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Was ist Organisationskultur – eine Einführung

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Wahrscheinlich ist Dir schon aufgefallen, dass sich Organisationen der Sozialwirtschaft nicht einfach verändern lassen, oder? Aber woran liegt das? Neben den üblichen Beharrungskräften in Organisationsentwicklungsprozessen – wie bspw. dem Widerstand der Mitarbeitenden gegen Veränderung oder dem Drang sozialer Systeme nach Stabilität – verfolge ich hier die These, dass dafür auch und insbesondere die ausgeprägte Organisationskultur von Organisationen der Sozialwirtschaft verantwortlich ist. Aber: Was ist Organisationskultur?

Im Folgenden gehe ich dieser Frage aus systemtheoretischer Perspektive nach. Das ist aus meiner Sicht wichtig, weil (fast) immer, wenn über Probleme in Organisationen gesprochen wird – seien es Reibungen in der Zusammenarbeit, mangelnde Veränderungsbereitschaft oder Konflikte zwischen Teams und Abteilungen – der Begriff der „Organisationskultur“ sehr schnell fällt: „Wir müssen die Kultur verändern, damit wir…!“ oder „Wir brauchen eine andere Führungskultur, damit wir…!“

Mit dem „Flutschbegriff Kultur“ bzw. Organisationskultur hat jede:r ein eigenes Bild im Kopf, alle stimmen irgendwie zu und die Kommunikation „flutscht“ weiter – ohne das klar ist, was genau der Begriff eigentlich meint. Und vor allem wird nicht deutlich, was denn mit dieser „Organisationskultur“ eigentlich gemacht bzw. wie diese beeinflusst werden kann.


P.S.: Auch dieser Beitrag ist entstanden, weil ich in Workshops und Fort- und Weiterbildungen immer wieder ähnliche Ausführungen rund um die Frage der Organisationskultur mache und es sich – vielleicht – lohnt, sie hier zum Nachlesen zu hinterlassen. Der Beitrag knüpft an den Beitrag „Was sind Organisationen – eine Einführung“ an. Und wahrscheinlich werde ich perspektivisch weitere Auszüge aus Workshops und Fortbildungen (z.B. zu den Besonderheiten sozialer Organisationen) hier niederschreiben.


Organisationskultur – was ist das eigentlich?

Wie gesagt: Fast immer, wenn über Probleme in Organisationen gesprochen wird – seien es Reibungen in der Zusammenarbeit, mangelnde Veränderungsbereitschaft oder Konflikte innerhalb oder zwischen Teams und Abteilungen – fällt der Begriff der „Organisationskultur“ sehr schnell. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, lohnt ein vertiefender Blick auf Organisationskultur aus systemtheoretischer Perspektive.

In populären Managementdiskursen und selbst der Organisationswissenschaft wird Organisationskultur unterschiedlich definiert und häufig auf grundlegende Annahmen, „Haltungen“, das Mindset der Mitarbeitenden“, die im Leitbild dargestellten Werte, Artefakte, das „Organisationsklima“ oder gar das Verhalten einzelner Personen reduziert (Kühl, 2018: 8). Systemtheoretisch gedacht, greift das aber zu kurz.

Um der Organisationskultur aber näher zu kommen, ist einführend wieder auf die drei Seiten der Organisation (Schauseite, formale Seite und informale Seite) und die vier verschiedenen Typen formaler Organisationsstrukturen (Zweckprogramme, Konditionalprogramme, Kommunikationswege und Personal) zu verweisen. Genauer beschrieben habe ich das im Beitrag „Was sind Organisationen – eine Einführung“.

Mit Blick auf die Organisationskultur müssen die sog. Entscheidungsprämissen genauer betrachtet werden.

Entscheidungsprämissen – was ist das schon wieder?

Das ist recht einfach erklärt:

Immer dann, wenn mehrere Menschen versuchen, miteinander auszukommen, bilden sich gegenseitige Erwartungen heraus. Eine Erwartung ist bspw., dass man sich in der Schlange an der Kasse nicht vordrängelt, alle Menschen in einem Workshop mehr als eine Unterhose tragen, sich beim Betreten eines Raums kurz grüßen oder während eines Gesprächs nicht dauernd auf’s Handy schauen.

