Die Diskussion um neue Organisationsformen, zeitgemäße Organisationsentwicklung, die Gestaltung lebendiger Organisationsstrukturen oder das, was immer wieder als „New Work“ verkauft wird, kann zur Vorstellung führen, dass es genau zwei sinnvolle Logiken zur Strukturierung einer Organisation gibt:
Auf der einen Seite stehen traditionelle Hierarchiemonster, in viele Ebenen gestaffelte, pyramidale, hoch komplizierte, mit Stabsstellen versehene Organigramm-Konstrukte, gegen die die Pyramiden von Gizeh alt aussehen. Die Mitarbeiter* innen sind grauer als die Graumänner bei Momo und Frau Malzahn ist Chef. You know what I mean…
Auf der anderen Seite stehen sich evolutionär entwickelnde, einer integralen Logik folgende, dauermeditierende Hipsterbuden, die die Netzwerklogik so übertreiben, dass sie schon allein deswegen nicht ganz dicht sind, weil sie für alles und jeden offen sind. Matetee ersetzt Kaffee und das einzige Statussymbol sind die selbstgehäkelten, erkreiselten Pulswärmer. Da kann einem schon schwindlig werden…
Warum Polarisierung wichtig ist
Ja, ich überspitze, sehr bewusst. Aber eine Polarisierung ist (oder, besser: war) wichtig, um beide Seiten gegeneinander zu stellen und über die Polarität zu verdeutlichen, wo die Herausforderungen vor allem der formal-hierarchischen, einer technokratischen Management-Logik folgenden, bürokratischen Strukturen liegen. Und es bleibt wichtig, die beiden Pole aufzumachen, um zu verdeutlichen, dass Arbeit heute und in Zukunft anders sein muss, wenn wir die Herausforderungen unserer Welt gestalten wollen. Ich finde es immer wieder faszinierend, dass wir so sozialisiert sind, Arbeit immer in „oben und unten“ zu denken, immer in „Ich Chef, du nix!“ zu agieren, immer anhand von Belohnung und Bestrafung zu entscheiden. Das hat mit der Realität im Übrigen ganz wenig zu tun, denn: Wenn man genau hinschaut, sieht man die hinter der Formalstruktur liegende Beziehungsstruktur der Organisation ebenso wie die Struktur, die für die Wertschöpfung zuständig ist. Aber dafür fehlen uns oft die Worte.
Der andere, der von mir oben sehr abschätzig als sich evolutionär entwickelnde, einer integralen Logik folgende, dauermeditierende, türkise Pol, schreckt aber genauso ab, wie die erste Seite. Das kommt wiederum durch die Sozialisation: Das, was wir nicht kennen, macht erstmal Angst, löst Unsicherheit aus, lehnen wir ab. Das geht uns mit fremden Menschen und Kulturen so wie mit nervigen Pandemien und der Art, wie wir Arbeit denken und strukturieren.
Die Realität zwischen den Polen
Zwischen den beiden – wichtigen – Polen (unten zeige ich dann, dass es diese so auch nicht existieren) gibt es jedoch deutlich mehr Optionen der Strukturierung von Arbeit. Vor kurzem bin ich im Buch „Corporate Rebels: Make work more fun“ über die im Folgenden skizzierten fünf möglichen „Zwischenformen“ organisationaler Struktur gestolpert. Ich greife sie hier mal als Anregung auf und bin gespannt, ob und wo Du noch Ergänzungen siehst:
1. Das reine Verständnis darüber, wo die Wertschöpfung geleistet wird
In einem pyramidalen Organisationsbild erfolgt die Wertschöpfung an der Basis. Dass die Basis damit wichtiger ist als die Führung, ist für viele immer noch verwunderlich, denn es wird immer und überall so getan, als wäre „weiter oben wichtiger“. Das ist aber nicht so, denn Führungskräfte sind ohne Mitarbeiter* innen: Nichts. Eine erste Stufe ist somit schon erreicht, wenn Führungskräfte dies einsehen. Das muss nicht ganz oben geschehen oder als „die Menschen im Mittelpunkt“ im Leitbild festgehalten werden. Das ist im täglichen Handeln der Führungskräfte gegenüber ihren Mitarbeiter* innen viel wichtiger (und kostet tatsächlich einfach erstmal nichts). Die Feststellung, dass die Führungskräfte dazu da sind, den Mitarbeiter* innen zu ermöglichen, bestmögliche Arbeit zu leisten, verändert einiges im Unternehmen.
2. Selbstorganisiert Arbeiten
Unglaublich, aber wahr: Wenn die Gesamtorganisation den Weg hin zur sich selbst organisierenden Netzwerkorganisation nicht geht, hält Dich niemand davon ab, trotzdem in Deinem Team die Werkzeuge, Methoden und Tools selbstorganisierten Arbeitens anzuwenden. Warum nicht die Entscheidungen im Team mithilfe des Delegation-Board anders verteilen? Warum nicht andere Entscheidungswerkzeuge verwenden? Warum nicht die Meetings sinnvoll gestalten? Warum nicht Vertrauen im Team vor Kontrolle setzen? Einfach mal ausprobieren, wirkt Wunder (und vielleicht sogar auf die anderen Teams der Organisation).
