Warum Selbstorganisation gerade in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung funktioniert

Selbstorganisation Behinderung

Inhalt:

„Das mit dieser Selbstorganisation ist ja schön und gut, und ich selbst würde auf jeden Fall gerne so arbeiten! Aber bei uns arbeiten Menschen, die keine Verantwortung übernehmen wollen! Und dann arbeiten hier noch Menschen, die das gar nicht können! Selbstorganisation für Menschen mit Behinderung? Das kann doch gar nicht funktionieren!“

So oder ähnlich laufen Gespräche zum Thema „neue Arbeit“ meist ab:

Irgendwann kommt das Gespräch auf die in der Organisation „vorhandenen Mitarbeiter*innen“, die „keine Verantwortung“ für sich oder ihre Entscheidungen übernehmen wollen – das sind die Menschen, die ihre Erfüllung lieber im Kaninchenzuchtverein suchen! Sie wollen einfach nicht, und das wäre zu akzeptieren!

Hinzu kommen Menschen, die – das darf man nicht zu laut sagen – die mit der Selbstorganisation einhergehenden Anforderungen nicht bewältigen können. Menschen mit Beeinträchtigungen, die in der eigenen Organisation arbeiten, zugespitzt noch in sog. Inklusionsbetrieben arbeitende Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen, die so halt  einfach nicht arbeiten können. Punkt!

Fertig, Diskussion vorbei!

Selbstorganisation funktioniert auch für Menschen mit Beeinträchtigung

Ich vertrete im Folgenden eine andere Ansicht und spitze das Thema wie folgt zu: Selbstorganisation funktioniert in allen Branchen und auch und gerade in Organisationen, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten.

Um meine Ausführungen zu erläutern, bedarf es einer kurzen Hinleitung anhand von drei Beispielen, die zeigen, dass das Konzept der Selbstorganisation nicht auch, sondern gerade bei der Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigung funktionieren kann:

Beispiel 1 fokussiert auf Soziale Organisationen im Allgemeinen: Soziale Organisationen – Kitas, Kindergärten, Organisationen der Jugend- oder Altenhilfe, Organisationen aus dem Gesundheitssektor, der Pflege oder auch Organisationen, die Leistungen für Menschen mit Behinderung anbieten – arbeiten nicht nur „für“ Menschen mit Beeinträchtigung (welcher Art auch immer). In den Organisationen selbst arbeiten oftmals Menschen mit Beeinträchtigungen an der Erstellung der Dienstleistungen mit. Soziale Organisationen gehen oftmals voraus, wenn es darum geht, Menschen mit Behinderung in der eigenen Organisation anzustellen. Kann Selbstorganisation hier funktionieren?

Beispiel 2 fokussiert darauf, dass an Organisationen der stationären Jugendhilfe oftmals Ausbildungswerkstätten angeschlossen sind, die es Jugendlichen ermöglichen, unterschiedliche Ausbildungen in geschütztem Rahmen zu absolvieren – Maler, Metallbauer, Schreiner, Zimmerei etc. Warum dieses Beispiel? Weil die Jugendlichen oftmals ebenfalls als „beeinträchtigt“ gelten und in unserer „normalen“ Welt nicht leben können. Nicht umsonst werden viele Mittel für diese Menschen ausgegeben. Kann Selbstorganisation hier funktionieren?

Beispiel 3 nimmt die schon angesprochenen Inklusionsbetriebe explizit in den Blick. Unter Inklusionsbetrieben werden die Betriebe verstanden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit besonderen Vermittlungshemmnissen (Behinderungen, psychische Erkrankungen) sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes zur Verfügung stellen. Die Menschen erhalten in den Inklusionsbetrieben zusätzlich arbeitsbegleitende Betreuung, berufliche Weiterbildung und die Teilnahmemöglichkeit an außerbetrieblichen Trainings- und Bildungsmaßnahmen (vgl. näher KVJS).

