Der Rhythmus fehlt, überall. Keine Feste, keine Feiern, kein Rahmen, kein Wochenende, kein Anfang, kein Feierabend, kein Ende, in Sicht schon mal gar nicht. Jetzt ließe sich an dieser Stelle wunderbar über die Notwendigkeit von Ritualen, Rahmen, Rhythmen schreiben. Halt, Routine, der Wechsel zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Instabilität und Stabilität usw. Das sind alles hochgradig spannende Themen, die in der Entwicklung sozialer Systeme eine wesentliche Rolle spielen. Vielleicht komme ich mal dazu, etwas tiefer darauf einzugehen. Aber mich interessiert mehr, was der fehlende Rhythmus mit dem Inner Work von New Work macht, also mit der Wirkung auf uns Menschen. Oder besser: mit der Wirkung auf mich (aber vielleicht bleibt ja auch etwas, dass Du für Dich nutzen kannst).
Mein New Work wird brüchig
Für einen Beitrag habe ich mein New Work vor Kurzem definiert als ein Weg zur Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. In meinen New Work geht es um Freiheit und Verantwortung von Menschen mit dem Ziel, eine bessere Welt für alle zu gestalten. Mein New Work – das ist wohl wenig verwunderlich – orientiert sich damit stark am Grundgedanken von Frithjof Bergmann, der an keiner Stelle von Kickern, hippen Büromöbeln im Großraumbüro und Chai-Latte gratis zum MacBook spricht. Bergmann spricht von einer zukunftsfähigen Welt, die eben zu großen Teilen über die Kultur, wie wir arbeiten, bestimmt wird – New Work, New Culture. Aktuell titelt das Magazin ManagerSeminare, dass New Work größer gedacht und der gesellschaftliche Mehrwert von Unternehmen berücksichtigt werden sollte. Spannend, dass man überhaupt auf die Idee kommen kann, New Work ohne Gesellschaft zu denken…
In der Pandemie-Situation jedoch stelle ich fest, dass das mit der Selbstbestimmung alles andere als leicht ist: Da der Rahmen fehlt, der Rhythmus ins Stocken geraten ist, der Beat nicht mehr dropt 😉 und langsam, aber sicher selbst die Jahreszeiten ins Wanken geraten, werde ich auf mich selbst zurück geworfen. Das, was ich mir lange ersehnt habe, wird zu einer Zerreißprobe meines Vermögens, mich selbst auszuhalten. Der Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung zeigt in der Realität die Orientierungslosigkeit, die sich ergibt, wenn der Weg nicht selbst gewählt ist. Der Zwang, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, auf seine Gedanken, Möglichkeiten, Grenzen und schon allein nur darauf, seinen Tag gestalten zu müssen, führt an (meine) Grenzen der Belastbarkeit.
Es zeigt sich (nicht nur) in der Pandemie, dass wir nicht auf das Leben in Selbstbestimmung vorbereitet sind. (Fast) niemand hat gelernt, mit der Situation umzugehen, wenige, und dann immer die gleichen Menschen um sich zu haben. Wir sind es gewohnt, den Rhythmus vorgegeben bekommen zu haben. Und selbst den Ort, an dem wir uns aufhalten, wurde von außen, nicht zuletzt durch das Schul- und Bildungssystem sowie tayloristisch ausgelegte Organisationen bestimmt. Oder warum sind die Büros voll, obwohl jedem bewusst sein müsste, dass es keine gute Idee ist, in einer Pandemie in einem Großraumbüro zu sitzen? Warum sind die Staumeldungen so lang wie eh und je? Oder warum warten wir sehnsüchtig darauf, dass alles wieder normal wird?
Marcus Raitner schreibt in seinem aktuellen Beitrag von der Autonomiefalle der Wissensarbeiter. Diese schnappt zu, wenn in der Wissensarbeit ein Vakuum fehlender Vorgaben herrscht, „das jeder Wissensarbeiter nach bestem Wissen und Gewissen zu füllen versuchte. Diese teilweise verzweifelten Versuche, wenigstens ein lokales Optimum an persönlicher Produktivität zu finden nennt Cal Newport die Autonomiefalle der Wissensarbeit.“ Aus dieser Perspektive heraus sind wir (Wissensarbeiter*innen) angewiesen auf funktionierende Prozesse, die unsere Arbeit strukturieren. Marcus nennt die Methode Scrum als Beispiel, dessen Erfolg seiner Meinung nach darauf zurückgeht, „dass der Arbeitsablauf recht rigide strukturiert wird und viel weniger auf das konkrete Wie„, wodurch Fokus und Konzentration überhaupt wieder ermöglicht wird.
Mir gehen diese Gedanken auf einem Spaziergang (ja, ich könnte bei Gedanken an das Konzept Spazierengehen auch manchmal kotzen, aber frag mal meine Kinder…) über die Felder durch den Kopf und ich muss an einen befreundeten Landwirt denken, der seit vielen Jahren selbstbestimmt und oftmals allein, aber nicht einsam, auf seinem Traktor sitzt und seine Arbeit verrichtet (ja, Landwirt sein ist nicht so romantisch wie es vielleicht von außen wirkt). Ich denke weiter an die Menschen, die sich trauen, ihren Weg zu gehen, sich selbständig zu machen, Neues probieren, an den Schreiner, die Friseurin, die Freelancerin und den Erzieher, der sich traut, einen eigenen Kindergarten zu gründen. Ich denke an Menschen, die sich trauen, ihren Weg zu gehen, ohne Netz und doppelten Boden und (fast) ohne von außen vorgegebenen Rhythmus.
