Was eine Retrospektive ist und wie man Retrospektiven durchführen kann, erfährst Du im folgenden Beitrag. Für die Profis unter Euch ist das nichts Neues. In meiner Arbeit mit sozialen Organisationen stelle ich aber immer wieder fest, dass es gerade diese (mehr oder weniger) einfachen Dinge, Tools und Methoden sind, die einen Mehrwert für Menschen, Teams und die Organisation als Ganzes bringen. Und so kannst du vielleicht in deiner nächsten Teamsitzung eine Retrospektive durchführen, um auf die letzten Monate zurückzublicken, aus den Erfahrungen zu lernen und die Zukunft zu gestalten.
„Die Stärke Ihrer Gedanken und die Reflexion Ihrer Handlungen sind die Unterschrift, die Sie in dieser Welt hinterlassen.“
Woody Allan
Denn – so Woody Allan – nicht das Handeln an sich, sondern die Reflexion über das Handeln macht den Unterschied. Und regelmäßige Reflexion, davon bin ich überzeugt, ist mehr als notwendig, immer wieder. Konkret: Es ist wichtig, dass wir uns als Einzelne, als Teams und als Organisationen immer wieder die Zeit nehmen, das, was wir in den letzten Monaten getan haben, genau unter die Lupe zu nehmen und daraus zu lernen.
Retrospektiven sind das zentrale Element, um Veränderungen anzustoßen und den Wandel hin zu einer agileren und damit anpassungsfähigeren Organisation zu bewirken. Denn Retrospektiven sind „das entscheidende Werkzeug, um den Wandel einer Organisation hin zu agilen Werten voranzutreiben“ (Wagner, 2018, 119).
Was sind Retrospektiven?
Retrospektiven sind ein gemeinsamer, strukturierter Rückblick (retrospectare = zurückblicken) auf einen vorab bestimmten Zeitraum (der Zeitraum wird in der agilen Methode Scrum als „Sprint“ bezeichnet). Hinzu kommt jedoch das Moment des Lernens aus der Vergangenheit für die Zukunft. So dient eine Retrospektive nicht nur dazu, zurückzublicken, sondern ganz konkret Ideen für Verbesserungen aus der vergangenen Periode, dem letzten „Sprint“, zu generieren. Diese Ideen, Projekte, Experimente sind in der nächsten zu betrachtenden Periode anzugehen und dann in der nächsten Retrospektive wieder zu reflektieren.
Es geht also um kontinuierliche Entwicklung und gemeinsames Lernen.
![Retrospektiven durchführen](https://www.ideequadrat.org/wp-content/uploads/2021/06/Untitled-design-1200x675.jpg)
Dazu fokussiert eine Retrospektive auf die beiden Aspekte „Inspect and Adapt“. Inspect heißt, in einem ersten Schritt das zu benennen, was war. „Adapt“ ist dann die Anpassung des Vorgehens und der Arbeitsweise an neue Erkenntnisse gemeint. Ich habe hier „Inspect and Adapt als lösungsorientierte Kurzzeitstrategie für die (Zeit nach der) Krise“ beschrieben. In dem Beitrag erfährst du mehr zu der Bedeutung der beiden Begriffe.
Retrospektiven durchführen – konkret
Retrsopektiven folgen immer fünf Phasen:
- Gesprächsklima schaffen
- Themen sammeln
- Erkenntnisse gewinnen
- Entscheidungen treffen
- Abschluss
Ich gehe nicht auf jeden Bereich in der Tiefe ein. Manches erklärt sich von selbst und unten finden sich noch ein paar Quellen, in denen Du weiter stöbern kannst. Ein paar Aspekte will ich hervorheben.
Gesprächsklima schaffen, oder: Die Menschen dort abholen, wo sie stehen…
Unter dem ersten Punkt – der Schaffung einer Gesprächsatmosphäre – ist nicht zu verstehen, dass Kaffee und alte Kekse bereitgestellt werden. Vielmehr geht es darum, dass die Teilnehmer:innen aus ihren je individuellen Kontexten kommen, aus Meetings, anderen Aufgaben und damit erstmal gar nicht voll anwesend sind. Sie müssen in die anstehende Arbeitsphase „eingecheckt“ werden.
