen Unterschied macht, wer welche Stelle bzw. Rolle in der Organisation einnimmt.

Da es jedoch zunehmend weniger Fach- und Arbeitskräfte gibt, werden wir zunehmend mit Menschen arbeiten müssen, die nicht über die von uns gewünschte Qualifikation verfügen.

Hinzu kommt, dass auch weiterhin neue Fachkraftstellen besetzt werden müssen (staatliche Anerkennung in der Sozialen Arbeit). Hier können wir aber nicht mehr aus einem großen, intrinsisch motivierten Pool an Bewerber:innen auswählen.

Da somit die Möglichkeit verringert wird, die Entscheidungen in der Organisation über das Personal im für die Organisation gewünschten Sinne zu beeinflussen, muss ein stärkerer Fokus auf die funktionale Gestaltung von Zuständigkeiten ebenso wie auf die funktionale Gestaltung von Regeln und Prozessen gelegt werden.

Funktional bedeutet dabei, genau abzuwägen, an welcher Stelle in der Organisation und den Teams mehr Regeln und Vorgaben funktional sind und welche Regeln und Vorgaben auch überflüssig sind.

In meinen Augen brauchen wir mehr Regeln und Vorgaben, die sich auf das „Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit beziehen: Wie treffen wir Entscheidungen? Wie gestalten wir unsere Teamsitzungen? Wie werden welche Prozesse erledigt? Wie regeln wir die Zuständigkeiten? Wie erfolgt die Dienstplanung?

Dabei geht es um die Notwendigkeit, die formale Seite der Organisation zu stärken um der in sozialen Organisationen dominierenden Informalität entgegenzuwirken – aber so, dass es für die Organisation funktional ist!

Die Entscheidungen über die Formalstruktur werden jedoch von Führungskräften getroffen. Entsprechend gilt es zunehmend, ein Augenmerk auf die Aus- und Weiterbildung von Führungskräften zu legen, um deren Organisationsbewusstsein zu stärken und eine Abkehr vom reinen Blick auf den Menschen zugunsten des Blicks auf die Verhältnisse im sozialen System Organisation zu erreichen.

Entscheidungen in sozialen Organisationen werden jedoch in den seltensten Fällen eindeutig zu treffen sein. Dazu These 4:

These 4: Dilemmatamanagement mehr als die Suche nach Eindeutigkeit

Es ist wohl wenig überraschend, dass sich insbesondere Organisationen der Sozialwirtschaft zunehmend mit gegensätzlichen und damit paradoxen Anforderungen konfrontiert sehen. Übergreifend zeigt sich das bspw. in dem Zwang, ihre Komplexität gleichzeitig zu steigern und zu reduzieren, kreatives Chaos ebenso wie Ordnung zu organisieren und gleichzeitig flexibel und stabil zu sein.

An allen Ecken und Enden sehen wir, dass es gelingen soll, einerseits Wandel zu initiieren und zu fördern und andererseits Sicherheit und die notwendige Stabilität (nicht nur) in Veränderungsprozessen zu garantieren.

Für Organisationen der Sozialwirtschaft kommt hinzu, dass es die Spannungen zwischen personenbezogenen und strukturbezogenen Leitungsimpulsen ebenso wie zwischen der Orientierung an den Mitarbeitenden und an den Aufgaben und außerdem an den sachlichen Zielen der Organisation gibt.

Wenn der Fachkräftemangel in den Blick genommen wird, gilt es einerseits, Vertrauen in die Bereitschaft der Mitarbeitenden zur Leistung und in ihre Kompetenz zu haben und gleichzeitig die zunehmend notwendige Kontrolle nicht aus den Augen zu verlieren.

In Organisationen der Sozialwirtschaft ist auf der einen Seite die Offenheit und Flexibilität bei Einzelentscheidungen hochgradig relevant, steht aber im Spannungsverhältnis zur Begrenzung der Komplexität möglicher Entscheidungen durch die „Vorgabe von Orientierungen/Richtungen für Wahrnehmung/Interpretation/Entscheidungen“ auf der anderen Seite (vgl. Merchel, 2015, S. 285 f).

Das ist soweit alles bekannt und tagtäglich erlebbar. Schwieriger ist da die Frage, wie man mit den Dilemmata in Organisationen der Sozialwirtschaft umgehen kann.

Grunwald (Grunwald, 2022, 98) schlägt dazu „einen die Pole ausbalancierenden und von Lernprozessen geprägten Umgang mit dem Grunddilemma ‚offene versus geschlossene Organisationsformen‘“ vor .

Führungskräften in sozialen Einrichtungen muss es gelingen, „allgemeine und diffuse Paradoxien und Widersprüche der Organisation zu überführen in formulier- und greifbare Spannungsfelder und Dilemmata“ (ebd.) und diese „nicht als Hemmschuh zu begreifen, dem mit psychologischen und sozialpsychologischen Methoden beizukommen ist, sondern sie als einen möglichen Motor von Wandel in Organisationen zu begreifen. Dilemmata sind Hinweise auf nicht auflösbare Widersprüche (…), die nicht standardisierte Kommunikation notwendig machen; Kommunikationen, die für die Entwicklung von Organisationen genutzt werden können“ (Kühl, 2015, 125ff).

Klingt auch einleuchtender, als die Umsetzung in der Realität einfach ist. Hilfreich und konkreter ist eine Auseinandersetzung mit den Dilemmata über das Tetralemma. Darunter ist ein Modell zu verstehen, das zur Reflexion von Konflikten und Ambivalenzen entwickelt wurde und auch zur Entscheidungsfindung hilfreich sein kann.

„Die Struktur des Modells lässt sich zunächst in vier Positionen darstellen:

  • Das Eine – die eine Seite der Ambivalenz bzw. die eine Option oder Perspektive.
  • Das Andere – die andere Seite der Ambivalenz bzw. die andere Option oder Perspektive.
  • Beides – die bisher möglicherweise übersehenen Verbindungen oder Vereinbarkeiten zwischen dem Einen oder dem Anderen.
  • Keines von Beiden – die bisher möglicherweise übersehenen Kontexte, die das Eine und das Andere auch noch tangieren, bedingen oder möglicherweise erst verursachen; worum es bei dem Einen und dem Anderen eben auch noch gehen könnte.“ (Kleve, Tetralemma)

Hinzu kommt eine weitere, fünfte Ebene:

  • „… all dies nicht – und selbst das nicht“ – die Negation der bisherigen vier Positionen sowie die Negation dieser Negation bzw. etwas ganz Anderes.

Kleve schreibt, dass die fünf Positionen des Tetralemmas „als Etappen eines Prozesses bzw. einer Wanderung zu verstehen [sind]: Man kann sie bei Ambivalenzen oder Konfliktsituationen durchlaufen, um auf dem Weg auf Neues, neue Perspektiven oder Optionen, zu stoßen“ (ebd.).

These 5: Organisationale Resilienz mehr als kurzfristige Anpassungsfähigkeit

Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag zum Thema „organisationale Resilienz“ verfasst. Ich darf die in dem Beitrag zusammenfassenden Aspekte – soviel kann schon hier verraten werden – weiter ausbauen und zu einem die organisationale Resilienz kritisch betrachtenden Buchbeitrag ausweiten.

Im Zuge der Vorbereitung des Beitrags habe ich in den letzten Wochen viel zum Thema organisationale Resilienz gelesen, habe Podcasts gehört und mich in das Thema tiefer eingearbeitet.

Dabei sind mir – bislang – vor allem zwei spannende Gedanken über den Weg gelaufen:

Der erste Gedanke wird durch den Satz „If you’re old, you’re not dead!“ gut zusammengefasst.

Ja, da kann man schmunzeln und sich freuen. Man kann den Blick aber auch auf viele seit Jahren, Jahrzehnten und teilweise Jahrhunderten existierende soziale Organisationen richten.

Viele dieser Organisationen wirken auf den ersten Blick alles andere als hip, agil, modern oder post-bürokratisch. Aber – und das ist der relevante Punkt – sie sind nicht tot! Sie existieren trotz aller Umbrüche, historischen Entwicklungen, Krisen und Veränderungen.

Wenn wir an dieser Stelle unser Narrative ändern, weg von den jungen, hippen Unternehmen, die wir doch so gerne sein bzw. in denen wir doch so gerne arbeiten würden, hin zu den Stärken, zur Resilienz der „Tanker“ der Sozialwirtschaft, kann es gelingen, Zukunft positiv zu gestalten.

Ja, da sind Büros ohne Kickertische. Aber soziale Organisationen brauchen (in vielen Fällen) keine hippen Büros, da Soziale Arbeit bei und mit den Menschen stattfindet. Anders gesagt (und nicht ganz ernst gemeint) sind die muffigen Büros vielleicht sogar funktional, damit die Sozialarbeitenden nicht zu viel Zeit darin, sondern bei den Menschen vor Ort verbringen, für die sie Verantwortung tragen (und nein, dass ist kein Plädoyer für dauerndes Sparen an allem).

Und der zweite Gedanke bezieht sich auf das Krisen-Training. So erlangen Menschen ebenso wie Organisationen Resilienz nicht in der Krise, sondern im Training vor der Krise.

Nur vor der Krise können Organisationen resilient aufgestellt werden. Was das im Detail heißen kann (es gibt sogar eine eigene ISO-Norm für organisationale Resilienz), habe ich im Beitrag zum Thema dargelegt.

In der Krise jedoch gilt Krisenmodus. Das ist wie beim Fußball – auch da kann man vorher trainieren, nicht jedoch im Spiel.

Angesichts der gesellschaftlichen Spaltungen, der massiven Auswirkungen durch den Klimawandel, der unglaublich schnellen technologischen Entwicklungen und, und, und, wird eines sicher sein:

Krisen werden – auch in und für soziale Organisationen – zu Normalität.

Aber auch hier wieder: Krise selbst ist für soziale Organisationen alles andere als neu. Man kann sogar sagen, dass Krise das Geschäftsmodell sozialer Organisationen ist. Stabilität und Wandel – siehe Dilemmatamanagement – ist und war schon immer Alltag sozialer Organisationen.

Anstatt also im Jammermodus zu verharren, sind jetzt, heute Anstrengungen zu unternehmen, die eigene Organisation bzw. konkreter die Formalstrukturen der eigenen Organisation weiterzuentwickeln und resilient zu gestalten. Hier ist – so mein Eindruck – noch Luft nach oben.

Fazit zur Zukunft sozialer Organisationen, oder: Soziale Energie, Datenkompetenz, Exnovation und organisationale Resilienz

Zum Anfang vom Ende ein Zitat vom Godfather of New Work – Bergmann. Dieser schrieb 2004:

„Nicht wir sollten der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte uns dienen. Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden.“

Arbeit sollte Kraft und Energie verleihen.

Angesichts der ständigen Krisen, die – wie hier erläutert – insbesondere die Soziale Arbeit an die Belastungsgrenze und darüber hinaus bringt, ist das leichter gesagt als getan.

Und trotzdem sollte es Ziel sein.

Es sollte bei aller Effizienz und Digitalisierung immer die Frage im Hinterkopf mitschwingen, wie es gelingen kann, Arbeit allgemein, Soziale Arbeit im Speziellen und soziale Organisationen im Besonderen so zu gestalten, dass sie Menschen mehr Energie gibt als nimmt.

Passend dazu schreibt Hartmut Rosa in der Zeit vom 11. Januar 2024 von der „sozialen Energie“.

Er stellt die Frage, wie es sein kann, dass wir, freitagsabends, fertig von einer langen Woche, Energie aufbringen, uns vom Sofa quälen, rausgehen und mit mehr Energie nach Hause kommen? „Anstrengung führt zu Energiegewinn!“ Das ist seltsam:

Wir müssen Energie aufbringen, wir müssen uns anstrengen, um Energie zu gewinnen. Das widerspricht dem inneren Schweinehund ebenso wie jeder physikalischen Energielogik.

Die seltsame Logik funktioniert jedoch nur bei sozialer Energie! Und sie funktioniert nicht, wenn es um das Abarbeiten von To-Do-Listen, wenn es um reine „Input-Output-Beziehungen“ geht.

Übertragen auf Arbeit, die Kraft und Energie verleiht, übertragen auf Soziale Arbeit in sozialen Organisationen, ergeben sich daraus viele Fragen.

So kennt wohl jede:r in dem hochgradig herausfordernden Berufsfeld das „Ausgelaugtsein“ (siehe Beitrag hier) nach einem Tag mit fordernden Klient:innen. Nach einem Tag massiver Kommunikation ruft die Ruhe doppelt laut. Im Extrem lässt sich auf die Burn-Out-Raten unserer Branche blicken, die – so bspw. der jährlich erscheinende AOK-Fehlzeitenreport – nicht nur Jahr für Jahr an der Spitze der Statistik liegen, sondern in den letzten Jahren nochmals massiv gestiegen sind.

Dieses „Ausgelaugtsein“ ruft aber auch, wenn man den ganzen Tag gerödelt hat und am Ende des Tages das Gefühl hat, keine Zeit mehr und trotzdem nichts „geschafft“ zu haben – Input-Output. Bürokratie, ick hör‘ Dir trapsen!

Parallel zu diesen Gedanken lese ich meinem Sohn gerade – wieder einmal – Momo vor.

