Im Zuge der Vorbereitung für ein Interview mit einem Geschäftsführer einer stationären Jugendhilfeeinrichtung, der die Führungs- und damit auch Organisationsstruktur der Einrichtung stark nach Prinzipien der Selbstorganisation ausgerichtet hat (Ihr dürft gespannt sein), bin ich von einem Freund (danke Jan) auf eine spannende Frage aufmerksam gemacht worden:
„Werden die Mitarbeitenden, die in selbstorganisierten Settings auch mehr Verantwortung für ihr Tun übernehmen müssen, dafür auch honoriert? Und: Welche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben sich für die Mitarbeitenden, wenn „traditionelle“ Aufstiegsmöglichkeiten nicht mehr existieren?“
Je mehr ich über die Frage nachgedacht habe, desto deutlicher wurde mir die damit einhergehende Brisanz, gerade für Organisationen der Sozialwirtschaft!
Hier will ich versuchen, die Vor- und Nachteile von Selbstorganisation im Kontext von Organisationen der Sozialwirtschaft vor dem Hintergrund der, sagen wir mal begrenzt flexiblen, Vergütungs- und Personalentwicklungssysteme im Sozialbereich zu beleuchten.
Selbstorganisation macht Sinn!
Vorausgesetzt wird, dass Selbstorganisation sinnvoll und auch für Organisationen der Sozialwirtschaft nutzbringend ist, um diese Organisationen zukunftsfähig, agil und einen wirklichen Mehrwert schaffend zu gestalten. Darüber kann man auch diskutieren. Aber nicht hier 😉
Selbstorganisation bedeutet, ganz kurz, dass Entscheidungen und Verantwortungen nicht mehr allein Aufgabe der Geschäftsführung, der Abteilungsleitung oder kurz Aufgabe des „Chefs“ sind, sondern alle Mitarbeitende in die Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. Andreas Zeuch spricht von „Unternehmensdemokratie“, Frederic Laloux sieht die Selbstorganisation – neben dem Sinn und der Ganzheitlichkeit – als ein wesentliches Prinzip zukunftsfähiger Organisationen.
Verantwortung für Entscheidungen
Wenn jetzt aber die Verantwortung für Entscheidungen auf die Ebene der einzelnen Mitarbeiter oder der Teams verlagert wird, stellt sich die oben angeführte Frage:
Werden die Mitarbeitenden, die in selbstorganisierten Settings auch mehr Verantwortung für ihr Tun übernehmen müssen, dafür auch honoriert? Und: Welche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben sich für die Mitarbeitenden, wenn „traditionelle“ Aufstiegsmöglichkeiten nicht mehr existieren?
Zunächst einmal ist wohl festzuhalten, dass komplett selbstorganisiert agierende Organisationen zumindest in der Sozialwirtschaft noch Utopie sind. Schon allein die rechtlichen Bedingungen für Organisationen begrenzen die Selbstorganisation insofern, als dass es bspw. Geschäftsführer auch in gGmbHs oder Vorstände in Vereinen geben muss. Hier existiert also schon mal eine Grenze der Selbstorganisation, die sich auch in Diskussionen um die Zukunftsfähigkeit existierender Rechtsformen von Organisationen in Deutschland niederschlagen.
Wenn jetzt aber Geschäftsführungen oder Vorstände entscheiden, dass es verstärkt selbstorganisiert zugehen soll in ihrer Organisation, dann sind die Fragen berechtigt.
Über Geld? Spricht man nicht! Warum auch?
In Organisationen der Sozialwirtschaft sind die finanziellen Möglichkeiten sowieso schon, bspw. aufgrund von Tarifverträgen, begrenzt. Die Diskussionen hierzu müssen nicht wiederholt werden, der Streik der ErzieherInnen spricht bspw. eine eindeutige Sprache.
