Was wäre, wenn Agilität das Problem ist?
Diese Frage habe ich in Twitter gehauen:
Es gab Reaktionen. Aber erst sehr spät kam die Frage danach, was denn eigentlich meine Definition von Agilität wäre und wie ich den Tweet eigentlich meine. Bei der Menge an (auch emotionalen) Reaktionen ist dies zumindest verwunderlich. Deswegen hier die Aufklärung, was ich eigentlich mit dem Tweet meine und was meine Gedanken dazu sind.
Zunächst einmal definiere ich Agilität als Anpassungsfähigkeit. Das ließe sich tiefer ausführen, aber nur kurz:
(Nicht nur) ich bin davon überzeugt, dass sich Organisationen, Teams und Menschen sich zunehmend unvorhersehbar ergebenden Veränderungen anpassen müssen, wenn sie „überleben“ wollen. Damit bewege ich mich sehr nah bei Svenja Hofert, die Agilität als „die Fähigkeit von Teams und Organisationen, in einem unsicheren, sich veränderndem und dynamischen Umfeld flexibel, anpassungsfähig und schnell zu agieren“ definiert (Hofert, 2016, 5). Und wenn man einen gewissen Darwin zurate zieht ist Anpassungsfähigkeit als Vorteil in der evolutionären Entwicklung keineswegs neu.
Wenn man jedoch viele Organisationen, Teams und Menschen anschaut, dann stellt man eine gewisse Beharrungstendenz fest:
Veränderungswille und die entsprechende Fähigkeit zur Anpassung scheinen nicht unbedingt stark ausgeprägt zu sein. Wir sitzen in starren, hierarchischen Strukturen fest, obwohl wir merken, dass Anpassung dringend erforderlich ist. Entscheidungen werden top-down getroffen, obwohl wir wissen, wie sinnvoll Partizipation ist. Wissen dient als Machtinstrument, obwohl wir wissen, dass Teilhabe die evolutionäre Entwicklung der Organisation, deren Anpassung, ermöglicht.
Soziale Organisationen und Agilität
Aber ist das – mit Blick auf soziale Organisationen – wirklich so? Hier komme ich zumindest ins Nachdenken:
Ich befasse mich in meiner freiberuflichen Tätigkeit vornehmlich mit der Beratung sozialer Organisationen, die sich auf den – kurz gefasst – „Weg in die Selbstorganisation“ begeben. Die Organisationen wollen „beweglicher“ werden, menschlicher, sinngetriebener und auch anpassungsfähiger an die sich verändernden Umweltbedingungen.
Ein Wesensmerkmal sozialer Organisationen ist, dass dort, an der Basis, Menschen arbeiten, die anderen Menschen helfen wollen – Sozialarbeiter* innen, Heilpädagog* innen, Erzieher* innen, Theolog* innen, Pfleger* innen und, und, und… An der Basis, an der „front-line“, wird die Wertschöpfung dieser Organisationen erbracht.
Fehlendes Organisationsbewusstsein an der Basis
Ich vertrete die These, dass die Angehörigen dieser Berufsgruppen, die Menschen an der Basis sozialer Organisationen, über ein kaum ausgeprägtes Organisationsbewusstsein verfügen:
Die Angehörigen dieser Berufsgruppen reflektieren nicht oder kaum, warum ihre Organisation so oder so funktioniert. Überspitzt ließe sich formulieren, dass den Angehörigen dieser Berufsgruppen die Funktionsweisen ihrer Organisationen egal sind. Mehr noch: Es ließe sich behaupten, dass die Organisation mit all ihren Strukturen, Regeln, Strategien, Kommunikationswegen… sogar eher dabei stört, ihren eigentlichen Aufgaben (dem Helfen, wie auch immer konotiert), nachgehen zu können: Sowas wie Prozesse? Nervig! Qualitätsmanagement? Sinnlos! Hierarchien? Wozu nochmal genau? Nachweis über Wirkung? Geht nicht!
Wir arbeiten doch mit Menschen!!!