Kann Selbstorganisation hier funktionieren?

Um zu verstehen, dass Selbstorganisation in allen genannten Beispielen funktioniert, bedarf es einem kurzen Blick auf das System „Selbstorganisation“:

So wird Selbstorganisation oftmals damit verwechselt, dass jeder machen kann was er will. Wenn ich erzähle, dass bspw. die Teams der Pflegeorganisation Buurtzorg alles selbst entscheiden können, klingt das ja auch so:

Gehalt? Dienstwagen? Neueinstellungen? Da würde wohl jedem von uns etwas einfallen (wenn man immer schon mal Maserati fahren oder die Herbstferien auf Bali verbringen wollte, bspw.).

Dass jedoch hinter der Welt der freien Entscheidungen ganz klare Vorgaben, Koordinationsmechanismen und andere Arten der Entscheidungsfindung als die uns allseits bekannten liegen, wird verkannt.

Entscheidungsfindung in Selbstorganisation unterliegt bspw. ganz klaren Vorgaben, die dafür sorgen, dass die Entscheidungen nicht im Sinne des einzelnen Egos, sondern im Sinne der Gemeinschaft getroffen werden. Nicht das Ich steht im Vordergrund, sondern das Wir als Gesamtorganismus.

Klarheit und Transparenz

Und genau diese Klarheit, diese Koordinationsmechanismen, diese Struktur der Selbstorganisation, diese Transparenz überzeugt mich, zu behaupten, dass Selbstorganisation nicht auch, sondern gerade bezogen auf die drei Beispiele oben funktioniert.

Zu Beispiel 1 – den in den Organisationen arbeitenden Menschen mit Beeinträchtigungen – ist zu sagen, dass diese bislang vor allem mit einfachen, „leistbaren“ Tätigkeiten abgespeist werden. Klingt negativ, aber jeder kennt den Menschen, der für das Verteilen der Post zuständig ist. Ja, der Mensch hat eine Aufgabe, das ist gut und wichtig.

Aber hat der Mensch vielleicht ganz eigene Ideen, wie er sich und seinen Arbeitsbereich entwickeln will? Hat der Mensch vielleicht Stärken, die bei der Verteilung der Post so überhaupt gar nicht zum Tragen kommen? Und besteht nicht gerade über die Einbindung der Menschen die Möglichkeit, ihr Potenzial wirklich zur Entfaltung zu bringen? Ich bin davon überzeugt, dass – mit entsprechender Begleitung, Coaching, Hinführung, wie auch immer – jeder Mensch nicht nur in der Lage ist, unter Selbstorganisation zu arbeiten, sondern – ganz im Sinne Maslows – nach Selbstverwirklichung (auch im Beruf) strebt und zwar auch die Menschen mit Beeinträchtigung.

Beispiel 2 – die „schwer erziehbaren“ Jugendlichen in den Ausbildungswerkstätten: Sie werden mit völlig tradierten Vorgehensweisen (Befahl und Gehorsam) vorbereitet auf einen „ersten Arbeitsmarkt“, der genau die unter Selbstorganisation gefragten Kompetenzen erfordert: Eigenverantwortung, Ideenreichtum, Innovationskraft stehen weit vor dem „Dienst nach Vorschrift“, egal, ob es sich um das hippe StartUp oder die Zimmerei im Dorf handelt.

Einsatzbereitschaft und Motivation erwächst aber nicht aus der Befolgung von Befehlen, sondern aus der Möglichkeit, eigene Ideen zu verwirklichen, selbstwirksam zu sein und seinen Beitrag leisten zu können. Die Entwicklung dieser Eigenschaft funktioniert unter Bedingungen der Selbstorganisation deutlich besser als unter klassischen Strukturen! Hinzu kommt, dass gerade die Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe oftmals so dermaßen kreativ sind, dass sie in klassischen Strukturen unserer tradierten Arbeitswelt sowieso nicht „funktionieren“, sondern immer wieder – und zwar berechtigt – ausbrechen.