Gleichzeitig sind auch die Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt. Natürlich kann man Gruppen- oder Teamleitung werden, auch Abteilungsleitungen bei größeren Trägern sind als Karriereschritt denkbar. Aber schon hier beginnt es insofern dünn zu werden, da oftmals andere Qualifikationen gefordert werden. Betriebswirtschaftliche Kenntnisse, Führungserfahrung etc. werden vorausgesetzt, aber nicht zwingend durch Ausbildung oder grundständiges Studium vermittelt. Oftmals werden Betriebswirtschaftler für Geschäftsführungspositionen gesucht, womit die Aufstiegsmöglichkeiten für Sozialarbeiter klar abgesteckt sind.
Und jetzt beginnt der Chef auch noch damit, „seine“ Verantwortung an die Mitarbeiter zu delegieren?
Das Team soll sich selbst organisieren?
Eigene Entscheidungen treffen und dafür dann auch verantwortlich sein? Ohne irgendeine zusätzliche Honorierung?
Hinzu kommen weitere Rahmenbedingungen, die Soziale Arbeit nicht einfach machen. Überstunden unbezahlt, Nachtarbeit, Schichtarbeit, Übernahme von Aufgaben von KollegInnen bei deren krankheitsbedingtem Ausfall, Zunahme von „Komplexfällen“ und noch einiges mehr.
Und jetzt auch noch Selbstorganisation, oder was?
Schon hart, oder?
Wer ist verantwortlich für den Prozess?
Allerdings zeigt die andere Seite der Arbeit in Organisationen der Sozialwirtschaft, dass diese sowieso schon „selbstorganisiert“ stattfindet.
Jeder im direkten Kontakt zu Klienten stehende Mitarbeiter (und wer ist das nicht) entscheidet in den je spezifischen Situationen selbst. Es geht gar nicht anders, da vorgegebene Prozesse für bestimmte Situationen ins Leere laufen würden.
Die Vorstellung, bei einem Konflikt zwischen zwei Jugendlichen zunächst das Prozesshandbuch aus der Schublade zu holen und nachzulesen, wie in dieser Situation zu verfahren ist, ist mehr als absurd! Übrigens sind Prozesse mit Verantwortungen zu versehen. Und wenn die Verantwortung für den Prozess „Konflikt zwischen zwei Jugendlichen“ jetzt bei dem Mitarbeiter liegt, der gerade frei hat, hat man ein echtes Problem.
Aber mal ernsthaft und als Extrembeispiel:
Die Verurteilung von Mitarbeitenden des Jugendamtes aufgrund nicht getätigter Maßnahmen zeigt in meinen Augen mehr als eindrücklich, wie die Situation schon jetzt gelagert ist. Nicht die Organisation, nicht der Prozess und noch nicht einmal der Vorgesetzte ist verantwortlich. Nein, ganz alleine jeder Mitarbeiter ist verantwortlich für das, was er tut oder eben nicht tut! Jeder Mitarbeiter muss sich permanent fragen, wie in dieser und jener Situation zu handeln ist, eben – selbstorganisiert.
Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass diese „Art“ der Selbstorganisation völlig unstrukturiert und unreflektiert Teil der zu leistenden Arbeit ist. Aus meiner Perspektive ist der Berufsanfängern bekannte „Praxisschock“ auch auf diese unstrukturierte Art der Selbstorganisation zurückzuführen: Plötzlich muss ich – frei von Handlungsvorgaben – selber entscheiden. Und das, nachdem ich aus einem völlig durchstrukturierten Schul- und Hochschulsystem komme…
Selbstorganisation kann kein Chaos sein
Wenn man sich jedoch mit Unternehmensdemokratie beschäftigt, mit agilem Management, mit den Ausführungen, wie Selbstorganisation in Unternehmen nutzbringend eingeführt werden kann, wird deutlich, dass dies alles andere als ungeregelt erfolgt.
Es gibt klare Prinzipien, die eingehalten werden müssen, klare Vorgaben, wie Prozesse der Entscheidungsfindung in selbstorganisierten Teams ablaufen. Selbstorganisation kann überhaupt nicht „ungesteuert“ oder chaotisch verlaufen, wenn es Sinn machen soll.
