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New Work und Verwaltung: Warum die kommunalen Verwaltung eine Schlüsselrolle einnimmt, wenn es um New Work geht

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Vor Kurzem habe ich mir den Spaß erlaubt, New Work und Verwaltung zusammen zu denken. Mehr noch: Ich habe behauptet, dass die kommunale Verwaltung einer der wesentlichen Player sei, wenn es um New Work ginge… Haha, lustige Reaktionen auf Twitter, verwunderte Gesichter im Rahmen des Kommunalcamps, bei dem ich die gleiche Behauptung in einer Session aufgestellt habe:

https://twitter.com/HendrikEpe/status/1447942453475033095

Aber ehrlich: Es war gar kein  Spaß!

Ich meine das ernst. Wirklich!

Wirklich, wirklich!

Aber ich glaube, ich muss verschriftlichen, was ich mit meiner These meine. Denn es gab zwar Reaktionen auf den Tweet, aber niemand hat gefragt, was ich unter dem inzwischen wirklich strapazierten Flutschbegriff „New Work“ verstehe.

Also braucht es eine Definition von New Work. Daran anschließend sind die Herausforderungen der kommunalen Verwaltung kurz in den Blick zu nehmen, um zu einem neuen Verständnis der Rolle der kommunalen Verwaltung in der Entwicklung hin zu New Work zu kommen.

Was ist New Work?

Wer mir länger folgt, weiß, dass ich gerne zwischen a) New Work im Verständnis zeitgemäßer Organisationsentwicklung und b) New Work im Sinne Frithjof Bergmanns unterscheide.

Zu a) Unter New Work im Verständnis zeitgemäßer Organisationsentwicklung fällt aus meiner Sicht alles, was dazu dient, Organisationen anpassungsfähiger für kontinuierlichen Wandel zu machen. Die agilen Methoden, selbstorganisierten Strukturen und sinngetriebenen Ausrichtungen von Organisationen zählen dazu. Interessant ist, dass zeitgemäße Organisationsentwicklung bestehender Organisationen im Kern auf systemische Organisationsentwicklungstheorien aufbaut. Auch wenn es schwer fällt: Richtig neu ist das nicht. Unabhängig davon bleiben die Entwicklungen hin zu zeitgemäßen Organisationen aber aktueller denn je.

Zu b): Bergmann hingegen ging es in erster Linie nicht darum, hippe Organisationen zu designen, sondern die Gesellschaft zu verändern und ein anderes Lohnarbeitssystem zu schaffen, um damit den Herausforderungen unserer Zeit besser begegnen zu können.

Und die Herausforderungen sind vielfältig:

Klimakrise; digitale Transformation; massiver Fachkräftemangel in lebensrelevanten Branchen wie Gesundheit, Pflege und Erziehung; ein Bildungssystem, das auf allen Ebenen keine Chance hat, Zukunft zu gestalten, obwohl es für die Ausbildung der Kinder, Jugendlichen, jungen und älteren Erwachsenen zuständig sein sollte; eine globale Krise der (industriellen) Landwirtschaft, Urbanisierungstendenzen, die auch von einer Pandemie nicht gebrochen werden konnten und so weiter und so fort…

Bergmanns Idee zur Bewältigung der Herausforderungen lautet (sehr kurz) zusammengefasst:

Selber machen!

New Work heißt selber machen

Über High-Tech-Selbstversorgung muss es zukünftig darum gehen, materielle Dinge selbst zu reparieren und/oder via 3D-Druck in lokalen communities, in maker- und coworking-spaces neu zu gestalten. Dadurch spart man Material, Kosten und CO2.

Aber auch bei immateriellen Dingen wie der Gestaltung von Pflege und Betreuung können wir angesichts hundertausender fehlender Fachkräfte nicht mehr auf „Institutionen“ oder „den Staat“ warten.

Auch hier geht es darum, Netzwerke zu kreieren – caring communities, die lokal und kleinräumig und vor allem autonom und selbstbestimmt agieren.

Im Bildungssektor sind wir hier schon weiter, oder wer wartet noch darauf, dass klassische Institution der formalen Bildung vor Ort das gerade genau passende Angebot zur richtigen Zeit bereit stellen? Besser ist: Im Netz schauen, learning communities gestalten, einen WOL circle ins Leben rufen und los lernen – New Learning leben und – eben – selber machen.