„Könnte man als Mensch nicht auf diese Stützen sozialer Erwartungen – man könnte auch sagen: auf diese sozialen Strukturen – zurückgreifen, wäre das Leben ziemlich kompliziert, wenn nicht gar unmöglich“ (Kühl, 2018a: 10).

Die sozialen Erwartungen definieren aber nicht, wie genau man zu handeln hat, sondern liefern immer einen gewissen Spielraum: Man kann auch nicht grüßen, sich vordrängeln oder nur mit (oder sogar ohne) Unterhose zum Workshop gehen. Man muss dann aber die Konsequenzen tragen.

Soziale Erwartungen können sich in zwei Formen ausbilden – „entweder, indem über diese Erwartungen durch ein Management, einen Gesetzgeber oder ein Familienoberhaupt entschieden wird oder indem sich die Erwartungen, ohne dass sie jemals klar entschieden werden, allein durch Imitationen und Wiederholungen einschleichen“ (ebd.). Hier kommen also Entscheidungen ins Spiel.

Entscheidungsprämissen sind dann die grundlegende Entscheidungen, die als Voraussetzung (Prämisse) für dann folgende Entscheidungen verwendet werden. Sie schränken die Auswahlmöglichkeiten für weitere Entscheidungen ein, ohne jedoch die folgenden Entscheidungen ganz genau festzulegen. Kurz gesagt sind Entscheidungsprämissen die Spielregeln, die das Spiel (nicht nur in Organisationen) regeln (vgl. näher hier).

Mit dem Blick auf Organisationen, auf die drei Seiten und die vier verschiedenen Typen formaler Organisationsstrukturen werden diese Entscheidungsprämissen und damit die Spielregeln deutlich:

Darüber wird definiert, was in einer Organisation als erwartbar gilt.

Und wenn über das, was als erwartbar gilt, nicht formal entschieden wurde, sind wir bei der Organisationskultur.

Organisationskultur sind die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen

Diese „nichtentschiedenen Entscheidungsprämissen“ sind – im Gegensatz zu den Verhaltenserwartungen, über die formal entschieden wurde (formale Seite) – auch eine Form von Struktur:

Es sind Verhaltenserwartungen, über die nicht entschieden wurde, sondern die sich durch häufige Wiederholungen ausgebildet haben: Erst dann, wenn ein bestimmtes Verhalten nicht nur bei eine:r einzigen Mitarbeiter:in als „Ausnahme“ beobachtet werden kann, sondern sich als erwartbar eingeschlichen und etabliert hat, hat es den Status einer informalen Erwartung und wird damit zur „Kultur“.

Als Beispiel wird die Nutzung des kurzen Dienstweges erst dann zur Kultur, wenn dieser immer wieder genommen wird. Genauso wird die Nicht-Einhaltung von gemeinsamen Vereinbarungen im Team erst dann zu einer „Kultur der Unverbindlichkeit“, wenn die Vereinbarungen wiederholt nicht eingehalten werden.

Wenn man noch etwas genauer hinschaut, muss Organisationskultur im Sinne der „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ noch weiter auseinander genommen werden – und zwar in a) Entscheidungsprämissen, „die prinzipiell unentscheidbar sind und sich deswegen grundsätzlich einer Überführung in eine entschiedene Entscheidungsprämisse entziehen, und in b) Entscheidungsprämissen, die nicht entschieden sind, aber prinzipiell entscheidbar wären“ (ebd., 17):

Zu a): Prinzipiell unentscheidbare Entscheidungsprämissen werden bspw. deutlich, wenn Organisationen versuchen, „Herzlichkeit“ im Umgang mit Angehörigen, die „Innovationskultur“ oder den „wertschätzenden Umgang“ untereinander anzuordnen. All das mag vielleicht toll klingen – formal entscheidbar ist das alles nicht.

Zu b): Prinzipiell entscheidbar ist hingegen all das, was von Seiten der Organisation auch in formale Mitgliedschaftsbedingungen gegossen und bei Nichteinhaltung sanktioniert werden kann bzw. könnte. Als Beispiel kann (und wird meistens) der genaue Arbeitsbeginn klar festgelegt werden. Wenn dieser jedoch nicht festgelegt ist, kann sich eine „Kultur“ einschleichen, in der die Mitarbeitenden „kommen, wann sie wollen“ – mit allen damit einhergehenden positiven und negativen Effekten. Genauso kann die Kultur der Verbindlichkeit über die Festlegung von Sanktionen bei Nichteinhaltung beeinflusst geregelt werden. Konkret lässt sich zum Beispiel festlegen, dass die Vereinbarungen für alle transparent festgehalten werden und in jeder Teamsitzung gemeinsam überprüft wird, ob die Vereinbarungen eingehalten wurden.