Ich weiß: Die Ausführungen sind kurz und sehr pauschal. Aber wenn ich mich in der Beratung mit Organisationen befasse, die zunehmend agil, selbstorganisiert, autonom, ganzheitlich und sinngetrieben agieren wollen, dann frage ich – im Anschluss an die Frage nach dem Grund, dem Anliegen bzw. dem echten Problem, auf dem der Änderungswunsch basiert – immer nach den aktuell gegebenen organisationalen Strukturen, den Prozessen, den Rahmenbedingungen, die sich ändern sollen. Denn:
Nur über die Änderung von Strukturen, Strategien und der Neueinstellung oder Entlassung von Menschen kann sich Organisationskultur nachhaltig verändern. Appelle á la „Werdet mal mutiger, kreativer, innovativer!“ oder „Übernehmt mehr Verantwortung!“ verhallen ungehört. Und die Änderung von Menschen, ihrer Haltung, ihres „Mindsets“ liegt mir nicht nur fern, ich sehe dies als übergriffig (und gefährlich) an. Ich bin kein Therapeut.
Kultur ändert sich durch Struktur
Erfolgreiche Selbstorganisation, die grundlegend für Anpassungsfähigkeit einer Organisation, eines Teams und von Menschen ist, bedarf einer Organisationskultur, die Sicherheit, Offenheit, Angstfreiheit, Innovationskraft und die Übernahme von Verantwortung ermöglicht.
Diese offene, „agile“ Kultur setzt aber voraus, dass – vor aller Auseinandersetzung mit Methoden agilen Arbeitens – zunächst klar und transparent ist, was in der Organisation eigentlich wie getan werden soll, darf und kann. Oder noch mal anders formuliert:
Erst dann, wenn klar ist, welche Aufgaben zu erledigen, können diese auch selbstorganisiert erledigt werden. Transparenz besagt in dem Zusammenhang, dass nicht nur die Geschäftsführung alle Informationen bereitstellt, um selbstorganisiert Entscheidungen zu treffen, sondern auch die Kolleg* innen untereinander wissen müssen, welche Arbeitsschritte anstehen und warum.
Transparenz und Offenheit als Basis gelingender Agilität
(Vor allem kleine und mittlere) Soziale Organisationen, Teams in sozialen Organisationen und die Angehörigen sozialer Berufsgruppen verfügen jedoch kaum über Transparenz und Offenheit in den Arbeitsschritten, Prozessen und Strukturen. Dabei ist wichtig:
Es geht bei Transparenz und Offenheit nicht nur um das Recht, alle Informationen „von oben“ zu bekommen, die zum Arbeiten gebraucht werden. Es geht bei Transparenz und Offenheit auch um die Pflicht, selbst für Transparenz zu sorgen, indem Arbeitsschritte, Prozesse, Handlungsweisen etc. offen und transparent gemacht werden.
Historisch agile Organisationen
Spannenderweise lerne ich zunehmend soziale Organisationen kennen, die sich Ende der 70er Jahren sehr „agil“ gegründet haben. Diese Organisationen, meist als Vereine organisiert, haben sich gegründet, um echte soziale Probleme zu lösen. In diesen Organisationen arbeiten mit allen Wassern gewaschene Sozialarbeiter*innen, die tatsächlich schon alles gesehen haben, was gesehen werden kann. Diesen Sozialarbeiter*innen macht niemand etwas vor. Implizites Wissen, Erfahrung, Intuition und informelle Netzwerke sind mehr als notwendige Werkzeuge, mit denen diese Menschen hochgradig erfolgreich arbeiten.
Daraus resultiert auch meine Grundthese meiner Arbeit:
Jetzt stehen diese Organisationen jedoch vor dem Problem, neue Mitarbeiter*innen „onboarden“ zu müssen, da die Organisationen deutlich überalterte Personalstrukturen aufweisen. Das setzt wiederum voraus, dass Wissen und Können geteilt werden, um für die Zukunft gerüstet zu sein.
Zukunftssicherung gelingt wiederum nur dann, wenn die neuen Mitarbeiter*innen von den erfahrenen Mitarbeiter*innen lernen können. Denn: Wie auch bei gelingender Selbstorganisation ist es notwendig, Transparenz zu schaffen, damit Verantwortungsübernahme gelingen kann.