Viel eher ist es sehr aufwendig und bedarf eines echten Umdenkens, einer wirklichen Transformation im Kopf der Menschen, auch und insbesondere der Führungskräfte in Organisationen der Sozialwirtschaft. Selbstorganisation kann nur in Kommunikation mit Menschen geschehen, konkret in Kommunikation und Absprache mit den Teammitgliedern und den Führungskräften der eigenen Organisation.
Das Team als Mittelpunkt
Damit zurück zu der etwas abgewandelten Ausgangsfrage:
In welcher Form ist es möglich, in sinnvoll eingeführten selbstorganisierten Settings Mitarbeiter angemessen für ihre Leistungen zu honorieren? Und: Welche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben sich für die Mitarbeitenden in diesen Settings?
Hier rückt das Team in den Mittelpunkt und nicht mehr der einzelne Mitarbeiter.
Klar, jeder Mitarbeiter muss angemessen entlohnt werden. Das ist, oft zumindest, „sichergestellt“ durch die tarifvertraglichen Regelungen. Aber darüberhinausgehende mitarbeiterbezogene „Incentives“, Anreizsysteme, führen vor allem zu Konkurrenz und Abschottung unter den Mitarbeitenden.
Teambezogene Honorierungen, das Feiern der Leistungen der Teams, das Herausstellen der Leistungen von Teams in Organisationen der Sozialwirtschaft sollte eine viel höhere Aufmerksamkeit erlangen, als dies bislang gegeben ist.
Ermöglicht wird dadurch mittelfristig auch eine höhere Innovationskraft der jeweiligen Teams, sofern sie denn „gelassen“ werden. Diese Innovationskraft einzelner Teams und die auch damit einhergehende Honorierung kann Strahlkraft für die Gesamtorganisation entwickeln.
Wie aber lassen sich teambezogene Vergütungen und auch darüber hinausgehende Honorierungen besonderer Leistungen in Organisationen der Sozialwirtschaft realisieren?
Das ist wohl kein ganz einfaches Thema. Hier rücken innovative Fragen der Finanzierung sozialer Dienstleistungen, die aktuell vornehmlich über Entgeltverhandlungen mit Kostenträgern erfolgen, in das Zentrum der Aufmerksamkeit.
Damit eine Frage an Euch:
Kennt Ihr innovative Formen der Finanzierung sozialer Dienstleistungen, die es ermöglichen, besondere Leistungen einzelner Teams über das übliche Maß hinaus zu realisieren? Wie schätzt Ihr Crowdfunding für bestimmte Projekte ein? Oder auch Kooperationen mit Unternehmen, die als Sponsoren die Finanzierung von bestimmten Aktivitäten übernehmen?
Und wie entwickeln sich die Mitarbeitenden?
Kennt Ihr Stellenbeschreibungen? Habt Ihr selbst welche? Klar festgelegte Aufgabenbereiche, Tätigkeiten und eben auch „Verantwortungen“, die Ihr im Rahmen Eurer „Stelle“ zu erfüllen habt?
Stellenbeschreibungen machen dann Sinn, wenn wiederum die zu erledigenden Aufgaben sowie das Ziel der gesamten Aktivitäten einer Organisation klar und eindeutig sind. Dann kann man (eine Aufgabe meist der Geschäftsführung) die Aktivitäten herunterbrechen auf zu erledigende Aufgaben und diese dann zusammenpacken zu Stellen.
Wenn jetzt aber im Zuge einer zunehmend komplexer werdenden Welt – VUCA als Stichwort – die Aufgaben und sogar die Ziele gar nicht mehr so einfach zu bestimmen sind, gewinnt die Frage an Bedeutung, welchen Sinn Stellenbeschreibungen noch machen.
Rollendenken
Selbstorganisierte Teams untergliedern sich viel eher in zu erledigende „Rollen“, die auszufüllen sind. Diese Rollen werden ebenfalls selbstorganisiert durch das Team bestimmt und dann – anhand von Kompetenzen und Motivation der Mitarbeitenden – vergeben.