Die Unterscheidung zwischen nichtentschiedenen, aber prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen und prinzipiell unentscheidbaren Entscheidungsprämissen mag wie „Haarspalterei“ klingen, ist aber wichtig, da erst darüber deutlich wird, wo in Organisationen bzw. Teams und Abteilungen welche Möglichkeiten zur Beeinflussung der Organisationskultur liegen.

Wichtig ist außerdem, dass in Organisationen immer eine wie auch immer geartete Organisationskultur existiert. Denn selbst dann, wenn alle prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen tatsächlich entschieden wurden, verbleiben die prinzipiell unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als Organisationskultur. Ach ja:

Der Versuch, alle prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen tatsächlich zu entscheiden, führt zu überformalisierten Organisationen, in denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich die Mitarbeitenden auf den „Dienst nach Vorschrift” zurück ziehen. Und der reine Dienst nach Vorschrift ist die bekanntermaßen effektivste Streikform. M.a.W. wäre „eine vollkommen transparente und formalisierte Organisation, die keine Spielräume hätte, informell Entscheidungen zu treffen, (…) nicht existenzfähig“ (Merkes/Eidenschink, 2021: 78).

Noch einmal kurz zusammengefasst folge ich hier dem Gedanken von Kühl (2018: 30): Organisationskultur wird demnach als die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen definiert.

Mir gefällt daran neben der Präzisierung des Begriffs auch, dass über diesen Blick auf Organisationskultur deutlich wird, dass eine Organisation auch mehrere, teils ganz verschiedene Kulturen und nicht nur die eine Organisationskultur haben kann. Denn je nach Team, Bereich, Standort etc. können andere Entscheidungsprämissen nicht entschieden sein.

Und diese Kulturvielfalt wird vielen Menschen, die mit den oftmals hochgradig dezentral organisierten Organisationen der Sozialwirtschaft zu tun haben, bekannt vorkommen.

Möglichkeiten zur Beeinflussung der Organisationskultur

Was lässt sich in Organisationen bewusst entscheiden und damit gestalten? Gehört die Organisationskultur dazu? Falls das nicht so einfach sein sollte: Welche Ansatzpunkte und Möglichkeiten haben Führungskräfte und Organisationsentwickler:innen, um trotzdem Einfluss auf die Organisationskultur zu nehmen?

Dazu ist wieder hilfreich, die schon angesprochenen vier verschiedenen Typen von Organisationsstrukturen, die nicht umsonst in der Systemtheorie als entscheidbare Entscheidungsprämissen bezeichnet werden, zu unterscheiden:

  1. Zweckprogramme: Programme legen fest, „was man in einer Organisation tun darf und was nicht” (ebd.). Sie lassen sich untergliedern in Konditionalprogramme und Zweckprogramme. Zweckprogramme legen fest, welche Ziele oder Zwecke erreicht werden sollen. Hier geht es um die in der Organisation oder im Team festgelegten Zwecke, von mir aus auch um die „Mission“. Die Mittel zur Erreichung der Zwecke werden nicht näher definiert und es werden auch keine genauen Prozesse beschrieben, die aufzeigen, wie die Ziele bzw. Zwecke zu erreichen sind.
  2. Konditionalprogramme definieren hingegen, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird. Kurz formuliert sind alle vorgegebenen und (meist) verschriftlichten Regeln und Prozesse („Wenn X passiert, ist Y zu tun!“) Konditionalprogramme.
  3. Kommunikations- oder Entscheidungswege zeigen sich in den Organigrammen und legen fest, wer wem etwas sagen bzw. entscheiden kann, ohne dass dies angezweifelt wird. Beispiele für Entscheidungswege sind Hierarchien, Mitzeichnungsrechte oder auch Teams, Abteilungen oder die Kommunikationswege in temporär gebildeten Projektgruppen.
  4. Personal: Organisationen können darüber entscheiden, wen sie einstellen, entlassen, weiterbilden oder intern versetzen. Diese Personalentscheidungen sind wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen in der Organisation. Denn es macht für künftige Entscheidungen einen Unterschied, welche Person (mit welchen Kompetenzen) eine bestimmte Stelle besetzt.