Und logo, darin kommt Beppo mit seinem berühmten Straßenfeger-Zitat vor:

„Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Oder mit den Worten von Rosa:

„Anstrengung führt zu Energiegewinn, wenn ihr subjektiver Fokus auf der Tätigkeit selbst, auf dem „Throughput“ liegt, und sie führt zu Erschöpfung, wenn er auf der Input-Output Beziehung ruht.“

Wie aber können wir unser individuelles Leben, unsere Arbeit, soziale Organisationen und übergreifend eine Gesellschaft gestalten, die (wieder?) wegkommt vom „Input-Output“ hin zum „throughput“?

Dieser Blick auf Soziale Arbeit und die Zukunft sozialer Organisationen wird, angesichts der sich stapelnden Krisen der Welt, für uns alle wichtig werden.

Für die Menschen aber, die sich um andere Menschen kümmern, wird er überlebenswichtig.


Ich hoffe, dass meine Gedanken zu den Thesen hilfreich sein können, strategisch zu denken und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Sie sind und können aber nur Orientierung sein. Und vor allem:

Es sind meine Perspektiven auf die aktuelle Situation sozialer Organisation, in meinem Kopf konstruiert, basierend auf meinen aktuellen Erfahrungen. Entsprechend gespannt bin ich auf Deine – vielleicht unterstützenden, vielleicht aber auch konträren – Gedanken hierzu.

Daraus ergibt sich dann ein breiteres Bild, das dabei helfen kann, die Sozialwirtschaft, die sozialen Organisationen und die darin agierenden Menschen für die anstehenden Herausforderungen zu unterstützen.

Lass doch gerne einen Kommentar mit Deinen Gedanken da…

Vergesst das Digital Mindset, oder: Warum die Digitalisierung sozialer Organisationen so oft scheitert (und was trotzdem hilft…)

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Dass die Digitalisierung sozialer Organisationen sowohl Chancen wie Herausforderungen bietet, ist unbestritten (vgl. ausführlich Freier et al., 2021). So zeigen sich aus fachlicher Perspektive beispielhaft Chancen zur Förderung sozialer Teilhabe, Autonomie und Selbstbestimmung durch digitale Kommunikationstools (What’sApp, Threads, Instagram, Mastodon…). Die gleichen Kommunikationstools verstärken aber auch gesellschaftliche Spaltungstendenzen z.B. durch Bildung in sich geschlossener, sich gegenseitig verstärkender „bubbles“. Als weiteres Beispiel für die Herausforderungen der Digitalisierung ergeben sich „Fragen der Sicherung von Datenschutz, Vertraulichkeit und Zugänglichkeit, u.a. im Zusammenhang der Metadatenproduktion im Kontext sozialer Dienstleistungen“ (Seelmeyer, Kutscher, 2021, 27), wohingegen die Chancen unter anderem zur Effizienzsteigerung durch Standardisierung von Kommunikation, Dokumentation und Prozessabläufen in Organisationen der Sozialwirtschaft enorm sind. Darüber hinaus und aktuell hoch relevant sind Fragen rund um die IT-Sicherheit, die soziale Organisationen vor zusätzliche Herausforderungen stellen.

Im Folgenden wird der Blick nicht auf die Wiederholung (bekannter) Chancen und Risiken der Digitalisierung gerichtet, sondern explizit auf die Organisationsgestaltung im Zuge der Digitalisierung. Hier stellen sich zwei Kernfragen:

  1. Warum sind Digitalisierungsprojekte in Organisationen der Sozialwirtschaft besonders herausfordernd und
  2. wie kann auf diese Herausforderungen angemessen reagiert werden?

Der vorliegende Beitrag erscheint in diesem Frühjahr auch in leicht abgewandelter Form in der Fachzeitschrift „Kerbe – Forum für Soziale Psychiatrie“.


Warum Digitalisierungsprojekte sozialer Organisationen besonders herausfordernd sind

Ganz grundlegend (und zwangsläufig verkürzt) lassen sich Organisationen aus Perspektive der Systemtheorie als soziale Systeme verstehen, die sich darüber definieren, dass sie sich 1) zur Umwelt abgrenzen, 2) einen oder mehrere Zwecke verfolgen, 3) im Gegensatz zu bspw. Familien eine formale Struktur aufweisen und 4) Bedingungen für die Mitgliedschaft formulieren.

Für eine einfache Betrachtung von Organisationen ist die Unterscheidung von formaler Seite, informaler Seite und Schauseite hilfreich: „Bei der formalen Seite handelt es sich um das offizielle Regelwerk, an das sich die Mitglieder gebunden fühlen müssen. Es sind die Mitgliedschaftsbedingungen (…). Die informale (…) Seite einer Organisation besteht aus eingeschliffenen Praktiken, aus gepflegten Kniffen zur Arbeitserleichterung und aus regelmäßigen Abweichungen von den formalen Regeln. Bei der Schauseite handelt es sich um die Fassade der Organisation“ (Kühl, 2018, 20).

Der Blick auf die sich aus dieser Perspektive ergebenden Spezifika der von Organisationen der Sozialen Arbeit zu gestaltenden sozialen Dienstleistungen (vgl. dazu näher Gesmann, Merchel, 2019, 49ff) zeigt, dass die Mitarbeitenden zwar auf der einen Seite in ihrer Rolle als Mitglieder der Organisation die in der Stellenbeschreibung (oft diffus) formulierten formalen Anforderungen erfüllen (müssen). Gleichzeitig stehen die Organisationen aber unter anderem vor der Herausforderung, dass Soziale Dienstleistungen nur sehr begrenzt standardisierbar sind. Daraus wiederum folgt eine Dominanz von Zweckprogrammen. Diese legen fest, welche Ziele und Zwecke erreicht werden sollen, geben aber nicht vor, wie genau diese zu erreichen sind. Denn „im Gegensatz zu Konditionalprogrammen verfügen Zweckprogramme (…) über ein deutlich höheres Maß an ‚Elastizität‘ (…), was dem stark individualisierten Aufgabencharakter von sozialen Dienstleistungen gerecht wird“ (ebd., 35f). Aber nicht nur an der „Basis“ ergeben sich durch die Komplexität personenbezogener Dienstleistungsarbeit Herausforderungen. Auch Führungskräfte sind gefordert, „Führungs- und Organisationsdilemmata bewusst wahrzunehmen und mit ihnen produktiv umzugehen“ (Grunwald, 2022, 92). Mehr noch: „Die Auseinandersetzung mit und die bewusste Gestaltung von Dilemmata sozialer Organisationen ist eine Herausforderung, die sich für Fachlichkeit (…) und Management in und von sozialen Organisationen gleichermaßen stellt“ (ebd.).

Zum einen erwächst daraus eine besondere Problematik in der Gestaltung und Entwicklung von Organisationen der Sozialwirtschaft. Denn gestalt- bzw. bewusst entscheidbar ist in Organisationen insbesondere die formale Seite. Darunter sind – auch im Sinne der Digitalisierung – Programme (Ziele und Zwecke sowie Regeln und Prozesse), Kommunikationswege (Hierarchien) und Personalentscheidungen zu verstehen (vgl. bspw. Kühl, 2016). Interessant sind folgende Fragen: „Lassen sich die Programme ändern, und wenn ja, welche? Können die existierenden Kommunikationswege geändert werden, und wenn ja, in welcher Form? Welche Einstellungen, Versetzungen und Entlassungen von Personen sind möglich, um den Typus von Entscheidungen an einzelnen Stellen zu beeinflussen?“ (ebd., 55)

Wenn jedoch aufgrund der Komplexität sozialer Organisationen von Mitarbeitenden aller Hierarchiestufen permanent neue, sich nicht selten mit den formalen Vorgaben der Organisation reibende und damit „grenzwertige“, aber für die Organisation brauchbare (hilfreiche, konstruktive, produktive…) Entscheidungen und Handlungsweisen gefordert sind, verlieren die Möglichkeiten der Gestaltung von Organisationen der Sozialwirtschaft ihre Wirksamkeit.

Zum anderen kommt unter dem Aspekt „Digitalisierung“ die Problematik hinzu, dass „digitale Systeme (…) nach ihrer Programmierung und deren (mathematisch-)formalistischer Logik [funktionieren]. Sie können ‚nur‘ das verstehen, lernen und leisten, was ihre Programmierung grundsätzlich vorsieht – und das sind diejenigen Aspekte der Wirklichkeit, die für ihre numerische (binäre Code-) Sprache verwertbar sind“ (Jungtäubl, 2021, 37f).

Digitale Systeme geben vor, was zu tun oder zu dokumentieren oder wie zu kommunizieren ist. Sie lassen keinen Raum für eigene Interpretationen und steuern „das Handeln aufgrund der digitalen Systemen inhärenten mathematisch-informationstechnischen Formalisierungslogik“ (ebd.). Kurz:

Digitalisierung sozialer Organisation geht immer mit Formalisierung einher. Dadurch kommt es zu Spannungen zwischen dem Informellen, dem „Menschlichen“, der kaum standardisierbaren Interaktionsarbeit, die personenbezogenen, sozialen Dienstleistungen innewohnt, auf der einen und der Notwendigkeit der Standardisierung durch digitale Technologien und Tools auf der anderen Seite.

Als Beispiel sei nur auf das häufig anzutreffende, aufgrund des Datenschutzes nachvollziehbare Verbot der Nutzung von WhatsApp auf der einen und der trotzdem stattfindenden, „brauchbar illegalen“ Nutzung von WhatsApp zur Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Klient:innen auf der anderen Seite verwiesen (vgl. zum Begriff „brauchbare Illegalität“ Kühl, 2020).

Da sich Digitalisierungsbestrebungen in Organisationen der Sozialwirtschaft also immer im Spannungsfeld zwischen dem häufig im Sinne der Klientel notwendigen, informellen Handeln auf der einen und der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung auf der anderen Seite bewegen, basieren Widerstände der Mitarbeitenden gegen diese Bestrebungen nicht (nur) auf individuellen Vorbehalten gegenüber neuen, technologischen Entwicklungen. Die Widerstände lassen sich vielmehr als Festhalten an der für gelingende Soziale Arbeit notwendigen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen professionellen Grundhaltung Sozialer Arbeit verstehen. Sie stabilisieren also das gesamte System!

IT-Awareness, oder: Wie kann den Herausforderungen der Digitalisierung sozialer Organisationen begegnet werden?

Das skizzierte Spannungsfeld zwischen Digitalisierungsbestrebungen auf der einen und professioneller Sozialer Arbeit auf der anderen Seite zeigt auch bezogen auf Herangehensweisen zum Ausgleich dieser Spannungen Ansatzpunkte sowohl auf Ebene der Mitarbeitenden in sozialen Organisationen als auch auf Ebene der Gestaltung sozialer Organisationen.

Bezogen auf die Ebene der Mitarbeitenden wird häufig von einem „Digital Mindset“ gesprochen, das für erfolgreiche Digitalisierung notwendig wäre: „Learning new technological skills is essential for digital transformation. But it is not enough. Employees must be motivated to use their skills to create new opportunities. They need a digital mindset“ (Neeley, Leonardi, 2022).

Das widerspricht jedoch der sozialarbeiterischen Grundhaltung – dem „Social Work Mindset“ 😉

Sinnvoller also als das Lamentieren über ein „fehlendes oder falsches Mindset“ der Mitarbeitenden in der Sozialen Arbeit ist aus meiner Sicht, dass sich diese über die Notwendigkeiten, Chancen und Möglichkeiten der Nutzung digitaler Tools – von digitaler Kommunikation über Dokumentation bis hin zu Nutzung von „künstlicher Intelligenz“ klarer als bisher bewusst werden. Mit anderen Worten: Von den Mitarbeitenden zu verlangen bzw. zu erwarten, ein Digital Mindset, eine digitale Grundhaltung, zu entwickeln, ist zu viel verlangt. Die Forderung trifft nicht ihre wirklichen Bedürfnisse bzw. ihre Berufsrealität. Vielmehr gilt es, auf ihrer Seite ein stärkeres „Sich-bewusst-Werden“ der Notwendigkeit der Nutzung digitaler Tools und damit eine „IT-Awareness“ zu entwickeln.

Hinzu kommt dann die Ausbildung von einem für die jeweilige Rolle in der Organisation passfähigen „Digital Skillset“. Darunter sind die Fähigkeiten und Kompetenzen zu verstehen, die für die Nutzung der in der jeweiligen Rolle unabdingbaren Tools (Hard- und Software) notwendig sind.

Hilfreich dazu ist es, wenn sich Organisationen der Sozialwirtschaft intensiver als bisher mit der Frage befassen, welche Tools in welcher Rolle zwingend genutzt werden müssen und welche Fähigkeiten dafür auf Ebene der Mitarbeitenden geschult und welche nachhaltigen Lernpfade zur Entwicklung des Digital Skillsets begangen werden müssen. Ohne an dieser Stelle in die Tiefe gehen zu können:

Durch die Digitalisierung ergeben sich bezogen auf die Lernpfade völlig neue, hilfreiche Lern- und Entwicklungsoptionen (vgl. bspw. näher Foelsing, Schmitz, 2021).

