Krise? Kennen Sie, oder? Entweder ganz persönlich, oder auch in Bezug auf Ihre berufliche Tätigkeit oder sogar im Hinblick auf die Organisation, für die Sie verantwortlich sind?
Wahrscheinlich kann jeder die Frage mit einem eindeutigen Ja beantworten: Persönliche Krisen zumindest (da ist die subjektive Auslegung enorm breit), wahrscheinlich auch Probleme im Job, da kann jeder irgendwie mitreden.
Unternehmenskrisen
Spannend wird es mit Blick auf Krisen von Unternehmen.
Hier kennt natürlich auch jeder irgendwelche Beispiele (Nokia lässt sich wunderbar heranziehen, aber auch Kodak).
Im Kontext der klassischen Sozialwirtschaft jedoch spricht man nicht unbedingt gerne über Krisen, Insolvenzen gar.
Außerdem stehen hinter den meisten Einrichtungen große Träger, die eine Insolvenz lange hinauszögern können. Gleichzeitig findet man Aussagen wie die der sich auf Organisationen der Sozialwirtschaft spezialisierten Unternehmensberatung „Rosenbaum + Nagy“:
„Existenzbedrohende Fehlentwicklungen bis hin zu Insolvenzen sind in der Sozialwirtschaft mittlerweile keine Einzelfälle mehr. Ursachen können sowohl zunehmend enge Refinanzierungsmöglichkeiten bei steigenden (Personal)Kosten als auch falsche Managemententscheidungen oder der Wegfall lukrativer Aufträge sein. Oft werden krisenhafte Entwicklungen hinsichtlich ihrer Brisanz und Intensität unterschätzt oder zu spät erkannt.“
Spannend sind auch die Ausführungen der Bank für Sozialwirtschaft aus dem Jahr 2011:
„Die Sozialwirtschaft wurde in den letzten Jahren durch zahlreiche Insolvenzen aufgeschreckt. Sie betreffen nicht nur gewerbliche Anbieter, sondern Träger aller Größenordnungen und aus allen großen Wohlfahrtsverbänden.“
Leider findet sich im gleichen Dokument auch die Aussage:
Der Einsatz klassischer betriebswirtschaftlicher Instrumente gehört mittlerweile zum Standardrepertoire. Er wird von internen Anspruchsgruppen, z. B. Aufsichtsrat, zunehmend gefordert und von externen Anspruchsgruppen, z. B. Kreditgebern, als selbstverständlich vorausgesetzt.
Aus meiner Sicht sollte man dringend hinterfragen, ob nicht gerade diese klassischen betriebswirtschaftliche Instrumente zu den Insolvenzen geführt haben!
Naja, anderes Thema…
Es lässt sich festhalten: Das Thema Unternehmenskrise ist ein relevantes Thema, auch in Organisationen der Sozialwirtschaft.
Idealtypische Phasen der Unternehmenskrise
Wenn man sich mit Unternehmenskrisen befasst, stößt man schnell auf ein Phasenmodell. Dieses Modell bildet die idealtypischen Phasen der Unternehmenskrisen ab. Idealtypisch klingt in diesem Kontext etwas komisch. Aber wenn Sie sich Unternehmenskrisen anschauen, stellen Sie fest, dass diese recht regelhaft in den folgenden (oder ähnlichen) Phasen verlaufen:
Stakeholderkrise:
Hierunter wird gefasst, dass Meinungsverschiedenheiten unter den internen Stakeholdern einer Organisation zu Effizienzverlusten führen. Durch Konflikte von Geschäftsführung mit dem Vorstand, vom Vorstand mit den Mitarbeitenden oder den Mitarbeitenden mit der Geschäftsführung werden Entscheidungen verzögert (oder ggf. gar nicht getroffen). Aspekte wie Leitbild oder adäquate Mitarbeiterführung werden gar nicht mehr beachtet. Problematisch ist jedoch, dass den Verantwortlichen in dieser Phase nicht bewusst ist, dass sie in einer Unternehmenskrise stecken.