Eine Person macht gerne Elternarbeit und kann das auch? Dann kann diese Person die Rolle „Elternarbeit“ einnehmen. Eine Person organisiert gerne Ausflüge und Aktionen? Dann kann diese Person die Rolle „Action“ einnehmen. Eine Person macht gerne Dienstpläne? Dann kann diese Person die Rolle „Dienstpläne“ einnehmen.
Eine Person kann natürlich mehrere Rollen einnehmen und gleichzeitig können die Rollen auch zwischen den Personen wechseln. Darüber hinaus können Rollen auch wegfallen oder neu hinzukommen, je nach Bedarf.
Deutlich wird, dass die Stelle eines „Teamleiters“, der alle administrativen und organisatorischen Aufgaben erledigt, nicht mehr benötigt wird. Die zu erledigenden Aufgaben werden in Rollen aufgeteilt, die ggf. von mehreren Menschen im Team übernommen werden. Es kann aber auch eine Rolle „Repräsentanz“ oder ähnliches geben, die bspw. in Kommunikation zur Geschäftsführung steht. Warum nicht?
Persönlichkeitsentwicklung
Entwicklung der Mitarbeitenden fokussiert sich in dieser Denkweise zunehmend auf die Entwicklung von Soft Skills zur Erfüllung verschiedener, notwendiger Rollen. Die Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeitenden rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, vor allem mit dem Ziel, die Stärken der Mitarbeitenden weiter zu fördern (und nicht auf das Ausbügeln vermeintlicher Schwächen zu setzen).
Mitarbeiterentwicklung ist somit möglich, ändert aber ihre Blickrichtung. Das ist eine Herausforderung für das in Organisationen der Sozialwirtschaft schon jetzt nicht zwingend super funktionierende Personalmanagement, da in einem entsprechenden System die Mitarbeitenden, ggf. angeleitet und unterstützt, entscheiden, was für sie wichtig ist. Es wird nicht mehr gesagt, was für den Mitarbeitenden „gut“ ist. Das muss der Mitarbeitende schon selbst herausbekommen. Aber die sich dadurch ergebenden Möglichkeiten sind beträchtlich.
Als Fazit?
In Zeiten zunehmender Komplexität beinahe aller uns umgebenden Funktionssysteme stoßen Vorgehensweisen klassischen, tayloristischen Managements an immer deutlicher werdende Grenzen.
Die Auswirkungen dieser Entwicklungen lassen sich schon jetzt beobachten:
Extrembeispiele in erwerbswirtschaftlichen Organisationen sind bspw. der VW-Skandal oder auch die einbrechenden Umsätze „alter“ Branchen wie Banken oder Versicherungen.
Auf die Sozialwirtschaft übertragen lassen sich Auswirkungen wie bspw. die oft zitierten „Sozialarbeiter als gefragteste Akademiker“ anführen. Auch aufgrund von Fachkräftemangel schließende Einrichtungen werden wahrscheinlich eher zunehmen.
Lesenswert übrigens in Bezug auf zunehmende Komplexität in Organisationen der Sozialwirtschaft ist die gerade erschienene Studie der Bertelsmann-Stiftung „KiTa-Leitung als Schlüsselposition – Erfahrungen und Orientierungen von Leitungskräften in Kindertageseinrichtungen“, die hier heruntergeladen werden kann.
Die AutorInnen kommen darin zu dem Schluss, dass “sich das Arbeitsfeld KiTa-Leitung und das damit verbundene Berufsbild in einem herausfordernden Wandlungsprozess befinden. Die Anforderungen und Erwartungen an die Qualität der FBBE (Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung) und damit auch an die Leitungskräfte und KiTa-Träger steigen, während die zur Verfügung stehenden Rahmenbedingungen damit nicht Schritt halten“!
Die Übertragung auf andere Arbeitsfelder Sozialer Arbeit ist wohl unproblematisch möglich.
Im Kontext dieser zunehmend VUCA-werdenden Rahmenbedingungen bedarf es einer grundlegenden Neuausrichtung von Management, Leitung, Führung und Strukturierung sozialer Organisationen.