Digitalisierung sozialer Organisationen – sechs Aspekte

Bezogen auf die Gestaltung sozialer Organisationen in einer digitalisierten Welt sind (zusammenfassend) sechs Aspekte relevant:

  1. Organisationsbewusstsein schaffen: Es bedarf übergreifend und unabhängig von Digitalisierungsbestrebungen ein Bewusstsein über die Spezifika der Funktionslogiken von Organisationen unter Berücksichtigung der Besonderheiten von Organisationen der Sozialwirtschaft.
  2. Partizipative Erarbeitung der Zwecke: Die Notwendigkeit der Steuerung sozialer Organisationen über ihre Zwecke erfordert, die Zwecke – das „Warum und Wozu“, die Mission, den „purpose“ – auf allen Ebenen der Organisation (in Teams, Abteilungen und der Gesamtorganisation) partizipativ zu erarbeiten, um so den Sinn Sozialer Arbeit trotz der mit der Digitalisierung einhergehenden Formalisierung (wie bspw. damit verbundene Dokumentations- oder Kommunikationspflichten) zu würdigen.
  3. Bewusstsein über die Notwendigkeit der Digitalisierung schaffen: Wichtiger als die Forderung eines „digital mindsets“ ist die Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins über die Möglichkeiten, Grenzen und Notwendigkeiten des Einsatzes digitaler Tools und Techniken im sozialarbeiterischen Alltag. Die Schaffung dieser „IT-Awareness“ gelingt über die partizipative Auseinandersetzung mit digitalen Möglichkeiten und die Gestaltung von individuellen und wirksamen Lernpfaden zur Entwicklung des „digital skillsets“ der Mitarbeiter:innen in ihren jeweiligen Rollen.
  4. Prozesse gestalten: Gelingende Digitalisierungsbestrebungen sozialer Organisationen erfordern klar definierte Prozesse und die Entscheidung, welche dieser Prozesse digitalisierbar sind. Mit der klaren Definition der Prozesse, bspw. mithilfe einer Prozesslandkarte (vgl. näher Brandl, 2021, 83ff), geht einher, zu entscheiden, welche der Prozesse wirklich notwendig sind und welche Prozesse zukünftig weggelassen oder neu und damit digital gestaltet werden können.
  5. Geschäftsmodelle entwickeln: Die Verbindung von Definition und (Neu-)Gestaltung von Prozessen eröffnet auch Möglichkeiten des Überdenkens des bestehenden und der Gestaltung von neuen, digitalisiert(er)en Geschäftsmodellen. Insbesondere unter Berücksichtigung zurückgehender finanzieller Möglichkeiten und der Herausforderungen des Fachkräftemangels (vgl. bspw. Epe, 2022b) ergeben sich so Chancen, zukünftig soziale Dienstleistungen effizienter und effektiver anbieten zu können.
  6. Zusammenarbeit agil gestalten: Auf Ebene der Zusammenarbeit gilt es weiterhin, agile Formen der Zusammenarbeit zu etablieren. Diese setzen zusammenfassend darauf, „überschwängliche Regelwerke zu vermeiden, auf iterative Vorgehensweisen und schlanke, flexible Prozesse zu setzen und den Fokus auf zu erreichende Ziele zu legen bei ständiger Beachtung von Änderungen der Umweltbedingungen“ (Jungtäubl, 2021, 41). Zu beachten ist, dass es sich bei agiler Arbeit jedoch nicht um ein „anything goes“ handelt, sondern um die „Formalisierung des Wie“ der gemeinsamen Zusammenarbeit. Hier profitieren soziale Organisationen davon, dass agile Arbeitsweisen sozialen Dienstleistungen inhärent sind. Hier gilt es, viele der oftmals informellen Verhaltensweisen der Zusammenarbeit (das „Wie?“) auf eine formale Ebene zu haben und bspw. in einem Teamkodex festzuhalten, wie genau die Abläufe und Zuständigkeiten im Team geregelt sind. Diese „Leitlinien der gemeinsamen Zusammenarbeit“ sind wiederum in regelmäßigen Abständen – iterativ – weiterzuentwickeln (vgl. bspw. Epe, 2022c).

Fazit

Digitalisierung führt immer zu einer Formalisierung – auch sozialer Organisationen.

Diese Formalisierung steht jedoch im Widerspruch zu der in sozialen Organisationen dominierenden Informalität, die sozialen, personenbezogenen Dienstleistungen aufgrund ihrer Komplexität und Ambiguität inhärent ist.

Entsprechend skeptisch werden Digitalisierungsvorhaben von Seiten der Mitarbeitenden betrachtet. Für die Verantwortlichen gilt es, die Besonderheiten, Paradoxien und Dilemmata, unter denen soziale Dienstleistungen erbracht werden, im Blick zu behalten.

Und es gilt die Angst vor der mit der Digitalisierung einhergehenden Formalisierung zu verlieren und stattdessen diese als hilfreich für eine effiziente und im Sinne der Nutzer:innen effektive Soziale Arbeit zu verstehen.

Darüber kann es gelingen, die „IT-Awareness“ der Mitarbeiter:innen zu erhöhen und zu gelingender Digitalisierung sozialer Organisationen beizutragen.

Quellen:

  • Brandl, P.(2021), Prozessoptimierung: Basis zur Neugestaltung sozialer Dienstleistungen. Regensburg: Walhalla.
  • Epe, H. (2022a), Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. Endingen, www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet, abgerufen am 15.11.2023.
  • Epe, H. (2022b), Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft, oder: Hört auf, zu suchen (und was stattdessen sinnvoll ist)! Endingen, www.ideequadrat.org/fachkraeftemangel-in-der-sozialwirtschaft-ideen-loesungen, abgerufen am 23.12.2023.
  • Epe, H. (2022c), Kollaboration im Team, oder: Wie Du Leitlinien für die Zusammenarbeit entwickelst. Endingen, www.ideequadrat.org/leitlinien-fuer-die-kollaboration-im-team-jetzt-aber-konkret, abgerufen am 07.01.2024.
  • Foelsing, J., & Schmitz, A. (2021), New Work braucht New Learning. Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten. Wiesbaden: Springer Gabler.
  • Freier, C., König, J., Manzeschke, A., & Städtler-Mach, B. (Hrsg.), (2021), Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft. Wiesbaden: Springer VS.
  • Gesmann, S., & Merchel, J. (2019), Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl Auer.
  • Grunwald, K. (2022), Management sozialwirtschaftlicher Organisationen. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer VS.
  • Jungtäubl, M. (2021), Gestaltung von Interaktionsarbeit und professionellem Handeln bei Personenbezogener Dienstleistungsarbeit zwischen (digitalisierter) Formalisierung und Selbstorganisation, in: Freier, C., König, J., Manzeschke, A., & Städtler-Mach, B. (Hrsg.), Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft. Wiesbaden: Springer VS. S. 29 – 48.
  • Kühl, S. (2018), Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kühl, S. (2020), Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen. Working Paper 4/2020. Bielefeld, www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/soziologie/fakultaet/personen /kuehl/pdf/Kuhl-Stefan;-Working-Paper-4-2020-Brauchbare-Illegalitat-Weswegen-sich-Regelbruche-nicht-vermeiden-lassen.pdf, abgerufen am 22.12.2023.
  • Neeley, T., & Leonardi, P. (2022), Developing a Digital Mindset. How to lead your organization into the age of data, algorithms, and AI. 100(5-6), S. 50-55.
  • Seelmeyer, U., & Kutscher, N. (2021), Zum Digitalisierungsdiskurs in der Sozialen Arbeit: Befunde – Fragen – Perspektiven, in: Wunder, M. (Hrsg.), Digitalisierung und Soziale Arbeit – Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 17 – 30.
  • Spiegel, H. v. (2008), Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München: Reinhardt.

Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft: Maßnahmen der Organisationsentwicklung

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Mit Blick auf meine Beratungsaufträge der letzten Monate ist es spannend zu sehen, dass immer mehr soziale Organisationen der Sozialwirtschaft, Vereine und Verbände, die soziale, personenbezogene Dienstleistungen erbringen, Unterstützung bei der Frage suchen, wie ein guter Generationswechsel gelingen kann bzw. wie die Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Interessant ist, dass zwar in jedem Verein und in jeder Organisation der Zeitpunkt kommt, an dem die bisherigen Vorstandsmitglieder oder die Geschäftsführung ausscheiden. Eine Besonderheit von Organisationen und Verbänden der Sozialwirtschaft liegt aus meiner Sicht aber (unter anderem) in der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit insgesamt.

Im Folgenden werde ich einleitend auf diese historischen Entwicklungen eingehen, um darauf aufbauend die Ziele der Nachfolgeplanung zu beschreiben. Anschließend skizziere ich konkrete Maßnahmen der Organisationsentwicklung, die aus meiner Sicht grundlegend sind, um die Nachfolgeplanung in Vereinen und Organisationen der Sozialwirtschaft gelingen zu lassen.

Historischer Blick auf die Entwicklung von Organisationen der Sozialwirtschaft

Nein, ich werde hier nicht die Gesamtentwicklung der Sozialen Arbeit darlegen. Hier zum Beispiel kann man dies viel besser nachlesen.

Mich interessiert hier die historische Entwicklung der Sozialen Arbeit in den 1970/1980er Jahren.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass die deutschen Fachhochschulen, die heute teilweise als Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bezeichnet werden, in den 1970er Jahren aus verschiedenen Bildungseinrichtungen wie Ingenieurschulen, Akademien und Höheren Fachschulen für Gestaltung, Sozialarbeit oder Wirtschaft hervorgegangen sind.

Die Einrichtung dieses eigenständigen Hochschultyps wurde durch eine Grundsatzerklärung der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1968 beschlossen. Am 31. Oktober 1968 wurde das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Fachhochschulwesens“ verabschiedet und damit der Grundstein für den Aufbau der Fachhochschulen gelegt. Es folgten entsprechende Vereinbarungen in den einzelnen Bundesländern (vgl. näher hier).

Für die Soziale Arbeit erfolgte damit „ein wichtiger Schritt zur Akademisierung und Verwissenschaftlichung, der getragen war von einem zunehmenden Professionalisierungsbedürfnis innerhalb der Sozialen Arbeit und begünstigt vom fortschrittsorientierten bildungspolitischen Klima der Zeit“ (Kruse, 2008, 42).

Diese Entwicklungen in Verbindung mit Sparmaßnahmen (z.B. aufgrund der Ölkrise) und der demographischen Entwicklung („Baby Boomer“), die sich auf den Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit auswirkten, führten dazu, dass ab Mitte/Ende der 70er Jahre Absolventinnen und Absolventen begannen, in Eigeninitiative erfolgreich soziale Organisationen aufzubauen.

Ausgehend von einem rund 40-jährigen Berufsleben wird deutlich, dass die Menschen, die damals die heute zum Teil großen Organisationen und Verbände auf den Weg gebracht haben, kurz vor oder bereits im Ruhestand sind.

Die Notwendigkeit, Nachfolgeregelungen aktiv anzugehen, wird daher seit einigen Jahren deutlich. Oder, wie Hamm et al. (2021, V) in ihrem Vorwort betonen:

„Eine Gründergeneration, die den sozialen und Bildungsbereich in seinen feinsten Unterscheidungen aufgebaut und geprägt hat, geht in den Ruhestand. Wir wissen es schon lange und die Zeit zum Handeln ist gekommen.“

Klar ist aber auch, dass die Nachfolgeplanung in eine Zeit fällt, die diese Nachfolge alles andere als einfach macht. Denn nicht nur die „Gründer:innen“ von damals gehen in den Ruhestand und suchen Nachfolger:innen. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft gerade am Anfang steht und enorme Auswirkungen haben wird.

Daraus wiederum folgt, dass ein einfaches „Weiter so!“ oder auch ein „business as usual“ aufgrund fehlender Fachkräfte und deren geänderten Anforderungen an die Übernahme von Verantwortung insbesondere in kleinen und mittleren sozialen Organisationen und Vereinen nicht funktionieren kann. Es ist schon jetzt und wird auch in Zukunft nicht möglich sein, „einfach“ die Nachfolger:innen zu bestimmen und erwarten zu können, dass der Verein oder die Organisation weiterhin „funktioniert“.

Vielmehr gilt es, die Ziele der Nachfolgeplanung für die eigene Organisation zu definieren und darauf aufbauend Maßnahmen der Organisationsentwicklung abzuleiten, damit diese Ziele erreicht werden können und das Überleben der Organisation nachhaltig gesichert werden kann.

Was aber sind die Ziele der Nachfolgeplanung in Verbänden und Organisationen der Sozialwirtschaft?

Ziele der Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft

Die Ziele der Nachfolgeplanung lassen sich übergreifend wie folgt zusammenfassen:

Kontinuität sichern: Kleve (2025:25) schreibt passend, dass „die Überlebensfähigkeit von Organisationen (…) mit der Herausforderung des gelingenden Generationswechsels verbunden“ ist. Es ist also überlebenswichtig, bei einem Wechsel im Vorstand oder in der Geschäftsführung eine nahtlose Fortführung der Vereins- oder Organisationsaktivitäten zu gewährleisten. Dies gilt zwar immer, wird aber insbesondere dann zu einem zentralen Aspekt der Nachfolgeplanung, wenn der Verein bzw. die Organisation bisher wesentlich durch die Gründerpersönlichkeit geprägt wurde.

Talententwicklung fördern: Um Kontinuität sicherstellen zu können, ist es unabdingbar, frühzeitig in die Identifizierung (interne oder externe Nachfolge), Entwicklung und Förderung von talentierten Mitarbeiter:innen zu investieren, um sicherzustellen, dass qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen zur Verfügung stehen.

Wissenstransfer sicherstellen: Wissenstransfer umfasst die Weitergabe von spezifischem Fachwissen, Erfahrungen und Netzwerkkenntnissen von erfahrenen Führungskräften an die nächste Generation.

