Die Führungsdebatte wird seit Jahren dominiert von Ratgebern, die Führungsstile propagieren, Persönlichkeitsmodelle bewerben und Tipps zur Optimierung individueller Führungskompetenzen geben. Doch was, wenn gute Führung weit weniger mit Charisma und Soft Skills zu tun hat, als oft suggeriert wird? Genau hier setzt das Buch „Führung managen. Eine sehr kurze Einführung“ von Stefan Kühl und Judith Muster (hier geht’s zum Buch) an, zu dem Prof. Stefan Gesmann und ich eine ausführliche Rezension (hier) verfasst haben.
tl;dr: Das Buch lädt zu einem radikalen Perspektivwechsel ein – weg vom Personenkult, hin zu den strukturellen Bedingungen von Führung.
Organisation statt Heroismus
Kühl und Muster argumentieren aus einer systemtheoretisch geprägten, organisationssoziologischen Perspektive, dass gelingende Führung nicht in erster Linie das Ergebnis individueller Fähigkeiten, sondern eine Reaktion auf strukturelle Erwartungsunsicherheiten innerhalb von Organisationen ist. Wo Abläufe nicht klar definiert sind, Programme Lücken lassen und Entscheidungswege unklar bleiben, entsteht Bedarf für Führung – unabhängig von der Führungspersönlichkeit. Daraus folgt:
Je klarer eine Organisation strukturiert ist, desto weniger Führung braucht es. Oder anders gesagt:
Organisationen können durch ihre Gestaltung den Bedarf an Führung gezielt reduzieren. Diese Überlegung macht das Buch besonders relevant für alle, die mit organisationalem Wandel, Komplexität und Steuerungsfragen konfrontiert sind – auch und insbesondere in der Sozialwirtschaft oder im öffentlichen Sektor.
Führung ist mehr als Top-down
Das Buch rückt von einem engen, hierarchisch geprägten Führungsverständnis ab. Führung, so Kühl und Muster, kann in drei Richtungen erfolgen: von oben (klassisch), lateral (auf gleicher Ebene) und – besonders spannend – „von unten“. Mitarbeitende beeinflussen ihre Vorgesetzten, indem sie Erwartungen formulieren, Kooperation anbieten oder eben verweigern (vgl. Unterwachung).
Führung ist also ein Wechselspiel – und funktioniert nur, wenn Gefolgschaft gegeben ist.
Diese Einsicht entlastet formale Führungskräfte von einem überhöhten Anspruch, immer alle Lösungen selbst parat zu haben. Gleichzeitig fordert sie sie heraus, Strukturen so zu gestalten, dass Orientierung entsteht – ohne alles kontrollieren zu müssen.
Das Mischpult der Organisation
Zentral im Buch ist das Modell des „Mischpults des Managements“. Es veranschaulicht, wie Organisationen mithilfe von drei strukturellen „Stellschrauben“ – Programmen, Kommunikationswegen und Personalentscheidungen – ihren Führungsbedarf steuern können. Wenn Aufgaben beispielsweise klar über Programme geregelt sind, Kommunikationswege eindeutig sind und das Personal gut auf die Organisation abgestimmt ist, sinkt der Bedarf an situativer Führung.
Das Mischpult zeigt: Führung ist nicht das erste Mittel der Wahl, sondern greift nur dann, wenn Strukturen nicht mehr greifen. Führung wird zur „Restkategorie“, zur Lückenfüllung – und das ist keineswegs negativ gemeint, sondern realistisch. Organisationen können nicht alles programmieren.
Doch sie können bewusst gestalten, wann und wo Führung notwendig wird.
Relevanz für die Soziale Arbeit
Gerade für Organisationen der Sozialwirtschaft, die stark personenzentriert arbeiten (hier mehr dazu), bietet das Buch eine wertvolle Denkhilfe. Denn Führung wird hier oft informell gelebt, wenig reflektiert und stark personalisiert. Kühl und Muster fordern dazu auf, diesen Automatismus zu hinterfragen. Wer Probleme zu sehr auf einzelne Personen zurückführt, übersieht strukturelle Ursachen und gerät schnell in endlose Schleifen von Coaching, Personalwechseln und Führungskräftetrainings. Es lohnt sich daher, den Blick auf die Organisation als Ganzes zu richten:
Welche Entscheidungswege sind etabliert? Wo fehlen klare Programme? Wie wirken Personalentscheidungen auf die Organisation zurück? Diese Fragen erweitern den Handlungshorizont und entlasten Führungskräfte zugleich.
Keine schnellen Rezepte – dafür nachhaltige Reflexion
Wer ein pragmatisches Führungskochbuch mit einfachen Rezepten erwartet, wird von diesem Buch enttäuscht sein. Kühl und Muster liefern keine Checklisten. Ihr Buch ist ein Impuls zur Reflexion: Es ist klar geschrieben, theoretisch fundiert und zugleich anschlussfähig für die Praxis. Es richtet sich an reflektierte Führungskräfte, Berater:innen und Organisationsentwickler:innen, die bereit sind, gängige Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.
Das Buch überzeugt durch analytische Tiefe, pointierte Argumentation und den Mut zur Komplexität. Gerade in Zeiten, in denen Führung häufig mit Coaching, Motivation und Authentizität gleichgesetzt wird, ist das eine wohltuende Irritation.
Fazit: „Führung managen“ beginnt bei der Organisation
Das Buch „Führung managen“ zeigt: Wer über Führung spricht, darf über Organisationen nicht schweigen.
Die Autor:innen brechen mit dem Mythos der allmächtigen Führungspersönlichkeit und rücken stattdessen die strukturellen Rahmenbedingungen ins Zentrum. Das ist nicht nur theoretisch klug, sondern praktisch hochrelevant – für jede Organisation, die sich ernsthaft mit Führung und Wandel beschäftigt.
Ein Buch, das weniger Antworten liefert als kluge Fragen stellt – und gerade deshalb gelesen werden sollte.
Hier geht’s zur vollständigen Rezension bei socialnet!
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