Stellen Sie sich einmal vor, jemand beauftragt ein Beratungsunternehmen, um Ihren Arbeitsbereich oder Ihre Organisation zu evaluieren.
Das Beratungsunternehmen kommt zu dem Schluss, dass das, was Sie den ganzen Tag tun, ziemlich schlecht ist.
So etwas passiert immer wieder und ist auch, wenn es denn gut gemacht ist, völlig in Ordnung.
Komplexität nicht berücksichtigt
Problematisch wird es jedoch, wenn die Berater einen Arbeitsbereich evaluieren, der enorm komplex ist und diese Komplexität bei der Evaluation nicht berücksichtigt wird, vielleicht sogar nicht berücksichtigt werden kann.
Noch problematischer wird es dann, wenn die Berater zu dem Schluss kommen, dass die Kontrolle über den Arbeitsbereich und damit einhergehend die (vermeintliche) Kontrolle über die mit dem Arbeitsbereich einhergehende Komplexität wieder zurückgegeben wird an eine zentrale Institution, hier zurück an die Stadtverwaltung.
Ziel ist, endlich wieder den Überblick zu haben, endlich wieder die Dinge in die Hand zu nehmen, endlich wieder steuern zu können!
Worum geht es aber konkret?
Es geht um die Evaluation der Freiburger Quartierarbeit.
Hier kommt das Hamburger (!) Beratungsunternehmen „con_sens“ zu dem Schluss, dass es der Quartiersarbeit an Steuerung durch die Stadt, an Effektivität, an konkreten Vorgaben und an Transparenz mangele. Jedenfalls steht es so im Bericht der Badischen Zeitung, den Sie hier finden können.
Die mit der Quartierarbeit einhergehende Komplexität wird deutlich, wenn man die Stellungnahme der Geschäftsführerin des „Kiosk im Rieselfeld“ zum Bericht liest:
So arbeiten allein bei der Einrichtung 150 Ehrenamtliche in unterschiedlichen Projekten, angefangen vom Mittagstisch, über offene Treffen für die Bewohner des Stadtteils bis hin zu Schachabenden und noch vielem mehr.
Was ist eigentlich Quartierarbeit?
Wenn ich richtig informiert bin, geht die Quartierarbeit in ihren Grundzügen zurück auf die Gemeinwesenarbeit. Und für die Menschen in der Sozialen Arbeit wird umgehend deutlich, dass das Konzept der Gemeinwesenarbeit nicht ganz neu ist.
So lassen sich die Ursprünge der Gemeinwesenarbeit auf den Übergang zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zurückführen und geht zurück auf die Settlement-Bewegung in Amerika. In Deutschland begann die Gemeinwesenarbeit in den 1960er Jahren.
Bei Hinte lässt sich dazu Folgendes nachlesen:
„Da war die Rede von Widerstand, Betroffenenbeteiligung, Veränderung von Verhältnissen, Organisation von Gegenmacht, Kampf gegen das Establishment und außerparlamentarischer Organisation von kollektiver Betroffenheit: Vokabeln, die das bundesdeutsche Bürgertum, aber auch die dadurch geprägte bürgerliche Soziale Arbeit nachhaltig irritierten. GemeinwesenarbeiterInnen initiierten Mieterinitiativen, Demonstrationen und Stadt teilfeste, sie skandalisierten unzumutbare Wohnverhältnisse, infrastrukturelle Mängel, unsinnige Prestigeprojekte oder korrupte Funktionsträger, sie organisierten öffentliche Foren und Pressekampagnen und sorgten auf vielfältige Weise dafür, dass verschiedenste Bevölkerungsgruppen sich im Wohnquartier artikulierten, engagierten und organisierten.“
Es kam im weiteren Verlauf zu einer Krise der klassischen Gemeinwesenarbeit, die dann zum Konzept der Sozialraumorientierung weiter entwickelt wurde.
Dabei ging es darum, unter Rückgriff auf die Tradition aktivierender Gemeinwesenarbeit, die Interessen der in den Stadtteilen lebenden Menschen als zentrale Bezugsgrößen aktivierender sozialarbeiterischer Handlungen zu propagieren (vgl. ebd.).