Risikominderung: Die Reduzierung von Risiken durch erwartete und unerwartete Abgänge von Schlüsselpersonen sichert wiederum die Kontinuität. Dies kann zum einen durch den Aufbau einer „Pipeline von qualifizierten Nachfolger:innen“ geschehen. Zum anderen ist der Aufbau eines funktionalen Prozessmanagements hilfreich, das eine rasche und reibungslose Fortführung der Arbeit sicherstellt.

Unternehmenskultur bewahren und/oder entwickeln: Schon die Formulierung „und/oder“ zeigt, dass ich hier zwiegespalten bin: So kann es auf der einen Seite wichtig sein, dafür zu sorgen, dass Werte und Kultur auch im Übergang erhalten bleiben, damit die Verunsicherung durch den Wandel nicht zu groß wird. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, gerade den Neuanfang und die sich damit verändernde Kultur zu fördern.

Steigerung der Mitarbeiterbindung: In Phasen des Übergangs gilt es, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter:innen zu schaffen, um ihre Bindung an die Organisation zu fördern. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels ist dies effizienter und effektiver, als auf neue Mitarbeiter:innen zu hoffen, die komplett neu eingearbeitet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Weggang von Mitarbeiter:innen immer auch mit einem Weggang von Erfahrungswissen und Kompetenzen verbunden ist.

Strategische Orientierung unterstützen: Auch in Übergangsphasen ist darauf zu achten, dass die Nachfolgeplanung im Einklang mit den strategischen Zielen des Verbandes bzw. der Organisation steht und die langfristige Entwicklung unterstützt.

Transparenz und Fairness gewährleisten: Bei dem oben erwähnten Aufbau von Nachfolger:innen ist es relevant, transparente und faire Prozesse für die Auswahl der Personen zu entwickeln, um das Vertrauen aller Mitarbeiter:innen zu stärken und mögliche Konflikte zu minimieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das SCARF-Modell, in dem Fairness explizit als Grundlage für die Aufrechterhaltung der Motivation der Mitarbeiter:innen betont wird.

Sicherstellung der Compliance: Es versteht sich von selbst, dass auch bei der Nachfolge sichergestellt werden muss, dass die gesetzlichen Anforderungen und Governance-Standards in Bezug auf die Planung und Dokumentation des Nachfolgeprozesses eingehalten werden.

Diese Ziele können je nach Tätigkeitsfeld, Größe und Ausrichtung der Organisation bzw. des Verbandes sowie aufgrund individueller Gegebenheiten variieren. Unabhängig davon ist eine effektive Nachfolgeplanung jedoch unerlässlich, um die Stabilität, Kontinuität und Entwicklungsfähigkeit der eigenen Organisation bzw. des eigenen Verbandes zu gewährleisten.

Auch wenn oben bereits einige Aspekte angesprochen wurden, möchte ich im Folgenden explizit Maßnahmen der Organisationsentwicklung beschreiben, die für die Nachfolgeplanung im Verein bzw. in der Organisation angegangen werden können.

Maßnahmen der Organisationsentwicklung bei der Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft

Jede Organisation, jeder Verein, jeder Verband ist anders. Das ist zwar eine Binsenweisheit, sie bedeutet aber auch, dass pauschale Antworten auf die Frage, wie genau eine erfolgreiche Nachfolgeplanung auszusehen hat, nicht und schon gar nicht verallgemeinert gegeben werden können.

Entsprechend folgt auch die Organisationsentwicklung zur Gestaltung der Nachfolge dem „allgemeinen Vorgehen“ der Organisationsentwicklung. Am Anfang steht eine mehr oder weniger intensive Organisationsanalyse, um die Problemstellung zu verstehen („Was ist das Anliegen/Problem?“). Damit verbunden ist die Zielklärung („Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?“).

Aufbauend auf der Analyse der Ausgangssituation erfolgt die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung („Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen? Welche Maßnahme(n) wählen Sie aus? Welche Maßnahme(n) wählen Sie?“). Damit verbunden ist die zeitliche, personelle und finanzielle Planung der Umsetzung („Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?)

Es folgt die Umsetzung der Maßnahmen sowie die Kontrolle der Umsetzung („Sind festgestellte Abweichungen zwischen ursprünglichem Plan und aktuellem Stand Anlass für Korrekturen?“).

Den Abschluss bilden die Bewertung, Reflexion und der Transfer der Ergebnisse („Nach welchen Kriterien ist der Prozess erfolgreich? Haben wir das Ziel erreicht? Was haben wir individuell und gemeinsam aus dem Prozess gelernt? Auf welche anderen Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen anwendbar/übertragbar?“) nicht vernachlässigt werden. Aus der Evaluation werden dann die nächsten Schritte abgeleitet.

Hier habe ich diese „allgemeinen Schritte“ gelingender Organisationsentwicklung in einem fünfstufigen Modell beschrieben.

Spezifisch bezogen auf die Möglichkeiten der Nachfolgeplanung zeigen sich übergreifend folgende Maßnahmen als wirksam:

Definition von Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen

Auch wenn dies als Grundlage für funktionierende Organisationen angesehen werden kann, ist es zunächst wichtig, sich mit den Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen der Organisation bzw. des Verbandes auseinanderzusetzen und diese so zu gestalten, dass allen Beteiligten klar ist, was der Zweck des Verbandes ist, wer wofür verantwortlich ist und welche Regeln, Prozesse und Routinen eingehalten werden müssen.

Hier findest Du einen Beitrag zum GRPI-Modell, das die Bedeutung von Zielen, Zuständigkeiten, Prozessen und der Kommunikation in Teams und Organisationen hervorhebt und eine einfache, aber gute Orientierung für die Gestaltung gelingender Teams und Organisationen bietet.

Besonderes Augenmerk ist in diesem Schritt auf die Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Vorstand und Geschäftsführung zu legen. Erst darüber wird transparent, welche Anforderungen an die Nachfolger:innen gestellt werden. Gerade in über Jahrzehnte gewachsenen und von Gründungspersönlichkeiten getragenen Organisationsstrukturen werden viele Aspekte implizit gelebt und nicht mehr explizit ausformuliert, was zu echten Herausforderungen für Nachfolger:innen führt.

Übergreifend geht es bei diesem Aspekt um die Gestaltung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsstrukturen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fördern, um den Zweck der Organisation bzw. des Vereins auch in Zukunft angemessen verfolgen zu können.

Entwicklung von Kompetenzprofilen

Gerade dann, wenn es um die Nachfolge von komplexen Führungspositionen geht, kann es sehr sinnvoll sein, basierend auf den definierten Zielen, Prozessen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten Kompetenzprofile für die potentiellen Nachfolger:innen zu entwickeln. Auch wenn es niemals möglich sein wird, die eierlegende Wollmilchsau aka neue Führungskraft zu finden, kann das Kompetenzprofil die fachlichen, sozialen und persönlichen „Mindest-Kompetenzen“ der Nachfolger:innen beschreiben.

Aufbau eines Talentpools

Auch wenn es sich hierbei eigentlich um eine Binsenweisheit handelt, sei darauf hingewiesen, dass es für eine gute Auswahl an potenziellen Nachfolgekandidaten wichtig ist, sich frühzeitig mit dem Thema Nachfolge auseinanderzusetzen und einen Talentpool aufzubauen. In diesem Talentpool können Mitarbeiter:innen der Organisation bzw. des Vereins, die für eine Nachfolge in Frage kommen, erfasst und entsprechend auf die kommende(n) Führungsposition(en) vorbereitet werden.

Förderung der Nachwuchsarbeit

Zum vorherigen Aspekt gehört zwangsläufig die Förderung der Nachwuchsarbeit im Verein bzw. der Organisation. Dies kann durch Angebote wie Mentoring-Programme oder (sinnvolle) Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen. Bezüglich der Weiterbildungsmaßnahmen macht es Sinn, sich mit dem „New Learning“ zu beschäftigen: Es geht darum, die Herausforderungen des Wandels von Organisationen und die Prinzipien einer zeitgemäßen und bedarfsgerechten Organisationsgestaltung mit der Frage zu verbinden, wie wir als Individuen und als Organisationen heute und in Zukunft sinnvoll lernen.

Dabei geht es insbesondere um den Wandel von tayloristisch geprägten, top-down organisierten und vorgegebenen Lernsettings hin zu bedarfsorientierten, dynamik- und komplexitätsrobusten, kollaborativen Lernökosystemen. Lernen und Weiterbildung wird damit zu einem möglichst selbstbestimmten und sozialen Prozess, der bedürfnis- bzw. problemorientiert an realen Herausforderungen anknüpft (vgl. Foelsing, Schmitz, 2021, 107).

Bei der Nachwuchsarbeit ist auch an Mentoring-Programme zu denken, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen von erfahrenen Führungskräften lernen. Die technologischen Möglichkeiten (z.B. virtuelle Plattformen, Kollaborationstools und künstliche Intelligenz) bieten hier neue Chancen, um den Wissenstransfer zu fördern. Genauso können aber auch Reverse-Mentoring-Programme implementiert werden, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen erfahrene Führungskräfte in Bezug auf aktuelle Technologien, Trends und Perspektiven schulen.

Erstellung eines Nachfolgeplans

Auf Grundlage der oben genannten Maßnahmen kann ein Nachfolgeplan erstellt werden. Dieser Nachfolgeplan sollte einen Zeitplan für die Nachfolgeregelung sowie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Nachfolger:innen enthalten.

Fazit zur Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft

Dass die Nachfolge in sozialwirtschaftlichen Organisationen nicht dem Zufall überlassen werden kann, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Organisationen in der Regel auf Dauer angelegt sind (vgl. Kleve, 2025:26). Eine bewusste Auseinandersetzung mit der Nachfolgeplanung bedeutet dann, die verschiedenen Ebenen (zeitlich, sachlich und sozial, vgl. ebd.) bewusst in den Blick zu nehmen und zu überlegen, wo Gestaltungsoptionen bestehen und wie diese gestaltet werden können.

Das bringen Hamm et al. (2021, 354) auf den Punkt:

„Die Führungsebene in sozialen Organisationen besteht in ihrer Konstellation teilweise seit Jahrzehnten und ist aufeinander abgestimmt. Die Nachfolgeplanung in solchen Settings ist nur schwer denkbar ohne:

  • Anpassungen in den organisationalen und
  • personellen Strukturen.“

Bei der Anpassung der organisationalen (und der in diesem Beitrag weniger beleuchteten personellen) Strukturen ist jedoch nochmals zu betonen, dass es notwendig ist, die Individualität der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Verbandes in den Blick zu nehmen.

Ausgehend von den jeweils individuellen personellen und finanziellen Möglichkeiten und gegebenen Strukturen sowie ausgehend vom jeweiligen Arbeitsfeld mit seinen rechtlichen Rahmenbedingungen ist zu analysieren, wo die Organisation steht (Organisationsdiagnose zur Ist-Analyse). Darauf aufbauend können dann hypothesengeleitet funktionale Anpassungen und Weiterentwicklungen erprobt und umgesetzt werden.

Die skizzierten und sicherlich nicht abschließenden Maßnahmen zur Organisationsentwicklung im Rahmen der Nachfolgeplanung in der Sozialwirtschaft – in Vereinen, Verbänden und Organisationen der Sozialen Arbeit – sind dementsprechend als Anregungen zu verstehen, welche wesentlichen Optionen ergriffen werden sollten, um die eigene Organisation, den Verband bzw. den eigenen Verein auch nach dem Ausscheiden der Gründerpersönlichkeiten zukunftsfähig und organisational resilient zu gestalten.

P.S.: Steht Deine Organisation ebenfalls vor der Frage der Nachfolgeplanung? Dann lass uns dazu sprechen, ob ich Dich und Deine Organisation dabei unterstützen kann. Dazu einfach hier ein kostenloses und unverbindliches Gespräch terminieren.

Quellen:

  • Foelsing, J., Schmitz, A. (2021): „New Work braucht New Learning – Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten“. Wiesbaden: Springer.
  • Hamm, M., Heider-Winter, C., Leu, N.-A. (Hrsg., 2021): Strategische Nachfolgeplanung in Non-Profit-Organisationen. Fit für den Generationswechsel im Gemeinnützigkeitsbereich. Berlin: Springer Gabler.
  • Kleve, H. (2025): Übergabe und Nachfolge. Generationswechsel in Organisationen der Sozialen
    Arbeit. In: Demski, J. et al. (Hrsg.): Supervision in der Sozialen Arbeit. Herausforderungen, Funktionen und Themen von und in Supervisionskontexten. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kruse, E. (2008): Das Studium der Sozialen Arbeit. Sozial Extra 32, 39–43.

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048, oder: Die Problemlösungen von heute sind die Lösungsprobleme von morgen!

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Vor Kurzem wurde ich angefragt, einen Beitrag für die Zeitschrift „FORUM sozial – Die Fachzeitschrift des DBSH“ zu verfassen. Dabei sollte es um die Frage gehen, wie ich mir soziale Organisationen im Jahr 2048 vorstelle. Zentral dabei sollte die Frage sein, wie sich Organisationen der Sozialen Arbeit entwickeln müssen, um die Herausforderungen im Jahr 2048 bewältigen zu können. 2048 – das ist ein Blick 25 Jahre in die Zukunft. Diese ist aber, wenig verwunderlich, zukünftig. Ich aber denke aus der Gegenwart, basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit und den absehbaren, kurzfristigen Herausforderungen. Und trotzdem habe ich versucht, meine Sicht auf „utopische Organisationen der Sozialen Arbeit“ zu werfen.