Ach ja, noch was: Als Vater, Ehemann und als Mensch, der selbständig und angestellt agiert, kommt hinzu, dass ich nicht nur mich selbst in der neuen, auf Selbstbestimmung zurückgeworfenen Situation aushalten muss. Ich muss – auch wenn das hart klingt – meine Frau, meine Kinder, meine Kolleg* innen und noch mehr Menschen aushalten, die in der gleichen Situation sind: Zurückgeworfen, auf sich selbst. Niemand von den Menschen, die um uns herum leben, hat sich die aktuelle Situation ausgesucht. Daraus kann auf der einen Seite Traurigkeit, Wut, Verzweiflung folgen, während auf der anderen Seite gerade Euphorie, Freude, Ruhe und Möglichkeiten vorherrschen. Und ich meine die Seiten des Küchentisches.
POSIWID, oder: Wie hält man New Work aus?
Wie aber hält man das aus? Ich spreche nicht vom Aushalten der Unsicherheit, die aktuell daraus resultiert, nicht zu wissen, wie Die Zukunft werden wird. Mir geht es vielmehr um die Frage, wie es aushalten kann, selbstbestimmt zu agieren, ohne dass einem jemand vorgibt, wie der Rahmen, die Rhythmen, die Rituale sind. Nein, ehrlicher: Wie es mir gelingen kann, selbstbestimmt zu agieren, ohne dass mir jemand vorgibt, wie der Rahmen, die Rhythmen, die Rituale sind? Wiederum ehrlich: Ich weiß es oft nicht. Ich glaube aber, dass es ein paar Hinweise gibt, die über Morgenroutinen, Tagesstrukturen, gesundes Essen und ausreichend Bewegung hinausgehen. Ich glaube, dass es Phasen gibt, Rhythmen eben, die mal gut, mal nicht gut sind. Das Zulassendürfen von guten Phasen, wenn es anderen schlechter geht ebenso wie das Aushalten von schlechten Phasen, obwohl es doch eigentlich gut ist, sind sicherlich erste Hinweise.
Hilfreich ist vielleicht auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen: Was will ich hier? Wo will ich hin? Und wenn ja, wie viele? Nein, ehrlich: Ich bin mir bei der Zieldiskussion nicht sicher: Mein Ziel ist es, dass es meiner Familie und mir gut geht. Dann folgt, dass ich so leben will, das ich mit meinem Wirken einen Mehrwert generiere. Beides gelingt mir, mal besser, mal schlechter, aber beides ist kein Ziel, sondern jeder Tag.
Vielleicht trifft es POSIWID ganz gut: „The purpose of a system is, what it does!“ (Stafford Beer): Wenn man außen herum alles Glitzer und Chichi wegnimmt, bleibt als Ziel, was man (als Element sozialer Systeme) tut. Daraus wiederum folgt, dass es Sinn aus sich heraus macht, morgens aufzustehen und weiterzumachen.
The end of new work as we know it…
Beides aber, das Zulassendürfen wie die Frage nach dem Ziel, setzt Reflexion voraus bzw. die bewusste Beschäftigung mit sich selbst und seinen Ängsten, Freuden, Möglichkeiten und Grenzen. Über diese Reflexion kann es vielleicht gelingen, näher zu dem zu finden, wie mein oder auch Dein eigenes New Work (für mich verstanden als selbstbestimmtes Leben in einer Welt im Wandel), aussehen und gelebt werden kann. Auch wenn ehrliche Reflexion manchmal harte Arbeit ist und dabei nicht unbedingt das New Work herauskommt, dass wir wollten?
Kommen wir über diese Reflexion vielleicht sogar zu einer Vorstellung von New Work, die so ganz anders ist, als all das, an was bei New Work bislang gedacht wird? Ist New Work aber nicht genau das: Nicht zu wissen, was New Work ist und sein kann? Damit wird New Work zum selbstbestimmten, autonomen Leben, bei dem auch niemand weiß, was genau das ist und wie es genau geht…
Doch noch etwas Organisationsentwicklung
Abschließend, zur Versöhnung, sozusagen, aber doch noch ein Gedanke, der mit der Gestaltung zeitgemäßer Organisationen und der Arbeitswelt der Zukunft zu tun hat: Es braucht Zeit, die Menschen, mit denen wir in unseren Organisationen zu tun haben, dabei zu begleiten, anders, neu, autonom und selbstbestimmt zu arbeiten. Die Einsicht ist nicht neu, gewinnt aber an Bedeutung, wenn wir auf die Herausforderungen blicken, mit denen wir, jede*r einzelne von uns, in der Anpassung an und im Umgang mit der aktuellen Situation zu kämpfen haben.
Vielleicht gelingt es uns in diesen für viele unsicheren Zeiten, mehr Verständnis aufzubringen für die oftmals völlig unterschiedlichen und sich kontinuierlich wandelnden Bedürfnisse der Menschen um uns herum? Nein, ehrlicher:
Vielleicht gelingt es mir?
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