Kundenorientierung in der Sozialen Arbeit, oder: Wer zahlt, bestimmt die Musik!

Der radikale Fokus auf die Bedarfe der Nutzer*innen, der Kunden und Kundinnen, ist eins der Erfolgsrezepte digitaler Geschäftsmodelle. Hier erläutere ich, warum Kundenorientierung in der Sozialen Arbeit oder besser: die Orientierung an den Nutzer*innen in der Sozialen Arbeit dringend notwendig wäre, jedoch nicht einfach umzusetzen ist.
Kundenorientierung in der sozialen Arbeit

Inhalt:

Durch die digitale Transformation kommen Geschäftsmodelle auf den sozialen Markt, die sich radikal an den Bedarfen der Nutzer*innen orientieren – Kundenorientierung wird hier groß geschrieben. Soziale Organisationen sind jetzt gefordert, mithilfe von Design Thinking ihre Services zu optimieren, um im Spiel um die pflegebedürftige Oma (und den Opa und die Kinder sowie die Katze und und und) mithalten zu können. Die Zukunft sozialer Organisationen muss also irgendwie anders aussehen. Kundenorientierung in der Sozialen Arbeit ist jedoch mit einigen Herausforderungen behaftet.

Es besteht die mehr als berechtigte Angst, dass neue Organisationen, Social Entrepreneurs und überhaupt gar nicht „social“ businesses ein ziemliches Stück des begrenzten Kuchens zur Finanzierung sozialer Arbeit abgreifen. Buurtzorg in den Niederlanden wird hier gerne als Beispiel eines „disruptiven Geschäftsmodells“ aus unserem Sektor herangezogen: Von 2006 bis heute von 4 auf 10.000 Mitarbeiter*innen, da bleiben nicht mehr viele ambulante Pflegedienste in den Niederlanden.

Echt jetzt?

Beim Schreiben der einleitenden Sätze schwanke ich, du hast das gemerkt, zwischen Übertreibung und Realität:

Ja, soziale Organisationen stehen vor teilweise (radikal) neuen, teilweise aber auch mehr als absehbaren Herausforderungen.

Ja, wir sehen neue Konkurrenz, die den Organisationen der freien Wohlfahrtspflege (klingt auch wenig cool, oder?) einen Teil des Kuchens streitig machen will.

Und, das macht mir am Meisten Sorgen, unsere Strukturen, Rahmenbedingungen und Abhängigkeiten sind optimal geeignet, Bewegungslosigkeit zu produzieren: Die häufig anzutreffende bürokratische Gängelung durch Vorgaben der Kostenträger lähmt soziale Organisationen ungewollt. Nur durch teilweise übermenschliches Engagement der Beteiligten – Mitarbeiter*innen und Führungskräfte – bewegt sich überhaupt noch etwas, oder eben nicht mehr.

Und ja, ich bin auch davon überzeugt, dass es lohnt, neue Arbeitsweisen, New Ways of Working und neue Perspektiven, vor allem die Perspektive der Klient*innen, der Nutzer*innen viel stärker ins Zentrum sozialer Arbeit zu rücken.

Das muss sogar dringend geschehen!

Es ist, als ein Beispiel, pervers, erwachsenen Menschen ihr Taschengeld zu rationieren, nur weil irgendwelche Regeln der stationären Einrichtung für Menschen mit Behinderung dies so vorgeben. Gleichheit ist eben nicht Gleichberechtigung!

Und wir als Expert*innen wissen eben oft nicht und vor allem nicht für Jede*n, was wirklich richtig ist. Hier bedarf es deutlich mehr Demut seitens der Professionellen und – wie gesagt – Orientierung an echten Bedarfen der Menschen.

Und mal ehrlich: Die besten Innovationen entstehen aus echten Problemen. Denn ein beheiztes Lenkrad oder die vierte Klinge im Rasierer sind allenfalls schlechte Witze gegenüber (als Beispiel) verbesserter Krankenversorgung in Afrika.

Das doppelte, einschränkende Mandat

Das würde bedeuten, dass Soziale Organisationen hochgradig innovativ wären. Aber leider klingt die Orientierung an echten Bedarfen der Nutzer*innen einfacher und besser, als es dann in der Realität ist. Da dürfen wir uns nichts vormachen:

Die Gesellschaft bestimmt basierend auf politischen Entscheidungen, welche Bedarfe welcher Zielgruppen finanziert werden. Und nur finanzierte und in Gesetzesform gegossene Bedarfe können dann von sozialen Organisationen professionell bedient werden.