Bei New Work geht es nicht darum, was ich „wirklich, wirklich tun will“

Um die Netzwerke und communities gestalten zu können, ist es jedoch notwendig – so Bergmann – sich mit sich selbst befasst zu haben. In meinen Augen liegt hier einer der Denkfehler der „New Work Community“:
Es geht nicht darum, was ich „wirklich, wirklich tun will“. So hat das, „was ich wirklich, wirklich tun will“, aus Perspektive Bergmanns wenig mit „Selbstfindung“ im klassischen Sinne zu tun:

Mir geht es um grundlegende Dinge, darum, dass Menschen sich nicht in Lohnarbeit, zu der sie keinen inneren Bezug haben, erschöpfen und am Lebensende feststellen, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.

Interview mit Bergmann, 2017

Es ging Bergmann nicht darum, dass jeder egozentriert nackig im Wald sitzt und sein „Why“, seinen persönlichen „purpose“ oder whatever findet, auch wenn dieser in hippen Großstadtcafés gerne gesucht wird.

Vielmehr geht es bei dem, was man „wirklich, wirklich tun will“ darum, über die Auseinandersetzung mit sich selbst in die Lage versetzt zu werden, im Sinne der oben genannten Beispiele gestalterisch tätig zu sein. Arbeit wird damit zu etwas, was Menschen im Innersten stärkt, anstatt schwächt.

Erst dann, wenn ich die gesellschaftlichen Bedarfe sehe und meinen Anteil an der Gestaltung dieser Bedarfe erkenne, kann ich sinnvoll zu Gestaltung der Gesellschaft beitragen, indem ich das tue „was ich wirklich, wirklich tun will“.

Ich kann mich in privaten caring communities engagieren, maker spaces gründen, Politik für eine Gesellschaft der Zukunft machen, Kinder betreuen, mich selbständig machen, start-ups gründen, mir einen neuen Job suchen, Blogbeiträge schreiben, (m)einem „calling“ folgen…

Mit anderen Worten: Die Suche nach dem, was man wirklich wirklich tun will, allein reicht und hilft nicht. Es geht darum, Gesellschaft zu gestalten.

Dazu noch einmal Bergmann selbst:

Es gibt Alternativen zu diesem Lohnarbeitssystem, dem wir uns die letzten 200 Jahre unterworfen haben und das von uns verlangt, dass wir als Gegenleistung für die Existenzsicherung einen monotonen Job verrichten. Statt Grossunternehmen, in denen die Bürokratie und die Angst regieren, brauchen wir vermehrt kleine kooperative Organisationen, in denen Menschen wirklich etwas voranbringen wollen. 

Interview mit Bergmann, 2017

Soziale Innovationen ermöglichen, oder: New Work und Verwaltung

Und genau hier ergibt sich die Kreuzung der kommunalen Verwaltung mit dem Grundkonzept von „New Work“, wie ich es oben geschildert habe.

Im von mir hier postulierten Sinne geht es bei New Work nicht um die Arbeit in der kommunalen Verwaltung als Organisation. Es geht um die Arbeit an der Kommune. Oder noch größer: Bei New Work geht es darum, Gesellschaft zu gestalten. Und dazu braucht es Bedingungen, die dies ermöglichen.

Es braucht Initiativen, Unterstützung, Kompetenz und Raum, damit Menschen zusammen kommen können. Das Zusammenkommen dient dazu, gemeinsam, spontan und ungeplant neue Ideen und vor allem die Umsetzung neuer Ideen zu gestalten.

Das ist dann die oft beschworene, viel gesuchte und selten konkret gewordene soziale Innovation.

Raum ist wesentlich

Insbesondere der Raum ist wesentlich (und gut gestaltbar): Gerade nach der Pandemie (aber auch schon vorher) haben es Kommunen mit zunehmend leer stehenden und unattraktiven Innenstädten zu tun. Leider hat der Einzelhandel in vielen Fällen den Entwicklungen nicht standhalten können (und nein, es waren nicht die Entwicklungen der letzten zwei, sondern locker die Entwicklungen der letzten 15 Jahre, in denen die digitale Transformation im Einzelhandel verpennt wurde).