In Beispiel 3 beschäftigt der Inklusionsbetrieb Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. Geht Selbstorganisation unter diesen Bedingungen? Ja, auch davon bin ich überzeugt:

Wenn die Strukturen, Koordinationsmechanismen, Entscheidungsfindungsprozedere klar sind, fällt es auch Menschen mit Unterstützungsbedarf leichter, sich unter diesen ganz klar transparenten Bedingungen zurechtzufinden, als unter den Bedingungen einer oftmals „undurchschaubaren Unternehmenskultur“, wo irgendwer bestimmt, was zu tun ist.

Das Motto von Buurtzorg „Keep it small, keep it simple“ ist für Menschen mit Behinderung viel einfacher zu verstehen, als hochgradig komplizierte Organisationsdesigns traditioneller Organisationen. Wenn ich im Team mit wenigen Menschen arbeite, weiß ich viel schneller, wer mein Ansprechpartner, meine Unterstützung ist, als in versäulten Siloorganisationen. Ja, ich weiß, etwas übertrieben und unterkomplex formuliert, logisch, aber nur darüber wird deutlich, dass Selbstorganisation auch und gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen realisierbar ist. Ja, mit Unterstützungsbedarf bedeutet, dass Begleitung und Unterstützung benötigt werden – aber um das eigentliche Ziel Sozialer Arbeit zu fördern: Die Selbstbestimmung aller (!) Menschen!

Der Blick auf den Menschen

Abschließend sei nur kurz verwiesen auf einen sehr lesenswerten Beitrag von Sabine Depew, die das BTHG und die durch die digitale Transformation grundlegend geänderte Blickrichtung auf den Menschen (auch) in sozialen Organisationen fokussiert. Sie schreibt:

„Die UN-Behindertenrechtskonvention und in ihrer Umsetzung das Bundesteilhabegesetz stellen den Menschen in den Mittelpunkt. Das, so werden viele jetzt behaupten, hat die soziale Arbeit doch schon immer getan.

Ja, aber anders.

Bisher ist die Behindertenhilfe wie die soziale Arbeit insgesamt noch stark von einem Fürsorgegedanken geprägt. Diese Grundhaltung ist auch die Motivation für viele Studierende der sozialen Arbeit. Das ändert sich gerade.

Im Mittelpunkt steht fortan nachwievor der Mensch. Aber anders. Als Anwender, Nutzer, Kunde der sozialen Arbeit.“

Das ist ein Paradigmenwechsel, der sich auch in vielen direkten Anwendungen zeigt:

Warum sollen Menschen die Angebote des „Essens auf Rädern“ der Wohlfahrtsverbände nutzen, wenn sie auch bei Lieferando direkt, frisch, besser, schneller, individueller und ggf. sogar günstiger Essen bestellen können?

Warum sollen Menschen die Betreuungsleistungen des Ortscaritasverbands nutzen, wenn sie über betreut.de individuell zugeschnitten nicht nur den Opa, sondern auch noch Hund und Katze, Kind und Haus gleichzeitig betreuen lassen können? Ohne viel Bürokratie, individuell, kundenorientiert zugeschnitten?

Ich spreche bewusst nicht über die großen Fragestellungen der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit: Ethik und Moral? Profession? Qualitätssicherung und -standards sozialer Arbeit? Das mag (vielleicht) die Professionellen interessieren. Die Menschen, die Probleme lösen müssen (Betreuung der Oma, Mittagessen…) interessiert das jedoch nicht (oder kaum).

Was hat das mit den Ausführungen zur Selbstorganisation zu tun?

Was willst und brauchst Du und wie können wir Dir dabei helfen?

Vor allem hat es etwas damit zu tun, dass sich der Blick sozialer Arbeit von einem „Wir wissen, was für dich richtig ist“ hin zu einem „Was willst und brauchst Du und wie können wir Dir dabei helfen?“ Blick verändern muss.

