„Reflexionsräume? Das passt bei uns nicht mehr. Unser Haus ist ja sowieso schon komplett voll. Wo sollen wir denn sowas einrichten?“
Oder:
„Wir haben schon einen Snoozle-Raum. Jetzt sollen wir auch noch einen Reflexionsraum einrichten?“
Diese Fragen stellen sich vielleicht mit Blick auf den Begriff Reflexionsraum.
Was ist ein Reflexionsraum?
Aber es geht mir nicht um den Raum als bauliche Maßnahme. Mir geht es um den Raum im Sinne der zur Verfügung stehenden Zeit. Es geht um die Möglichkeit, über das, was in den Organisationen passiert, nachzudenken, zu reflektieren.
Unsicherheit braucht Phasen der handlungsbezogenen Selbstreflexion
In meinem letzten Beitrag habe ich über die Möglichkeiten geschrieben, wie man (individuell, vor allem) mit komplexen Situationen besser umgehen kann. Konkret ging es um Unsicherheit und den individuellen Umgang damit. Ich habe ein paar Faustregeln für den Umgang mit Unsicherheit vorgestellt, basierend auf dieser lesenswerten Rede von Prof. Lantermann der Uni Kassel.
Eine dieser Faustregeln war die Folgende:
Um mit komplexen und damit potentiell unsicheren Situationen umgehen zu können, braucht es Phasen der handlungsbezogenen Selbstreflexion. Handlungsbezogene Selbstreflexion kann sich dabei auf die Einzelperson, genauso aber eben auch auf das Team oder die Organisation als Ganzes beziehen.
Es geht somit darum, als Team oder Organisation immer wieder innezuhalten.
Supervision als Nikotinpflaster
Die versierten Sozialarbeiter werden jetzt sagen, dass dieses Innehalten doch – zumindest in den meisten Organisationen – über Maßnahmen wie die Supervision oder auch Teamtage oder ähnliches abgedeckt wird. Oftmals kommen individuelle oder teambezogene Weiterbildungen der Mitarbeitenden hinzu. Themen sind dann bspw. „gewaltfreie Kommunikation“ oder „Stressbewältigung in schwierigen Teams“. Die Angebote in diesem Bereich sind unüberschaubar und jeder, der ein wenig kreativ ist, kann sich hier lustige Dinge ausdenken und mit ein wenig Marketing-Geschick wahrscheinlich auch noch Geld verdienen.
Bei diesen Angeboten und auch bei der etablierten und in vielen Situationen dringend benötigten und wirklich sinnvollen Supervision muss man jedoch vorsichtig sein:
Aus meiner Perspektive setzen die Angebote nicht an der Organisation an. Sie setzen entweder am Individuum oder am Team an. Die Jugendlichen auf der Wohngruppe sind zu krass drauf? Fallsupervision! Das Team fiunktioniert nicht im Sinne der Geschäftsführung? Teamsupervision! Der Krankenstand erhöht sich beträchtlich? Stressbewätigungsseminar!
Das ist wie das Nikotinpflaster bei dem Versuch, das Rauchen aufzuhören: Zum aktuellen Zeitpunkt wirklich wichtig, hilfreich und gut. Das Pflaster senkt – wie die Teamentwicklungsmaßnahme – den Druck. Wenn man aber – ein persönliches Thema – mit dem Rauchen aufhören will, hilft das Nikotinpflaster nicht. Es führt eher in eine stärkere Abhängigkeit, erhöht damit sozusagen den Druck. Konsequent, sinnvoll und nachhaltig ist nur, das Nikotin aus dem Körper zu bekommen und dann – sehr sehr langfristig – die Konditionierung im Gehirn zu überschrieben (hach, bin ich ein guter Theoretiker…).
Aber wieder zurück zur Organisation und der Frage, warum es dringend Reflexionsräume in Organisationen der Sozialwirtschaft braucht.
Reflexionsräume mit Blick auf die Organisation als Ganzes
Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich Organisationen der Sozialwirtschaft – wie ich es schon des Öfteren erwähnt habe – in einem permanenten Wandlungsprozess befinden. Ohne die Hintergründe im Detail zu erläutern, müssen sich auch Organisationen der Sozialwirtschaft – wie alle Organisationen – den sich in der heutigen Zeit stellenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen stellen. Wiederum sind hier bspw. die Digitalisierung, die Globalisierung, veränderte Wertesysteme und noch einige mehr zu nennen. Falls ihr mehr dazu wissen wollt, nehmt einfach Kontakt auf, ich habe dazu in meiner Master-Thesis recht intensive Überlegungen angestellt.
Dieser Wandlungs- oder Transformationsprozess stellt selbstverständlich viele Herausforderungen an die Organisationen, auch und insbesondere in der Art, wie in den Organisationen zusammengearbeitet werden soll. Wie soll auf die zunehmende Digitalisierung reagiert werden? Welche Chancen und Risiken ergeben sich durch die Globalisierung, den demografischen Wandel, zunehmende Individualisierungstendenzen und so weiter und so fort. Die sowieso üblichen Veränderungen – neue Mitarbeitende, neue Produkte und Dienstleistungen etc. – laufen übrigens parallel weiter…
Vor dem Hintergrund dieser enormen, hier maximal skizzierten, über die normalen Veränderungen hinausgehenden Veränderungen, wird deutlich, dass es nicht ausreicht, „Change Management Prozesse“ nach dem üblichen Modell „unfreeze – change – refreeze“ zu durchlaufen. Fraglich ist, ob dieser Prozess jemals sinnhaft war, aber das ist ein anderes Thema.
