In aktuellen Diskussionen um Arbeit 4.0, New Work oder wie auch immer ist viel von Selbstorganisation zu lesen. Hier kannst Du lesen, warum das mit der Selbstorganisation in Organisationen der Sozialwirtschaft so wichtig, eigentlich aber nicht realisierbar ist, da Selbstorganisation vor allem Vertrauen voraussetzt. Oder funktioniert Selbstorganisation etwa doch?
Selbstorganisation? Was ist das eigentlich?
Selbstorganisation taucht in unterschiedlichen Begrifflichkeiten und unterschiedlichen Kontexten auf. Falls Du Einsteiger:in in die Thematik bist, hier ein paar Links, die ich zur Lektüre empfehle:
- Hier findet Ihr ein Interview mit Michaela Scheller. Sie sagt: „Der Weg von einer traditionell organisierten Organisation hin zu mehr Selbstorganisation ist nicht in einem Tag oder mit einem Workshop erledigt. Der Weg gleicht eher einer Reise!“
- Der Trend zu New Work, zu so genannten “Teal-Organisationen”, zur Holokratie und Selbstorganisation von Teams ist allgegenwärtig. Warum das so ist, erklärt hier Svenja Hofert.
- Hier schreibt Marcus Raitner, warum Arbeit am System (und nicht nur im System) immer wichtiger wird und was das mit Selbstorganisation zu tun hat.
Ihr seht schon jetzt, unterschiedlichste Zugänge zum Thema Selbstorganisation. Zusammenfassend fokussiert die Diskussion um Selbstorganisation also darauf, in einer VUCA-Welt adäquat agieren zu können.
Früher war das anders
Gesellschaftliche und technologische Entwicklung gab es früher natürlich auch. Sonst würden wir immer noch auf Bäumen sitzen (manchmal eine schöne Vorstellung…).
Jedoch war – zumindest gefühlt – die Geschwindigkeit der Entwicklung eine völlig andere – und zwar eindeutig langsamere.
Hinzu kommt, dass durch die Möglichkeiten der Massenproduktion, der Fließbandarbeit und des Taylorismus die Komplexität der Lebens- und insbesondere der Arbeitswelt deutlich geringere Ausmaße hatte, wie dies heutzutage bereits und in Zukunft verstärkt der Fall sein wird.
Selbstorganisation für lebendige und zukunftsfähige Organisationen
Selbstorganisation verfolgt somit das Ziel, durch Rückverlagerung der Verantwortung für anfallende Aufgaben, der Durchführung der anfallenden Aufgaben und der Weiterentwicklung der anfallenden Aufgaben an die Menschen, die die Aufgaben tatsächlich ausführen, lebendige und zukunftsfähige Organisationen zu gestalten.
Die Trennung zwischen Denken und Handeln (Management und Mitarbeit) soll aufgelöst werden.
Selbstorganisation basiert auf dem Vertrauen, dass Menschen, denen die Verantwortung für ihre Aufgaben (zurück) gegeben wird, diese auch verantwortlich ausführen.
Schon hier findet sich das in dem Kontext wesentliche Wort des Vertrauens.
In der Extremform bedeutet die Entscheidung einer Unternehmensleitung, Selbstorganisation als Prinzip einzuführen, in letzter Konsequenz die Abschaffung des Managements und damit auch der Unternehmensleitung: Entscheidungen werden nicht mehr im Management getroffen, sondern direkt auf Ebene der Mitarbeitenden.
Es bedarf keines Chefs mehr, der sagt, wo es langzugehen hat. Es bedarf keines Controllings, keines Personalmanagements, keiner unfruchtbaren Meetings etc. mehr. Die Mitarbeitenden organisieren sich selbst.
Selbstorganisation eben.
Selbstorganisation- ganz, gar nicht oder kaputt!
Problematisch dabei ist jedoch die halbherzige Umsetzung von Selbstorganisation. Ich sehe viele Organisationen, Einrichtungen, Projekte, die genau das versuchen und damit kläglich scheitern.
Selbstorganisation funktioniert nur in letzter Konsequenz.
Sofern das angesprochene Vertrauen in die Selbstorganisationsfähigkeiten der Mitarbeiter und übergreifend der Organisationseinheiten nicht wirklich gelebt wird, kommt es zum Gegenteil des eigentlich Beabsichtigten.