Der „Check-in“ besteht entweder aus einer (kurzen) Beschreibung der aktuellen Befindlichkeit (Wie geht es dir warum? Was beschäftigt dich gerade?) oder aus einer (vielleicht auch überraschenden) Einstiegsfrage, zu der jede:r (kurz) etwas sagt. Hier habe ich näher beschrieben, wie ein guter Check-In gestaltet sein kann.
Der Einstieg sollte aber kurz und fokussiert sein. Es geht beim Check-in nicht darum, die Lebensgeschichte der vor drei Jahren verstorbenen Katze auszubreiten. Gerade im sozialen Bereich neigen wir jedoch dazu, gerne lang und ausführlich zu berichten. Hier helfen klar definierte Zeitfenster: Jede:r hat z.B. eine Minute Zeit, um zu antworten o.ä. Das Benennen und Einhalten von Zeitfenstern („Time-Boxing“) ist auch für die weiteren Phasen hilfreich, um nicht ausufernd zu diskutieren.
Themensammlung, oder: Daten generieren
Die Themensammlung dient dann dazu, die persönlichen Erfahrungen, Erkenntnisse und Anregungen in Bezug auf den Betrachtungszeitraum zu dokumentieren. Es geht darum, das Wissen aller Beteiligten über den betrachteten Zeitraum zusammenzutragen und ein gemeinsames Bild zu schaffen (vgl. Dräther, 2014).
Je nach Intention eignen sich unterschiedliche Methoden und Vorgehensweisen zur Themen- und Datenerhebung. Im Zentrum stehen dabei immer die jeweils verwendeten Fragestellungen, die direkten Einfluss auf das Ergebnis haben.
So fokussiert die 4 – L – Retro beispielsweise auf die Fragen „What I Loved, What I Learned, What I Lacked, What I Longed For“ (Was hat mir gefallen, was habe ich gelernt, was hat mir gefehlt, was hat mich geärgert).
Die „Starfish Retro“ fokussiert auf die folgenden fünf Fragen:
- START: Mit was sollten wir beginnen?
- KEEP: Was müssen wir beibehalten, weil es gut funktioniert?
- MORE: Von was müssen wir mehr machen?
- LESS: Von was müssen wir weniger machen?
- STOP: Mit was müssen wir unbedingt aufhören?
Aber auch ganz andere methodische Herangehensweisen lassen sich für diesen Schritt verwenden. So ist bringt der „Geist aus der Flasche“ wie üblich drei Wünsche mit. Die Aufforderung lautet dann: Bitte formuliere
- einen Wunsch für dich selbst
- einen Wunsch für dein Team
- einen Wunsch für alle Menschen auf der Welt
Und Schummeln (d.h. der Wunsch nach mehr Wünschen oder mehr Geistern) ist nicht erlaubt!
Die findest – das sei schon hier erwähnt – viele Methoden, Fragen, Herangehensweisen unter https://retromat.org/de/.
Ich persönlich bin nicht erst seit Corona ein Fan der digitalen Möglichkeiten, vor allem in Retrospektiven. Ja, in Präsenz kann man Themen am besten auf Klebezetteln sammeln, die man dann an Fenster, Türen, Pinnwände… klebt. Aber meine katastrophale Handschrift bevorzugt das Digitale. Auf einem digitalen Whiteboard (z.B. dem Conceptboard, mit dem ich gerne arbeite) fällt mein Linkshänderdilemma nicht so auf… 😉 Und ich habe alle Daten, Themen, wichtigen Inhalte direkt gespeichert und kann in der nächsten Sitzung daran weiterarbeiten.
Und warum nutzt Du nicht in der Teamsitzung, die in Präsenz stattfindet, trotzdem ein digitales Whiteboard, an dem alle gemeinsam via Beamer arbeiten? Das Problem ist nur, dass das WLAN zu Hause funktioniert, in der Einrichtung aber nicht immer 😉 Die Dysfunktionalität liegt übrigens nicht „im Digitalen“, wie so oft behauptet wird, sondern in der nicht zeitgemäß funktionierenden oder nicht vorhandenen Technik (bzw. der fehlenden digitalen Kompetenz im Umgang mit der vorhandenen Technik, wieder ein weites Thema…).…
Erkenntnisse gewinnen, oder: Was soll das bedeuten?