Kompetenz für permanenten Change
Schon jetzt und in Zukunft verstärkt müssen die Organisationen Kompetenzen entwickeln, die permanent den Zustand „change“ für die Mitarbeitenden bewältigbar machen. Aktuell ist es – leider – so, dass die Organisationen mit alten, herkömmlichen, tayloristischen Denk- und Handlungsmodellen versuchen, die permanente Veränderung zu meistern. Ergebnis davon sind haufenweise Organisationen, die kurz vor dem Kollaps stehen. Neben dem individuellen Burnout https://bueronymus.wordpress.com/tag/burnout/, der schon mehr oder weniger normal für uns geworden ist, kommt der organisationale Burnout.
Der permanente Zustand „change“
Wie aber lässt sich mit dem Zustand permanenter Veränderung auf organisationaler Ebene umgehen? Klar ist, dass ein einfaches „Weiter so“ keinen Sinn machen kann. Weiter so hat uns ja bis hierher geführt. Es muss also anders gehen.
Deutlich wurde aber auch, dass ein „Change Management“ im klassischen Sinn keinen Sinn macht. Dafür ist die Veränderung viel zu konstant (und zu schnell). Wenn man basierend auf dem klassischen Change Management Ansatz versucht, die Organisationen in der notwendigen Veränderungsgeschwindigkeit zu entwickeln, stößt man unweigerlich auf die Belastungsgrenze der Mitarbeitenden. Damit wären wir wieder beim o.g. Burnout.
Leider – so meine Feststellung – versuchen die Organisationen aber immer noch genauso traditionell auf die notwendigen Veränderungen zu reagieren, wie sie dies schon immer getan haben. Die Konsequenzen zeigen sich in den schon angesprochenen völlig überlasteten, ausgebrannten Organisationen.
Mit den angedeuteten Veränderungen geht oftmals eine enorme Unsicherheit einher. Um den mit den angedeuteten Veränderungen einhergehenden Unsicherheiten zu begegnen, ist es aus meiner Perspektive jetzt zwingend notwendig, als Organisation immer wieder Innezuhalten und sich und die eigenen Aktivitäten zu reflektieren und zu hinterfragen.
Konkrete Fragen zur organisationalen Reflexion
Reflexion lässt sich als das vertiefte Nachdenken über die eigene Situation definieren. Es geht dabei um das Erkennen, Bewerten und – wenn nötig – Verändern der gegebenen Bedingungen.
Folgende Fragen haben sich im Rahmen individueller wie auch organisationaler Reflexion bewährt:
- Warum haben wir (oder eben: ich) das getan, was wir getan haben?
- Welche Erwartungen haben wir mit unseren Handlungen und Entscheidungen verbunden?
- Inwieweit ist das eingetreten, was wir erwartet haben?
- Was könnten wir nächstes Mal anders machen?
- Welche Gefühle hatten wir bei unserem Tun?
Sinnvoll wäre es also, sich regelhaft, vielleicht alle sechs Monate, unter diesem Reflexionsaspekt zusammenzufinden und die genannten Fragen zu stellen und ehrlich, zusammen mit seinem Team, zu beantworten. Das muss gar nicht lange dauern. Aber schon allein die Auseinandersetzung mit den Fragen löst Prozesse aus, die die Unsicherheit nicht wegnehmen, aber einen besseren Umgang damit ermöglichen.
Fazit:
Zusammenfassend sind folgende Punkte wichtig:
- Die gesellschaftlichen Veränderungen (Digitalisierung, demografischer Wandel…) kommen auf die Organisationen zusätzlich zu den sowieso stattfindenden Veränderungsprozessen hinzu.
- Daraus ergeben sich enorme Herausforderungen und Unsicherheiten hinsichtlich der Veränderungsfähigkeit der Organisationen.
- Mit den üblichen Herangehensweisen (Change Management) kann diesen Veränderungen nicht mehr begegnet werden.
- Als Alternative zur Bewältigung der enormen Unsicherheiten haben sich „Reflexionsräume“ bewährt.
- Reflexionsräume gehen weit über Angebote wie bspw. Supervision oder Teamentwicklung hinaus, da die Organisation als Ganzes und die Zusammenarbeit untereinander in den Fokus rücken.
Zum Weiterlesen:
Die Zeitschrift Organisationsentwicklung hat eine eigene Rubrik zum Thema „Reflexion“, mit gerade in der aktuellen Ausgabe spannenden Beiträgen.
Unter dem dem Link findet sich eine Aufbereitung von Reflexionsfragen, die wiederum auf die eigene Organisation heruntergebrochen werden müssen.
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