Beispielhaft dazu eine kleine, natürlich fiktive, Geschichte:
Die Teamleitung einer kleinen Abteilung in einer größeren Organisation entscheidet sich dazu, zukünftig auf das Prinzip der Selbstorganisation zu setzen. Das macht man ja so und außerdem hat man als Teamleitung ja deutlich weniger Arbeit. Die Mitarbeiter organisieren sich ja selbst. Es besteht Freiheit in der Art und Weise wie die Arbeitszeiten gestaltet werden können, es besteht Freiheit dahingehend, wie und von wem anstehende Aufgaben erledigt werden. Das Ganze ist natürlich mit der Unternehmensleitung abgesprochen: „Macht Ihr mal, solange die Zahlen, Ergebnisse stimmen, die Ziele erreicht werden…“
Schwierig wird es aber, wenn bspw. hinsichtlich der Arbeitszeit zwar die grundlegende Freiheit besteht, diese zu gestalten, wie es passt, die Sekretärin jedoch bei jedem früheren Gehen bzw. späteren Kommen der Mitarbeitenden auf die Uhr schaut.
Oder wenn es lange und nicht zielführende Diskussionen um rein technisch völlig unkomplizierte Homeoffice-Regelungen gibt.
Oder wenn die ausgehenden Mails an Kunden vom Chef gelesen und intern – entweder personenspezifisch oder auch von allen Mitarbeitenden der Abteilung einsehbar – kommentiert werden: „Das hätte ich aber so und so geschrieben, da hätte ich aber dies und jenes gemacht…“. Das könnte man jetzt noch weiter ausführen, aber ich denke, es ist klar geworden, um was es geht:
Vertrauen wird gefordert, aber nicht gelebt.
„Wenn Sie also Mitarbeiter richtig demotivieren wollen beschreiben Sie haarklein wie das Ziel erreicht werden soll, geben Sie die Einzelschritte vor und kontrollieren dann unnachgiebig die Erfüllung Ihres vorgegebenen Plans. Oder noch wirksamer: Sie übernehmen die wichtigen Schritte gleich selbst! Natürlich ohne vorherige Abstimmung mit den Mitarbeitern über Ihre großzügige „Hilfe“.“
Was passiert jedoch bei den Mitarbeitenden?
Die Mitarbeitenden werden in ein Dilemma gezwängt:
Auf der einen Seite sollen sie ihre Aufgaben selbstverantwortlich ausführen. Es wird Engagement erwartet. Es wird gefordert, dass die Menschen mitdenken, eben – Verantwortung übernehmen.
Auf der anderen Seite sehen sich die Mitarbeitenden permanent der – nicht offen ausgesprochenen – Notwendigkeit gegenüber, ihr Tun zu rechtfertigen. Bis hin zu der Vorstellung: „Chef entscheidet sowieso letztendlich“.
Die Mitarbeitenden beginnen damit, nicht mehr zu überlegen, ob ihr Handeln in der jeweiligen Situation mit Blick auf den Kunden gut und richtig ist. Sie beginnen zu überlegen, ob ihr Handeln dem Chef gefällt, ihm passt oder auf seiner Linie liegt. Oft passt zwar beides, manchmal jedoch nicht. Im Ergebnis kann man es so machen, ist dann aber eben kacke…
Selbstorganisation im Kontext von Organisationen der Sozialwirtschaft
Wenn man Diskussionen in den sozialen Medien verfolgt, wenn man mit den Menschen in Organisationen der Sozialwirtschaft spricht, wenn man Studierende befragt, kann man zu dem Eindruck kommen, dass irgendetwas nicht stimmen kann.
Da werden gut und vor allem breit ausgebildete, intelligente Menschen kurz nach ihrem Einstieg in das Berufsleben frustriert.
Ja, das kann mit der Bezahlung zusammenhängen, allerdings bin ich davon überzeugt, dass dies nicht der wesentliche Faktor ist:
Der wesentliche Faktor für Mitarbeiterzufriedenheit ist Selbstorganisation und damit einhergehend auch Selbstverantwortung.
Lars Voller fasst dies wie folgt zusammen:
„Organisationen brauchen keine Hierarchie, sondern Transparenz und Selbstorganisation. So entstehen gesunde Bindungen zwischen Mitarbeitern und Unternehmen – und sehr wettbewerbsfähige Organisationen.“
Jetzt stehen wir in der Sozialwirtschaft vor dem Problem, dass die Finanzierung sozialer Arbeit im Wesentlichen von öffentlichen „Kostenträgern“ abhängt. Das Leistungsdreieck der Sozialwirtschaft muss ich hier nicht näher ausführen.