Hier kann die Kommune mit der Anmietung und Neugestaltung von Raum, der für die Gemeinde zur Verfügung gestellt wird, punkten. Coworking-Spaces brauchen in kleinen Gemeinden kommunalen Support, um überleben zu können, bringen aber enorm viel für die Gemeinde, wie Tobias Kremkau hier eindrücklich ausführt.

Und die handwerklich mehr als begabten Profis des Bauhofs können den Makerspace in einer leerstehenden Fabrikhalle nicht nur ausstatten, sondern auch inhaltlich betreuen. In diesen Maker-Spaces können dann Rentner*innen ihre Erfahrungen in alten Handwerken und Kulturtechniken an junge Menschen weitergeben (bspw. Mofa reparieren) und junge Menschen können die Skills hinsichtlich digitaler Angebote an Unerfahrene weitergeben (etwas plakativ, I know).

Neben agilen Bauhöfen (sowas gibt es wirklich) zur Betreibung der Maker-Spaces habe ich die Volkshochschulen im Kopf, die in den meisten Fällen zumindest ein kommunale Anbindung haben. Diese, oftmals sehr breit aufgestellten Organisationen haben über ihre Programme Verbindungen in alle Bevölkerungsteile und Generationen. Deutlich wird jedoch, dass VHS-Programme im klassischen Sinne zukünftig kaum noch tragfähig sind. Hier wäre ein Engagement in der Gestaltung der Kommune, bspw. als Betreiber der Coworking-Spaces mehr als sinnvoll denkbar. Darüber hinaus gewinnt „Neues Lernen“ in allen Richtungen an Bedeutung. Hier – im Rahmen von New Learning – könnten wiederum die VHS eine tragende Rolle spielen. Und Leuchttürme wie Oodi in Helsinki zeigen den Weg.

Aus der Gemeinde denken

Wichtig bei all diesen Überlegungen ist aber, dass Verwaltung nicht neue Programme aufsetzt, die die Gemeinde aus der Perspektive der Verwaltung neu gestalten.

Vielmehr ist ein Perspektivenwechsel notwendig – von den Bedarfen der Verwaltung hin zu den Bedarfen der Menschen. Es geht um Kundenorientierung in der Verwaltung, wenn man dieses Wort nutzen will.

Somit stehen vor der Anschaffung des 3D-Druckers für den Makerspace breite Beteiligungsprozesse, die in Workshop-Formaten die Bedarfe und Herausforderungen der Menschen in der Gemeinde in den Blick nehmen:

  • Was braucht die Gemeinde?
  • Was brauchen die Menschen in der Gemeinde?
  • Was gibt es schon?
  • Was kann unterstützt werden?

Entsprechende Formate und Prozesse sind nicht neu. Von World-Cafés über Design Thinking Prozesse auf kommunaler Ebene bis hin zur Veranstaltung von Barcamps, die explizit die kommunalen Belange in den Blick nehmen gibt es Formate, die genau die Anliegen der Beteiligung und Gemeindeentwicklung im Blick haben.

Neu ist jedoch, dass die kommunale Verwaltung diese Formate und Prozesse aktiv gestaltet und im Sinne einer lebenswerten Gemeinde vorantreibt und darüber aktiv gestaltend tätig wird.

Und selbst das ist nicht ganz neu: Die hier skizzierten Ideen sind an vielen Orten bereits Realität. So lohnt es beispielsweise, einmal bei Frederik Fischer zu den Themen rund um KoDorf und Coworking auf dem Land vorbeizuschauen, dessen Projekte ohne kommunale Unterstützung nicht stattfinden könnten.

New Work in der Verwaltung, oder: Was wird gebraucht?

Klingt alles gut, oder? Aber wie kann es konkret gelingen, die kommunale Verwaltung „on the way to new work“ zu bringen?

Aus meiner Sicht bedingen sich die Entwicklung der Gemeinde und die Entwicklung der kommunalen Verwaltung als Organisation. Hier kommen wir zu der Definition von New Work im Sinne der Organisationsentwicklung.

Im Rahmen dieses Beitrags ist es nicht möglich, alle Optionen der Organisationsentwicklung hin zu einer neuen Arbeitswelt darzulegen. Die grobe Orientierung an der Dreiteilung von Menschen (Haltungen, Kompetenzen…), Teams (Wie wollen wir zusammen arbeiten?) und der Organisation (Welche Strategien und Strukturen sind sinnvoll, um einen möglichst großen Mehrwert für die Nutzer*innen zu generieren?) zeigt schon auf, dass das Thema Organisationsentwicklung in diesem Kontext enorm komplex ist.