„Programme, Kommunikationswege und Personal lassen sich als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen“ (Gesmann, Merchel, 2021, 37).

Wenn aber nur über Programme, Kommunikationswege und Personal entschieden werden kann, folgt daraus, dass über die Kultur nicht direkt und formal entschieden werden kann:

Kurze Dienstwege oder neue Ideen können ebenso wenig angeordnet oder strukturell verankert werden wie der regelmäßige Besuch der Currywurstbude zur Mittagspause, das „agile Mindset” der Mitarbeitenden, der wertschätzende Umgang oder die Verbindlichkeit in der Einhaltung von Vereinbarungen. Und selbst die Erarbeitung von toll klingenden Leitbildern oder die Durchführung von „Kulturworkshops“ vermitteln allerhöchstens eine Steuerungsillusion, verändern die Kultur aber kaum – wenn überhaupt. Möglich ist hingegen die Beobachtung von Kultur.

Auf dieser Beobachtung aufbauend können Rahmenbedingungen geschaffen bzw. Entscheidungen getroffen werden, die die Entwicklung von gewünschten Kulturen begünstigen (oder auch behindern). Dazu gehört z. B. die Wahrnehmung von und der Umgang mit expliziten und impliziten Regeln, die Entscheidung über Kommunkationswege (bspw. der Abbau formaler Hierarchien oder die Zusammenlegung von Teams) oder auch die Entscheidung darüber, welche Person welche Rolle in der Organisation übernimmt.

All das wiederum hat dann Auswirkungen auf die Organisationskultur. Fraglich ist nur, welche Auswirkung genau…

Fazit und die Kultur von Organisationen der Sozialwirtschaft

Deutlich wurde, dass der etwas nüchterne Blick der Systemtheorie auf Organisationskultur und das Verständnis von Organisationskultur als die „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ hilfreich sein kann. Denn er macht deutlich, was Kultur ist und wie diese beeinflusst werden kann – ohne jedoch in unrealistische Steuerungsphantasien abzugleiten. Denn:

Beeinflussen heißt nicht „Vorgeben“, sondern eher Verführen: Über die Gestaltung der Formalstruktur lässt sich versuchen, die Kultur in die gewünschte Richtung zu bewegen. Und dazu ist es immer wieder nötig, zu beobachten, zu entscheiden und die getroffenen Entscheidungen umzusetzen – Führung eben.

Falls Du Dich für die Besonderheiten der Kultur von Organisationen der Sozialen Arbeit interessierst, empfehle ich zum Weiterlesen den Beitrag rund um die dominierende Informalität.

Quellen

  • Gesmann, Stefan, und Joachim Merchel. Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2019.
  • Kühl, S. (2018): Organisationskultur. Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive. Managementforschung 28, S. 7 – 35.
  • Kühl, S. (2018a): Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Merkes, Ulrich, und Klaus Eidenschink. Entscheidungen ohne Grund – Organisationen verstehen und beraten Eine Metatheorie der Veränderung. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021.

Wie es gelingt, eine Kultur der Verbundenheit zu etablieren (und welche Rolle Verbindlichkeit dabei spielt)

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Es ist schon spannend, oder? Viele Unternehmen versuchen über Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Organisationskultur, über großartig klingende Leitbilder, intensive Mitarbeitergespräche, über aufwendige Befragungen der gesamten Belegschaft und viele weitere Aktionen die Verbundenheit zur eigenen Organisation und zur eigenen Arbeit im Alltag zu erhöhen. Der Aufwand, den viele – auch soziale – Organisationen in diesem Bereich betreiben, ist hoch. Und dann kommt eine Pandemie, eine echte, ernsthafte Krise, die alles von den Mitarbeiter*innen, den Führungskräften und der gesamten Organisation abverlangt. Und ganz aktuell kommt auch noch der Ukraine-Krieg hinzu. Dabei ist noch unklar, was uns und Ihnen abverlangt werden wird. Zweifelsohne waren die Anstrengungen in der Krise mehr als belastend. Und sie sind es immer noch. Aber: Die Verbundenheit zur Organisation in der Krise steigt – zumindest kurzfristig. Wie aber kann es gelingen, diese Verbundenheit langfristig zu behalten und eine Kultur der Verbundenheit zu gestalten?