Das führt aber dazu, dass die Organisationen in der Zielsetzung ebenso wie in der Ausführung, also den Strukturen und Prozessen, zu Teilen gebunden sind an externe Vorgaben. Da kann man noch so motiviert sein, die Organisation anders aufzustellen, da können noch so charismatische Leader am Werk sein, da können die Mitarbeitenden noch so begeistert sein: Am Ende muss das Angebot der Leistungen nicht nur für die Nutzer und Nutzerinnen der Dienstleistungen (dem Klientel, oder wie auch immer) sinnvoll und nutzbringend sein.
Auch der Kostenträger bestimmt mit, wie die Leistung auszusehen hat.
Conen schreibt, sehr einprägsam, dass psychosoziale Berufe „(…) in einem Arbeitsbereich tätig sind, in dem Politik – wie kaum in einem anderen Bereich – ständig wirkt, sich einmischt und versucht, sich mit ihren Interessen durchzusetzen.“
Wer die Agilität der Verwaltungen oder übergreifend des Politiksystems kennt, weiß, wo die Probleme liegen: Da bestimmen Menschen, die wenig Ahnung von den aktuellen und lokalen Problemen und Herausforderungen der Organisationen haben, über Art und Umfang der angebotenen Leistungen.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Organisationen zu Teilen keine Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung ihrer Prozesse und Strukturen haben und damit sowas wie dringend benötigte Selbstorganisation nicht mal eben so einfach implementieren können. Geschäftsführer von Einrichtungen können nicht über die Trägervorgaben hinwegsehen. Sie können auch nicht über die Vorgaben der externen Finanziers, Kostenträger, hinwegsehen.
Und das, obwohl soziale Arbeit auf Selbstorganisation und die Selbstverantwortung der Mitarbeitenden angewiesen ist!
In der täglichen Arbeit müssen die Professionellen immer wieder eigenverantwortlich, selbstgesteuert, idealerweise vor dem Hintergrund einer professionellen Haltung, mit entsprechendem Wissen und Kompetenzen agieren und reagieren: „Wenn ich nicht blitzschnell eine Entscheidung treffe, haut der Jugendliche mir eine auf die Nase.“
Gleichzeitig besteht jedoch das Gefühl, bei den zu treffenden Entscheidungen immer „mit einem Bein im Knast“ zu sitzen, oder, weniger übertrieben:
Die Professionellen müssen in den Situationen immer wieder abwägen, ob die Entscheidung nicht nur gut und sinnvoll im Sinne des/der Klienten/Klientin (ich liebe gendergerechte Sprache…) ist. Sie müssen auch immer im Kopf haben, ob sie überhaupt so entscheiden dürfen, ob die Organisation und ob die Finanziers der Leistungen die Entscheidung mittragen können und ob die Entscheidung rechtlich Konsequenzen nach sich ziehen kann.
Übergreifend stelle ich mir die Frage, ob die grundlegenden Ziele sozialer Arbeit nicht im Einklang stehen mit den organisationalen Rahmenbedingungen, in denen Soziale Arbeit angeboten wird?
Bspw. bedeutet das Konzept der Lebensweltorientierung, „die individuellen sozialen Probleme der Betroffenen in deren Alltag in den Blick zu nehmen sowie den Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuchen der Betroffenen mit Respekt und Takt, aber auch mit wohlwollend-kritischer Provokation im Zielhorizont eines „gelingenderen Alltags“ zu begegnen.“
Das findet sich bei den meisten Konzepten Sozialer Arbeit: Klar fokussiert auf das Klientel! Macht ja auch Sinn. Die organisationalen Bedingungen, in denen Soziale Arbeit stattfindet, wird jedoch nicht berücksichtigt
Die Organisation will jedoch etwas anderes.
Dieses Dilemma führt im Extremfall dazu, das NICHTS passiert:
Die dringend notwendige Entscheidung zur Herausnahme des Kindes aus der Familie wird nicht getroffen, da die Finanzierung nicht gesichert und der kommunale Haushalt sowieso schon überlastet ist. Also passiert nichts, mit den uns allseits bekannten Folgen. Am Ende ist, wie so oft, der Sozialarbeiter schuld, weil er die Entscheidung nicht getroffen hat.
Dass er sie jedoch – auch und vornehmlich aus organisationalen Gründen – gar nicht treffen konnte, wird außen vor gelassen.
Jetzt die Frage an Dich:
Kennst Du dieses Dilemma? Ist es Thema bei Dir und bei Euch im Team und wie geht ihr mit dem Dilemma um? Und wo liegen Wege, aus dem Dilemma herauszukommen?
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