Um ehrlich zu sein, muss ich mich immer wieder zusammenreißen, diesen Schritt wirklich in der gebotenen Tiefe zu gehen. Denn oft neigen wir dazu, viel zu schnell nach Lösungen zu suchen oder schon mit der Umsetzung der Lösungen zu beginnen. Denn schon bei der Themensammlung, bei der Beantwortung der Fragen im vorhergehenden Schritt, tauchen in unseren Köpfen Lösungen zu dem jeweiligen Thema auf.
Hinzu kommt, dass wir – ohne uns wirklich den gewonnenen Erkenntnissen zu widmen – oft nur die Probleme sehen, nicht aber die gemeinsamen Erfolge. Aber auch und gerade diese sind wichtig: Es lohnt sich immer, mehr von dem zu tun, was funktioniert!
Das größere Problem liegt aber oft darin, dass wir sofort den ersten Lösungsideen folgen, die uns zu einem Thema in den Sinn kommen. Häufig kratzen die Pseudolösungen, die uns sofort einfallen, nur an der Oberfläche. Die Wurzel des Problems wird oft nicht berührt. So wuchert das Problem unter der Oberfläche weiter und taucht mit Sicherheit an anderer Stelle (und meist mit größerer Wucht) wieder auf. Vielleicht hat man Brombeeren im Garten…
Um konkreter zu werden: Der Rückblick auf die Kommunikation im Team während der Pandemie zeigt, dass es schwierig war, alle Teammitglieder regelmäßig zu einem festen Zeitpunkt zusammen in einen Call zu bekommen. Die unmittelbare Lösung könnte lauten: Falscher Zeitpunkt! Aber die Suche nach der Ursache des Problems könnte folgendermaßen aussehen:
- Warum war es kaum möglich, alle Teammitglieder regelmäßig zu einem festen Zeitpunkt gemeinsam in einen Call zu bekommen?
- Weil die Mitarbeiter unterschiedliche Arbeitszeiten haben.
- Warum haben die Mitarbeiter unterschiedliche Arbeitszeiten?
- Weil im Team Mitarbeiter arbeiten, die im Bereich Schulbegleitung eingesetzt werden und Mitarbeiter arbeiten, die im Bereich Offene Jugendarbeit eingesetzt werden.
- Warum werden die Mitarbeiter in zwei Bereichen eingesetzt?
- Weil es historisch gewachsen ist, einige Mitarbeiter einige Stellenprozente von hier nach da mitgenommen haben und eine echte Trennung der Bereiche nicht erlogt ist.
An dieser Stelle könnte man sicherlich mit dem nächsten und übernächsten Warum noch weiter in die Tiefe gehen. Es wird aber deutlich, dass die Herausforderungen des Teams nicht im mangelnden Zeitmanagement liegen, sondern in der Frage, ob die Teamstruktur überhaupt passt. Statt also krampfhaft nach gemeinsamen Zeiten zu suchen, macht es hier mehr Sinn, über die Zusammensetzung bzw. den Zweck des Teams nachzudenken. Oder kurz: „Das Offensichtliche ist nicht immer der Kern des Problems“ (ebd.). Die mehrmalige Frage nach dem Warum findest Du als wirksames Werkzeug bspw. hier beschrieben.
Entscheidungen treffen, oder: Lösungen vor Probleme
Noch einmal: Nimm dir Zeit für den vorherigen Schritt, bevor du zu der Entscheidung kommst, wie es jetzt weitergehen soll. Für mich als sehr ungeduldigen Menschen ist das wirklich eine Herausforderung, aber es lohnt sich!
Aber jetzt ist wirklich genug analysiert: Was ist die Lösung? Was ist der richtige Weg?
Um diese Fragen zu beantworten, ist es wichtig zu überlegen, ob es eine klare Lösung für das analysierte Problem gibt, oder ob das Problem zu komplex ist, um sagen zu können, dass die Lösung XY auf jeden Fall die richtige ist, oder welche Auswirkungen die jeweilige Lösung haben wird.
Im zweiten Fall ist es hilfreich, Annahmen zu treffen und Hypothesen über mögliches Verhalten zu formulieren“. Auf dieser Grundlage können Experimente für die kommende Periode entwickelt werden, die in der nächsten Retrospektive ausgewertet werden (vgl. ebd.). Es geht darum, in der nächsten Phase, im nächsten „Sprint“ etwas auszuprobieren und dann wieder zu schauen, ob es zum gewünschten Ergebnis geführt hat.