Es wird für die Soziale Arbeit in Zeiten der digitalen Transformation zunehmend darauf ankommen, die Bedarfe der Menschen – der Kund*innen ebenso wie der Mitarbeiter*innen – in den Fokus zu stellen und die Angebote darauf auszurichten und nicht umgekehrt – die Bedarfe der Professionellen in den Mittelpunkt zu stellen und auf Menschen zu hoffen, die diese Bedarfe bedienen.

Und das Gleiche gilt für die Menschen in den Organisationen – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, egal auf welcher „Hierarchiestufe“, egal in welcher Abteilung, egal mit welcher „Beeinträchtigung“.


Zum weiterlesen:

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6 comments on “Warum Selbstorganisation gerade in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung funktioniert

  1. Benjamin am

    Mutmacher; danke für diesen Denkanstoß!
    Für Entwicklung müssen wir den sich Entwickelnden (gleich ob mit Behinderung oder ohne) auch Raum geben und ihnen nicht nur *ver*trauen, sondern es ihnen auch *zu*trauen. Das fällt gelegentlich untern Tisch …

    Antworten
  2. Christian Zepke am

    Hallo Hendrik,
    ich bin sehr gespannt, wie sich das entwickelt. Falls wir vor Ort Unterstützung bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen brauchen, melde ich mich gerne. 🙂

    Zu der Begrifflichkeit „Anwender“, „Nutzer“, „Kunde“: Das wurde in einzelnen Organisationen schon vor circa 15 Jahren diskutiert und teilweise auch verändert. Wenn ich den „Klienten“, von dem wir bei uns reden, „Nutzer“ nenne, ändert sich nicht unbedingt was. Es nützt nicht viel, wenn im Leitbild vom „Nutzer“ die Rede ist, aber die Mitarbeitenden „Klienten“ sagen. Es kommt auf die gelebte Haltung an.

    Wir achten schon immer darauf, dass wir nicht von Betreuung sondern von Unterstützung reden. Und haben das auch größtenteils verinnerlicht, dass wir den Menschen nichts vorschreiben, sondern sie bei der Verwirklichung ihrer Ziele unterstützten. Ich denke, das kann immer noch besser werden. Neben den anderen Veränderungen, die wir angehen dürfen. Leben wir nicht in aufregenden Zeiten?!

    Schöne Grüße. Christian

    Antworten
    • HendrikEpe am

      Hey Christian,

      insbesondere deinen letzten Satz finde ich super: Leben wir nicht in aufregenden Zeiten! Ja, und wie!!! Großartig! Jetzt müssen wir nur die Weichen stellen, wie wir in Zukunft leben und arbeiten wollen…

      Dir eine gute Woche und Danke für den Kommentar!

      LG

      Hendrik

      Antworten
  3. Florian am

    Sehr guter Artikel, der die Herausforderungen für alle Professionellen in der Eingliederungshilfe skizziert. Das die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das SGB IX überführt wird – und damit aus dem Fürsorgesystem herausgelöst wird – hat nicht nur leistungsrechtliche Konsequenzen, sondern muss auch zu einer veränderten Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen führen. Es wird nicht mehr darum gehen die Menschen an das bestehende Hilfesystem anzupassen, sondern darum herauszufinden, was genau gebraucht wird. Einrichtungen, Dienste und Professionelle werden sich an diese neue Strukturen anpassen und w e i t e r e n t w i c k e l n müssen. Allein deshalb ist das BTHG schon (trotz auch viel berechtigter Kritikpunkte) von wichtiger Bedeutung.
    .

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    • HendrikEpe am

      Hey Florian,

      danke für Deinen Kommentar! Bin sehr gespannt, welche Veränderungen tatsächlich eintreten… Hoffe das Beste!

      LG

      Hendrik

      Antworten

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