Der Beitrag ist dann aber etwas lang geworden, so dass ich noch einmal in die Überarbeitung gehen musste. Entsprechend findest Du hier die „long version“ und im Frühjahr 2024 dann den Beitrag in der Zeitschrift „FORUM sozial“. Jetzt aber los:


„Könnten wir eine kraftvollere, gefühlvollere und sinnvollere Art der Zusammenarbeit erfinden, wenn wir nur unser Glaubenssystem ändern?“

Laloux, F., 2014

Die Ausführungen von Frederic Laloux in seinem 2014 erschienenen Buch „Reinventing Organizations“ haben mich fasziniert. Im Kontext „sozialer Organisationen“ ist da vor allem Buurtzorg  als Vorreiterorganisation zu nennen. Buurtzorg ist eine niederländische Organisation im Arbeitsfeld der ambulanten Pflege mit mehr als 10.000 Mitarbeiter:innen, die in selbstorganisierten Teams zusammenarbeiten.

Das klingt doch schon sehr utopisch, oder?

Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der evolutionäre Zweck der Organisation

Laloux beschrieb 2014 drei wesentliche Durchbrüche (vgl. Laloux, 2014, 55ff) „neuer“ Organisationen:

  • – Selbstorganisation,
  • – Ganzheitlichkeit und
  • – die Orientierung am evolutionären Zweck der Organisation.

Für mich waren die Ausführungen von Laloux mehr als Utopie:

Sie passten – aus meiner damaligen Sicht – vielmehr „wie die Faust auf’s Auge“ oder besser: auf die von mir gesehenen Herausforderungen sozialer Organisationen.

Herausforderungen bestanden darin, so meine damalige Annahme, dass soziale Organisationen zu hierarchisch, zu langsam, zu wenig innovativ, zu reguliert, zu starr, zu you name it… wären, um die Dynamik und Komplexität der unterschiedlichen Arbeitsfelder in einer Welt im Wandel bewältigen zu können. Hier wäre die von Laloux beschriebene Selbstorganisation doch „der Hammer“?! Menschen entscheiden selbst, vor Ort, an der Basis, was zu tun ist?!

Meine Annahme bestand außerdem darin, dass die seit Jahren hohen Burnout-Raten der Mitarbeiter:innen daraus resultierten, dass es ihnen nicht möglich ist, ihre in der Organisation nicht gewünschten, aber in ihnen verborgenen Kompetenzen und Fähigkeiten zu zeigen. Wenn aber die empfundene Dissonanz zwischen dem, was tagtäglich getan werden muss und dem, was aus der Professionalität der individuellen Organisationsmitglieder fachlich als sinnvoll erachtet wird, permanent zu groß ist, ist Burnout doch vorprogrammiert, oder? Hier wäre die von Laloux beschriebene Einbeziehung des „ganzen Menschen“ doch der perfekte Lösungsansatz, oder? Und dies vor allem in Organisationen, in denen „der Mensch im Mittelpunkt“ steht?

Und ferner bestand meine Annahme darin, dass die Bedarfe der Klient:innen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt würden. Wenn es gelänge, soziale Organisationen zu gestalten, die ihren „evolutionären Zweck“ verfolgten, dann müsste es gelingen, diese Herausforderung zu bewältigen und wirklich soziale Probleme zu lösen, oder?

Kurz: Meine Utopie bestand aus sozialen Organisationen, in denen Menschen ganzheitlich und vertrauensvoll zusammenarbeiten, um darüber dem Zweck der Organisationen zu dienen, denn, so Laloux (ebd., 83), “when organizations are built not on implicit mechanisms of fear but on structures and practices that breed trust and responsibility, extraordinary and unexpected things start to happen.

Warum sich meine Sicht auf soziale Organisationen gewandelt hat

Inzwischen, fast 10 Jahre nach dem Erscheinen von „Reinventing Organizations“ und der Befassung mit der Frage der theoretischen und praktischen Gestaltung von Organisationen in Verbindung mit den Besonderheiten von Organisationen der sozialen Arbeit, hat sich meine Sicht zu Teilen radikal gewandelt.

Der Wandel basierte insbesondere auf der Auseinandersetzung mit der Frage, was Organisationen eigentlich sind und wie sie sich verändern lassen. Und, wenig überraschend:

Diese Fragen hatten sich schon (viele) Menschen vor mir – und vor Laloux – gestellt.

Mich faszinierten und faszinieren in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen rund um die Systemtheorie. Wenn hier noch die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit hinzugezogen werden, wird es zwar komplex, aber ebenso Augen öffnend (vgl. für einen sehr guten Überblick bspw. Gesmann, Merchel, 2019).

Entsprechend folgt hier eine Skizze dessen, was Organisationen sind, wie diese zu verändern sind und an der einen oder anderen Stelle auch der Blick auf die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit.

Am Ende gibt es dann aber doch noch einen kleinen, vielleicht ernüchternden, hoffentlich aber ermutigenden Blick auf meine Vorstellung utopischer Organisationen der Sozialen Arbeit.

Nehmt den Menschen aus dem Mittelpunkt, oder: Was sind Organisationen?

Ganz grundlegend (und verkürzt) lassen sich Organisationen (aus Perspektive der Systemthorie – vgl. bspw. Kühl, 2016, 18) als „soziale Systeme“ verstehen, die sich darüber definieren, dass sie sich zur Umwelt abgrenzen, einen oder mehrere Zwecke verfolgen, im Gegensatz zu bspw. Familien eine formale Struktur aufweisen und Mitgliedschaftsbedingungen formuliert sind. Das ist wenig überraschend.

Überraschender ist da schon die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen. Organisationen bestehen aus Entscheidungen, die in den formalen und informalen Strukturen der Organisation (teilweise schriftlich, teilweise mündlich) manifestiert sind.

Das wirkt auf den ersten Blick „unmenschlich“. Aber wenn man versucht, den Menschen „aus dem Mittelpunkt“ der Organisation zu nehmen, ergeben sich enorme Vorteile für das Be- und Verstehen von Organisationen, denn:

Wenn eine Organisation aus Menschen bestünde, ergäben sich bei jedem Weggang von Menschen aus der Organisation Lücken, die niemals von anderen Menschen gefüllt werden könnten, da Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit nun mal sehr verschieden sind. Mehr noch:

Wenn Organisationen um einzelne Menschen herum gebaut werden (was dann und wann bspw. bezogen auf Gründer:innen zu beobachten ist), „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (Wimmer, 2019). Katastrophal wird es für die Organisation vor allem dann, wenn nach Weggang einer oder mehrerer Personen ihr Überleben gefährdet ist.

Anstatt also als „ganzer Mensch“ Teil der Organisation zu werden, übernehmen Menschen Rollen in der Organisation. Sehr einfach ausgedrückt wird man nicht als „Klaus“ oder „Claudia“ eingestellt, sondern – hoffentlich unabhängig vom Geschlecht – in der Rolle als „Sozialarbeiter:in“.

Das ist zum einen ein Gegenentwurf zu Laloux’s Ganzheitlichkeit, wobei er zumindest sieht, dass seine Idee eine echte Herausforderung ist:

„It is a challenge for any organization to create an environment where people feel safe to show up whole.“

Laloux, 2014, 151

Zum anderen zeigt der Blick auf die Spezifika sozialer Organisationen, dass wir mit dem „Herausnehmen des Menschen aus dem Mittelpunkt“ echte Probleme haben.

So erfüllen Sozialarbeiter:innen zwar als Mitglieder der Organisation die in der Stellenbeschreibung (oft diffus) formulierten Anforderungen. Gleichzeitig aber dient in der Sozialen Arbeit „die Person als Werkzeug“ (vgl. bspw. Spiegel 2008, S. 101 f.), wodurch eine Trennung von Person und Rolle erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Daraus resultiert eine auf Seiten der Mitarbeitenden schwer auszuhaltende Konfusion zwischen den Anforderungen der Organisation, den Bedarfen der Klientel und den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen. Auf Seiten der Organisation entsteht eine „dominierende Informalität“ (vgl. näher dazu Epe, 2022). D.h., dass die Einhaltung der von der Organisation entschiedenen Regeln, Vorgaben und verbindlichen Absprachen als nachrangig bzw. unwichtiger gesehen wird als das individuelle, teilweise sehr spontane und damit wenig planbare „Helfen wollen“ im Sinne der Klientel.

Im Übrigen sind die Rolle bzw. Stelle selbst, aber auch die in der Stellenbeschreibung festgehaltenen „formalen Erwartungen“ Beispiele für die Entscheidungen, aus denen Organisationen bestehen.

Wie können Organisationen verändert werden?

Auch wenn die Ausführungen sehr verkürzt waren, zeigt die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen bestehen, den Ansatzpunkt für die Veränderung und Entwicklung von Organisationen.

Das klingt wiederum zunächst trivial: Wenn in der Organisation entschieden wird, „anders“ zu sein, dann funktioniert das auch. So könnte die Entscheidung getroffen werden, zukünftig anders, agil, innovativ, selbstorganisiert, vielleicht sogar „ganzheitlich“ zu arbeiten – und dann wird das so gemacht, fertig.

Die Realität in Organisationen wiederum zeigt jedoch, dass es so leicht eben nicht ist. Das resultiert daraus, dass zwischen mehreren sog. „Entscheidungsprämissen“ unterschieden werden muss, die den Spielraum für konkrete Entscheidungsmöglichkeiten festlegen. Zu unterscheiden sind zunächst a) prinzipiell unentscheidbare Entscheidungsprämissen und b) prinzipiell entscheidbare Entscheidungsprämissen. Das klingt holprig, das Gemeinte wird aber an folgendem Beispiel deutlich:

Als Führungskraft möchte man entscheiden, dass ab morgen alle Mitarbeitenden innovativ sind. Jedoch ist das Generieren neuer Ideen a) prinzipiell nicht entscheidbar, auch wenn dies schön wäre. Genauso wenig kann über die Haltung oder das „Mindset“ der Mitarbeiter:innen entschieden werden wie darüber, dass sie „nett“ miteinander umgehen, oder dass sich die vorhandene Organisationskultur gefälligst in eine vorab festgelegte Richtung zu ändern hat.

Die b) prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen in Organisationen sind wiederum zu unterteilen in i) prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämissen sowie in ii) prinzipiell entscheidbare, jedoch nicht entschiedene Entscheidungsprämissen. Hier sind wiederum viele Beispiele denkbar:

Die schon angesprochene Beschreibung der Stelle der Sozialarbeiter:in ist eine prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämisse wohingegen oftmals nicht offiziell entschieden wurde, dass Raucherpausen als Arbeitszeit geduldet und nicht von den Pausenzeiten abgezogen werden. Diese Entscheidung kann auch anders getroffen werden – sie ist damit prinzipiell entscheidbar, hier jedoch nicht entschieden.

Das klingt an dieser Stelle noch sehr theoretisch, eröffnet aber den Blick auf das, was zur Entwicklung von Organisationen entschieden werden kann. Das lässt sich kurz zusammenfassen:

Alle Entscheidungen, die den prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zugeordnet werden können, tragen zur Entwicklung und Veränderung von Organisationen bei. Insbesondere lassen sich die folgenden vier prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen unterscheiden:

  1. Zweckprogramme: Hier wird entschieden, welche Ziele oder Zwecke in der Organisation erreicht werden sollen.
  2. Konditionalprogramme: Vorgaben, Regeln und Prozesse der Organisation. Sie legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird.
  3. Entscheidungswege: Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Hierarchien, Mitzeichnungsrechte und damit, verkürzt, das Organigramm.
  4. Personal: Hier kommt „der Mensch“ wieder ins Spiel, denn es macht für Organisationen einen großen Unterschied, wer welche Stelle wie ausfüllt. Unter den Bedingungen des Fachkräftemangels ergeben sich hier jedoch Probleme, wenn nicht mehr ausgewählt werden kann, sondern Menschen bspw. aufgrund von Fachkraftquoten eingestellt werden müssen.

Fraglich bleibt leider, was wie entschieden und damit formalisiert werden sollte und welche prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen besser nicht entschieden werden.

Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen!

So gibt es bezogen auf Zweck- und Konditionalprogramme, auf Entscheidungswege und das Personal leider nicht die eine „richtige Entscheidung“, da fraglich ist, was für die jeweils sehr individuelle Organisation unter ihren je spezifischen Bedingungen richtig ist. Das ist interessant, wenn man auf die aktuell sehr populären „Management-Moden“ schaut:

Agiles Management und agile Organisationen, „teal organizations“ (vgl. Laloux, 2014, 43ff), demokratische Organisationen, Holocracy, „irgendwas mit New Work“ und Vieles mehr wollen oftmals Lösungen sein für in der eigenen Organisation vielleicht gar nicht existierende Probleme. Aber wenn doch selbst die Apotheken-Umschau (im November 2022) ihren Titel mit „New Work“ schmückt – dann muss an dem New Work doch was dran sein, oder etwa nicht?