Strategiekrise:
Durch die Stakeholderkrise bzw. durch interne Konflikte, Uneinigkeiten etc. kommt es dazu, dass die strategische Ausrichtung des Unternehmens zunehmend in den Hintergrund rückt, ggf. vorhandene Wettbewerbsvorteile werden nicht (mehr) genutzt. Vor allem aber werden neue Entwicklungen auf den relevanten Märkten nicht rechtzeitig erkannt. Die Organisation reagiert nicht auf sich verändernde Rahmenbedingungen. Und Wikipedia schreibt: „Eindeutiges Kennzeichen der Strategiekrise sind sinkende Marktanteile. “ In der Literatur (und der Realität, übrigens) fällt oftmals die Phase „Stakeholderkrise“ und „Strategische Krise“ zusammen, da schwer zu unterscheiden ist, wo die Stakeholderkrise endet und die Strategiekrise beginnt.
Produkt- und Absatzkrise:
Der Absatz der Produkte sinkt in absoluten Zahlen. Das klingt aus der Perspektive der Organisationen der Sozialwirtschaft jetzt etwas komisch, lässt sich aber durchaus übertragen: Wenn die Belegung bspw. in stat. Jugendhilfeeinrichtungen (dauerhaft) zurückgeht oder die Jugendlichen in offenen Jugendtreffs die Angebote nicht mehr wahrnehmen, lässt sich von einer Absatzkrise sprechen.
Erfolgskrise:
Auf die Absatzkrise folgt die Erfolgskrise, die dadurch geprägt ist, dass die (finanziellen) Ergebnisse der Organisation immer schlechter werden. Das Eigenkapital wird nach und nach aufgezehrt. In Organisationen der Sozialwirtschaft tritt hier oftmals der Träger in Erscheinung, der – zumindest kurzfristig – die Organisation querfinanziert. Dauert die Erfolgskrise jedoch an, rückt die
Liquiditätskrise
immer näher: Diese liegt dann vor, wenn eine konkrete und akute Gefahr der Zahlungsunfähigkeit besteht. „Es liegt zu diesem Zeitpunkt bereits eine sehr ungünstige Finanzierungsstruktur vor (viel kurzfristiges oder fälliges Fremdkapital, fehlende Fristenkongruenz) und die früheren Erfolgsfaktoren des Unternehmens sind nicht mehr wirksam. Die Leistungsfähigkeit ist stark eingeschränkt.“
Und wenn Sie nicht mehr zahlen können folgt – genau – die Insolvenz!
Und? Wo stehen Sie oder die Organisation, in der Sie arbeiten? 😉
Das können Sie für sich selbst beantworten und – falls Sie feststellen, dass etwas nicht ganz richtig läuft – auch überlegen, welche Gegenmaßnahmen Sie ergreifen könn(t)en.
Die Strategiekrise der Sozialwirtschaft
Hier soll es aber spezifisch um die Strategiekrise der Sozialwirtschaft gehen. Dazu noch einmal etwas konkreter:
Relevant für die Strategiekrise ist, dass neue Entwicklungen auf relevanten Märkten nicht rechtzeitig erkannt werden. Eine Re-Aktion, gar eine Aktion im Hinblick auf sich verändernde Rahmenbedingungen ist nicht mehr möglich bzw. wird nicht unternommen. Die Marktanteile sinken.
Klar, hier sind einige Begrifflichkeiten, die im Kontext von Organisationen der Sozialwirtschaft befremdlich klingen: Markt oder Marktanteile. Über diese Begriffe lässt sich vortrefflich diskutieren. Aber auch darum geht es in Organisationen der Sozialwirtschaft:
Wie oben schon mal gesagt: Wenn die Zielgruppe Ihres Jugendhauses die Jugendlichen der Stadt sind, Sie diese aber nicht mehr erreichen, dann haben Sie ein Problem mit Ihrem „Markt“. Und wenn die Jugendlichen lieber zur Konkurrenz (wer auch immer das ist) gehen, sinken Ihre Marktanteile.
