Gestern morgen habe ich meine Tochter zu ihrem Treffpunkt gebracht, ab dem sie immer mit ihren Freundinnen zur Schule läuft. Dabei bin ich an einer Batterie Fertiggaragen vorbeigelaufen, etwa zehn nebeneinander. Du kennst diese hässlichen Betonkästen sicher, oder? Viereckig, mit Garagentor. Nicht mehr und nicht weniger. Keine Freiheit in der Auswahl der Parkoptionen…
Neben der abgrundtiefen Hässlichkeit stach mir aber das an jedem einzelnen Garagentor befestigte, wahrscheinlich im Preis der Gesamtgarage enthaltene gelbe Schild mit schwarzem Rand ins Auge:
Ausfahrt freihalten!
Ja, zehn Schilder, nebeneinander, in einer tatsächlich wenig befahrenen Straße in unserer Kleinstadt. In den Neubau-Wohngebieten dieser Kleinstadt herrscht tatsächlich noch kein Mangel an Parkplätzen.
Ausfahrt freihalten!
Hier macht jemand deutlich, wo die Grenze ist, was seins und was damit nicht meins ist. Jemand – in dem Fall der Hässlichebetonkastenbesitzer – macht deutlich, wo ich mein Auto parken darf.
Der Hässlichebetonkastenbesitzer macht natürlich auch deutlich, dass er jederzeit – und zwar wirklich zu jeder Zeit – dringend in seinen hässlichen Betonkasten ein- oder eben ausfahren können muss. Ich gehe davon aus, dass sich die Welt aufhört zu drehen, wenn es dem Hässlichebetonkastenbesitzer nicht gelingt, unverzüglich in seinen hässlichen Betonkasten ein- und auszufahren.
Ach, ich könnte mich noch weiter über hässliche Betonkastenbesitzer (ist das jetzt was anderes?) aufregen, aber das ist nicht das Thema.
Freiheit aushalten!
Das Thema ist vielmehr, dass wir am Besten jetzt, in (naher) Zukunft aber dringend, dahin kommen müssen, unsere Freiheit auszuhalten.
Die Freiheit auszuhalten ist quasi diametral dem Freihalten der Ausfahrt entgegengesetzt.
Und was das Ganze mit der Sozialen Arbeit und einer neuen Art der Zusammenarbeit zu tun hat, will ich versuchen, hier ein wenig darzulegen.
Soziale Arbeit? Was ist das eigentlich?
Dazu wieder einmal der kurze Blick auf das, was Soziale Arbeit so alles sein könnte. Das ist im Übrigen gar nicht so leicht zu definieren. Ich habe mich aber in den letzten Tagen mal ein wenig näher mit den Ausführungen von Prof. Dr. Heiko Kleve dazu beschäftigt.
Kleve versucht in seiner Dissertation, die in dem Buch „Postmoderne Sozialarbeit – Ein systemtheoretischkonstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft“ veröffentlicht ist, die „heterogene, durch vielfältige Widersprüche fragmentierte sozialarbeiterische Praxis mit einer dieser Situation angemessenen Theorie“ (S. 11f) zu begegnen.
Oder:
„Es geht, anders gesagt, um den Versuch, die Komplexität der Praxis in die eigenlogische Struktur des Theoriediskurses hineinzukopieren“ (15).
Kleve unternimmt den Versuch, „das aufzublenden, was die Soziale Arbeit zu durchziehen scheint, wie sonst kaum eine andere Profession: Uneindeutigkeit, Ambivalenzlastigkeit, eine paradoxale Grundstruktur“ (12).
Ehrlich gesagt kann ich hier die wirklich lesenswerten Ausführungen von Kleve nicht in Gänze wiedergeben. Hier ist nur Folgendes wichtig:
Soziale Arbeit ist Uneindeutigkeit, Ambivalenzlastigkeit, paradoxe Grundstruktur?
Ohne weiter auf die einzelnen Begrifflichkeiten einzugehen weiß jeder, der in der Sozialen Arbeit beschäftigt war oder ist, was darunter zu verstehen ist und wie sich das anfühlt, oder?
Als Reaktion auf die Uneindeutigkeiten verfallen die Sozialarbeiter*innen (sehr pauschal gesagt) immer wieder gerne in den Versuch der Reduzierung der mit den „paradoxen Grundstrukturen“ einhergehenden Komplexität.
Einfache Berufsidentität
Als dafür einfaches Beispiel lässt sich anführen, dass sich die Menschen nicht mehr als „Sozialarbeiter“ definieren (was nämlich ganz schön komplex ist), sondern als „Schulsozialarbeiter“ oder „Erlebnispädagoge“ oder „Sozialmanager“ (ich fasse an meine eigene Nase) oder was auch immer. Jedenfalls versuchen die Menschen, die wahrgenommene Ambivalenz in dem Versuch aufzulösen, eine „einheitliche Berufsidentität“ zu schaffen.
Jetzt ließe sich sagen: OK, dann gehen wir eben den Weg der spezialisierten Sozialen Arbeit.
Wie oft habe ich den Wunsch gehört, endlich einmal spezialisierte Studiengänge für die Soziale Arbeit anzubieten! Und inzwischen gibt es auch (Gott sei Dank nur ein paar wenige) Studiengänge dieser Art, bspw. in Richtung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder auch in Richtung sozialer Gerontologie.
Immer noch komplex!
Das dahinter liegende Problem ist jedoch, dass sich die Probleme, also die von Kleve benannten Ambivalenzen durch die Spezialisierung nicht auflösen. Es wird dadurch nur die Gefahr der Deprofessionalisierung hinzu kommen, oder anders gesagt:
Warum sollte ich sieben Semester Soziale Arbeit studieren, wenn mir das Wissen und Können für den Bereich der Schulsozialarbeit auch – fokussiert – in vier Semestern vermittelt werden kann? Warum sollte man daraus dann nicht besser eine Ausbildung für Erzieherinnen machen?