„Mehr desselben“ kann und wird nicht funktionieren, auch wenn es oft so scheint, als wäre das die in den Führungsetagen auch von Organisationen der Sozialwirtschaft geforderte Devise. Ergebnis davon: Burn-Out, Überlastung, Unzufriedenheit bis hin zu ökonomischen Problemen und Insolvenzen.
Das Konzept „Selbstorganisation“ – wenn es denn richtig umgesetzt wird – ist da ein sinnvoller Weg!
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8 comments on “Jetzt auch noch Selbstorganisation, oder was?”
Ja, vielleicht muss ich da meine – aus der sozialen Praxis gefärbte – Meinung anpassen. Wird in der Sozialwirtschaft so schlecht bezahlt, weil die Leistung nicht stimmt, oder stimmt die Leistung nicht, weil so schlecht bezahlt wird? Oder stimmt es überhaupt, dass die Leistung nicht stimmt? Natürlich ist das etwas pauschal, aber es geht – wie du richtig schreibst – um die Grundfrage: Wo läuft etwas komplett falsch im System und wie lässt sich daran etwas ändern? Und wie lässt sich die Sensibilität für die definitiv anstehenden Zukunftsfragen (Betreuung und – drastisch – Sterbebegleitung durch Roboter) in der Gesellschaft erhöhen, um darüber eine höhere Wertschätzung und damit bessere Bezahlung und damit höhere Attraktivität für den Bereich zu erlangen? Oder ist es vielleicht sogar zu kausal gedacht: Wenn mehr Geld dann höhere Wertschätzung dann weniger Fachkräftemangel?
Hier kann für mich eigentlich der von Laloux aufgeworfene Dreiklang aus Sinn, Selbststeuerung und Ganzheitlichkeit ansetzen, den sich die Sozialen Organisationen nicht nur auf die Fahne schreiben, sondern tatsächlich für alle Beteiligten gewinnbringend leben könnten. Ich habe das mal als „Die eigentlich Identität von Organisationen der Sozialwirtschaft“ bezeichnet (https://ideequadrat.org/2014/12/11/die-eigentliche-identitat-von-organisationen-der-sozialwirtschaft/)
Hier bin ich sehr gespannt auf Deinen Beitrag zum Buch 😉
LG
Hendrik
Hendrik,
danke für deinen mal wieder inspirierenden Beitrag. Mir sind bezüglich deiner leitenden Frage, ob die Mitarbeiter für die Selbstorganisation auch besser vergütet werden, auf die Schnelle vor allem zwei Aspekte aufgefallen:
1. Was ist der Treiber für Selbstorganisation?
Warum sollten denn die MitarbeiterInnen selbst mehr organisieren, entscheiden und gestalten? Damit sie so auf ein höheres Salär kommen? Oder einfach weil es sinnvoller ist, dass sie vor Ort die Entscheidungen treffen, die deren Vorgesetzte auf die Entfernung gar nicht beurteilen können? Und: Geht es nicht auch darum, dass es nicht für alle, aber doch für einige Menschen befriedigender ist, selber zu gestalten und zu entscheiden, als alles vorgekaut zu bekommen und nur noch schlucken zu müssen?
2. Die juristische Verantwortlichkeit ist weiterhin assymmetrisch verteilt
Wenn nicht gerade Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zu einem Ergebnis führen, dass in eine gerichtliche Auseinandersetzung führt, dürfte – so vermute ich mal als juristischer Laie – die juristische Verantwortung bei den Vorgesetzten verbleiben, die ja weiterhin weisungsbefugt und im allgemeinen mit einem Disziplinarrecht ausgestattet sind. Somit gibt es eine Assymmetrie zwischen Entscheiden dürfen (Rechte) und juristisch verbindlich Verantworten (Pflichten). Auch aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, warum denn mehr Selbstorganisation zu mehr Gehalt führen sollte.