Hinweisen will ich nur darauf, dass gerade in traditionellen Organisationen (zu denen Verwaltungen zweifelsohne zu rechnen sind) oft eine technokratische Vorstellung auch der Art vorherrscht, wie Veränderung angegangen werden sollte. Klassische (und ehrlich gesagt gruselige) Vorstellungen von Change Management im Sinne von unfreezing – changing – refreezing sind vorherrschend.

Im Zuge kontinuierlichen Wandels jedoch macht das keinen Sinn. Ein zeitlicher Ablauf, der darlegen soll, was wann wie genau nacheinander passieren muss, ist (und war schon immer) hinfällig. Rezepte für komplexe Fragestellungen funktionieren nicht. Nicht umgesetzte Rezepte führen vielmehr dazu, dass Entwicklung nicht passiert:

„Weil Schritt 1 von X nicht passiert ist, weil sich Abteilung XY nicht bewegt hat und überhaupt nicht digital genug ist, weil der Hans nicht das richtige Mindset hat, nicht richtig tickt und sowieso nicht alle Tassen im Schrank hat, konnten wir ja auch nicht so weitermachen, wie geplant und deswegen konnten wir dann auch noch keine Beteiligungsprozesse anstossen und überhaupt, Corona!“

Kurz: Verzichtet also auf Rezepte! Versucht vielmehr, auf vielen Ebenen viele kleine, strukturelle Schritte konkreter Veränderung anzustoßen. Iterative Organisationsentwicklung ist hier das Stichwort. Fragen dazu sind:

  • Was ist eine Herausforderung, eine Spannung? Was wollen wir konkret ändern?
  • Wie lautet eine Hypothese dazu? Wenn wir XY anders machen, erwarten wir, das Z passiert!
  • Was kann mein Team machen, um die Hypothese zu testen?
  • Und: Was kann ich heute und morgen anders machen, um die Hypothese zu testen?
  • reflektiert Euch: Führt regelmäßige Retrospektiven zur Hypothese durch!

Und schon allein die Änderung der Durchführung der Meetings im Team kann Wunder bewirken. Man kann mit einer stillen Minute zum Einstieg beginnen, Check-In Fragen nutzen, Meetings im Stehen abhalten, die Moderation wechseln lassen, kein Protokoll mehr anfertigen, sondern ein Fotoprotokoll nutzen oder – als einfachste Intervention – sich nicht immer auf den gleichen Platz setzen.

Wenn Du Dich dahin setzt, wo normalerweise die Teamleitung sitzt, wird das Auswirkungen haben. Kleine zwar, aber immerhin.

Alternativ dazu:

Wo sammelt ihr im Team die Dinge, die verändert werden sollten oder müssen? Nutzt ihr ein Team-Board oder ähnliches, um den Fortschritt von angestoßenen Projekten zu visualisieren? Dann braucht ihr auch kein Protokoll mehr…

Und so weiter, und so fort… Hinweise dazu, was alles anders gemacht werden kann, findest Du zum Beispiel im Buch „New Work Hacks“.

Gebraucht wird also Mut, kleine Schritte zu gehen und Dinge selbst anders zu machen. Nutze den Einfluss, den Du hast, um neue Wege zu gehen.

Nicht jetzt alles!

Es geht nicht darum, von jetzt auf gleich den kompletten Verwaltungsapparat zu drehen. Das wird nicht gelingen, die Mühe lohnt nicht. Genausowenig lassen stete, kleine Veränderungen selbst den steifsten Beamten kalt. Steter Tropfen höhlt den Stein. Lasst es tropfen. Macht Dinge anders, selbst.

Daraus, aus dem „selbst machen“ erwächst die Kultur der Organisation, nach und nach. Und mit dem Selbst machen sind wir wieder bei der Grundidee von Bergmann:

Wir müssen die Veränderungen, die wir wünschen, selbst in die Hand nehmen.

New Work und Verwaltung? Kein Scheiß!

Kein Scheiß?

Ja, sorry für den Ausdruck, aber vor einigen Jahren habe ich unter dem Titel „New Work zwischen Spiritualität, elitärem Scheiß und dringender Notwendigkeit“ einen Beitrag veröffentlicht.