„In der Sozialraumorientierung geht es nicht darum, mit großem Methodenarsenal und pädagogischer Absicht Menschen zu verändern, sondern darum, Lebenswelten zu gestalten und Arrangements zu kreieren, die dazu beitragen, dass Menschen auch in prekären Lebenssituationen zurechtkommen. Der zentrale Fokus ist dabei der soziale Raum“ (ebd.)
Als nächster Schritt der Entwicklung stand dann die Entwicklung hin zur Quartierarbeit an.
Hinte fasst unter Quartierarbeit insbesondere die Stadtteilarbeit vor Ort, die zur projektunspezifischen Aktivierung der Wohnbevölkerung, zur Begleitung von Gruppen und Initiativen, zur Vernetzung von formellen und informellen Ressourcen in einem Quartier oder auch zur Leitung eines Stadtteilbüros beitragen soll oder auch intermediäre Instanzen, die als Bindeglied zwischen der Lebenswelt im Stadtteil und der nach Sektoren geordneten Bürokratie, Institutionen und Unternehmen zur Entwicklung spezifischer Einzelprojekte und zur systematischen Zusammenführung von Geld, Menschen, Bedarfen und Ideen beitragen sollen.
Eine tiefergehende Darlegung des vollständigen Konzeptes in seiner historischen Entwicklung führt hier zu weit. Darum geht es auch nicht. Es wird schon bei diesen verhältnismäßig dünnen Darlegungen deutlich, dass es sich bei Quartierarbeit um ein umfassendes Konzept Sozialer Arbeit handelt.
Man muss wissen, um was es geht!
Mir ist nur wichtig, zu betonen, dass man sich – wenn man das Konzept verstehen will – mit diesem Konzept und seinen historischen Wurzeln auseinandersetzen muss. Diese Anregung geht dann vielleicht sich direkt an die Berater der Firma con_sens… Sicherlich lesenswert in dem Zusammenhang, auch wenn ich es selbst noch nicht geschafft habe, ist das Buch von Heiko Kleve: Komplexität gestalten.
Hier heißt es:
Soziale Arbeit hat es in der Regel mit komplexen Phänomenen und unsicheren Systemen zu tun, seien es Familien oder die Gesellschaft als Ganzes. Viele Einzelaspekte beeinflussen und bedingen sich gegenseitig, sodass jedes zielgerichtete Handeln nicht absehbare Folgen produzieren kann.
Begriffe wie Betroffenenbeteiligung, Lebenswelten gestalten und Arrangements kreieren oder die systematische Zusammenführung von Geld, Menschen, Bedarfen und Ideen machen deutlich, dass Konzepte der Quartierarbeit nicht ganz einfach sind!
Damit wird ebenfalls deutlich, dass das Konzept keinen einfachen „Fünf-Schritte-Plan“ oder etwas Ähnliches umfasst oder umfassen kann.
Komplexität und Soziale Arbeit, oder: Mein Kind wird kein Förster!
Wie es im Kontext Sozialer Arbeit ist (s.o.), sind die kausalen Zusammenhänge nicht oder zumindest kaum vorhanden: Wenn ich dies und jenes tue, passiert dies und jenes? Das funktioniert hier nicht, genausowenig wie in anderen Konzepten Sozialer Arbeit. Blödes Beispiel:
Wenn mein Sohn in den Waldkindergarten geht, dann wird er Förster! Das ist Blödsinn.
Wenn sich eine Gesellschaft aber – aus guten Gründen – Soziale Arbeit leisten will, vielleicht sogar leisten muss, dann muss diese Gesellschaft auch Komplexität aushalten.
Es ist wesentlich, dass sich die Professionellen ebenso wie die Entscheidungs- und Kostenträger mit Komplexität auseinandersetzen. In dem konkreten Fall müssen sich also die Stadt Freiburg, aber auch Beratungsunternehmen wie con_sens ebenso wie die Quartierarbeit mit Komplexität auseinandersetzen.
Was heißt das aber konkret?
Zunächst einmal macht es hier Sinn, den Begriff der Komplexität näher zu betrachten:
Komplexität lässt sich als das Verhalten eines Systems oder Modells bezeichnen, dessen viele Komponenten auf verschiedenste Weise miteinander interagieren können, nur lokalen Regeln folgen und denen Instruktionen höherer Ebenen unbekannt sind.
