Rezension: Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz

Digitalisierung

Inhalt:

Digitalisierung lässt sich nicht kontextlos betrachten. Konkret ist somit immer ein Bezugspunkt zu wählen, wenn man über die Digitalisierung spricht bzw. auf diese schaut.

Das Buch „Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz“, das im Jahr 2017 im Nomos Verlag erschienen ist, versucht, wie der Titel schon sagt, die Digitalisierung auf die Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens zu beziehen. Hinzu kommt die technische Assistenz, die selbstverständlich viel mit der Digitalisierung zu tun hat bzw. in Zukunft zu tun haben wird.

Zum Entstehungshintergrund ist noch anzuführen, dass das Buch als Publikation zum zehnjährigen Bestehen der Fachhochschule der Diakonie veröffentlicht wurde.

Zu viel des Guten?

Grundsätzlich könnte man schnell zu dem Schluss kommen, dass sich das Buch mit den oben skizzierten Themenfeldern zu viel vornimmt. Jeder einzelne Bereich ist so umfassend, so weit und so vielfältig, dass sich eine gesonderte Betrachtung lohnen würde.

Hier hilft Gott sei Dank die von Prof. Tim Hagemann als einleitendes Kapitel vorweggestellte Hinführung.

Hagemann eröffnet darin kurz und prägnant die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Digitalisierung im Kontext des Sozial- und Gesundheitswesens. Dabei wird deutlich, dass es wenig Sinn macht, die Digitalisierungstendenzen im Gesundheits- und Sozialwesen – wie es in Praxiskreisen leider immer noch häufig passiert – zu verteufeln. Die Digitalisierung hat bereits und wird zunehmend Einfluss auch auf personenbezogene, soziale Dienstleistungen nehmen. Das kann man gut finden oder nicht, es passiert.

Aktive Auseinandersetzung mit Digitalisierung

Gleichzeitig ist aber auch nicht alles Gold, was glänzt. So sinkt bspw. durch Möglichkeiten technischer Assistenz die Pflegebedürftigkeit kranker Menschen, was wiederum zu weniger finanzieller und damit leider einhergehend weniger menschlicher Zuwendung führt (vgl. 15).

„Insofern ist es wichtig, nicht allein auf die technischen Erneuerungen zu reagieren, sondern aktiv die Möglichkeiten, die sich aus diesen ergeben, zu beobachten und Konzepte Hand in Hand mit den technischen Entwicklern und den Entscheidungsträgern in der Wohlfahrt und Politik zu entwerfen.“  (15).

Das Schlagwort ist hier „aktiv“! So stimme ich voll zu, dass sich Organisationen der Sozialwirtschaft den sich schon jetzt abspielenden Veränderungen aktiv stellen müssen, um nicht nur passiv reagieren zu können. Die Uhr tickt!

Gliederung

Die obige Frage, ob das Buch zu viele Themen behandelt, aufgreifend, ist die Gliederung des Buchs zu betonen.  So gliedert sich das Buch in fünf Themenbereiche:

Den Anfang macht der Themenbereich (Sozial-)Raum und Zeit. Es werden Themen beginnend von Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit wie der Quartiersarbeit über Teilhabe und Ökonomie bis hin zu Zeitmessung und Zeitempfinden hinsichtlich ihrer Änderung aufgrund von virtuellen Welten und digitaler Kommunikation erläutert.

Der zweite Themenbereich – Technik und Gesundheit – fokussiert auf die Möglichkeiten technischer Assistenz im Gesundheitswesen. Potentiale, gesellschaftliche Akzeptanz, aber auch Risiken des Technikeinsatzes im Gesundheitswesen werden in unterschiedlichen Beiträgen dargelegt.

Themenbereich drei fokussiert auf Beratung und Therapie und die sich durch die Digitalisierung ergebenden neuen Kommunikationsmöglichkeiten wie Blogs, Chats, Videotelefonie. Ebenfalls werden Chancen und Risiken dieser Möglichkeiten anhand unterschiedlicher Beiträge beleuchtet.