Damals schon ging es um den Begriff „New Work“ und um das, was aus dem Begriff geworden ist, was darunter verstanden wird (und um die Frage, wie teuer ein Tag auf einer hippen Veranstaltung eigentlich sein kann…).

Für mich gab es eine Dreiteilung zwischen Spiritualität, dringender Notwendigkeit und elitärem Scheiß.

Unter der Spiritualität habe ich die Konzepte gefasst, die New Work vor allem am „Mindset“ festmachen aka „Wir müssen nur die Menschen ändern, dann läuft das schon mit diesem New Work!“

Unter elitärem Scheiß habe ich die Diskussionen um Organisationen gefasst, die New Work verstehen als „hippes, auf jeden Fall digitales Arbeiten“ in irgendwelchen Agenturen und den Besuch von völlig überteuerten Veranstaltungen, auf denen selbst Manager weiße Turnschuhe tragen (und geduzt werden müssen, bitte).

Unter „New Work als dringende Notwendigkeit“ jedoch verstehe ich die dringend notwendige Idee einer Neuen Arbeit dort, wo sie wirklich, wirklich gebraucht wird.

New Work, als Arbeit, die den Menschen stärkt, muss gerade die Menschen stärken, die einen wesentlichen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Und dazu gehören eben auch die Menschen in der kommunalen Verwaltung.

New Work und kommunale Verwaltung ist damit kein elitärer Scheiß, sondern dringende Notwendigkeit 😉

Und jetzt los!

Systeme verbinden, oder: Ein Dilemma in der Transformation pluralistischer Organisationen

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Soziale Organisationen ebenso wie NPOs, Schulen und Bildungseinrichtungen lassen sich als pluralistische Organisationen definieren. Unter pluralistischen Organisationen sind Organisationen zu verstehen, die sich an verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen orientieren müssen, um existieren zu können. Bei sozialen Organisationen lassen sich insbesondere die Funktionssysteme Recht, Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft, Medizin und Religion hervorheben.

Daraus resultiert, dass pluralistische Organisationen mit „einem besonders divergierenden Spektrum unterschiedlicher Umwelterwartungen konfrontiert sind und diesen Erwartungen auch zu entsprechen suchen. Diese unterschiedlichen Erwartungen externer Anspruchsgruppen schlagen sich in multiplen Zielen nieder, denen eine pluralistische Organisation zugleich gerecht zu werden versucht.“ [mfn]Hörer, H. (2013): Entscheidungsfähigkeit in pluralistischen Organisationen – Rekonstruktion von Entscheidungsmustern eines diakonischen Unternehmens. Dissertation[/mfn]

Das ist soweit nicht besonders. Viele Organisationen und insbesondere die Führungskräfte in diesen Organisationen sind es gewohnt, die mit den Herausforderungen der Verbindung multipler Ziele einhergehenden Dilemmata auszubalancieren. Widerspruchsmanagement ist Alltag von Führungskräften pluralistischer Organisationen.[mfn]vgl. bspw. Herzka, M. (2013): Führung im Widerspruch – Management in Sozialen Organisationen. Wiesbaden, Springer[/mfn]

Veränderung dritter Ordnung als Unmöglichkeit pluralistischer Organisationen

Problematisch wird es jedoch, wenn die Notwendigkeit besteht, die Organisationen nicht nur weiterzuentwickeln bzw. zu optimieren (Veränderung erster Ordnung), sondern grundlegende Transformationen der Art, wie die Organisationen gearbeitet haben, zu gestalten.

Innovation, Bruch, Disruptionen, schöpferische Zerstörung oder Veränderung zweiter, wenn nicht dritter Ordnung sind Stichworte.

So zeigen die inzwischen reichlich strapazierten Megatrends schon lange die Notwendigkeit nicht nur von Musterwechseln innerhalb bestehender Systeme, sondern die Notwendigkeit des radikalen Wechsels des Systems an sich [mfn]vgl. Kruse, P., Schaumburg, F. (2016): Führung im Wandel: Ohne Paradigmenwechsel wird es nicht gehen. In: Geramanis, O., Hermann, K. (Hrsg.): Führen in ungewissen Zeiten – Impulse, Konzepte und Praxisbeispiele. Wiesbaden, Springer. S. 3 – 16.[/mfn].