Dazu findest Du hier einige Gedanken, die ich als Impuls auf einer Führungskräfteklausur eines großen, sozialen Trägers einbringen durfte.

Arbeiten im Krisenmodus

In meinen Gesprächen und Beratungen in vielen Organisationen konnte ich feststellen, dass Zusammenhalt und Verbundenheit im Team, in der Abteilung, in der Gesamtorganisation in dieser Krise zugenommen hat.

Die Arbeit im Krisenstab, der regelmäßige, schnelle Austausch, auch Entscheidungen, die noch vor wenigen Wochen, Monaten, geschweige denn Jahren undenkbar gewesen wären, haben gezeigt, dass es in der Krise zählt, zusammenzustehen! Die aktuellen, dramatischen politischen Entwicklungen zeigen Ähnliches auf europäisches Ebene: Eine höhere Solidarität und ein höheres Gemeinschaftsgefühl gab es selten. Selbst die totgeredete NATO ist lebendiger denn je (auch wenn ich ko… könnte, dass ein Krieg und die damit einhergehenden massiven Massnahmen Auslöser dafür sind).

Klar ist aber: In der Krise müssen, können und wollen wir gemeinsam das Chaos bewältigen!

Ja, natürlich, das ist auch pauschal und funktioniert längst nicht immer!

Natürlich gab und gibt es auch gegenteilige Entwicklungen:

Homeoffice, digitale Arbeit und digitale Führung, – gerade im sozialen Bereich waren wir das nicht gewohnt –  führten, schlecht umgesetzt, auch zu Entfremdung und offener oder versteckter Distanzierung.

Und aktuell erlebten wir in der Gesellschaft Spaltungstendenzen, ein Auseinanderdriften mehr oder minder sachlich begründeter Meinungen, angefeuert durch die Debatten um die „richtigen“ Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie.

Innerhalb der Organisationen spitzen sich die Diskussionen zu, wenn es um die einrichtungsbezogene Impfpflicht geht. Wir beobachten:

Teams driften auseinander, Menschen, die vorher gemeinsam (und oft gut) miteinander gearbeitet haben, sprechen nicht mehr miteinander, beschimpfen sich, können oder wollen die Haltungen und Meinungen der jeweils anderen Seite nicht verstehen.

Lebensrelevanz

Hier will ich aber bei den positiven Auswirkungen der Krisenbewältigung bleiben (nicht: den positiven Auswirkungen der Krise. So finde ich den Ausspruch der „Krise als Chance“ ziemlich unpassend, da die Auswirkungen zu dramatisch sind und waren).

In vielen Gesprächen und Beratungen, die ich mit Menschen und in den unterschiedlichsten Sozialen Organisationen geführt habe, wurde in den letzten Monaten sehr klar erkannt und bekannt:  

Jetzt müssen wir ran, jetzt sind wir, die Mitarbeiter*innen und die Führungskräfte im Sozialwesen, gefordert. Jetzt, in der Krise, ist es Zeit, die uns anvertrauten Menschen in unseren Organisationen, Mitarbeiter*innen, vor allem aber unsere Klient*innen bestmöglich zu schützen und zu unterstützen!

Diesbezüglich hat sich – nicht zu Unrecht – der Begriff der „Systemrelevanz“ unserer Branche etabliert.

Da kann man schon mal klatschen, finde ich… ;-/

Dieser “neue” Begriff der Systemrelevanz trifft die Aufgabe zwar schon recht genau, aber aus meiner Sicht ist er zu schwach, sowohl in der Aufgabenbeschreibung wie in seinem Aufmerksamkeitswert:

Natürlich sind soziale Organisationen dafür da, das System, die Gesellschaft am Laufen zu halten (der Hinweis auf das Triple-Mandat Sozialer Arbeit sei hier nur kurz angeführt).

In vielen Fällen und gerade in stationären Einrichtungen der Arbeit mit Menschen mit Behinderung, mit alten Menschen und auch in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geht es um mehr als Systemrelevanz.  Hier geht es um weit mehr:

Es geht um “Lebensrelevanz“!

Ja, und häufig geht es in unseren Organisationen sogar um “Überlebensrelevanz”!