Für Sie als verantwortliche Führungskraft ist es natürlich relevant, zu erfahren, welche Entwicklungen es auf welchen für Sie relevanten Märkten es gibt. Es ist relevant für Sie, zu erfahren, welche Bedingungen sich so ändern, dass Sie darauf reagieren müssen. Mit Blick auf Ihre je spezifische Organisation lässt sich hier – in diesem Blog – natürlich keine Aussage dazu treffen, da die Bedingungen, in denen Sie agieren, viel zu spezifisch sind: Stadt, Land, Groß, Klein, Zielgruppe, Träger… viele Aspekte, die eine Rolle im Hinblick auf potentielle Bedingungen für strategische Unternehmenskrisen spielen.
Hier macht es Sinn, wenn Sie sich Ihre Organisation ganz spezifisch anschauen und – vielleicht auch mit externer Hilfe und Organisationsanalyseinstrumenten – überlegen, wohin sich der Weg Ihrer Organisation entwickeln kann und worauf Sie achten sollten.
Ich will hier jedoch einen Schritt weiter gehen und die Strategiekrise auf die gesamte sozialwirtschaftliche Branche beziehen. Oder anders formuliert:
Steckt die Sozialwirtschaft in einer strategischen Krise?
In der aktuellen Zeitschrift „Sozialwirtschaft aktuell“ (06/2017, S. 6) heißt es:
„Von innovativen Angeboten der IT-Unternehmen fühlen sich vor allem Dienstleister herausgefordert. Vier von zehn Dienstleistungsunternehmen (39 Prozent) geben an, dass die neue Konkurrenz mit innovativen Lösungen überrascht habe.“
Neue Konkurrenz? Innovative Lösungen? Huch!
Überraschung!
Auf die Frage, ob die Sozialwirtschaft in einer Strategiekrise steckt, bin ich durch einen lesenswerten Artikel im Blog „Unternehmensdemokraten“ gekommen.
In dem Artikel wird – kurz – die klassische, deutsche Automobilindustrie hinsichtlich ihrer Strategiekrise im Fokus auf die Elektromobilität beleuchtet. Die zentrale Feststellung ist, dass es Firmen wie bspw. Tesla nicht primär um den Verkauf von Autos geht, sondern deren Geschäftsmodell eindeutig die Bereitstellung von individueller Mobilität ist.
Dazu aber später noch einmal mehr.
Zunächst der Blick auf die Sozialwirtschaft, oder:
[Tweet „Wo sind die Elon Musks der Sozialwirtschaft?“]
Zeichnen sich am Horizont Veränderungen ab, die eine ähnliche Dimension für die Sozialwirtschaft haben, wie es Uber für die Taxi- oder AirBnB für die Hotelbranche hatten und haben? Muss man überhaupt immer auf diese spektakulären Beispiele disruptiver Innovationen verweisen?
Nein, es reicht auch bspw. zu schauen, wie die Seilbaggerhersteller vor ein paar (vielen) Jahren auf die Hydraulikbaggerhersteller reagiert haben: Alles kein Problem, die Hydraulik bewährt sich im harten Baustellenalltag sowieso nicht, blablabla, zack, weg! Oder Leica als Big player in der Herstellung von Kameras, oder Kodak oder, oder, oder.
Hier die (fast) letzten Worte von Hanns-Peter Cohn, damaliger Vorstandschef von Leica, im Jahre 2004:
„Die Digitaltechnik setzt auf Masse, auf Tempo und ist damit wie die E-Mail ein Ausdruck unserer Zeit. Mit den Handy-Kameras kommt auch noch die Innovation privater Paparazzi. Aber Fotografieren ist etwas anderes, etwas Besinnliches – das wird es immer geben.“ „Die Digitaltechnik ist nur ein Intermezzo. In spätestens 20 Jahren werden wir sicher mit anderen Technologien als heute fotografieren. Aber den Film wird es dann immer noch geben.“
Disruption und Sozialwirtschaft
Disruption im Kontext der Sozialwirtschaft ist möglich. Allein das Beispiel „buurtzorg“ im ambulanten Pflegesektor der Niederlande zeigt dies eindrucksvoll: Im Jahr 2007 von vier Menschen gegründet, arbeiten aktuell etwa 14.000 Menschen für buurtzorg – ein enormer Marktanteil im ambulanten Pflegesektor (unterschiedliche Quellen sprechen von 70 – 90 %). Warum sollte so etwas in Deutschland nicht möglich sein? Übrigens: Es arbeiten schon einige Organisationen daran…
Social Entrepreneurship als die Teslas der Sozialwirtschaft?