3. An keiner Stelle sprichst Du das aus meiner Sich viel schwerwiegendere Problem an: Nämlich die insgesamt viel zu niedrigen Gehälter im Bereich der Sozialwirtschaft. KindergärtnerInnen, PflegerInnen, AltenpflegerInnen usw., usf. – sie alle leisten zentrale Dienste in unserer Gesellschaft und werden dafür nicht im Geringsten angemessen entlohnt. Ich verweise im Zusammenhang mit (un)gerechten Einkommensspannen immer auf die Studie der New Economic Foudation: „A bit rich“ ( http://neweconomics.org/2009/12/a-bit-rich/ ). Wir bezahlen uns reziprok zu dem, was wir fürs Gemeinwohl leisten.
Meine Hypothese: Wenn wir Selbstorganisation in der Sozialwirtschaft fördern wollen, was absolut sinnvoll wäre, müssen wir die Einkommenssituation deutlich verbessern.
Hey Andreas,
danke für Dein Feedback.
Ich versuche es mal der Reihe nach:
Zum ersten Punkt:
Definitive Zustimmung! Es geht darum, dass durch zunehmend selbstorganisierte Arbeitsprozesse eine bessere Arbeit mit Blick auf die Kunden (Klienten ebenso wie Kostenträger) geleistet werden kann. Dass damit für einige (in meinen Augen nach einer gewissen Zeit des Lernens wahrscheinlich für die meisten) Mitarbeitenden eine höhere Arbeitszufriedenheit einhergeht, ist zumindest anzunehmen.
Zum zweiten und dritten Punkt:
Ich bin bei dieser Gehaltsdiskussion eher skeptisch. So bin ich davon überzeugt, dass das geringe Gehalt in der Sozialwirtschaft auf einem komplexen Konstrukt verschiedenster Gründen basiert (Frauenberuf, Ehrenamtlichkeit, schwer zu definierende Professionalität etc.). Für mich wird eher umgekehrt ein Schuh draus: Wenn es möglich ist (auch durch vermehrt selbstorganisierte Arbeitsprozesse) eine bessere Arbeit für alle Beteiligten zu leisten, wird es möglich, damit zu rechtfertigen, warum überhaupt mehr Gehalt angebracht ist. Leider ist es so, dass es im Sozialbereich (so jedenfalls meine zumindest semi-subjektive Einschätzung) immer noch genügend Menschen gibt, die – wahrscheinlich auch wiederum aufgrund der Strukturen in dem Bereich – eine „ruhige Kugel“ schieben und dabei permanent überlastet zu sein scheinen. Hier sind aber wiederum so viele Aspekte zu beachten, dass es wahnsinnig schwer ist, dies auf einen Punkt zu reduzieren (bspw. so etwas wie Rollenkompetenz: In welcher Rolle bin ich, wenn ich mit meinen Klienten agiere und in welcher Rolle bin ich, wenn ich mit Kostenträgern verhandle etc.).
Ziemlich schwierig, die ganze Kiste.
Gestern hatte ich noch ein interessantes Gespräch über die Frage, inwieweit einerseits die oftmals anzutreffende Monopolstellung großer Sozialer Träger (Caritas oder Diakonie bspw.) in Verbindung mit deren moralisch immer „guten“ Geschäftsmodell zu Problemen in der Entwicklung des Bereichs führt: Warum sollen sich die Organisationen ändern, wenn sie (noch) keinen wirklichen Druck spüren und es keine Alternative zu den Organisationen gibt?
Soweit mal am Samstag morgen… 😉
LG
Hendrik
Lieber Hendrik,
spannende Diskussion – dazu solltest Du mal ne Veranstaltung ins Leben rufen!
Zur Gehaltsfrage: Klar ist das komplex. Allerdings finde ich es wiederum nicht angebracht, erst mal neue Leistungen seitens sozialwirtschaftlicher MA abzurufen, um höhere Gehälter zu legitimieren. Das Problem geht m.E. weit über rein sozialwirtschaftliche Fragen hinaus in eine allgemeine gesellschaftspolitische Dimension hinein:
Welche Arbeit ist was wert und woran messen wir das?