Menschen in Sozialen Berufen haben in den letzten beiden Jahren mit aller Kraft versucht, das Überleben der anderen sicherzustellen. Das ist weit mehr als Systemrelevanz.

Und oft waren sie sich in dieser Aufgabe sehr nah, sehr miteinander verbunden.

Was aber liegt hinter der häufig spürbaren, häufig gewachsenen Verbundenheit in der Krise? Was bedingt, dass plötzlich alle oder zumindest fast alle Menschen in der Organisation „an einem Strang“ gezogen haben und dann auch noch in eine Richtung?

Was führt zur Verbundenheit in der Krise?

Ein Aspekt liegt auf der Hand: Im Vordergrund steht die gemeinsame Aufgabe. Der Zweck des Handelns in der Krise ist klar. In der Krise wird unmittelbar deutlich, um was es geht. Es geht um mehr als um einen beliebigen Job!

Die Diskussionen über das gemeinsame Ziel sind damit obsolet. Denn das gemeinsame Ziel liegt unmittelbar, offen-sichtlich, schmerzlich sichtbar vor uns: Krisenbewältigung! Wir müssen gemeinsam gut durch die Krise kommen!

Spannende Frage in diesem Zusammenhang:

Trägt das Fundament unserer wechselseitigen Beziehungen – auch in der Krise?

Ohne eine stabile Beziehungsbasis besteht die Gefahr, dass sich die Menschen in der Krise nicht auf das gemeinsame Ziel fokussieren, sondern einzig und allein auf die Rettung der eigenen Haut.

Hier lassen sich auch persönliche, innerfamiliäre Entwicklungen feststellen: In der Krise hat das engste Umfeld, haben Familie und Freunde Priorität. Das sind die Menschen, zu denen man die engste Beziehung hat.

Hier ein kleiner Filmausschnitt, den Du vermutlich kennst: Es ist die Schlussszene aus dem Film „Der Club der toten Dichter“.

Der Clip zeigt, wie stabil das Fundament der Beziehung der Schüler zu ihrem Lehrer ist. Ohne diese Basis, ohne die tiefe, innige Beziehung wäre niemand aufgestanden! Niemand hätte sich den formalen Vorgaben, den Regeln widersetzt!

Der Filmausschnitt zeigt aber auch, dass es manchmal notwendig, ja, unumgänglich ist, Dinge anzusprechen, die nicht der Regel, nicht der Kultur, nicht dem Mainstream entsprechen.

Nur dann, wenn es möglich ist, Dinge anzusprechen, die im tiefen Inneren verborgen liegen, kommt alles zur Sprache, was wichtig ist, um eine Situation, eine problematische Aufgabe, ja auch eine Krise gemeinsam zu bewältigen.

Wie lässt sich Verbundenheit über die Krise hinaus in der täglichen Arbeit gestalten?

Für den Arbeitsalltag als Führungskraft ist es wichtig, von Machbarkeitsfantasien Abstand zu nehmen:

Verbundenheit ist nichts, was sich gesteuert herstellen lässt!

Beziehung lässt sich nicht verordnen – unabhängig von der Position in der Hierarchie, unabhängig von “formalen” Macht.

Führungsaufgabe ist vielmehr, die Bedingungen und Strukturen zu gestalten, in denen Beziehung, in denen Verbundenheit erlebt und neu gelebt werden kann!

Und eine der Grundbedingungen für gelingende Beziehung der Menschen untereinander ist es, psychologisch sichere Gesprächsräume – Dialogräume zu schaffen.

Mit Dialogräumen – ich habe das im verlinkten Beitrag ausführlich beschrieben – meine ich Räume und Zeiten, in denen sich die Mitarbeiter*innen psychologisch sicher fühlen, Dinge anzusprechen, die ggf. nicht dem Mainstream, ggf. nicht der offiziellen Linie der Organisation entsprechen.

In derartigen Räumen und Zeiten muss es möglich sein,

  • Fragen zu stellen,
  • neugierig zu sein,
  • eigene Fehler zuzugeben,
  • unbequeme Informationen zu teilen,
  • oder auch Position gegen einen Vorschlag einer hierarchisch übergeordneten Person, Gruppe oder Stelle zu beziehen.

In den Dialogräumen ist es notwendig, echtes Zuhören gelingen zu lassen.