Bezogen auf die Quartierarbeit, um die es hier ja geht, heißt das, dass der Stadtteil als System bezeichnet werden kann. Hier interagieren unterschiedlichste Komponenten miteinander. Die Herausforderung nimmt zu, wenn die Komponenten des Systems Menschen sind. Und dies ist in einem Stadtteil der Fall. Damit agieren lebendige Systeme (Menschen) in einem Bereich, der von außen betrachtet ebenfalls als abgeschlossenes System bezeichnet werden kann (Stadtteil). Noch abstrakter wird es, wenn es nicht mehr Menschen sind, die das System gestalten, sondern Kommunikationen. Aber das führt hier vielleicht wirklich zu weit. Deutlich ist aber, das nicht vorhersehbar ist, welche Interaktion mit wem zu welchem Ergebnis führt. Es ist in einem Stadtteil, in einer Stadt, auch in Unternehmen übrigens, nicht plan- geschweige denn steuerbar.
Und was macht dann Quartierarbeit, bitte schön?
Wenn es doch sowieso nicht absehbar ist, was passiert wenn A mit B kommuniziert? Wenn es doch sowieso nicht absehbar ist, was passiert, wenn Stadtteilzentren Angebote machen, Spielnachmittage, Schachabende, gemeinsames Kochen?
Eigentlich könnte man doch sagen, dass es nichts bringt und damit keinen Sinn macht?
Quartierarbeit bietet aus meiner Perspektive aber Kommunikationsräume. Möglichkeiten, in denen unterschiedliche Menschen des Stadtteils zusammenkommen können, um neue Dinge entstehen zu lassen. Quartierarbeit reduziert Komplexität, um zu gemeinsame Ziele zu verfolgen.
Mathias Schwabe von der Evangelischen Hochschule Berlin fasst unter den Faktoren „für das Gelingen von inhaltlicher und organisatorischer Umsteuerung mit dem Ziel einer stärkeren Sozialraumorientierung“ einige spannende Punkte.
Einer davon ist, dass die finanziellen Rahmenbedingungen dieses Umgestaltungsprozesses hin zur Sozialraumorientierung (und damit auch hin zur Quartierarbeit) von vorneherein klar und transparent sein müssen:
„Nichts ist schlimmer, als mit einer Leitbildentwicklung „Sozialraumorientierung“ anzufangen, von deren Vorhaben zwei Drittel anschließend aus Kostengründen gestrichen werden müssen. Wenn Geld und damit Stellen eingespart werden müssen, so muß das von Anfang an klar sein. Dann können sich die Freien Träger entscheiden, ob sie diese akzeptieren, sich an die neuen Finanzvorgaben anpassen und in derem engen Rahmen konzeptionelle Umgestaltungen mit entwickeln und tragen“.
Neben diesem Punkt sieht er darüber hinaus die Notwendigkeit der Überzeugung auf Leitungsseite für den Prozess als wesentlich an, wobei er unter Leitung die Träger ebenso wie die Politik und die Kostenträger fasst.
Fazit:
Auch wenn hier viele Aspekte außen vor geblieben sind (zu nennen ist bspw. die Arbeit mit Ehrenamtlichen, die die Komplexität wiederum steigert oder die Frage, wie und ob überhaupt sich Netzwerke managen lassen), ist hoffentlich deutlich geworden, dass – wenn man die Möglichkeiten und Chancen der Quartierarbeit halbwegs nutzen will – eine Verlagerung zurück in die Verwaltung (hier sollte man einmal über den Begriff nachdenken) nicht zielführend sein kann und in der Konsequenz zum Ende der Quartierarbeit in Freiburg führt.
Eine zentrale Steuerung von sich selbst organisierenden Vernetzungsprozessen, dann auch noch in Stadtteilen, kann nicht funktionieren!
Transparenz
Wichtig ist für mich der auch im Artikel auftauchende Begriff der Transparenz.
Auch wenn dieser Begriff in der heutigen Zeit sehr schillernd besetzt ist, ist Transparenz wesentlich. So können sich selbst organisierende Prozesse, wie sie in Kontexten der Quartierarbeit wesentlich sind, nicht entwickeln, wenn die Rahmenbedingungen nicht klar und damit intransparent sind.