Nein, denn der Blick auf die oben skizzierten, in Organisationen prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zeigt, dass dort ein „richtig“ nicht propagiert wird. Vielmehr geht es darum, für die jeweilige Organisation zu analysieren, zu bewerten und dann zu entscheiden, was funktional sein könnte. Daraus folgt, dass es OK ist, wenn Entscheidungswege steil oder flach sind und es ebenso OK ist, wenn in der einen Organisation viele, in der anderen hingegen wenige Regeln, Vorgaben und definierte Prozesse existieren. Es kann auch Organisationen geben, die nur einen Zweck verfolgen und Organisationen, die mehrere Zwecke in unterschiedlichen Bereichen verfolgen.

Man kann sich Organisationsentwicklung somit vorstellen wie das, was ein DJ an einem Mischpult betreibt: Es kann der Regler „Zwecke“, der Regler „Entscheidungswege“, der Regler „Konditionalprogramme“ oder auch der Regler „Personal“ bewegt / verändert werden.

Wichtig ist, dass die Veränderungen eines Reglers Auswirkungen auf die anderen Regler hat oder, anders formuliert: „Jede Veränderung eines Strukturaspekts hat (…) mehr oder minder starke Auswirkungen auf die anderen Strukturaspekte“ (Kühl, 2016, 29) – es bleibt jedoch unklar, welche Auswirkungen genau dies sein werden. Anders formuliert folgt daraus, dass „es ’normal‘ ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden“ (Göpel, 2022, 33).

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

Anstatt „Management-Moden“ und utopische Vorstellungen von Organisationen zu verfolgen, ist die zu beantwortende Frage gelingender Organisationsentwicklung:

Passen die Konditionalprogramme, Entscheidungswege und das Personal zu den von der Organisation verfolgten Zwecken oder (wo) sind Veränderungen vorzunehmen?

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit

Aber was heißt das jetzt für meine Vorstellung „utopischer“ sozialer Organisationen? Habe ich kein zukünftiges Wunschbild sozialer Organisationen, das zwar – wie für Utopien üblich – wahrscheinlich nicht realisiert werden kann, aber als Orientierung gebender „Nordstern“ dienen könnte?

Doch, das habe ich, aber es ist deutlich nüchterner, als vielleicht erwartet:

Meine Utopie von Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048 sind Organisationen, die dazu beitragen, dass soziale Entwicklungen und der soziale Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen wirklich gefördert werden. Als Orientierung für die Organisationen dienen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt.

Ob diese Organisationen nun klassisch hierarchisch strukturiert sind, agile Strukturen aufweisen, wenige oder viele Regelungen und Vorgaben von den Mitarbeiter:innen abverlangen, irgendwas mit New Work zu tun haben oder nicht, ist zweitrangig.

Zum einen ist es viel wichtiger, ein „Organisationsbewusstsein“ für soziale Organisationen zu entwickeln: Es ist und bleibt auch in Zukunft auf allen Ebenen sozialer Organisationen, insbesondere aber für Führungskräfte, relevant zu verstehen, was eine Organisation ist und wie „die Einstellungen des Mischpults“ verändert werden können / sollten / müssten.

Zum anderen ist mir wichtig, dass es den Menschen, die für die Führung und Gestaltung sozialer Organisationen Verantwortung tragen (und damit eigentlich allen Mitarbeiter:innen), gelingt, Motivation, Kraft, Mut und Optimismus aufrechtzuerhalten. Denn nur damit ist die kontinuierliche Arbeit an der zeitgemäßen und bedarfsgerechten Gestaltung sozialer Organisationen unter den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Sozialwirtschaft zu bewältigen.

Nebenbei bemerkt: Meine Utopie sozialer Organisationen ist nur eine kleine Abwandlung der deutschsprachigen Definition Sozialer Arbeit, die in meinen Augen als zeitlose Orientierung für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit dienen und ebenso wunderbar als Orientierung für Entscheidungen in sozialen Organisationen herangezogen werden kann.


Wie aber sieht Deine Utopie sozialer Organisationen aus? Freue mich auf deinen Kommentar dazu…


Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet/. Download am 15.11.2023.
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Göpel, M. (2022): Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brüssel: Nelson Parker.
  • Spiegel, Hiltrud von (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München.
  • Wimmer, R. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Fünf Wege zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team

Fehlende Verbindlichkeit ist ein Problem in Teams und Organisationen. Das ist zumindest mein Eindruck aus Gesprächen, Projekten und Beratungsprozessen, die ich in den letzten Monaten und Jahren in sozialen Organisationen begleiten durfte. Ich habe das Ganze theoretisch aufgearbeitet und im Beitrag „dominierende Informalität“ genannt (auch wenn da noch mehr Aspekte mit reinspielen). Theorie ist gut, sie hilft mir, zu verstehen, aus anderen Perspektiven zu schauen und daraus neue Ideen für die Beratung meiner Kund:innen abzuleiten. Theorie hilft mir – aber nicht (unmittelbar) meinen Kund:innen. Sie stellen – nachvollziehbar – die Frage, wie die Steigerung der Verbindlichkeit im Team ganz praktisch gelingen kann.

Zu dieser Frage findest Du hier einführend und kurz eine Erläuterung, warum Verbindlichkeit – zumindest aus meiner Perspektive – gerade in sozialen Organisationen oft fehlt. Vor allem aber findest Du hier Ideen zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team.

Warum fehlt Verbindlichkeit gerade in sozialen Organisationen?

In Organisationen ist es sehr beliebt, die Schuld für Fehler bei den Individuen und damit Schuldige zu suchen. Das ist ganz praktisch, da man sich ab dem Zeitpunkt keine Gedanken mehr über tatsächliche Veränderungen machen muss.

Tatsächlich Veränderungen in Organisationen sind in den allermeisten Fällen strukturelle Veränderungen. Und so ist es auch mit der Verbindlichkeit ins sozialen Organisationen:

Unverbindlichkeit ist Nebenfolge der beruflichen Identität

Die einzelnen Menschen im Team sind nicht (immer) bewusst unzuverlässig. Vielmehr ist eine These, die ich im Beitrag zur dominierenden Informalität beschreibe, dass es den Professionellen in sozialen Berufen viel weniger auf die Einhaltung organisationaler Vorgaben als auf das individuelle „Helfen“ ankommt.

Damit – so könnte man sagen – ist Unverbindlichkeit dem Team gegenüber negative Nebenfolge der beruflichen Identität sozialer Berufe. Mit anderen Worten:

Es steht so viel an bezogen auf die Klient:innen, dass die Aufgaben im Team schon mal hinten herunter fallen.

Unverbindlichkeit ist Folge organisationaler Bedingungen

Aber nicht nur die berufliche Identität spielt eine Rolle. Auch die organisationalen Bedingungen sozialer Organisationen spielen der Unverbindlichkeit in die Hände.

Zum einen ist dies oft in der Gründungshistorie der Organisationen begründet. So basieren viele Gründungen sozialer Organisationen auf dem Engagement Einzelner oder auf dem Engagement kleiner Gruppen von Menschen mit einem besonderem Anliegen, einem „Calling“, das größer ist als die reine Notwendigkeit, für ein berufliches Auskommen zu sorgen. Daraus folgt, dass „Helfen“ in der Kultur tief verwurzelt ist. Nicht die Frage möglichst effizienter und effektiver Gestaltung der Organisationen stand im Vordergrund, sondern der Zweck – Helfen wollen in allen Variationen. Man kann hier von einem tiefgreifenden kulturellen Muster, das in viele Organisationen eingeprägt ist und damit auch heute noch – bewusst oder unbewusst – wirkt, sprechen.

Zum anderen spielen die Rechtsformen sozialer Organisationen eine Rolle: So ist die (in sozialen Organisation am häufigsten anzutreffende) Rechtsform Verein von Grund auf partizipativ angelegt: Nicht die Geschäftsführung dominiert die Tätigkeiten des Vereins, sondern die Mitgliederversammlung, die als oberstes beschlussfassendes Organ alle Vereinsangelegenheiten regelt, soweit sie nicht durch die Satzung einem anderen Organ, etwa dem Vorstand, zugewiesen sind. Die Mitgliederversammlung ist damit das wichtigste Organ des Vereins, was zu anderen, zweckgebundeneren (im Gegensatz zu rein organisational funktionalen) Entscheidungen führt.

Nicht abschließend, aber ebenso relevant ist, dass „Soziale Dienstleistungen (…) situativ und individuell konstituiert sind und (…) daher nur begrenzt standardisierbar: am ehesten in ihren administrativen Rahmenbedingungen, kaum jedoch in ihrem interaktiven Kern“ (Gesmann, Merchel, 2019, 59). Anders gesagt: Man kann den Mitarbeiter:innen nicht vorschreiben, wie genau sie welche Arbeitsschritte bei der „Bildung und Erziehung von Jugendlichen“ (Zweck) zu leisten haben. Aus dieser Zweckorientierung resultieren notwendigerweise viele „individuelle Möglichkeiten“, die Leistungserbringung zu gestalten. Entsprechend werden „übergestülpte“ Konzepte (bspw. QM, Controlling, Prozessmanagement) erklären, die die „individuellen Möglichkeiten“ der einzelnen Mitarbeiter:innen einschränken.

Wenn auch nur skizziert wird klar, dass Unverbindlichkeit weniger ein individuelles, als vielmehr ein organisationsstrukturelles Problem ist. Entsprechend macht es Sinn, die Lösung des Problems nicht in der „Haltung“ der Menschen zu suchen, sondern in der Frage, wie die Strukturen der Organisationen und Teams so gestaltet werden können, dass Verbindlichkeit gesteigert werden und eine „Kultur der Verbindlichkeit“ entstehen kann.

Strukturen für eine Kultur der Verbindlichkeit

Welche Strukturen aber können dies sein, die zu einer Kultur der Verbindlichkeit in Deinem Team und übergreifend der Organisation beitragen? Aus meiner Perspektive sind dazu zunächst die Basics gelingender Zusammenarbeit zu klären, namentlich Ziele, Zuständigkeiten und Prozesse. Darüber hinaus ist aber auch Kommunikation strukturell zu betrachten. Dabei geht es vor allem um das große Wort „Versprechen“. Und abschließend werfen wir noch einen Blick auf die Möglichkeiten der Gestaltung psychologischer Sicherheit. All dies trägt dazu bei, die Verbindlichkeit im Team und der Organisation zu erhöhen.

Aber der Reihe nach:

1. Klare Ziele zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team

Grundlegend für die Steigerung der Verbindlichkeit sind klare Ziele.

Klare Ziele beziehen sich dabei einerseits auf die Klarheit über Ziele und Zweck des Teams: Was wollen wir für wen erreichen?

Unklare Ziele und ein unklares Verständnis der gemeinsamen Ausrichtung und des Zwecks – den „purpose“ – des Teams führen zu Demotivation (Wofür mache ich das hier eigentlich?), enormer Ineffizienz und bieten außerdem ein großes Konfliktpotential.

Entsprechend gilt es, ein gemeinsames Verständnis von Zielen und dem Zweck des Teams zu generieren.

Andererseits beziehen sich klare Ziele auch auf die zu erledigenden Aufgaben: Was ist eigentlich das Ziel der Aufgabe, die ich erledigen soll? Wozu ist das gut? Und wie soll das Ergebnis aussehen?

Erst wenn die Zielsetzung soweit wie möglich geklärt und angenommen ist, kann es gelingen, dass diese auch übernommen wird. Das ist bei einigen Aufgaben sehr einfach (Kaffee holen), bei anderen Aufgaben aber deutlich komplexer (Konzept erstellen). Hinzu kommt, dass das Annehmen von Aufgaben dann gelingt, wenn die Aufgabe und das damit verbundene Ziel verstanden wurde. Das ist beim fehlenden Kaffee einfach, aber davon auszugehen, dass das Gegenüber schon verstanden hat, was gemeint ist, führt häufig zu Unklarheiten, da jede:r aus seiner eigenen Brille denkt und handelt. Hier macht es Sinn, Aufgabe und Ziel von der Person, die die Aufgabe übernehmen will, wiederholen zu lassen. Das wirkt auf den ersten Blick sperrig, zeigt aber schnell Bruchstellen der Kommunikation auf.

2. Klare Zuständigkeiten zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team

Klare, mit dem Zweck des Teams und der Aufgabe abgeleitete Ziele allein reichen jedoch noch nicht aus, um wirklich gut und verbindlich zusammen arbeiten zu können.

Hier gilt es, die „Kommunikationswege des Teams“ und damit Rollen, Zuständigkeiten oder Verantwortungsbereiche (ich spreche gerne von Mandaten) unter den Teammitgliedern zu klären.

Diese Mandate sollten den Kompetenzen der Rolleninhaber:innen entsprechen. In der Arbeit mit Teams stelle ich fest, dass Konflikte häufig auf unklare und/oder sich überschneidende Zuständigkeiten zurückzuführen sind. Daraus resultieren Machtkämpfe zwischen den Inhaber:innen der Mandate, die aber nicht in den Personen, sondern in der fehlenden Struktur begründet sind.

Wenn neben den Zuständigkeitsbereichen auch die damit verbundenen wesentlichen Aufgaben geklärt werden (alles kann nicht und sollte nie erfasst werden), ist schon ein großer Teil getan, da zumindest klar ist, welches Mandat welche Aufgaben umfasst.

Hier kannst Du Dir eine einfache Vorlage herunterladen, die ich bei der Gestaltung selbstbestimmter Teams nutze und die zur Beschreibung der Mandate hilfreich ist.

Mit der Klärung und dem Festhalten der zu den Zuständigkeiten gehörenden Aufgaben fallen bereits viele der zu erledigenden Aufgaben in eine bestimmte Zuständigkeit. Das heißt jedoch noch nicht, dass diese tatsächlich erledigt werden.