Zuhören bedeutet hier mehr, als den Fokus (nahezu) ausschließlich auf Daten und Fakten zu legen. Natürlich ist es auch im Bereich der “Daten und Fakten” wichtig, bewusst Unterschiede und Widersprüche zum Gewohnten wahrzunehmen und zu versuchen, diese mit gewohnten Mustern zu verknüpfen. Ganz klar: die sachliche Auseinandersetzung über Daten und Fakten öffnet das (logische) Denken. Dies ist aber nur die erste Ebene.

Die relevante (und leider oft zu wenig beachtete) Ebene des Zuhörens ist die Öffnung des Fühlens. Hier kommt Empathie ins Spiel und der Versuch, den Anderen wirklich, man könnte auch sagen: vollständig wahrzunehmen.

Erst wenn das Konkurrenzdenken überwunden wird, wenn das gemeinsame Lernen in den Vordergrund rücken, können die Beziehungen der einzelnen Stakeholder und das größer werdende Vertrauen einen echten Dialog auf Augenhöhe und – in seiner Folge –  vor allem gegenseitiges Verstehen ermöglichen.

Aus der Öffnung des Fühlens und des damit einhergehenden gegenseitigen Verständnisses der Menschen können dann neues Handeln, neue Ideen, echte Weiterentwicklung, tatsächlicher Fortschritt entstehen.

Hier wiederum der Hinweis auf die Theorie U, in der dieses Vorgehen umfassend dargelegt ist.

Konkret bedeutet dies, dass es – vor allem, aber nicht nur in konfliktbehafteten Situationen – Regeln bedarf, an die man sich in den Gesprächen verbindlich halten muss. Es gilt, den Mitgliedern eines Teams vorab definierte und damit für alle gleiche Redeanteile zuzugestehen – unabhängig von der hierarchischen Position.

Das kann in gesonderten Runden sein, in explizit einberufenen, zu bestimmten Themen stattfindenden Dialogräumen. Das kann aber auch im Alltag, bspw. in den gemeinsamen Teamsitzungen sein.

Hier lohnt sich eine Abwandlung des für Paare konzipierten „Zwiegesprächs, das nach festen Regeln jedem Partner feste und gleiche Redeanteile zuweist, um in verzwickten Situationen wieder zueinander finden zu können.

Agile Arbeit in einer Kultur der Verbundenheit verbindlich gestalten

Abschließend lohnt sich noch einen Blick auf die aktuellen Diskussionen rund um agiles Projekt-Management, agile Führung und die Arbeit in zunehmend selbstbestimmt agierenden Teams:

In den aktuell alle Bereiche unseres Lebens tangierenden dynamischen und komplexen Veränderungen, auf privater, beruflicher wie sich auf gesellschaftlicher Ebene, ist es entscheidend, schnell und anpassungsfähig zu agieren.

Die Entwicklungen der Pandemie in den letzten beiden Jahren haben die sowieso schon vorherrschende Veränderungsgeschwindigkeit auf noch mal ein neues Level gehoben und der Krieg in der Ukraine zeigen, dass wir ganz bestimmt nicht in ruhigere Zeiten kommen werden.

Und gerade in diesen komplexen Settings, wo der Weg zum Ziel ebensowenig klar ist wie das Ziel selbst, lohnt sich agiles Arbeiten.

Voraussetzung für agile Arbeit sind (mindestens) zwei Aspekte, die ich hier betonen will:

Zum einen ist Kern agilen Arbeitens, sich in kurzen Iterationen, Schleifen lernend voranzubewegen.

Nicht mehr das vorab definierte Ziel steht im Vordergrund und muss auf Teufel komm raus erreicht werden, sondern die Anpassung an sich verändernde Bedingungen und das schnelle Nachsteuern und Reagieren auf neue Entwicklungen ist relevant.

In der Projekt- und Angebots-, aber auch in der Organisationsentwicklung reden wir von Iterationen, die nur ein paar Wochen umfassen, in der Strategieentwicklung und -umsetzung können die Schleifen auch Quartale oder noch etwas längere Zeiträume umfassen. Wichtig ist, nach den Zeitintervallen Retrospektiven durchzuführen und gemeinsam zu lernen!