Soziale Arbeit ist eben nicht ausschließlich für die Nutzer*innen da, sondern immer auch für den finanzierenden Staat:

Neben der Anwaltschaft für den Klienten schwingt immer die Kontrollfunktion für den Staat mit. Der stellt nämlich die Kohle zur Verfügung. Eben:

Wer die Kapelle zahlt, bestimmt die Musik.

Finanzierung durch Kostenträger

In unserem Falle bezahlt die Gesellschaft die Kapelle. Und diese Kapelle hat die gewünschten Lieder zu spielen bzw. die geforderten Leistungen anzubieten. Die wirklichen Bedarfe der Menschen zählen da nur sekundär.

Aus Perspektive der Angebotsentwicklung folgt, dass soziale Organisationen primär auf die Finanzierbarkeit und erst sekundär auf die tatsächlichen Bedarfe der Nutzer*innen blicken (müssen).

Es besteht die Gefahr, dass Angebote die Bedarfe der Nutzer*innen gar nicht treffen können, da bspw. Projektausschreibungen von vorne herein falsch bzw. an den Bedarfen der Nutzer*innen vorbei konzipiert wurden.

In erwerbswirtschaftlichen Organisationen würde spätestens hier der reale Markt eingreifen: Die Kund*innen würden das zu ihrem Bedarf passende Produkt wählen und fertig. Bei uns regiert maximal ein künstlich geschaffener Pseudo-Markt, wie Joss Steinke dies so schön ausdrückt:

Misstrauen!!!

Da die Kostenträger die Preise und Bedingungen bestimmen, versuchen diese natürlich auch, zu prüfen, was denn mit „ihrem“ Geld geschieht. Es werden Kontrollstrukturen eingeführt, um die verwendeten Gelder zu rechtfertigen.

Dies schlägt sich in einem enormen bürokratischen Aufwand für die Organisationen nieder, ohne den eigentlichen Zweck (angemessenere Hilfe) besser erfüllen zu können: Aufgeblähte Dokumentationspflichten, Qualitätsmanagementprogramme mit vielen Seiten Papier oder verpflichtende Controllingsysteme, die dem Namen alle Ehre machen.

Misstrauen gegenüber den kleinsten Schritten herrscht vor im Gegensatz zum aufgrund der Komplexität sozialer Arbeit eigentlich notwendigen Vertrauen in die professionelle Hilfeleistung der Organisationen.

New Ways of Social Work? Not really…

Hier ließe sich die These vertreten, dass soziale Organisationen auch ihre Strukturen und Arbeitsweisen primär an den Anforderungen der Kostenträger ausrichten (müssen) und nicht an den Möglichkeiten moderner Zusammenarbeit und damit – eben – vornehmlich der Orientierung an den Nutzer*innen.

Führungskräfte sozialer Organisationen müssen – häufig entgegen ihrem eigenen Willen – dem ihnen entgegengebrachten Misstrauen von Seiten der Kostenträger mit formalen Hierarchien, Regeln, Prozessen etc. begegnen, anstatt die zur Komplexitätsbewältigung notwendige Vertrauenskultur schaffen zu können.

Kontrolle, Prozesse, Regeln überwiegen gegenüber Selbstorganisation und -verantwortung.

Die Auswirkungen auf die Kultur sozialer Organisationen sind verheerend.

Manchmal, das ist ebenfalls zu erwähnen, glauben die Führungskräfte aber auch, dass das die beste (oder einzige) Art wäre, ihre Organisation zu führen. Dazu aber unten noch ein paar Worte.

Jetzt aber mal langsam!

Als weitere Herausforderung kommt hinzu, dass Soziale Organisationen schnelle gesellschaftliche Entwicklungen, wie bspw. die Herausforderungen der digitalen Transformation, wenn überhaupt nur verspätet angehen können, da die Finanzierung entsprechender Angebote (und schon der notwendigen technischen Infrastruktur) durch Finanzierung über Fallpauschalen kaum oder schlicht nicht sichergestellt ist.

Gleichzeitig sind die Fach- ebenso wie die Führungskräfte damit in der Situation, vor echten Problemen zu stehen: Klient*innen nutzen – als Beispiel – digitale Kommunikationsmöglichkeiten, ohne dass die Einrichtungen darauf vorbereitet wären, was oftmals zur Entwicklung von halblegalen oder ineffizienten Lösungen führt.

Kundenorientierung in der Sozialen Arbeit der Zukunft? Und nu?

