Der Soziale Wandel in Kombination mit spezifischen aktuellen und zukünftigen Herausforderungen für Organisationen der Sozialwirtschaft zwingt Organisationen der Sozialwirtschaft zu permanenter Veränderung. Das ist nicht besonders neu. Das ist sogar vielmehr völlig normal in sich verändernden sozialen Systemen, die nicht – wie bspw. Maschinen – starr und immer gleich funktionieren.
Das Dilemma von Offenheit und Geschlossenheit!
Damit wäre es jetzt recht einfach zu schlussfolgern, dass Organisationen und auch Organisationen der Sozialwirtschaft alles dafür tun müssten, sich so zu strukturieren, dass sie möglichst schnell, flexibel und „agil“ auf Änderungen reagieren können. Es wäre denkbar, alle bestehenden Prozesse einzureißen, Hierarchie als Teufelszeug aus den Köpfen zu verbannen und alle bestehenden Prozesshandbücher, Vorgaben, Strukturen, Regeln, Rituale in die Tonne zu treten, um endlich innovativ, modern, „lean“ und „agil“ zu sein.
Meine Antwort dazu: Lassen Sie dies lieber.
Sie werden ggf. zu einer wahnsinnig innovativen Organisation. Sie verlieren jedoch auch gleichzeitig jegliche Stabilität als Grundlage der Wertschöpfung Ihrer Organisation. Die Mitarbeitenden sind – vielleicht – hoch kreativ (wobei selbst das zu hinterfragen ist), erfüllen den Zweck der Organisation jedoch nicht mehr – die Insolvenz ist ziemlich wahrscheinlich.
Es ist aus organisationaler Perspektive bedeutsam, dass die „Öffnung“ der Organisation im Sinne der Ermöglichung von Freiräumen zur Entwicklung und Umsetzung von Innovation immer in Verbindung zur Stabilität und damit der Geschlossenheit der Organisation gesehen werden muss: Sie müssen die Wertschöpfung – trotz aller Bemühungen, Innovation zu ermöglichen – im Blick halten, schon allein, um die Wirtschaftlichkeit Ihrer Organisation nicht zu gefährden. Darüber hinaus kann aus der Perspektive der Mitarbeitenden eine rein offene, auf permanente Veränderung und Innovation ausgerichtete Organisation auch zu Überforderungstendenzen führen.
Stefan Kühl (2015, 28) schreibt dazu in Anlehnung an Luhmann, dass „Organisationen (…) vor der Herausforderung [stehen], gleichzeitig stabilitäts- und veränderungsadäquat handeln zu müssen, obwohl sich diese beiden Prozesse eigentlich widersprechen (…).“
Oder, als mein Favorit:
[Tweet „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein!“]
Wie aber ist es möglich, trotz des Dilemmas zwischen Offenheit und Geschlossenheit sich nicht auf eine der beiden Seiten – mit den entsprechend negativen Konsequenzen – zu schlagen, sondern einen möglichst guten Mittelweg zwischen Offenheit, Innovation, Agilität auf der einen und Geschlossenheit, Strukturen und festgeschriebenen Prozessen auf der anderen Seite gehen zu können?
Dazu lohnt sich – neben anderem – ein Blick auf die Prozesse Ihrer Organisation:
Prozesse in Organisationen
In jeder Organisation gibt es Prozesse. In einigen Organisationen sind diese Prozesse in Prozesshandbüchern festgeschrieben, in einigen Organisationen gibt es irgendwo zumindest Beschreibungen oder Festlegungen von bestimmten „Kernprozessen“.
In anderen Organisationen gibt es vielleicht keine beschriebenen Prozesse, gleichzeitig wissen die Mitarbeitenden aufgrund der vorherrschenden Kultur – wir machen das hier schon immer so – genau welche Prozesse – vorgegebene Vorgehensweisen – wann wie einzuhalten sind. Dieser letzte Punkt setzt Prozesse gleich mit Ritualen oder auch strukturellen Regelungen in Organisationen. Das die Vermischung von Kultur und schriftlichen fixierten Prozessen ggf. etwas schwierig ist, ist mir bewusst. Der Zusammenhang ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen.
Der Sinn von Prozessen
Der Sinn von Prozessen in Organisationen – und auch in Organisationen der Sozialwirtschaft – besteht darin, die Komplexität bei der Verfolgung der Organisationszwecks – Wertschöpfung – zu reduzieren.