Vorsicht vor Gatekeeper-Mentalität
Und an diesem Punkt erlebe ich häufig eine „Gatekeeper-Mentalität“: Die älteren Mitarbeiter*innen arbeiten zwar hochgradig selbstorganisiert, jedoch gleichzeitig sehr intransparent. Sie sind erst jetzt, bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter*innen gezwungen, sich „in die Karten schauen zu lassen“. Sie müssen ihre Aufgaben und Arbeitsweise offen legen: „Wie arbeitest Du mit Familie XY?“ „Was hast Du gestern gemacht, damit XY passiert ist?“ „Wie schreibst Du den Bericht fürs Jugendamt?“
Dann kann festgestellt werden, was wirklich getan wird und – genau! – auch, was eben nicht getan wird. Sätze wie „Wir arbeiten hier schon immer basisdemokratisch!“ oder „Das mache ich schon immer so!“ oder „Komm mir nicht mit diesen Prozessen, das ist doch alles BWLer-Krams!“ kommen immer wieder durch. Neue Mitarbeiter *innen sind jedoch zwingend auf diese Informationen angewiesen – vor allem dann, wenn sie Verantwortung übernehmen und eigenverantwortlich oder selbstorganisiert handeln sollen.
Gelingende Agilität: Was tun?
Noch mal kurz zusammengefasst: Sozialarbeiter*innen arbeiten immer selbstorganisiert an der Basis. Daraus resultiert, dass selbstorganisation in der DNA Sozialer Organisationen verankert ist. Jedoch stehen Sozialarbeiter*innen grundsätzlich nicht zwingend auf die transparente Darlegung dessen, was sie den ganzen Tag tun. Das ist auch nicht einfach, denn Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Erziehung etc. ist alles andere als „to do Listen abhaken“. Gleichzeitig stehen viele Pionierorganisationen vor der Herausforderung, sich an zunehmend verändernde Bedingungen anzupassen, neue Mitarbeiter*innen zu gewinnen und „agil“ aka anpassungsfähig zu werden. Dies setzt voraus, dass das, was getan wird, transparent gemacht wird.
Transparenz schaffen mit Blick auf die Basis
Dies gelingt nur, in dem in einem ersten Schritt der Blick auf die unterschiedlichen Ebenen der Organisation gerichtet wird. Es ist zwischen der Ebene der unmittelbaren Wertschöpfung, der Basis, und der „darüber“ liegenden Ebene (Führungsebenen) zu unterscheiden.
Und auf dieser Ebene der Wertschöpfung, an der Basis sozialer Organisationen, ist dann zunächst offenzulegen, was die Menschen in den Organisationen wirklich tun. Damit steht häufig vor allen Veränderungsinitiativen die Durchführung einer sinnvollen Prozessanalyse und die Erarbeitung einer Prozesslandkarte, aus der zumindest die abzubildenden Prozesse – unterschieden nach Kern-, Unterstützungs- und Managementprozesse – transparent werden.
Und nein: Nur weil die Organisation irgendwann einmal ein „Pseudo-QM-Handbuch“ entworfen hat, sind die Prozesse nicht transparent. Denn es besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was irgendwann mal aufgeschrieben wurde und dem, was wirklich gelebt wird. Das zweite, das, was wirklich gelebt wird, muss transparent auf den Tisch. Das, was im „Pseudo-QM-Handbuch“ steht, kann nett sein, ist aber irrelevant.
Basierend auf der Prozesslandkarte, die für die gesamte Organisation, aber auch für einzelne Organisationseinheiten oder einzelne Teams erarbeitet werden kann, lässt sich dann auch feststellen, wohin es in der Frage der zukünftigen Ausrichtung gehen soll.
P.S.: Nur kurz zur zweiten Ebene, der Ebene des Managements, Führungsebene, oder wie auch immer: Hier gilt es, ein Verständnis zu schaffen über die Notwendigkeit, die Organisation so zu gestalten, dass möglichst autark lebensfähige Einheiten geschaffen werden. Das gelingt im ersten Schritt bspw. mit einem Führungskräfteworkshop, der den Blick auf die Organisation als Ganzes richtet…
P.P.S.: Zur Frage des Prozessmanagments habe ich im Podcast mit meinem Bruder gesprochen. Du findest den Podcast mit Philipp hier.
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