Das obige Beispiel aufgreifend, stellt sich zunächst die Frage, welche Erwartung durch gemeinsame Teambesprechungen erfüllt werden soll. Denn mal ehrlich: Braucht es wirklich immer gemeinsame Teamsitzungen? Ja, wenn sie einem Ziel dienen und gut organisiert sind. Nein, wenn sie nur der Informationsvermittlung (oder der Profilierung der Führungskraft) dienen. Wenn deine Teamsitzungen besser E-Mails wären, dann schreibe lieber E-Mails.
Es ist klar, dass die Lösung nicht auf der Hand liegt. Hier gilt es, eine Hypothese zu entwickeln und in der nächsten Retrospektive zu überprüfen. Denkbar wäre zum Beispiel: Wenn wir die Teams so umgestalten, dass jede Mitarbeiterin nur für einen Arbeitsbereich zuständig ist, verbessert sich die Kommunikation in den Teams. Das lässt sich – wenn auch nicht anhand des ZDF, so doch anhand der Schilderungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – in der nächsten Retrospektive überprüfen und wiederum weiterentwickeln. Ach ja: Zu jeder Maßnahme gehört ein Verantwortlicher und möglichst ein Termin für die Umsetzung. Das wird oft vergessen.
Übrigens: Spätestens in der zweiten Retrospektive sollte Zeit eingeplant werden, um die Umsetzung der in der letzten Retrospektive erarbeiteten Lösungen zu betrachten. Nur wenn die umgesetzten Maßnahmen betrachtet werden, kann eine Verbesserung erfolgen. Erst dann kann das oben angesprochene „inspect and adapt“ und damit gemeinsames Lernen wirklich lebendig werden.
Als Tipp zum Weiterlesen für die Frage, wie Du am Besten welche Entscheidung triffst, empfehle ich Dir das „Handbuch der Entscheidungen“ (…lohnt sich nicht nur im beruflichen Kontext).
Abschluss, oder: Lernen lernen
Zum Schluss noch ein paar Worte zum Abschluss, sozusagen eine doppelte Abschlussschleife. Und diese Schleife, der Abschluss der Retrospektive also, bezieht sich auf die Retrospektive selbst. Neben dem Festhalten der erarbeiteten Ergebnisse tragen z.B. folgende Fragen zur Entwicklung der Retrospektive selbst bei:
- Was war gut?
- Was muss bei der nächsten Retrospektive besser sein?
- Gibt es noch offene Aspekte, die nicht angesprochen wurden?
Ziel ist, die Retrospektive immer weiter zu verbessern, um so effizient und effektiv wie möglich zu arbeiten.
Retrospektiven durchführen, oder: Warum Kontinuität entscheidet!
Ein Kern des agilen Arbeitens ist das interaktive Vorgehen in kurzen Schleifen, die in der Scrum-Methode als Sprints bezeichnet werden und zwischen einer und vier Wochen dauern. In unseren meist weniger dynamischen Arbeitsfeldern können auch Zeiträume von ein bis drei Monaten ausreichen, um noch gut und sicher navigieren und Anpassungen vornehmen zu können. In der Strategieumsetzung umfassen die Sprintzeiträume mindestens ein Quartal, vielleicht sogar ein halbes Jahr.
Aber egal wie lang die Zeiträume sind, die betrachtet werden: Wichtig ist, dass die Retrospektiven regelmäßig durchgeführt werden. Zwar lernt man auch aus der ersten Retrospektive, aber ein wirklicher Lernprozess entsteht erst durch die kontinuierliche Wiederholung.
Erst wenn Retrospektiven als Normalität empfunden und kontinuierliche Reflexion in die Unternehmenskultur übergeht, kommen wir der lernenden, anpassungsfähigen und damit agilen Organisation wirklich näher.
In diesem Sinne:
Happy Learning!
P.S.: Führst Du in deinem Team aktiv und regelmäßig entsprechende Retrospektiven durch? Schreib deine Erfahrungen doch gerne in die Kommentare…
Quellen:
- Dräther, R. (2014): Retrospektiven – kurz & gut. O’Reilly Media. Kindle-Version.
- Wagner, L. (2018): Retrospektiven – wir entwickeln uns weiter. In: Agile Verwaltung – Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann. Wiesbaden: Springer.
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