Der Versuch der Reduktion der Komplexität ist völlig normal, akzeptabel und vor allem auch – in bestimmten Grenzen – sinnvoll. Diese bestimmten Grenzen betreffen die Wiederholbarkeit von Abläufen: „Wenn dies und jenes passiert, dann ist dies und jenes zu tun.“ – hier machen Prozesse Sinn.
Die Wiederholbarkeit kann dann auch sehr komplizierte Prozesse betreffen, wodurch Prozessbeschreibungen für komplizierte Vorgehen sinnvoll und notwendig sind. Denken Sie hier bspw. an Einstellungsprozesse von neuen Mitarbeitenden, Prozesse der Aufnahme neuer Jugendlicher in der stationären Jugendhilfe oder auch – anderes Beispiel – Handbücher für irgendwelche Computerprogramme: Ziemlich kompliziert, aber beschreibbar, da kausal.
Ohne Prozesse würden bspw. in einer Organisation mehrere Personen bei einem externen Dienstleister anrufen, um die gleichen Dinge zu besprechen. Effizienz ebenso wie Effektivität dieses Vorgehens ist natürlich gleich Null, der Aufwand ist hoch, die Qualität variiert, der externe Dienstleister kennt den eigentlichen Ansprechpartner nicht, etc… Denken Sie auch an die Eltern, die ihr Kind im Kindergarten anmelden möchten: Wie läuft das ab, wer ist der Ansprechpartner? Das sollte geklärt sein!
Prozesse lassen sich dann auch managen, also entwickeln und verwalten. Sie sind wichtig für ein funktionierendes Qualitätsmanagement, das gerade in Organisationen der Sozialwirtschaft oftmals eine gesetzliche geforderte Notwendigkeit darstellt.
Damit lässt sich festhalten, dass Prozesse Sinn machen.
Allerdings machen Prozesse nur solange Sinn, wie sie sich – zur Wiederholung 😉 – auf sich wiederholende Abläufe beziehen: Die Aufnahme eines neuen Kindes im Kindergarten sollte genauso geregelt sein wie die Frage, wer Ansprechpartner der Druckerei ist, in der die Flyer der Organisation für das nächste Sommerfest gedruckt werden sollen.
Prozesse und Innovation
Problematisch werden Prozesse dann, wenn es um die Neuentwicklung und Veränderung von Produkten, Dienstleistungen, Abläufen usw. geht. Der Umgang mit geflüchteten Menschen in den letzten Jahren ist hier ein gutes Beispiel:
- Zunächst ging es darum, innerhalb kürzester Zeit neue Strukturen aufzubauen, Menschen einzustellen, Unterkünfte halbwegs menschlich herzurichten und vieles mehr. Viele Organisationen der Sozialwirtschaft haben sich der Thematik angenommen.
- Dann ging es eine zeitlang um die Verstetigung der Angebote und die Unterbringung der Menschen in anderen Unterkünften als Turnhallen.
- Und dann kamen plötzlich doch keine Menschen mehr bei uns an: Die aufgebauten Strukturen, die eingestellten Menschen etc. mussten und müssen immer noch mit dem gleichen Aufwand abgebaut werden. Und- ganz ehrlich – die Integration der zu uns gekommenen Menschen hat gerade erst begonnen.
In diesen sich permanent verändernden Umwelten mit eindeutigen Prozessen und Zuständigkeiten umzugehen, funktioniert nicht.
Ähnlich verhält es sich mit der Neueinführung von Dienstleistungen: Sie können nicht wissen, ob das von Ihnen erdachte „Produkt“ den Bedarfen der Menschen entspricht, für die es entwickelt wurde. Hier müssen Sie inkrementell vorgehen, in Schleifen: Testen, anpassen, verbessern, mit den Menschen sprechen, weiter entwickeln… In sich immer weiter entwickelnden Schleifen. Sie müssen ausprobieren und Experimente machen.
Die innovative Dienstleistungsentwicklung bedarf somit anderer, flexibler Wege als den Weg der bestehenden, fest beschriebenen Prozesse im Prozesshandbuch.
Wege zwischen Offenheit und Geschlossenheit – Innovation ermöglichen!