Ich plädiere da für einen Wandel eben in Richtung der NEF Studie: Wir sollten die Gehälter am Beitrag fürs Gemeinwohl orientieren. Mir ist klar, dass das alles andere als einfach und unstrittig wäre. Aber im Moment finde ich die auch mangelnde monetäre Wertschätzung der Sozialwirtschaft hochproblematisch (es sei denn, die wohlhabenden Bürger finden es zukünftig toll, von Pflegerobotern in den Tod begleitet zu werden). Wenn gleichzeitig Investmentbanker, die über den drohenden Zusammenbruch „systemrelevanter“ Banken infolge ihrer a-sozialen Spekulationen die Staatskasse plündern, Millionenboni abgreifen, dann ist was faul im Kapitalismus.
Außerdem gibt es wahrlich genug andere Berufe, in denen sich Menschen bequem einrichten. Das ist wahrlich nicht spezifisch für die Sozialwirtschaft.
Der Beitrag ist eine interessante Anregung, inhaltlich möchte ich jedoch einige Korrekturen anmerken.
Die Fachkräfteengpassanalyse hat bisher keine Engpässe im Sozialen Bereich aufgelistet – im Gegensatz zum Gesundheitsbereich, hier insbesondere in der Pflege.
Ich erachte es als für die Professionalität Sozialer Arbeit immanent, hier den Gesundheitsbereich nicht mit dem Sozialen Bereich gleichzusetzen. Berührungspunkte und interdisziplinäres Arbeiten findet im Sozialen Dienst in Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen und Altenheimen statt, es handelt sich hierbei jedoch um Beratung, Organisation von Freizeitmaßnahmen und nicht um Behandlungspflege. Diese darf aus gutem Grund lediglich von examinierten Pflegekräften mit entsprechender Ausbildung absolviert werden.
Bei der Frage von Verantwortung geht es nicht nur um die strafrechtliche Verantwortung. Vorgesetze haben gemäß § 680 ff. BGB Fürsorge- und Sorgfaltspflichten gegenüber Ihren Mitarbeitenden – dies gilt auch für hoheitliche Aufgaben wie es das Jugendamt als sozialpädagogische Fachbehörde wahrnimmt. Zudem gibt es in Baden-Württemberg den KVJS (Kommunalverband für Jugend und Soziales) als überörtliche Fachbehörde, welche Handreichungen etc. zum Thema Kindeswohlgefährdung herausgibt.
Ein Grundproblem sehe ich in der oftmals mangelnden bzw. fehlen Qualifikation von Vorgesetzten in sozialen Diensten, welche eher Verwaltungswirte, Betriebswirte oder ein Jurastudium absolviert haben und somit wenn dann nur Kenntnisse über eine Bezugswissenschaft Sozialer Arbeit mitbringen, jedoch nicht der Vielfältigkeit sozialer Arbeit in Studium und Praxis Rechnung tragen können.
Hey,
und danke für Deine Rückmeldung zum Beitrag!
Ja, meine Beispiele zum Fachkräftemangel in der Extremform schließender Einrichtungen fokussiert tatsächlich auf Organisationen im Gesundheitswesen, vornehmlich Pflege. Allerdings kommen auch zunehmend soziale Organisationen in ländlichen Regionen in Bedrängnis, ihre Stellen mit adäquat qualifiziertem Personal zu besetzen. Die Folgen davon sind aus meiner Perspektive eine zunehmende Dequalifizierung. Da geht es dann um Abdeckung von Betreuungsaufgaben und nicht mehr um gute soziale Arbeit. Ein echtes Problem, da „die Soziale Arbeit“ (etwas sehr übergreifend) es nicht flächendeckend schafft, ihre Professionalität nach außen darzustellen und zu begründen, warum es denn wichtig ist, SozialarbeiterInnen und keine Hausfrauen (etwas polemisch) einzustellen.
Die mangelnde Qualifikation der Vorgesetzten wird deutlich in der im Artikel verlinkten Studie bzgl. der Leitung von Kitas. Hier ist sicherlich ein Qualifizierungsbedarf zwischen Sozialer Arbeit und Management gegeben.
Soweit mal und Dir eine gute Woche!
Hendrik