Hier lohnt sich ein Blick auf die Prozesse.

3. Definierte Prozesse zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team

Ein Prozess lässt sich – etwas sperrig – definieren als (technologisch), zeitlich und örtlich bestimmtes effizientes Zusammenwirken von Faktoren zur Herstellung einer bestimmten Gütermenge in bestimmter Qualität.

Prozesse – systemtheoretisch auch Konditionalprogramme genannt – legen fest, was zu tun ist, wenn ein bestimmter Impuls auftritt. Als Beispiel: Wenn ein neues Kind in der Kita angemeldet wird, dann sind die Schritte a, b, c… zu abzuarbeiten. Wenn ein Klient eine neue Unterhose braucht, dann ist x, y, z… zu tun. Wenn eine Teamsitzung stattfindet, dann sind bis zum XY Themenvorschläge für die Tagesordnung einzureichen und wenn die Teamsitzung rum ist, dann findet sich zwei Tage später das Protokoll hier (oder hier).

Prozesse sind Teil der Regeln einer Organisation und folgen einer „wenn – dann“ Logik. Das ist hilfreich, um die Komplexität im Alltag zu reduzieren. Denn wenn wir jedes mal neu überlegen würden, wo das Protokoll wann zu finden ist, wäre das Chaos vorprogrammiert.

Prozesse sind auch Teil des QM-Systems einer Organisation und sollen darüber Verlässlichkeit herstellen. Um die Verlässlichkeit zu gewährleisten sollten Prozesse immer mit einem:r für den Prozess verantwortlichen Person oder einem entsprechenden Mandat hinterlegt sein (bspw. Protokollant:in in der Teamsitzung) hinterlegt werden.

Über diese Festlegung der Zuständigkeiten wird deutlich, dass es einfacher wird, Verbindlichkeit zu erzeugen. Es ist klar, wer die Verantwortung trägt.

Und erst dann, wenn dies klar ist, kann auf die Einhaltung des Prozesses insistiert werden.

Eine Herausforderung der Prozessdenkweise besteht in sozialen Organisationen jedoch darin, dass insbesondere die Erstellung der sozialen Dienstleistung nur sehr begrenzt prozesshaft abgebildet werden kann. So kann – als Beispiel – in der stationären Jugendhilfe zwar geregelt sein, dass zum Ende eines Dienstes dokumentiert wird. Was aber genau den Tag über passiert, wer welche Gespräche wie führt und zu welchen Ergebnissen die Gespräche und Aktionen mit den Jugendlichen führen, kann nicht festgeschrieben werden.

Entsprechend dominieren in sozialen Organisationen sog. „Zweckprogramme“. Darunter ist der Versuch zu verstehen, über Zwecke – bspw. „Wohnen, Leben, Lernen, Arbeiten
für Menschen mit Behinderung“ – zu steuern, dass die Art und Weise, wie genau im Beispiel Wohnen, Leben, Lernen und Arbeiten ermöglicht wird, nicht geregelt ist (und nicht geregelt werden kann).

4. Versprechen zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team

Die obigen Ausführungen sind aus meiner Perspektive Basics der Gestaltung gelingender Zusammenarbeit. Ohne Ziele, Zuständigkeiten und Prozesse geht es nicht. Das gilt aber für alle Teams. Und ja, diese Basics fehlen häufig in Teams und Organisationen.

Aber Basics allein steigern noch nicht unmittelbar die Verbindlichkeit in der Übernahme von Aufgaben im Team.

Eine Möglichkeit wäre jetzt, entweder Druck auszuüben und zu drohen, oder noch stärker an die Menschen zu appellieren, doch endlich mal die Aufgaben zu übernehmen.

Aber es ist keine Raketenwissenschaft zu verstehen, dass Druck ebensowenig hilft, wie der Appell an die Disziplin und Eigenverantwortung.

Und wenn es dann noch darum geht, selbstbestimmt und „auf Augenhöhe“ zu arbeiten, helfen „Weisungen“, Druck und Appelle noch weniger.

Eine Alternative dazu ist die „Promise Theory“.

Darunter ist ein theoretischer Ansatz zu verstehen, der in den letzten Jahren im Bereich der Informatik und Systemtheorie entwickelt wurde. Sie wurde von Mark Burgess, einem Informatiker und Autor, konzipiert.

Die Promise Theory konzentriert sich auf das Konzept von „Versprechen“ (Promises).

Ein „Versprechen“ ist in diesem Kontext eine Art Vereinbarung oder Verpflichtung, die zwischen verschiedenen Akteuren in einem Netzwerk besteht. Diese Versprechen sind Grundlage für die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren.

Die Idee ist, dass Versprechen (Promises) in Teams ausgetauscht werden. Versprechen können erfüllt oder gebrochen werden.

Darüber wird ermöglicht, das verbindlichere Verhalten von sozialen Systemen und Netzwerken zu gestalten.

Damit die Promise Theory gelingt, sind einige Grundsätze zu beachten (vgl. Pukall, 2023, 152):

  • Transparenz: Alle Akteure können gegenseitig ihr Verhalten beobachten.
  • Akteure können nur das eigene Verhalten steuern, nicht das von anderen.
  • Es kann gemeinsame, aber auch individuelle Ziele und Aufgaben geben, die den anderen nicht unbedingt bekannt sind.
  • Akteure sind für das Erreichen ihrer Ziele auf gegenseitige Unterstützung angewiesen.
  • Zukunft ist ungewiss: Man kann nicht genau wissen, wie man selbst, geschweige denn die anderen handeln werden.

Darauf basierend kündigen abgegebene Versprechen an, was jemand tun oder auch nicht tun wird, da ein Versprechen immer an jemand anderen oder auch an das Team abgegeben wird.

Konkret geht es um Anfragen, die

  • zugesagt werden können: „Ja, ich mache das!“
  • vertagt werden können: „Ich kann das jetzt nicht tun, aber später!“
  • verhandelt werden können: „Ich kann das tun, wenn du…!“
  • abgelehnt werden können: „Nein, das kann ich nicht tun!“

Ja, auch die Ablehnung von Anfragen muss im Team akzeptiert werden und darf nicht negativ belegt sein, da sonst die Glaubwürdigkeit untergraben wäre.

Sinnvoll bei einem Versprechen ist es, bestimmte Ergebnisse zu versprechen („Ja, ich mache das und von mir bekommst Du…“). Daraus ergeben sich Spielräume, die unterschiedliche Wege zum Ergebnis eröffnen. Kurz: Es ist egal, wie man die Aufgabe erledigt, solange man liefert, was versprochen wurde.

Eingehaltene Versprechen führen zu mehr Vertrauen im Team bzw. des Teams gegenüber der Organisation. Über die Versprechungen entstehen interne Abhängigkeiten, die Strukturen und Interaktion notwendig machen.

Damit das Vertrauen entstehen kann, braucht es:

  • Transparenz (wie oben schon erwähnt), bspw. über ein gemeinsames Kanban-Board, auf dem alle Aufgaben ersichtlich werden.
  • klare Formulierungen an die Erwartungen der Aufgaben: „Das hier brauche ich – kannst Du das für mich tun?“
  • klare Zu- oder Absagen (s.o.). Formulierungen wie „Ich schau mal, ob ich es schaffe…“ erzeugen nur Unsicherheit.
  • eine positive Bewertung auch von Absagen – „Danke für die klare Rückmeldung, ich frage jemand anderen.“
  • eine angemessene Sanktionierung nicht eingehaltener Versprechen: Dabei geht es nicht um die Abwertung der Person („Klaus ist völlig unzuverlässig!“), sondern um die Frage, warum es Klaus nicht gelingt, seine Versprechen einzuhalten. Das deutet oftmals auf Probleme des Systems hin, bspw. Arbeitsüberlastung oder Aufgaben, die nicht zu den Fähigkeiten passen (wollen heißt nicht können).

Logisch ist, dass dies alles nicht ganz neu ist: Handel funktioniert auf Basis von Versprechen, Verträge funktionieren auf dieser Basis, die Vereinbarung und Einhaltung von Terminen funktionieren auf dieser Basis usw.

Die Zusammenarbeit im Team aber ausdrücklich auf „Versprechen“ basieren zu lassen, klärt jedoch gegenseitige Erwartungen (wieder so ein wichtiger Begriff) und beugt Manipulationsversuchen und Machtspielen vor (vgl. Pukall, 2023, 154).

Ach ja: In Organisationen bzw. selbstbestimmt agierenden Teams muss ein Teammitglied mindestens ein Versprechen abgegeben haben:

Es braucht mindestens die Zusage, dass es sich für die gemeinsame Sache des Teams engagieren und seine Zeit freiwillig einbringen will – man steigt in den Team-Bus ein.

Und in letzter Konsequenz bedarf es auch der Möglichkeit, die Mitgliedschaft in einem Team (aus beiden Perspektiven) beenden zu können – man kann auch wieder aussteigen können.

Du siehst:

Die Anforderungen an die Steigerung der Verbindlichkeit ist – insbesondere in selbstbestimmt agierenden Teams, aber nicht nur dort – ziemlich voraussetzungsreich.

Wenn aber klar ist, was auf die Teammitglieder zukommt, kann es richtig gut werden… Versprochen 😉

5. Psychologische Sicherheit zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team

Abschließend will ich auf das Konzept der psychologischen Sicherheit eingehen. Denn insbesondere bei der Promise Theory wurde deutlich, dass gute Zusammenarbeit immer beinhaltet, offen miteinander umzugehen – sei es als Kritik an einem nicht eingehaltenen Versprechen oder als klare Aussage, eine Aufgabe nicht übernehmen zu können.

Das Konzept „psychologische Sicherheit“ hat seine Wurzeln in der Forschung von Amy Edmondson, einer Professorin für Führung und Management an der Harvard Business School. In einem ihrer wegweisenden Artikel aus dem Jahr 1999 mit dem Titel „Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams“ (hier) definierte Edmondson psychologische Sicherheit als die „Wahrnehmung von Mitarbeitern, dass die Umgebung sicher ist für zwischenmenschliches Risiko, so dass sie nicht für unsicheres Verhalten belastende Konsequenzen im Hinblick auf ihre Arbeitseffektivität oder ihre Karriereerfolge fürchten müssen.“

Edmondson untersuchte psychologische Sicherheit im Kontext von Arbeitsgruppen und Teams. Sie fand heraus, dass Teams mit einem höheren Maß an psychologischer Sicherheit eher bereit sind, neue Ideen zu teilen, Fragen zu stellen, Unsicherheiten auszudrücken und voneinander zu lernen. Dies trägt übergreifend zu einer positiven Teamdynamik, besserer Problemlösung und einer insgesamt effektiveren Zusammenarbeit bei, worunter auch die verbindliche Übernahme und Erledigung von Aufgaben fällt.

Seit Edmondsons Pionierarbeit ist das Konzept der psychologischen Sicherheit zu einem wichtigen Aspekt in den Bereichen Organisationspsychologie, Führung und Teamentwicklung geworden. Unternehmen und Führungskräfte nutzen diese Erkenntnisse, um sicherzustellen, dass ihre Teams ein Umfeld haben, das Offenheit, Vertrauen und konstruktive Zusammenarbeit fördert.

Aber wie „geht“ das jetzt?

Dazu ist es hilfreich, dass Du in Deinem Team und Deiner Organisation einige Schlüsselprinzipien in den Blick nimmst, die die psychologische Sicherheit fördern:

  • Offene Kommunikation fördern: Schaffe einen Raum, in dem Teammitglieder offen und ehrlich ihre Gedanken, Meinungen und Bedenken teilen können. Betone die Wichtigkeit von klaren und transparenten Kommunikationskanälen, um Missverständnisse zu vermeiden.
  • Respektvolles Feedback ermöglichen: Stelle sicher, dass Feedback konstruktiv und respektvoll formuliert wird, um eine positive Atmosphäre zu bewahren. Ermutige Teammitglieder dazu, sowohl positive als auch konstruktive Rückmeldungen zu geben.
  • Fehler als Lernchance betrachten: Betone, dass Fehler Teil des Lernprozesses sind und nicht als persönliches Versagen betrachtet werden sollten. Ermutige Teammitglieder, aus Fehlern zu lernen und Lösungen zu entwickeln, anstatt Schuld zuzuweisen.
  • Teamzusammenhalt fördern: Initiiere Teamaktivitäten, die den Zusammenhalt stärken und das Vertrauen untereinander fördern. Schaffe eine positive Teamkultur, in der Unterstützung und Zusammenarbeit im Vordergrund stehen.
  • Vielfalt und Inklusion betonen: Achte darauf, dass alle Teammitglieder sich akzeptiert und respektiert fühlen, unabhängig von Hintergrund, Erfahrung oder Perspektive. Förderung einer Umgebung, in der unterschiedliche Meinungen und Ansichten geschätzt werden.
  • Führungskräfte als Vorbilder: Als Führungskraft solltest Du durch Dein eigenes Verhalten zeigen, dass psychologische Sicherheit von höchster Bedeutung ist. Sei selbst mutig und ermutige Führungskräfte dazu, selbst Unsicherheiten zuzugeben und offen über Herausforderungen zu sprechen.
  • Aktives Zuhören fördern: Betone die Bedeutung des aktiven Zuhörens, um sicherzustellen, dass alle Stimmen im Team gehört werden. Es hat sich bspw. als hilfreich erwiesen, wenn jedes Teammitglied unabhängig von der Hierarchie in Teamsitzungen die gleiche Redezeit hat.
  • Klare Erwartungen setzen: Stelle sicher, dass alle Teammitglieder klare Erwartungen bezüglich ihrer Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Ziele haben. Klar formulierte Ziele tragen dazu bei, Unsicherheiten zu reduzieren und das Vertrauen im Team zu stärken.