Und spätestens die aktuelle Corona-Pandemie hat gezeigt, wo in den gesellschaftlichen Funktionssystemen die wirklichen Probleme stecken. Das Klatschen über die doch angeblich so systemrelevanten Branchen haben viele noch im Ohr, aber in den Branchen selbst sieht es an vielen Stellen düster aus.

Über das starre Bildungssystem wurde schon viel berichtet, aber die Bildungskatastrophe in der Pandemie war dann schon oft sehr überraschend: Montags Zettel abholen, die dann Freitags ausgefüllt zurückgebracht werden müssen, ist keine Bildung. Es zeigt aber, dass die Primärfunktion von Schule vielleicht gar nicht Bildung, sondern die Betreuung der Kinder, damit die Eltern arbeiten können, ist?

Und der sowieso schon enorme Fachkräftemangel in Erziehung und Pflege hat durch die Pandemie trotz aller Beteuerungen über das erwartbare Maß hinaus zugenommen. Und nein, die Pflegekräfte aus dem Ausland sind keine Alternative, wie der Beitrag hier mit Blick aus Spanien, Italien und England darlegt.

System-Umwelt-Analyse als Grundlage der Organisationsentwicklung pluralistischer Organisationen

Vom großen Ganzen zurück zum Kleinklein gelingender Organisationsentwicklung pluralistischer Organisationen: Eine erste Intervention zeitgemäßer Organisationsentwicklung, ist die System-Umwelt-Analyse. Hierbei wird das zu betrachtende System (die eigene Organisation) in Verbindung zu den Systemen der Umwelt der Organisation gebracht.

Dabei kommen häufig interessante Einblicke zutage und es wird die schon genannte Besonderheit sozialer Organisationen ebenso wie Bildungseinrichtungen als pluralistische Organisationen deutlich: Sie sind in viele Funktionssysteme eingebunden, deren Funktionen, Codes und Programme sich oftmals widersprechen.

So ist – als Beispiel – die Funktion des Bildungs- und Erziehungssystems so etwas wie Sozialisation, der Code wäre in der Schule vielleicht „Besser lernen/schlechter lernen“, in der Sozialen Arbeit eher „Inklusion/Exklusion“ oder „Hilfe/Nicht-Hilfe“. Unter den Programmen sind Bildung oder die Angebote sozialer, personenbezogener Dienstleistungen zu verstehen. Diese sind in ihrer Ausgestaltung – das ist nichts Neues – hochgradig komplex. So besteht eine der Besonderheiten sozialer Organisationen darin, dass personenbezogene, soziale Dienstleistungen kaum standardisierbar sind und deren Effektivität immer an die Koproduktionsbereitschaft der Nutzer*innen gebunden ist. Spannend ist, dass in Bildungskontexten wie Schulen und Hochschulen noch immer versucht wird, Standardprogramme zu fahren, anstatt die individuellen Anforderungen anzuerkennen, aber das ist wiederum ein anderes Thema…

Gestaltung von Komplexität vs. Denken in Zuständigkeiten

Im Gegensatz zu den auf die Gestaltung von Komplexität angelegten Sozialen Organisationen sind die Sozialleistungsträger (u.a. Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungsträger, Krankenkassen, die für die Kosten aufkommen) nicht im Erziehungssystem anhand der genannten Codes organisiert, sondern fokussieren in ihren Strukturen und Handlungsweisen auf Rechtmäßigkeit und Berechenbarkeit bei hoher Zuverlässigkeit, Effektivität und Effizienz.

Auch die Entwicklungen rund um „Neue Steuerungsmodelle“ (NSM) und seit etwa 2013 Kommunale Steuerungsmodelle (KSM) und damit die Versuche, von der inputorientierten über outputorientierte hin zu outcomeorientierten Steuerungen zu kommen, haben an der Grundorientierung der Arbeit der Sozialleistungsträger im Kern nicht viel verändert.