Kostet weniger, geht deutlich schneller und diese festgefahrene Berufsidentität gibt es noch gratis oben drauf!
Das Ganze ließe sich jetzt natürlich noch vertiefen, begründen, belegen etc. Das überfordert aber einen Blogbeitrag.
Reduzierung von Komplexität ist sinnlos!
Ich will damit eigentlich nur das sagen, dass es keinen Sinn macht, einen Versuch der Reduzierung von Komplexität in Bezug auf Soziale Arbeit anzustellen, nur um dadurch zu einer vermeintlich größeren Handlungssicherheit zu gelangen.
Vielmehr sollten wir damit beginnen die Uneindeutigkeiten, Ambivalenzlastigkeiten und paradoxalen Grundstrukturen Sozialer Arbeit anzunehmen.
Die gerade in diesen Widersprüchen und Paradoxien liegenden Freiheiten sind enorm. Wir müssen sie „nur“ aushalten.
Mit der Komplexität Sozialer Arbeit, mit der Ambivalenz geht übrigens einher, dass Soziale Arbeit oftmals keine einfachen Antworten geben kann. Dies ist ebenfalls auszuhalten, auch wenn einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen in der heutigen Zeit unglaublich trendy zu sein scheinen.
New Work und die Freiheit
Wenn man als nächsten Schritt eine Betrachtung des Konzeptes „New Work“ vornimmt, ist ebenfalls auffällig, dass das Thema „Freiheit“ eine enorme Bedeutung einnimmt.
Ein paar Beispiele dazu:
- Harald Schirmer schreibt, dass die neue Freiheit anstrengend ist und Selbstdisziplin erfordert.
- Prof. Heike Bruch schreibt, dass mehr Freiheiten für die Mitarbeitenden zwar deren Leistungspotenzial erhöht. Sie warnt aber zugleich davor, dass eine „Laissez-faire“-Freiheit schädigend für Mitarbeiter und Unternehmen ist.
Theorie New Work
Und wenn man zu den Ursprüngen von New Work, also zu der von Fritjof Bergmann begründeten Theorie „New Work“ aufbricht, stellt man fest, dass sich Bergmann über eine Kritik am amerikanischen Freiheitsbegriff auf den Weg zu seiner Theorie gemacht hat.
Wikipedia schreibt dazu, dass Bergmann unter Freiheit nicht versteht, „zwischen zwei (mehr oder weniger schlechten) Alternativen wählen zu können (Wahlfreiheit).
Freiheit bedeute vielmehr, die Möglichkeit zu haben, etwas wirklich Wichtiges zu tun (Handlungsfreiheit). Neue Arbeit bietet Freiräume für Kreativität und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.
Da das Job-System an seinem Ende sei, habe die Menschheit die Chance, sich von der Knechtschaft der Lohnarbeit zu befreien.“
Und die mit New Work einhergehenden zentralen Werte der Neuen Arbeit werden als Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an Gemeinschaft definiert.
Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe
Ich denke, es ist klar, um was es geht:
New Work, eine neue Arbeit, der Versuch, sinnvoll, ganzheitlich und selbstorganisiert zu arbeiten, Dinge zu tun, wie wirklich wirklich wichtig sind, hat enorm viel mit Freiheit zu tun.
Aber mit der Freiheit geht eben auch die Verpflichtung einher, diese einerseits verantwortlich auszugestalten und andererseits überhaupt auszuhalten.
Und der Chef?
So ist es doch viel einfacher, immer wieder den Chef zu fragen, wie dies und jenes zu tun ist. Er ist schließlich Chef, bekommt meist auch noch mehr Geld für seinen Job und trägt die ach so schwere Verantwortung.
Diese Verantwortung selbst zu übernehmen und damit die Freiheit zu erlangen, ausgestalten zu können, was aus der je persönlichen (und der durch das Team und die Organisation angestrebten) wirklich sinnvoll ist, erfordert den Mut.
Mut
Das „New Work“ – Vorgehen erfordert den Mut, sich auf unbestimmtes Terrain zu bewegen, den Mut, auftretende Widersprüche aushalten zu müssen, es erfordert den Mut, unter unsicheren und zumeist hochkomplexen Bedingungen Entscheidungen treffen zu müssen, für die man dann auch noch verantwortlich ist.
Komplexität? Widersprüche? Unsicherheit?
Klingelt da etwas?
Bei mir klingelt da enorm laut die Glocke der Möglichkeiten, die ein Einlassen der Sozialen Arbeit auf die oben skizzierten Uneindeutigkeiten, Ambivalenzlastigkeiten und paradoxen Grundstrukturen Sozialer Arbeit ergeben würde.
Oder konkret:
Wenn eine Profession dafür prädestiniert ist, die Arbeitswelt der Zukunft positiv zu gestalten, dann sind es die Sozialarbeiter. Klingt komisch, ist aber so.
Wenn wir uns denn trauen…
P.S.: Zum Thema New Work empfehle ich das Buch „Arbeit – die schönste Nebensache der Welt“ von Markus Väth.
P.P.S.: Ohne den Mut, neue Wege zu gehen, kann man diese Sache mit der Innovation übrigens auch vergessen…
P.P.P.S.: Sicherlich würde es auch Sinn machen, über Freiheit und einfache Antworten in komplexen Zeiten aus einer politischen Perspektive zu schreiben. Da bin ich mir aber zu unsicher, da ich es oftmals nicht glauben kann und vielleicht auch einfach nicht verstehe, was gerade in der Welt passiert…
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