3. Flachere Hierarchien
Bevor Du komplett auf Hierarchien in Deiner Organisation verzichtest, macht es vielleicht Sinn, einige Hierarchieebenen zu hinterfragen: Könnten wir die Bereiche XY nicht anders gestalten, so dass diese sich selbst organisieren, aber gleichzeitig die Verantwortung immer noch bei Bereichsleitungen (oder wie auch immer) liegen? Wichtig ist in dieser Form, dass sich die einzelnen Teams darüber bewusst sind, wie sie arbeiten: Wollen Sie klassisch mit einer Teamleitung agieren oder wollen sie selbstorganisiert ihre Arbeit erledigen? Denn wenn das nicht klar ist, besteht die Gefahr flacher Hierarchien: Die Komplexität für die Bereichsleitung ist viel zu hoch und nicht mehr überschaubar.
4. Netzwerkorganisation
Buurtzorg, ein beliebtes Beispiel in diesem Kontext, ist als Netzwerkorganisation zu verstehen: Autonom agierende Teams werden unterstützt durch ein kleines Zentrum, in dem vor allem administrative Aufgaben abgearbeitet werden. Eine weitere wichtige Aufgabe des head office ist die Unterstützung der Teams in Fragen der Selbstorganisation: Wie gelingt Entscheidungsfindung? Wie gehen wir mit Konflikten um? Wie realisieren wir Einstellungen? usw. Mit dem head office existiert somit nur noch eine Hierarchieebene oberhalb der Teams.
Hier erläutere ich übrigens, warum Du Buurtzorg nicht als Vorbild heranziehen solltest.
5. Eco-System autonomer Mini-Firmen
Hier wird Haier, ein chinesischer Industriekonzern, der weltweit Marktführer im Bereich Haushaltsgroßgeräte ist, angeführt. Allein das ist schon sehr verwunderlich: Nicht die kleine Berliner Software-Schmiede oder der Öko-Versand aus Freiburg, sondern ein international agierender Konzern mit weit über 70.000 Mitarbeiter* innen. Das Besondere ist, dass sich Haier für die aktuelle Strategie darauf vereinbart hat, ein vertrauenswürdiges Ökosystem und eine Co-Sharing-Plattform durch Reformen des Organisationsmodells zu werden. Auf der Homepage findet sich der Vergleich des Konzerns mit einer Stadt, die im Gegensatz zum klassischen Unternehmen auch in Zeiten des Wandels überleben wird (vgl. Auch Kevin Kelly, The Inevitable: Understanding the 12 Technological Forces That Will Shape Our Future).
Entsprechend diesem Bild ist Haier nicht als eine Firma zu verstehen, sondern als Zusammenschluss vieler „Mikro-Unternehmen“ zu einem Ökosystem, das sich den Herausforderungen der Zukunft anpasst: „Selbstorganisierende Mikrounternehmen mit Selbstunternehmertum bilden eine Grundeinheit der Wertschöpfung.“ (klick)
Was lässt sich daraus für die Gestaltung lebendiger Organisationsstrukturen lernen?
Meine zu Beginn eröffnete Polarität kommt an die Grenze:
Ja, auf der einen Seite der beiden Pole stehen klassische Unternehmen, die formal-hierarchisch strukturiert basierend auf einem technokratischen Management-Verständnis versuchen, die alte Welt zu bewahren. Traurigerweise laufen wir auch in der jetzt notwendigen Transformation unseres Wirtschaftssystems Gefahr, diese Unternehmen zu stützen, obwohl immer deutlicher wird, dass deren Betriebssystem am Ende ist (Lufthansa als Beispiel).
Der andere Pol jedoch existiert nicht: Wenn die Entwicklung von Unternehmen und Organisationen evolutionär gedacht wird, wenn Städte oder, noch besser, Ökosysteme als Grundlage der Gestaltung von Organisation gedacht werden, gibt es kein Ende, keinen zweiten Pol. Vielmehr stehen wir vor einer offenen Landschaft enormer Vielfalt, die durch uns gestaltet werden kann. Wieder einmal zeigt sich, dass diese Vielfalt nützlicher, resilienter und krisenfester ist, als Monokulturen.
Abschließend noch ein Gedanke zu sozialen Organisationen:
Es wäre denkbar (und mir sind die Hürden sehr wohl bewusst), gerade große Wohlfahrtsverbände so zu strukturieren, dass diese ebenfalls dem sich gegenseitig befruchtenden Gedanken eines Ökosystems entsprechen. Und ganz ehrlich: Auf dem Papier sind sie es in vielen Fällen schon. Wichtig ist aber, nicht den Verband als Organisation, sondern die darunter liegenden Organisationseinheiten, Beratungsstellen, Kindergärten, ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen… gesondert als je eigene Organisation zu betrachten. Um im Bild von Haier zu bleiben, ginge damit einher, die kleinen Einheiten mit allen Verantwortlichkeiten auszustatten, wodurch – so die Hoffnung – auch das Unternehmertum innerhalb der Einheiten gestärkt werden kann.
P.S.: Vielfalt ist im Übrigen auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mehr als sinnvoll. Die absurden Geschehen in Amerika führen und gerade vor Augen, wie hoch problematisch gegensätzliche Lager ohne Gesprächsbereitschaft sind.
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