Der vierte Themenbereich nimmt den Bereich der Qualifikation und der Bildung in den Blick, was aufgrund des Hintergrundes des Buchs – als Jubiläumsschrift zum zehnjährigen Bestehen der Fachhochschule der Diakonie – natürlich mehr als logisch ist. Für mich persönlich ist der Bereich natürlich aus meiner beruflichen Perspektive spannend. Fragestellungen wie die Akademisierung der Gesundheits- und Sozialberufe vor dem Hintergrund neuer, digital gestützter Lehr- und Lernformen sind von hoher Bedeutung ebenso wie neue Möglichkeiten der Teilhabe durch digitale Medien.

Der fünfte und letzte Themenbereich nimmt dann die Themen Management und Innovation in den Blick. Wie verändert sich das Management und die Führung von Organisationen der Sozialwirtschaft aufgrund der Digitalisierung? Das ist ja eigentlich das Thema eines Blogs. Also bin ich enorm gespannt…

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Autoren versuchen, das wortwörtlich unfassbar breite Gebiet der Digitalisierung in Bahnen zu lenken, die mir persönlich sehr gut gefallen. So finden sich – das schon mal als Wertung vorab – im Buch Beiträge wahrscheinlich für jeden am Thema Digitalisierung interessierten Professionellen, ob Studierenden, Lehrenden, Praktikerin oder Führungskraft. Gleichzeitig – aber das haben wir hoffentlich alle im Studium gelernt – bedarf es der Übersetzung der Beiträge auf die je eigenen, spezifischen Fragestellungen.

Das komplette Inhaltsverzeichnis findet sich übrigens hier.

Bewertung

Jetzt, wo ich schon mit der Bewertung begonnen habe, kann ich ja auch gleich weitermachen.

Einschränkend sei darauf verwiesen, dass es mir nicht möglich ist, jeden einzelnen der 32 Beiträge, die sich in den genannten fünf Themenfeldern bewegen, im Detail zu würdigen. Vielmehr werde ich meinen Eindruck  übergreifend schildern und immer wieder einzelne Beiträge – beispielhaft – herausgreifen. Dies impliziert nicht, dass die nicht explizit erwähnten Beiträge weniger relevant im Kontext der Digitalisierung zu beurteilen wären.

Die Beiträge bewegen sich in von Darstellungen der Ergebnisse empirischer Bedarfsanalysen zu Smartphone-Assistenzsystemen (Beitrag von Susanne Vaudt) über Erläuterungen zur Personalgewinnung und der Candidate Experience im Zeitalter der Digitalisierung (Beitrag von Jörg Martens) bis hin zu Fragen der systemischen Beratung im Kontext von Community Mental Health und Digitalisierung (Beitrag von Heidrun Kiesel).

Die Beiträge sind als in ihrer jeweiligen Spezifität sehr fundiert zu bewerten. Neben dem Versuch, sehr praxisnahe Fragestellungen zu beantworten (bspw. der Beitrag „Chancen und Risiken computergestützter Pflegediagnostik“ von Doris Tacke) finden sich auch Beiträge, die die Auswirkungen der Digitalisierung aus einer eher übergreifenden Perspektive betrachten (bspw. der Beitrag von Annett Herrmann zu „Zeit und Digitalisierung“). Eine augenzwinkernde Ausnahme bildet die sehr unterhaltsam zu lesende Glosse „Mein liebster Pflegeroboter oder Altenpflege 4.0“ (Beitrag von Hermann Brandhorst).