Zum anderen ist relevant, dass die für die selbstbestimmte Arbeit innerhalb der Zeitintervalle festgelegten Bedingungen, Regeln und Vorgaben verbindlich von allen Beteiligten eingehalten werden. Dabei stellen sich bspw. folgende Fragen, die vorab zu klären sind:

  • Wann werden die Fortschritte überprüft?
  • Wann finden Retrospektiven statt?
  • Wann werden Ergebnisse geteilt?
  • Über welches Medium kommunizieren wir unsere Arbeit?
  • Wer entscheidet über Änderungen?

All dies ist vorab zu klären und dann verbindlich einzuhalten.

Das heißt nicht, dass diese Regeln und Vorgaben in Stein gemeißelt sind und nicht mehr verändert werden dürfen. Aber für einen wiederum vorab definierten Zeitraum müssen sich alle Beteiligten verbindlich an die vorab definierten Regeln halten. Sonst kommt es zur Beliebigkeit.

Beliebigkeit aber macht es unmöglich, Fortschritte und Auswirkungen der Arbeit auf bestimmte Ursachen zurückzuführen. Beliebigkeit führt dazu, dass irgendwer irgendwas irgendwie macht und daraus vielleicht – vielleicht aber auch nicht – Entwicklung geschieht.

Interessant ist noch ein Blick auf die sog. Scrum-Werte, also Werte, die grundlegend für ein „Funktionieren“ der Methode Scrum sind und für ein guten Umgang miteinander und für (psychologische) Sicherheit sorgen sollen. Die fünf Scrum-Werte sind:

  • Mut,
  • Fokus,
  • Offenheit,
  • Respekt und
  • Verbindlichkeit.

Damit soll der angesprochenen Beliebigkeit innerhalb der selbstbestimmt agierenden Teams, die die Methode Scrum nutzen, entgegnet werden.

Denn Beliebigkeit führt vor allem dazu, dass die Verbundenheit zur Arbeit und zu den Menschen im beruflichen Umfeld leidet.

Wenn ich mich nicht mehr auf das verlassen kann, was vorab ausgemacht wurde, verliere ich das Vertrauen – in die Menschen, die Arbeit, die Organisation. Und verloren gegangenes Vertrauen untergräbt jede Beziehung und damit die Annäherung an Verbundenheit!

Sehr schmerzlich haben wir das, diesen Bruch und das damit einhergehende fehlende Vertrauen in den letzten Wochen auf internationaler Ebene erleben dürfen. Alle vorab definierten Regeln wurden gebrochen.

Damit wurde jegliche Verhandlungsoption aufgegeben und jegliches Vertrauen zerstört.

Eine Kultur der Verbundenheit entwickelt sich durch Verbindlichkeit

Abschließend will noch einmal zusammenführend:

Die Herstellung von Verbindlichkeit, das Einhalten von Vorgaben, gilt – neben dem agilen Arbeiten – auch für die vorab beschriebenen Gesprächsräume. Sie machen es möglich, sich trotz auch massiver Meinungsverschiedenheit wieder näher zu kommen, wieder zu einer gemeinsamen Verbundenheit zu kommen. 

Zu dem, was wirklich zählt!

Verbundenheit braucht Verbindlichkeit gegenüber vorab gemeinsam definierten Regeln und Strukturen, die einen Rahmen schaffen, wie wir miteinander sprechen und Zusammenarbeit gestalten wollen. Daraus entwickelt sich eine trag- und zukunftsfähige Kultur der Verbundenheit in Organisationen.


P.S.: Was tust Du in Deiner Organisation, um eine Kultur der Verbundenheit herzustellen? Schreib es doch kurz in die Kommentare, würde mich sehr freuen!

Und wenn Du auf der Suche bist nach jemandem, der einen inspirierenden Impuls auf der nächsten Veranstaltung Deiner Organisation hält, dann sprich mich gerne an und wir schauen, was ich für Dich tun kann.

Zwischenruf: Das New Work Dilemma!

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Diese ganze New Work Kiste – etwas abfällig formuliert – hat ein Problem. Einerseits gibt es viele großartige Initiativen dazu, viel Content im Netz, viele gute Ideen und Konzepte. Andererseits – gerade mit Blick auf „meine“ Branche, die Sozialwirtschaft – zeigen sich enorme Umsetzungsprobleme. Umsetzungsprobleme, die sich darin äußern, dass sich die Arbeit, die Arbeitsgestaltung in den Organisationen selbst kaum verändert. Das „New Work Dilemma“!