Die Herausforderungen ließen sich weiter ausbauen. Wir haben bspw. noch nicht darüber gesprochen, dass in sozialen Organisationen die Mitarbeiter*innen an der Basis diejenigen sind, die die Wertschöpfung leisten. Die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung ließe jedoch das Gegenteil vermuten. Ach ja, und wir stehen vor bzw. sind mitten in einem Fachkräftemangel, der weitere Auswirkungen haben wird.

Und, und, und…

Huch, jetzt ist auch schon wieder spät geworden, in diesem Beitrag. Damit er aber nicht in totaler Depression endet, hier ein paar, aus meiner Sicht dringend notwendige Schritte:

  • Soziale Organisationen sind keine Wirtschaftsorganisationen. Diese Einsicht beugt Hoffnungen auf Steuerungs- und Handlungsmöglichkeiten vor, die nicht eingelöst werden können.
  • – Außerdem – und noch wichtiger – wird erst daraus die Besonderheit sozialer Organisationen deutlich: Wir als Gesellschaft handeln menschlich, in dem wir uns als eines der reichsten Länder der Welt soziale Arbeit leisten, die solidaritätsstiftend ist und den Ärmsten der Armen (und vielen anderen) zugute kommt! Und, dies bringt Joss Steinke in diesem lesenswerten Beitrag sehr passend auf den Punkt, „der Bedarf nach Unterstützung und Begleitung der Menschen im Land, der Bedarf nach menschlicher Zuwendung, wird nicht abnehmen – im Gegenteil.“
  • – Daraus folgt: Soziale Arbeit muss dringend wieder politischer werden! Die Studierenden fragen aber erst nach ECTS-Punkten, bevor sie sich bewegen. In Zukunft wird es jedoch keine ECTS-Punkte und auch sonst nichts mehr geben, wenn die Wohlfahrtspflege nicht langsam beginnt, geschlossen und professionell (!) gegen teilweise absurde politische Kontrollphantasien vorzugehen. Und Obacht: die absurden Ideen bestimmter Parteien, die einfache Antworten auf komplexe Fragen anbieten, macht die Situation für marginalisierte Gruppen unserer Gesellschaft alles andere als besser! Kurz: FCKNZS
  • – Damit geht einher, dass Curricula in Ausbildungsstätten und Hochschulen überarbeitet werden müssen. Entrepreneurship, Innovationsentwicklung, systemische Organisationsentwicklung oder auch Angebote zu digitaler Sozialer Arbeit sind – neben den wichtigen, normalen Angeboten aufzunehmen, damit Studierende (und Hochschulen) erkennen, dass sich die Welt nich um sie alleine dreht. Und hört bitte auf zu jammern, dass dafür ja in den 180 oder 210 ECTS Punkten kein Platz wäre: Niemand, kein*e Studierende*r weiß zunächst, dass es sich bei den Punkten um geschätzte, rein theoretische und oftmals sehr willkürlich festgelegte Arbeitsaufwände handelt. Und die sind ist an Hochschulen mit so viel „Selbstlernzeit“ ausgestattet, da ist echt noch Luft nach oben. Ach ja, und noch was, liebe Studierende: Hört endlich auf, Euch um eure „berufliche Identität als Sozialarbeiter*innen“ zu drehen. Das ist Beschäftigung mit Euch selbst. Fangt an, Probleme zu lösen.
  • – Ähnliches gilt auch für das Sozialmanagement. Hier ist die Situation leider so, dass wir entweder kontrollorientierte Menschen aus der klassischen BWL oder Jurist*innen als Geschäftsführungen einstellen oder aber unsere Leute selbst in Studiengängen des Sozialmanagements ausbilden. Beides, und damit auch die in Sozialmanagement-Studiengängen häufig vermittelten Steuerungsphantasien haben mit der Realität sozialer Systeme jedoch nichts zu tun. Im Gegenteil: Soziale Arbeit gelingt nur mit Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation und organisationalem Sinn.
  • – Lasst uns, dies sicherlich nicht abschließend, selbst an neuen Ideen für Soziale Arbeit überlegen?! Wir haben genug zu tun und werden noch zu tun bekommen. Wie kann aber Kundenorientierung in der Sozialen Arbeit, oder besser: Wie können die Nutzer*innen tatsächlich mehr in die Entwicklung und Gestaltung von Aufgaben und Angebote einbezogen werden, so dass sie auch, aber nicht primär, die Anforderungen der Kostenträger treffen? Ein großes Feld wird sicherlich die Frage, wie wir mit der Rezession und den dadurch zunehmend arbeitslos werdenden Menschen umgehen werden. Hier gab es mal in der #NewWork Bewegung einige echt spannende Ansätze… 😉

Oder was wären Eure Ideen? Bin gespannt…

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