Mit Blick auf die Breite der Beiträge wird deutlich, dass sich das Sozial- und Gesundheitswesen den anstehenden Veränderungen nicht mehr entziehen kann. Mehr noch: Gerade die gesellschaftlich mehr als relevanten Berufe im  Sozial- und Gesundheitswesen, die mit Menschen in einer sich verändernden Gesellschaft arbeiten, müssen sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Thema der Digitalisierung proaktiv annehmen. Wie schon geschrieben: Wir werden nicht um digitale Technologien und Roboter herumkommen. Die sich ergebenden Möglichkeiten der Vernetzung und der Zusammenarbeit der Organisationen und damit der Professionellen untereinander, aber auch die sich neu ergebenden Hilfsmöglichkeiten für benachteiligte Menschen, machen einen offenen Blick und eine aktive Auseinandersetzung des Sozial- und Gesundheitswesens mit der Digitalisierung notwendig.

Digitalisierung und Menschlichkeit

Spannend an den Beiträgen und meiner darüber hinausgehenden Beschäftigung ist die Feststellung, dass die Computer und Roboter zunehmend verstärkt auch komplexe Aufgaben übernehmen können und werden. Welche Rollen und Möglichkeiten ergeben sich daraus für die Beschäftigten in den Organisationen? Welche Notwendigkeiten zur Veränderungen ergeben sich dadurch für die Organisationen als soziale Systeme? Welche Chancen und Möglichkeiten ergeben sich daraus für die Professionen und Disziplinen im Sozial- und Gesundheitswesen? Und: Können wir es schaffen, gerade durch die Digitalisierung wieder mehr Menschlichkeit in die Arbeit mit Menschen einfließen zu lassen?

Das Buch „Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz“ liefert hier eine überblicksartige, in den einzelnen Beiträge aber sehr fundierte Herangehensweise, um sich der Digitalisierung mit all seinen Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken, nähern zu können.

Digitalisierung, Management und Innovation

Abschließend noch ein kurzer Blick auf den Themenbereich „Management und Innovation“. Hier war ich ein wenig enttäuscht, dass dieser in einigen Beiträgen recht „schmal“ aufgestellt war. Beispielsweise lässt der Beitrag „Controlling und Transparenz – Corporate Governance: Führung von Sozial- und Gesundheitsunternehmen in einer digitalen Welt“ von Rüdiger Noelle viel erwarten, fokussiert dann jedoch einzig auf die Auswertung von Daten als Controllinginstrument. Das ist zwar ein definitiv relevantes Thema, trifft den Aspekt „Führung“ (wenn er denn überhaupt zu fassen ist) nur sehr am Rande.

Auch der Beitrag „Kommunikation und Beratung im Zeitalter der Generation Y“ von Peter Weber wirkt in der ausführlichen Beschreibung der angeblich die Generationen prägenden Unterschiede und typischen Verhaltensweisen eher wenig zukunftsorientiert. Das mag aber auch an meiner eigenen Sichtweise dahingehend liegen, dass ich davon überzeugt bin, dass es keine „generationenabhängigen Lösungen“ in Führungs- und Managementaspekten gibt, sondern die Menschen in den Organisationen vielmehr ganzheitlich betrachtet werden sollten. So macht es aus meiner Perspektive keinen Sinn, eigene Beratungs- oder andere Managementformen für die Generation Y zu etablieren. Weber schreibt selbst zur Rolle der Generation Y bzgl. deren Integration der digitalen in die analoge Kommunikation, dass dieser „Prozess auch ohne die Ypsiloner voranschreiten würde“ (520).

Fazit

Wie schon geschrieben, ist das Buch „Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz“ als Überblickswerk zu betrachten. Es legt in den einzelnen Beiträge sehr fundierte Herangehensweisen aus unterschiedlichsten Perspektiven dar, um sich der Digitalisierung mit all seinen Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken, nähern zu können. In einigen Beiträgen scheint die Orientierung auf die Fachhochschule der Diakonie natürlich durch, was einem Werk zum 10-jährigen Bestehen der Hochschule nicht angekreidet werden kann. Vielmehr wird es hier für andere Hochschulen, für andere Wissenschaftlerinnen, aber auch für andere Praktiker und Studierende möglich, sich an den beschriebenen Positionen auszurichten und sich zu positionieren.

Falls sich das Buch jemand leisten will, hier könnt‘ ihr es beziehen*.


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