Gleiches gilt jedoch auch für die Organisationen, die freien Träger:
Da diese mit öffentlichen Geldern hantieren, ist Transparenz auch aus dieser Perspektive wesentlich: Was passiert mit den Geldern? Wo werden diese eingesetzt?
Vielleicht ist es Zeit, wahrscheinlich vorhandene Konkurrenzgedanken unter den Trägern abzulegen und gemeinsam zu definieren, was getan werden soll und wofür die Gelder benötigt werden.
So heißt es im Bericht der BZ: „Wir können noch nicht einmal sagen, ob die Quartiersarbeit gut oder schlecht ist, wir wissen es schlichtweg nicht“, kommentierte OB Salomon.
Und dieser Eindruck – ob richtig oder nicht – darf nicht entstehen.
Update 07.11.2016:
Hier findet Ihr einen Artikel aus der Badischen Zeitung zur Frage, welche Aufgaben Quartiersarbeit denn so eigentlich hat. Ganz ehrlich: Auch wenn Wirkungsmessung und ein richtiger Umgang mit öffentlichen Geldern wichtig ist, das allein kann es nicht sein. Wirkungsmessung in der Quartiersarbeit ist eben etwas anderes und nicht so einfach quantifizierbar…
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11 comments on “Zurück zur zentralen Steuerung! Seid Ihr eigentlich noch ganz …?”
Hallo Hendrik. ich glaube wir kennen usn von KFH Freiburg. Mit sehr großen Interesse habe ich deinen Artikel gelesen. sehr spannend und gut dargesellt. Danke dir
Hey,
jepp, wir kennen uns… Ist aber schon einige Jahre her… 😉
Danke für die Blumen!
Hendrik
Um mal von hinten zu beginnen:
„So heißt es im Bericht der BZ: ‚Wir können noch nicht einmal sagen, ob die Quartiersarbeit gut oder schlecht ist, wir wissen es schlichtweg nicht‘, kommentierte OB Salomon.“
Das ist natürlich großer Quark! Alle Träger der Quartiersarbeit sind der Stadt gegenüber Rechenschaftspflichtig. KIOSK, z.B., präsentiert jedes Jahr seine Aktivitäten und Finanzen komplett transparent (um mal eines der Anliegen des Artikels aufzugreifen) gegenüber der Stadt und seinen Mitgliedern. Wir vom Vorstand werden monatlich über die Tätigkeiten und Planungen, die Synergien und Kooperationen unserer Quartiersarbeit informiert – und müssen am Ende dafür geradestehen.
Wenn der OB also nicht weiß, ob die Quartiersarbeit gut oder schlecht ist, liegt das nicht an den Trägern und deren Arbeit, sondern daran, dass die Stadt Freiburg sich nicht die Mühe macht, Standards festzulegen. Im Gegensatz zu den Trägern übrigens, die sich dieser Lücke bewusst waren und für sich selbst Standards entwickelt haben, nachdem die Verwaltung den gemeinsamen Qualitätsentwicklungsprozess abgebrochen hat. Und diese Standards orientieren sich an den bundesweit in Fachkreisen beschlossenen Standards.
In der Debatte, die leider noch keine ist, fehlt bislang noch der Dialog zwischen Verwaltung und Quartiersarbeit. Damit alle wissen wie gut(!) die Quartiersarbeit in Freiburg ist.
PS – das hätte zuerst kommen sollen: Natürlich erst mal noch danke für den langen und spannenden Beitrag zum Thema!!!
Sehr geehrter Herr Leiendecker,
danke für die Rückmeldung und Ihr berechtigt kritisches Feedback.
Ich bin davon überzeugt, dass die Stadt informiert war. Ich glaube nur, dass es schwierig ist, die mit dem Arbeitsfeld einhergehende und wie beschrieben komplexe Leistung der Quartiersarbeit so darzustellen, dass es für „Fachfremde“, Laien und Politiker verständlich wird, welche Wirkung erzielt wird und wo der Mehrwert der Quartierarbeit im Speziellen und Sozialer Arbeit im Allgemeinen liegt. Hier stellt sich die Frage, wie diese Transparenz so hergestellt werden kann, dass die wirklich wichtigen Informationen deutlich werden.
Wissen Sie Bescheid, ob die Entscheidung bereits gefallen ist, oder gibt es noch Handlungsmöglichkeiten?
Beste Grüße
Hendrik Epe