So schreiben Michl und Steinbrecher, dass das Denken in Einzelzuständigkeiten ein Grundprinzip des Arbeitens in Verwaltungen darstellt: „Auch komplexe Aufgaben werden in ‚kleine Häppchen‘ zerteilt und jedes Häppchen einem zuständigen Sachgebiet oder auch einer anderen beteiligten Behörde und darin jeweils einer Person zugeordnet. Diese Arbeitsweise ist über 200 Jahre alt und in vielen Situationen der heutigen Zeit nicht mehr angemessen.“ [mfn]Michl, T., Steinbrecher, W. (2018): Wozu kann unsere Gesellschaft eine „agile Verwaltung“ brauchen? In: Bartonitz, M. Et. al: Agile Verwaltung – Wie der öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann. Wiesbaden: Springer[/mfn]

Besonderheiten öffentlicher Verwaltungen liegen den Ausführungen von Richter[mfn]vgl. Richter, P. (2012): Die Organisation öffentlicher Verwaltung. In: Apel, M., Tacke, V. (Hrsg.): Handbuch Organisationstypen. Wiesbaden: Springer. 91 – 112[/mfn] u.a. in der Funktion einer Stabilisierung von Herrschaft, einer primär hierarchischen Ordnung der Interaktion von Verwaltungsorganisationen mit anderen Verwaltungsorganisationen mittels spezifischer Regelungsformen (Federführung) unter bestimmten Voraussetzungen (regional, fachlich) und einer bürokratischen Binnenrationalität und bürokratischen Organisationsformen.

Die Nähe dieses in weiten Teilen regelbasierten Vorgehens zum Taylorismus ist offensichtlich. Und dieses Vorgehen ist alles andere als schlecht, denn es passt für komplizierte Vorgehen und lineare Wirkungsketten wunderbar. Im Kern ist Verwaltung – mit Recht – als zwar kompliziertes, aber letztlich triviales System organisiert, auf dem unser Staat aufbaut.

Diese Funktionslogik gilt auch für weitere Sozialleistungsträger wie bspw. Krankenkassen und eben auch für die Funktionssysteme, auf die Schulen, Hochschulen und auch Volkshochschulen angewiesen sind: Obwohl jeder nachvollziehen kann, dass Bildung hochkomplex und nicht standardisierbar ist, wird – etwas verkürzt ausgedrückt – über Lehrpläne, Akkreditierungsvorgaben und eine Organisation in Ämtern (an VHS bspw.) versucht, Bildung zu organisieren, nein, zu kontrollieren.

Die Transformation pluralistischer Organisationen scheitert an der Inkompatibilität der Funktionsweisen der Systeme

Was ich sagen will: Die Codes und Funktionsweisen von Sozialen und Bildungsorganisationen unterscheiden sich radikal von denen der Sozialleistungsträger und für Bildung zuständigen Amtsstrukturen. Die einen sind im Kern auf die Gestaltung von Komplexität, die anderen auf die regelbasierte Abarbeitung von (gesetzlichen) Vorgaben, Plänen und die Kontrolle der Einhaltung von Regeln ausgerichtet.

Daraus resultiert, so meine These, dass die Transformation sozialer Organisationen ebenso wie die Transformation von NPO; Schulen und anderen Bildungsorganisationen an der Inkompatibilität der Funktionsweisen der Systeme scheitert.

Diese These wiederum scheint nicht besonders spektakulär oder neu zu klingen. Sie entfaltet ihre Wirkung jedoch im konkreten Alltag von Schulen, von frei-gemeinnützigen Organisationen, Komplexträgern, Wohlfahrtsverbänden uvm.

Überbordende Kontrolle, Dokumentationspflichten, klare Regeln und Vorgaben, Zuständigkeiten und Hierarchien stehen auf Seiten der Kostenträger schon immer der Notwendigkeit der Gestaltung von Dynamik und Komplexität auf Seiten pluralistischer Organisationen gegenüber. Hinzu kommt in der heutigen Zeit – VUCA und Co. sei Dank – eine zeitliche, sachliche und soziale und damit eine dreifache Dynamisierung, wie Kleve [mfn]Kleve, H. (2020): Die Rückkehr des „Menschlichen“: Integration des Psycho-Sozialen, Emotionalen und Elementaren als Voraussetzung für gelingende Selbstorganisation. In: Geramanis, O., Hutmacher, S. (Hrsg.): Der Mensch in der Selbstorganisation. Wiesbaden: Springer. 247 – 260. [/mfn] es nennt:

„Für Organisationen beschleunigen sich die Prozesse, auf die sie in ihrer sozialen Umwelt reagieren müssen; das ist der zeitliche Aspekt. In sachlicher und sozialer Hinsicht können wir von einer Diversifizierung und globalen Vernetzung von Ereignissen und Personen (…) ausgehen (…). Somit lässt sich eine enorme Steigerung der Komplexität konstatieren, also ein rasanter Zuwachs an Vielschichtigkeit und Verwobenheit von Ereignissen, die auf die Grenzen von Organisationen treffen.“

Autonomie und Selbstbestimmung pluralistischer Organisationen stehen dem Zuständigkeitsdenken der Kostenträger diametral entgegen

Pluralistische Organisationen sind gefordert, die zunehmende Komplexität zu bearbeiten. Dies gelingt, indem sie auf die Zunahme der äußeren Komplexität reagieren, indem sie ihre inner-organisatorische Komplexität erhöhen. Die Erhöhung der inner-organisationalen Komplexität bedarf neben einer Re-Emotionalisierung der Kommunikation innerhalb von Unternehmen (vgl. ebd., 251) die Gestaltung sich zunehmend selbststeuernder, autonomer Teams und damit einhergehend die auf Kompetenzen basierende Übernahme von Führung und Verantwortung.

Sich selbst steuernde, autonom agierende Teams und kompetenzbasierte Führung stehen jedoch im krassen Gegensatz zum Zuständigkeits-, Sicherheits- und Vorgabendenken der Sozialleistungsträger, Schulämter und Kultusminister.

Kurz: Die Kostenträger kommen mit den Notwendigkeiten zeitgemäßer Organisationen nicht klar. Die Abwehr geschieht nicht böswillig. Die Kostenträger können nicht anders. Vielleicht hilft diese Einsicht schon bei der nächsten Leistungsvereinbarung (die durch die Pandemie nicht einfacher werden).

Nochmal anders: Sachbearbeiter Jürgen ist nicht selten doof, sondern aus seiner Funktion im System eines Kostenträgers agiert er völlig rational. Jürgen kann gar nicht anders. Sein Verhalten und vor allem die getroffenen Entscheidungen passen „nur“ nicht zur dringenden Notwendigkeit der Komplexitätsgestaltung pluralistischer Organisationen.

Gestaltung pluralistischer Organisationen gelingt durch Einbeziehung aller Stakeholder

Daraus wiederum folgt, dass es im Zuge grundlegender Transformationen gelingen muss, alle basierend auf einer System-Umwelt-Analyse definierten Stakeholder an einen Tisch zu bekommen – und das schon vor dem anstehenden OE-Prozess.

Nur durch gemeinsames Verständnis der Anliegen der jeweils anderen Seiten kann (nicht: muss) sich die Option eröffnen, neue Wege gehen und dringend benötigte Experimente in der Neugestaltung pluralisitscher Organisationen realisieren zu können.

Abschließend nur noch ein Gedanke zur Notwendigkeit der Entwicklung der Kostenträger, insbesondere der öffentlichen Verwaltungen: Auch diese sind gefordert, im Zuge zunehmender äußerer Komplexität ihre innere Komplexität zu erhöhen, um überhaupt noch adäquat auf die sich verändernden Anforderungen reagieren zu können. Zwar besteht kein unmittelbarer Druck im Sinne der Notwendigkeit unternehmerischen Handelns, aber der Druck nimmt mindestens durch den Fachkräftemangel in der Verwaltung zu. Der schon angesprochene Jürgen weiß zwar, dass er im Sinne des Systems und damit im Sinne von Zuständigkeiten und Dienstanweisungen handeln muss. Jürgen weiß jedoch, dass er eigentlich anders – komplexitätssensibel – agieren müsste. Das zerreißt ihn innerlich. Und darauf hat – trotz aller vermeintlicher Sicherheit im öffentlichen Dienst – niemand mehr wirklich Bock…


P.S.: Ich kenne inzwischen zunehmend Beispiele, wie auch in den Verwaltungen versucht wird, anders zu agieren. Das ist schön zu sehen. Hinzuweisen ist als Sammlung der Beispiele auf den Blog „www.agile-verwaltung.org.

P.P.S.: Im Rahmen des (virtuellen) Socialbarcamps in Kiel habe ich eine Session zu dem Thema des Beitrags gehalten. Die Ergebnisse der Diskussion in der Session, wie es gelingen kann, die beiden sehr unterschiedlichen Systeme und Funktionslogiken zusammen zu bringen, kannst Du hier abrufen.