Indem diese Prinzipien gelebt werden, kann psychologische Sicherheit im Team gesteigert werden, was wiederum zu einem offenen, kollaborativen und innovativen Arbeitsumfeld und damit übergreifend zu einer höheren Verbindlichkeit in der Erledigung von Aufgaben führt.

Steigerung der Verbindlichkeit im Team – tl;dr

Wieder ganz schön lang geworden. Aber Du siehst:

Die Steigerung der Verbindlichkeit im Team ist einerseits voraussetzungsreich. So braucht es funktional gestaltete Strukturen, damit Zusammenarbeit überhaupt funktionieren kann. Dies sind a) gemeinsame Ziele, b) klare Zuständigkeiten und c) definierte Prozesse. Jedoch reicht die Gestaltung der Basics guter Zusammenarbeit nicht aus, um alle Aufgaben in komplexen Settings verbindlich bearbeitet zu bekommen. Hier kommt d) die Promise Theory ins Spiel: Durch für alle einsehbare Versprechen an die Teammitglieder, eine Aufgabe in einer bestimmten Art und Weise bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfüllen (oder eben auch nicht), erhöht sich der soziale Druck: Wer will schon Versprechen brechen? Voraussetzung aber für die Promise Theory ist wiederum e) psychologische Sicherheit im Team – es muss bspw. akzeptiert sein, Anfragen auch ablehnen zu können, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen.

Andererseits reicht es jedoch häufig, die Basics der Gestaltung guter Zusammenarbeit – Ziele, Zuständigkeiten und Prozesse (vgl. bspw. das GRPI-Modell) – zu gestalten, um einen gewaltigen Schritt zur Steigerung der Verbindlichkeit im Team und der eigenen Organisation voranzukommen.

Das wiederum ist kein Hexenwerk und sollte Fokus der Arbeit bspw. von Teamleitungen sein.

Quellen:

  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Pukall, K. (2023): Selbstorganisation im Team. Wie gemeinsame Verantwortung für die Zusammenarbeit zu großartigen Ergebnissen führt. 1. Auflage 2023. Franz Vahlen.

Sieben Gründe, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

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Barcamps sind nichts Neues. Den Ausführungen von Simon Dückert folgend lassen sich erste Ideen dazu bis ins Jahr 1998 zurückverfolgen. Wir waren etwas später dran, aber Sabine und ich haben immerhin im Jahr 2016 das erste #Sozialcamp (unter dem Link mein Review aus 2016) ins Leben gerufen. Und ich bin immer wieder geflasht von der Kraft des Formats Barcamp. Deswegen will ich Dir hier – angelehnt an die Ausführungen in meinem letzten Newsletter – darlegen, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind.

Aktuell denke ich übrigens wieder darüber nach, ein offenes Barcamp-Format für die Soziale Arbeit ins Leben zu rufen (da das Sozialcamp leider durch Corona ziemlich gelitten hat ;-( Außerdem war ich gerade unterwegs in einer „Barcamp-Woche“. Konkret durfte ich in den letzten Tagen zwei Barcamps moderieren.

Das erste Barcamp der letzten Woche war ein „Semi-Barcamp“ rund um das Thema „Fachkräftemangel“ des Paritätischen Baden-Württemberg, bei dem im ersten Teil am Vormittag ein „klassisches Konzept“ gefahren wurde: Grußworte, Vorstellung eines Best Practice Modells und ein Impuls (den ich zum Thema Fachkräftemangel halten durfte). Der Nachmittag war dann als Barcamp-Format rund um das Thema „Fachkräfte“ konzipiert.

Das zweite Barcamp war ein „reines Barcamp“ ohne explizit vorgegebenes Thema. Es ging um Projektverzahnung, Vernetzung, die Generierung neuer Ideen und Ansätze usw., initiiert vom Verband der Privaten Krankenversicherungen.  

Warum Barcamps nicht „auch“ in der Sozialwirtschaft ankommen sollten…

Barcamps sind in den letzten Jahren auch in unseren „eher klassischen Branchen“ angekommen sind. Hier bspw. beim DRK, hier bei der Caritas in Freiburg oder hier als digitales Barcamp bei der Diakonie. Das sind nur einige Beispiele, es gibt viel mehr.

Aber aus meiner Sicht macht dieses „auch“ eigentlich keinen Sinn, denn: 

Barcamps und ähnliche Formate wie bspw. „Open Space“ sollten nicht „auch in der Sozialwirtschaft“ ankommen. 

Wir sollten uns vielmehr darüber wundern, dass es in unseren Kontexten überhaupt noch „klassische Konferenzformate“ gibt! 

Ja, diese klassischen Formate haben auch (noch) ihre Berechtigung, aber wenn man sich ein paar der Vorteile von offenen Konferenz- oder Barcamp-Formaten anschaut, wird es sehr deutlich.

Dazu macht es Sinn, sich die Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft vor Augen zu führen.

Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft  

1. Partizipation und Mitgestaltung: 

Barcamps zeichnen sich durch ihre offene Struktur aus, bei der die Teilnehmer:innen zu Teilgeber:innen werden und damit aktiv an der Gestaltung des Programms teilnehmen. Statt vordefinierter Vorträge und Workshops können die Teilgeber:innen selbst Themen, Fragen, Ideen… einbringen. Und wo, wenn nicht in sozialen Organisationen, wird Partizipation besonders groß geschrieben? Das gilt übrigens nicht nur für die Partizipation(swünsche) der Mitarbeiter:innen. Vielmehr wird auch von den Klient:innen aktive Beteiligung und Eigenverantwortung erwartet, da Soziale Arbeit ja genau darauf abzielt: Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung. Autonomie und Selbstbestimmung aber findet in klassischen Settings kaum statt.

2. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: 

Herkömmliche Veranstaltungen haben oft ein sehr starr vorgegebenes Programm. Barcamps hingegen haben zwar auch einen Zeitplan (45 minütige Sessions). Sie sind aber inhaltlich flexibel und können sich damit an aktuelle Themen, Bedürfnisse und Interessen der Teilgeber:innen anpassen. Und gerade in der Arbeit mit Menschen ist Flexibilität und die Notwendigkeit, schnell auf Veränderungen zu (re-)agieren, im Alltag Standard. Warum nicht auch in Veranstaltungsformaten? 

3. Vielfalt an Themen und Perspektiven: 

Da bei Barcamps die Teilgeber:innen die Themen bestimmen, sind die Veranstaltungen inhaltlich enorm divers. Dies fördert den interdisziplinären Austausch und ermöglicht den Teilgeber:innen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und wo, wenn nicht in der Sozialwirtschaft, ist Diversität – themenbezogen, aber noch vielmehr bezogen auf die Menschen – hoch relevant? 

4. Netzwerken und Beziehungen: 

Barcamps bieten viel Gelegenheit zum Netzwerken. Die informelle Atmosphäre, das „Barcamp-Du“ und die Möglichkeit, sich aktiv in Diskussionen einzubringen, erleichtern es, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende Beziehungen zu vertiefen. Netzwerk-, vor allem aber Beziehungsgestaltung...muss ich nicht vertiefen, oder? 

5. Geringe Kosten:

Barcamps sind oft kostengünstiger als herkömmliche Konferenzen. Man muss keine Referent:innen bezahlen (auch wenn eine Moderation von außen hilfreich ist, you can call me ;-), Man muss die Räume nicht wahnsinnig technisch ausstatten usw. Vielmehr leben Barcamps zum einen von der Partizipation der Teilgeber:innen (s.o.) und zum anderen vom „Werkstattcharakter“, dem „Unfertigen“, dem Gestaltbaren. Und weniger Kosten…muss ich nicht vertiefen, oder?

6. Informelle Atmosphäre: 

Herkömmliche Veranstaltungen sind oft sehr „förmlich“, während Barcamps eine entspannte, „informellere“ Atmosphäre bieten. Und falls Du an der Stelle Lust hast, kannst Du meinen Beitrag zur „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ lesen. Hier, in Barcamps, ist die Informalität hochgradig funktional (was bei dominierender Informalität in der Gestaltung der Zusammenarbeit nicht immer der Fall ist). 

7. Wissensaustausch und Lernen: 

Die offene Natur von Barcamps fördert den Wissensaustausch und das gemeinsame, selbstbestimmte Lernen. Die Teilgeber:innen profitieren von den Ideen und Erfahrungen der anderen und in kurzer Zeit entsteht Verbindung, Verbundenheit und persönliche ebenso wie inhaltliche Netzwerke. Und das (neues) Lernen für Menschen in und soziale Organisationen insgesamt wichtig ist, kannst Du bspw. hier nachlesen. 

Warum Barcamps die Möglichkeit zum Umgang mit der VUCA-Welt sind

Was mich aber über all diese Punkte hinaus am Meisten fasziniert, ist die Möglichkeit, wie es in Barcamps gelingt, mit der uns alle beschäftigenden Komplexität umzugehen

Durch all die oben genannten Aspekte und Vorteile wird es möglich, komplexe Fragen so anzugehen, dass nicht unterkomplexe Antworten gegeben, sondern die Welle der Komplexität gemeinsam gesurft wird. Denn: 

Für fast alle Fragen, die Soziale Organisationen, Bildungseinrichtungen, Verwaltungen… aktuell bewegen (Fachkräftemangel, KI, Klima, Krieg, Einsparungen und Co.) gibt es nicht die eine richtige Antwort.  

Vielmehr sind diese Fragen nur gemeinsam, interdisziplinär und sektoren- bzw. innerhalb von Organisationen bereichsübergreifend anzugehen.

Komplexität zu bewältigen braucht Tests und Experimente.

Es ist auszuprobieren, es ist gemeinsam zu experimentierenwie eine bessere Zukunft gestaltet werden kann. 

Und aus den Ergebnissen, die in den Sessions der Barcamps entstehen, lassen sich genau diese „Experimente“ gestalten:

  • Es können sich neue Netzwerke ergeben – bspw. zum Thema „Nutzung von KI in der eigenen Organisation“.
  • Es können konkrete Lösungen erarbeitet werden – bspw. für spezifische Fragen.
  • Es kann aber auch ganz einfach Austausch stattfinden, der – vielleicht – im Sinne der Serendipität – zu neuen, bislang nicht gedachten Ideen und Lösungen führt.

Organisationsinterne Barcamps

Barcamps werden in den meisten Fällen entweder ganz offen angeboten (bspw. das Sozialcamp von damals…) oder häufig durch Verbände initiiert, die ihre Mitgliedseinrichtungen zu bestimmten Themen zusammenbringen wollen (siehe die Beispiele oben).

Es ist aber nicht nur möglich, sondern auch hochgradig sinnvoll, ein Barcamp innerhalb der eigenen Organisation – bspw. als Alternative zu einer klassischen Klausur – zu organisieren. Hilfreich dazu ist es, ein paar Schritte zu beachten:

  • Interesse wecken: Mitarbeiter:innen über die Idee und Grundanliegen eines Barcamps informieren um ihr Interesse zu wecken.
  • Organisationsteam bilden: Ein Team zusammenstellen, das die Veranstaltung planen und koordinieren kann.
  • Rahmenbedingungen schaffen: Einen geeigneten Ort und Zeitpunkt festlegen sowie die notwendige technische Ausstattung sicherstellen.
  • Teilnehmer einbinden: Die Mitarbeiter:innen dazu ermutigen, Themen für das Barcamp vorzuschlagen und abzustimmen, um eine relevante Agenda zu erstellen.
  • Kommunikation fördern: Die Teilgeber:innen aktiv dazu ermutigen, ihre Ideen und Meinungen während der Veranstaltung zu teilen.
  • Dokumentation: Alle Ergebnisse dokumentieren (und im Nachgang aufbereiten).
  • Feedback sammeln: Nach dem Barcamp Rückmeldungen sammeln, um Verbesserungen für zukünftige Veranstaltungen zu identifizieren.

Eine richtig gute Anleitung zur Organisation von einem Barcamp findet sich übrigens im lernOS Barcamp Leitfaden. Das lohnt sich wirklich.

Zukunft ermöglichen, oder: Warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

Auch wenn die Ausführungen für viele wahrscheinlich nicht besonders neu waren oder manche von Euch vielleicht schon Barcamps besucht haben, finde ich es relevant, immer mal wieder darauf zu verweisen, dass es Wege gibt, anders an übergreifende oder auch organisationsinterne Herausforderungen heranzugehen.

Und die Herausforderungen, die es heute und in Zukunft zu bewältigen gilt, sind enorm. Entsprechend plädiere ich hier, als eine Option, für die Barcamp-Methode.

Barcamps aber sollten keine exotischen „Experimente“ sein, sondern vielmehr zum Standardformat für Veranstaltungen werden, die zur Ermöglichung der Zukunft anregen

Ach ja, im Kleinen, im Team oder auch in organisationsinternen Netzwerken, lohnt sich auch ein Blick auf die Methode des „Lean Coffee“, um gemeinsam an neuen Ideen und der Entwicklung der Organisation zu arbeiten.