Welche Wege gibt es also, die zwischen der Geschlossenheit und der Offenheit liegen? Was können Sie konkret tun, um einerseits erfolgreich im Sinne des Zwecks Ihrer Organisation zu sein, andererseits aber auch so flexibel und offen, um auf die sich zunehmend schneller stattfindenden Veränderungen reagieren zu können?
Prozesse analysieren und reduzieren
Als erster Schritt ist es notwendig, die in Ihrer Organisation bestehenden Prozesse zu analysieren. Nur so kommen Sie zu einem Bild der zumindest irgendwo festgehaltenen Prozesse. Dieses Bild der analysierten Prozesse sollten Sie dann auf die Notwendigkeit der Prozesse untersuchen: Brauchen wir diesen Prozess in unserer Organisation tatsächlich? So macht es Sinn, die vorhandene Prozessstruktur möglichst sinnvoll und übersichtlich zu halten, um schon allein dadurch beweglicher zu sein.
Nicht die Prozesse selbst sind das Problem und auch nicht das Befolgen der Prozesse. Problematisch ist, dass das eigentlich Ziel des Prozesses den Ausführenden verlorenen gegangen ist oder nie vermittelt wurde.
Situationsadäquat handeln (lassen)
Handelt es sich um einen sich wiederholenden Prozess oder geht es gerade um bspw. die Neuentwicklung einer Dienstleistung, die Entwicklung Ihrer Organisation, die kreative Gestaltung von neuen Lösungswegen, die Innovationsentwicklung? Sie müssen zwischen diesen beiden Polen abwägen: Um welche Situation handelt es sich gerade? Wenn Innovation, dann beharren Sie nicht darauf, dass irgendwelche in diesem Kontext nicht sinnvollen Prozesse einzuhalten sind. Das frustriert jeden innovationsorientierten Mitarbeiter.
Mitarbeiter loslassen
A propos innovationsorientierte Mitarbeiter: Diesen sollten Sie Möglichkeiten eröffnen, ihre Ideen in geschütztem Rahmen mit entsprechenden zeitlichen und finanziellen Ressourcen ausprobieren zu lassen. Lassen Sie die Menschen machen! Lassen Sie Ihre Mitarbeitenden ausprobieren. Beharren Sie in diesem Kontext nicht darauf, dass irgendwelche Prozesse eingehalten werden. Beharren Sie lieber auf dem Mut Ihrer Mitarbeiter! Sie werden den Weg gehen!
Innovationsprozess etablieren
Jetzt passt es aber wirklich nicht mehr? Oben zu schreiben, dass Innovation und Prozesse nicht zusammenpassen und hier einen Innovationsprozess zu fordern, ist ziemlich absurd, oder? Naja, auch da sollten Sie vorsichtig sein: Mir geht es in diesem Punkt darum, einen Prozess zu etablieren, der es für Menschen, die in Ihrer Organisation neue, innovative Ideen haben, ermöglicht, diese Idee auch zum Leben zu erwecken. Und dieses Umsetzen von Ideen machen diese erst zu Innovationen! Konkret sollte bspw. geregelt sein, wie Mittel zur Freistellung beantragt werden können, um die Idee weiter zu verfolgen. Es sollte klar sein, wer dafür zuständig ist, Entscheidungen zur Umsetzung der neuen Idee zu treffen, es sollten die Wege klar sein, die die Mitarbeitenden – auch unabhängig vom direkten „Vorgesetzten“ – gehen können, um mit ihrer Idee weiter zu kommen.
Fazit
Man kann sehr kurz zusammenfassen:
[Tweet „Prozesse machen Sinn in Kontexten, in denen Prozesse Sinn machen.“]
Aber:
Machen Ihre Prozesse Sinn?
Denken Sie einmal darüber nach…
Zum Weiterlesen:
- Der Beitrag ist Teil meiner kleinen Serie zur Innovationskompetenz von Organisationen der Sozialwirtschaft. Die bislang erschienenen Beiträge dazu finden Sie hier und als kurze Einführung hier.
- Hier noch einmal der Beitrag von Marcus Raitner zur Frage nach dem Sinn von Prozessen
- Übrigens lässt sich der Begriff der Innovation gut zerlegen in Dienstleistungs- und Prozessinnovationen. Unter Prozessinnovationen lassen sich dann eben auch Verbesserungen organisationaler Abläufe oder Geschäftsprozesse fassen.
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