Und es arbeiten einige Organisationen aus Bereich der „Social Entrepreneurship“ Szene daran.
Und nein, diese Organisationen arbeiten nicht daran, irgendwelche Geschäftsmodelle der Sozialwirtschaft zu zerstören!
- Diese Organisationen arbeiten daran, gesellschaftlich (mehr oder weniger relevante) Probleme zu lösen.
- Diese Organisationen arbeiten daran, Bildung neu zu denken, in Kita, Kindergarten, Schule, Hochschule, aber auch im Sozialwesen.
- Diese Organisationen interessiert überhaupt nicht, ob der Caritasverband Buxtehude (den gibt es nicht wirklich) in einem ähnlichen Sektor arbeitet und diesem damit ggf. Einnahmen wegbrechen könnten.
- Diese Organisationen arbeiten nur entspannt, öffentlich sichtbar und innovativ daran, ein Problem zu lösen – so wie Tesla daran arbeitet, die Mobilität zu revolutionieren und nicht im geringsten daran interessiert ist, ob VW, BMW, Mercedes, Porsche… auch Autos bauen. Übrigens werden diese Social Entrepreneurs auch noch öffentlich – und das gar nicht so knapp – gefördert.
Noch ein Beispiel? Hier klicken.
Fazit, oder: Das Geschäftsmodell der Sozialwirtschaft
Was aber ist das Business Model der klassischen Sozialwirtschaft?
Uhhhh…. Business Model… Schon wieder so ein neoliberaler Kraftausdruck.
Aber wenn man mal jegliche Ideologie draußen lässt, bleibt doch die Frage nach dem Wozu:
Wozu gibt es die klassische Sozialwirtschaft? Oder, heruntergebrochen: Wozu gibt es Ihre Organisation?
Ich denke, dass wir uns übergreifend viel mehr Gedanken um diese Frage machen sollten. Und Sie sollten sich über diese Frage in Bezug auf Ihre Organisation ebenfalls Gedanken machen: Wozu gibt es Ihre Organisation?
Kennen Sie dieses kleine Video von Simon Sinek? Nein? Dann sollten Sie es jetzt einmal anschauen:
Indem Sie sich Gedanken zum Wozu Ihrer Organisation machen, indem wir alle uns Gedanken zum Wozu der Sozialwirtschaft machen, besteht die Möglichkeit, die strategische Krise zu überwinden oder – noch besser – es gar nicht erst soweit kommen zu lassen.
Außerdem ist es zur Vermeidung strategischer Krisen sinnvoll, immer wieder einen Blick nach außen zu richten, Grenzen zu überwinden und damit Innovationen aus den eigenen Reihen zu ermöglichen.
Ein ermutigendes Beispiel habe ich am Freitag morgen erlebt:
Eva Welskopp-Deffaa, neue Frau im Vorstand des Deutschen Caritasverbands, stellt die Innovationsfähigkeit der Caritas und das Thema Digitalisierung ganz vorne auf die Agenda! Ich freu mich drauf!
https://twitter.com/HendrikEpe/status/880745471026888705
Zum Weiterlesen:
- Der Beitrag ist Teil meiner kleinen Serie zur Innovationsfähigkeit von Organisationen der Sozialwirtschaft. Die bislang erschienenen Beiträge dazu finden Sie hier , hier und als kurze Einführung hier.
Ähnliche Beiträge:
- Podcast: Ist eine agile Organisation krisenfester? „Ich hoffe, dass jede Organisation in einen gemeinsamen Reflexionsprozess kommt....
- Wie gelingt gute Zusammenarbeit im Team? Arbeiten wir wirklich als Team zusammen? Und wenn ja: Was...
- Coworking als Innovationsraum zur Steigerung der Innovationsfähigkeit sozialer Organisationen Irgendwie fasziniert mich dieses „Coworking“ ja. Die Möglichkeit der Zusammenarbeit...
- Verbundenheit statt Sinn Es bleibt, nach dem Hype um New Work als elitären...